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Vorwort

von Ralph Giordano

 

 

1.

5-10

Vor Ihnen, liebe Leser, liegt keine leichte Lektüre, wohl aber eine einmalige — das vorausgeschickt. Es gibt, jedenfalls in der mir bekannten Literatur, kein zweites Beispiel für die Anklage eines Sohnes gegen den eigenen Vater, die sich neben die von Niklas Frank gegen Hans Frank stellen könnte. Der war, von 1939 bis Anfang 1945, Herr über das »Generalgouvernement«, größtes Menschenschlachthaus, das es je gegeben hat. Dort lagen die meisten der großen Todesfabriken und Vergasungshöllen des nazistischen Vernichtungs­apparates, und dort, auf dem Wawel, Krakaus geschichte-schwerer Burg, residierte >Der Vater<.

Man kann aus allem, aus jeder Situation, jeder Position, aus jedem Verhältnis »aussteigen«, kann sagen: »Das will ich nicht mehr, damit habe ich weiterhin nichts zu tun, davon löse ich mich.« Nur aus einer Bindung, aus einer Verstrickung geht das nicht — aus Verwandtschaft! Sag hundertmal: »Du bist nicht mehr meine Mutter, meine Tochter, mein Sohn, mein — Vater!« Sag es, und du bleibst doch, was du warst und was du bist. Auch wenn du es nicht mehr sein willst, umsonst — da kommst du nicht heraus.

Das ist die Verzweiflung des Niklas Frank, denn dieser Vater war eines der größten Monster der Geschichte. Davon wird der Grundton des Buches bestimmt, davon sind die Kriterien des Autors geprägt.

2.

Aber die Ästhetik! —?
Die kann nur erbleichen und sich dünne machen — in diesem archaischen Konflikt jedenfalls hat ihres­gleichen nichts zu suchen.

Wer Niklas Franks Buch und Sprache unter diesem Vorzeichen attackiert, wer sie fäkalistisch oder sexistisch nennt, verquer oder übersteigert, der hat auch nach fast fünfzig Jahren absoluter Informations­freiheit über den staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus nichts begriffen: Letztlich kann keine menschliche Sprache das Universum seines Verbrechertums ausdrücken. Alles aber auch alles wird nur ein Versuch bleiben, die Wirklichkeit zu artikulieren.

Das all denen ins Stammbuch, die behaupten: Was der Sohn da mache, das sei »noch viel schlimmer als das, was der Vater gemacht hat...« 

Ich erinnere mich an solche Stimmen als Reaktion auf die Erstver­öffentlichung von »Der Vater« in Leserbriefspalten, diesen Foren deutscher Spießeroffen­barungen. Und ich bin sicher, solche Töne werden sich nun auch wieder melden. Diesen gefährlichen, diesen absichtsvollen Schöngeistern gilt mein besonderes, mein allertiefstes Mißtrauen!

3.

Wie war das gewesen, diese langsam dämmernde Erkenntnis in Niklas Frank: »Der also ist mein Vater!« — ? Wie fängt solch biographischer Schrecken an, wie entwickelt, wie vertieft er sich? Wie wandelt sich Ungläubigkeit in Staunen, Staunen in Verstörung, Verstörung in Entsetzen, Entsetzen in verbales Gekreisch? Wir können es nur ahnen, es uns nur fragmentarisch zusammensetzen aus den Hunderten und Aberhunderten von Aufschreien, aus denen dieses Buch besteht.

Da wird am Anfang die Todesangst des in Nürnberg verurteilten und hingerichteten Hans Frank beschworen — die Furcht vor dem gerechten Sterben. Dahinter aber tut sich die Blutkulisse auf, der Massenmord an Millionen, deren »Schuld« in nichts als in ihrer biologischen Existenz auf Erden bestand und an deren grausamem Ende wenige mehr beteiligt waren als dieser »Vater«.

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In seinem »Generalgouvernement« waren alle Schranken niedergebrochen, jedes Tabu aufgehoben, das Unvorstellbare Wirklichkeit geworden, materialisiert in Schädelstätten wie Belzec, wie Sobibor, wie Treblinka — der »Zivilisations­bruch«. Auf den Sohn, noch Zukunft, wartet die Erkenntnis, daß sein Vater eine Schlüssel­figur dieses »Bruches« war. Wie wird man damit fertig?
    Nie! — lehrt dieses Buch.

4.

Ach, die »königlichen Kindertage«! Der kleine Niklas hinter den Zinnen über Krakau und vor polnischen Fürstengräbern, liebevoll bewacht von SS-Soldaten, transportiert von motorisierten Edelkutschen — Horch, Mercedes — und eingedickt in die hehre Haussphäre von Dichtung und Musik.

Später dann — unter konvulsivischen Zuckungen des Geprellten, Getäuschten, Erwachten, wie denn anders? — die Entlarvung dieser »Kultur« als das, was sie war: die zwei Seiten ein und derselben deutschen Spießerseele, jener deutschen »Innerlichkeit«, die mühelos Auschwitz und Beethoven, Maidanek und Goethe in sich vereinen konnte. Und immer wieder vereinigen könnte, wenn man sie nur ließe — Lemminge, unaufhaltsam ihrem selbstverschuldeten Ende entgegenstrebend (was um ihretwillen nicht weiter schade wäre, zuvor aber wiederum Millionen Tote kosten würde).

Also inmitten dieser ebenso grausigen wie vorübergehenden Herrschaft hoch vom Wawel aus, fünf Jahre schließlich, als die väterliche Herrlichkeit zu Ende ging (und mit was für einer Mutter dazu!) — der Sohn.

Der quält sich dann nach 1945, aufwachsend, durch die Tortur der sich von Tag zu Tag mehrenden Erkenntnisse über die eigene Herkunft; gewahrt, fassungslos, wie die Kinder anderer Nazigrößen, etwa die Tochter Görings, dennoch fröhlich dahinleben; weiß, daß das nicht sein Weg ist. Hat auf dieser langen, langen Wüstenwanderung Halluzinationen, die stumm seinen inneren Zustand herausbrüllen: Millionen von Galgen an den deutschen Autobahnen, und daran baumelnd, nach Bruch des Genicks, all die NS-Richter und -Staatsanwälte, die Partei-»Goldfasane«, die

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Block- und Zellenwarte, die Generäle und Denunzianten, »von denen keiner das Recht hatte weiter­zuleben«, schreibt Niklas Frank. 

Wahr gesprochen, doch nicht eingetreten. Statt dessen, so wird dem Sohn bald klar, entpuppen sich die Verlierer des Zweiten Weltkrieges als die eigentlichen Sieger, verwandeln sich die Täter in Opfer, werden nicht sie, sondern die Überlebenden des NS-Völker-, Massen- und Serienmords angegeifert: Es könne nicht gleiches mit gleichem vergolten werden...
     Wehe, Ihr Herren, wehe Euch, wenn es so gewesen wäre!

5.

Es kommt noch unerträglicher.
     »Wissen Sie, wie gut die Beamtenschaft im Generalgouvernement war?« fragte einer von ihnen mit Stolz in der Stimme den Sohn von Hans Frank. Und gibt sich dann selbst die Antwort: »Das sieht man daran, daß wir alle in der Bundesrepublik glänzende Stellungen erreicht haben.«

Da ist sie, die Fratze der Zweiten Schuld, also die Verdrängung der Ersten unter Hitler dann nach dessen Ende, die kollektive Ex-kulpierung, der Große Frieden mit den Tätern - in der alten BRD auf ihre, in der ehemaligen DDR auf deren Weise.

Aber einer von denen, der Fürchterlichsten einer, der wenigstens hat, mit wenigen Spießgesellen, doch dran glauben müssen, gepriesen sei das Tribunal: der eigene Vater!

Ein grauenhafter Triumph? Doch nur für jene Phantasielosigkeit unserer Gegenwart, die sich die Verkommenheit dieses Herrscherlebens von »Führers« Gnaden und seines Mordambientes im »Generalgouvernement« nicht vorstellen kann oder will, die aber vor allem nicht begreift, was es heißt, auf dem Wawel »Sohn« gewesen zu sein.

Was denn, wenn auch der Vater davongekommen wäre, wie andere der ersten Garnitur des Vernichtungsapparates unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamtes? Wie wohl, so fragt Niklas Frank völlig beispielbezogen, hätte sich der Übergang vom Hitlersatrapen Hans Frank zum Unionschristen vollzogen? Auf den Stühlen des bayerischen Landtages oder gar des Bundestages?

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Es kam anders, in seinem Falle jedenfalls und ausnahmsweise.

Der Sohn forscht, wie es anders kam — wie der Vater vom Leben zum Tode befördert worden ist. Er will es wissen, durch die Zeugen. Und findet dabei heraus, daß Hans Frank so verlogen starb, wie er gelebt hatte.

Der Delinquent, an jenem 16. Oktober 1946 gerade so alt wie das Jahrhundert, schon angesichts des Stricks, an dem er gleich hängen wird, zu Franziskaner-Pater Sixtus O'Connor, der ihn auf dem letzten Gang begleitete: »Als ich noch ein kleiner Junge war, hat mir meine Mutter jeden Morgen, bevor ich zur Schule ging, ein Kreuz auf die Stirn gemacht. Bitte, Pater, tun Sie das auch.« Pose, Lüge — bis zum letzten Atemzug buchstäblich. Und sich so unsäglich treu, wie sie eben waren, diese Herrenmenschen.

Einer von ihnen war, ganz oben in der Auschwitz-Hierarchie, »Der Vater«.

6.

Niklas Frank speit seinen ganzen Ekel auf Papier, nein, er kotzt den Verrat der frühkindlichen Sehnsüchte, die unlösbare Sohnesbindung an die Horrorbiographie dieses Vaters und das Entsetzen darüber dem Leser direkt vor die Füße.

Mir schrieb er bei seiner Anfrage um ein Vorwort und einige Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches: »Ich war selbst erstaunt, in welch pubertäre Sprache ich teilweise verfiel. Natürlich hätte ich das alles ändern können, aber ich wollte es doch lieber >original< lassen.«

Gut so! richtig, daß die Verbaldrastik erhalten blieb, immer noch ein wahres Blumenbeet, gemessen an dem Universum von Blut und Tränen, an dem Hans Frank an so entscheidender Stelle mitgebaut hatte. Aber die Abrechnung des Sohnes mit dem Vater ist gleichzeitig auch eine Abrechnung mit der deutschen Fähigkeit, die selbst geschaffenen Leichengebirge mit denen fremder Regimes zu kompensieren (»Die anderen haben auch Verbrechen begangen«); ist Abrechnung mit der notorischen Forderung der Dauerschwindler: »Es muß doch endlich einmal Schluß gemacht werden« (sie haben mit dem, womit sie Schluß machen wollen, nie angefangen!); Abrechnung mit all den Verdrängern (»KZs sind gar keine deutsche Erfindung, sondern eine britische — gegen die Buren«); den Minimalisierern (Es waren gar keine sechs Millionen Juden, die umgebracht worden sind«) und den Relativierern (»Stalin hat noch mehr Menschen töten lassen«).

Zu keinem anderen Zeitpunkt der Geschichte hatten Söhne und Töchter, Enkel und Enkelinnen sowiel Anlaß, sich gegen die eigenen Eltern und Großeltern zu kehren, wie deutsche Generationen in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Die Mehrheit ihrer Erzeuger, und auch deren Erzeuger bereits, haben versagt, haben ihre humanitäre Orientierung verloren (wenn sie denn je eine gehabt haben) und hatten nach ihrem Versuch, die Welt in Klumpen zu schlagen und darüber die deutsche Weltherrschaft zu errichten, nichts anderes im Sinne, als möglichst rasch davonzukommen — ungeschoren und un-belehrt.

Die Schande unserer Tage, der Flächenbrand des fremdenfeindlichen und antisemitischen Rassismus, von ihrer Wurzel her ist sie nichts als die späte Quittung für den fehlgeschlagenen Versuch der deutschen Nachkriegsgesellschaft, sich an der Hypothek und am Erbe des Nationalsozialismus vorbeizumogeln.

Im Chor derer, die sich dagegen wehrten und weiter wehren werden, wird die Stimme Niklas Franks ihren besonderen Platz haben.

10

Ralph Giordano 

 

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