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Argumente für eine offene Utopie  

Ist es ein Weg mit Herz?
Wenn er es ist, ist der Weg gut;
wenn er es nicht ist, ist er nutzlos. 
--Carlos Castaneda--

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Angst macht auch Träumer phantasielos. Wer Angst hat, duckt sich still in eine Ecke und gibt dem Unheil genügend Zeit, sich gründlich aufs Hereinbrechen vorzubereiten. Dabei ist die Angst eigentlich das Warnsignal, das zum Handeln veranlassen sollte. Jean Gebser: »Angst ist stets das erste Anzeichen dafür ..., daß sich neue Kräfte stauen.« Und er schließt daraus: »So gesehen ist die Angst die große Gebärerin.« 

Wenn etwas geboren wird, wird es aus dem Mutterleib ausgestoßen und ist gezwungen, ein eigenes Leben zu führen, was mit größeren Unbequemlichkeiten verbunden ist. Die klassischen Utopisten sind zwar aus dem öden, bösen Spiel der Realisten ausgestiegen — und das ist schon mehr, als viele von uns je schaffen werden —, aber oft nur, um ein neues Spiel mit ebenso strengen Regeln zu erfinden. E.M. Cioran beschreibt es etwas drastisch so: »Dort läßt man sich ein Glück angelegen sein, das aus geometrischen Idyllen gemacht ist, aus reglementierten Ekstasen, aus tausend Wundern, die zum Speien sind.«

Aus Angst vor der eigenen Courage, vor einer schmerzhaften Geburt ins Ungewisse, sind viele der Utopisten in einem »heimlichen Konformismus« (Ludwig Marcuse) befangen und setzen selber ihrem Denken Schranken. 

So kommt es, daß die Utopisten alten Schlages gegenwärtig von allen Seiten ungeliebt sind. Die Realisten geben ihnen die Adresse <Wolken­kuckucksheim> und verhöhnen ihre <Rosinen im Kopf>, und den Suchern und Wegbereitern einer radikalen anderen Welt sind die alten Utopien zu geschlossen, zu spießig, zu anmaßend, eben zu konformistisch.

Es ist kein Ausweg, sich anzustrengen, um noch perfektere, wirklich unangreifbare utopische Modelle aufzustellen. Das verzweifelte Ringen um die Sicherheit, tatsächlich die beste aller möglichen Welten ausgebrütet zu haben, läßt jede innere Sicherheit, auf dem richtigen Weg zu sein, verlieren.

Wenn der utopische Elan sich darin erschöpft, einen Gartenzaun um die gefundene Utopie aufzustellen und sich dann nie wieder aus dem markierten Bezirk herauszurühren, ist er umsonst. Doch die Idee der Utopie ist zu wertvoll, um sie, als interessantes historisches Stichwort mit einem wohlwollenden Lächeln bedacht, heute beiseite zu legen. Die Utopie muß nicht nur gnädig rehabilitiert, sondern sie muß für uns gerettet werden. Doch dazu muß sie sich wandeln.

 

Die Realisten und die Konstrukteure der geschlossenen Utopien, der »reglementierten Ekstasen«, haben eines gemeinsam: eine bestimmte Denkstruktur. Es ist das Denken, das abgrenzt, mißt, teilt, aussortiert, analysiert und fixiert.

Die Gehirnforschung hat darauf aufmerksam gemacht, daß diese Art zu denken nicht so selbstverständlich ist, wie wir immer meinen. Unser Gehirn besteht aus zwei Hemisphären: der linken, die die rechte Körperseite beherrscht, und der rechten, die die linke Körperseite beherrscht. Durch das sogenannte >Corpus callosum< und durch andere Nervenverbindungen tauschen die beiden Gehirnhälften fortwährend Informationen miteinander aus. Nach Operationen, die infolge von Unfällen oder Krankheiten durchgeführt wurden, entdeckte man, daß sich die Gehirnhälften nicht nur mechanische >Rechts-links-Pflichten< teilen (daß also die rechte Hemisphäre z.B. den Befehl gibt, den linken Arm zu heben, und umgekehrt).

Die aufregendste Erkenntnis war, daß die beiden Hemisphären auch eine inhaltliche Arbeitsteilung vorgenommen haben. Die ausgeprägten Fähigkeiten der linken Gehirnhälfte betreffen alles, was mit verbalem Ausdruck zu tun hat, also Sprechen, Lesen, Schreiben, außerdem die abstrakte Kategorisierung und musikalische Fertigkeiten. Die rechte Gehirnhälfte dagegen ist auf das Verstehen von Metaphern, das Erkennen von Gesichtern, auf räumliche Wahrnehmung und musikalisches Empfinden spezialisiert. Insgesamt ist das linke Gehirn das intellektuelle und das rechte das intuitive.

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An sich besteht keinerlei Zwang, die eine Gehirnhälfte gegen die andere auszuspielen. In unserer westlichen Kultur wird jedoch der linken Seite ein deutlicher Vorrang eingeräumt. Dadurch entsteht ein Teufelskreis, denn je mehr die linke Seite benutzt wird, desto mehr wird sie gestärkt und desto mehr kategorisiert und analysiert sie auf Kosten der intuitiven, ganzheitlichen Fähigkeiten der rechten Hemisphäre.

Die Konstruktion einer geschlossenen Utopie, das penible Ausmalen eines idealen Staates, ist völlig mit dieser Denkweise zu vereinen, denn in der neuen Welt werden exakt die alten Denkmuster verwandt, und nur die Inhalte sind verändert. Damit erklärt sich auch der »heimliche Konformismus« vieler Utopien — sie sind nur der sprichwörtliche neue Wein in alten Schläuchen.

Der Ausweg aus dieser Sackgasse scheint die Kreativität zu sein. Kreativität entsteht aus der Versöhnung beider Denkarten, wobei dem »rechten Gehirn« erst einmal die Möglichkeit zur Entfaltung gegeben werden muß. Kreative Menschen sind spielerisch, haben wenig vor dem Respekt, was Realisten »feststehende Tatsachen« nennen, haben keine Angst, als unlogisch zu gelten, träumen gern vor sich hin und blockieren sich nicht ständig durch Selbstzensur. Und sie denken weniger in Worten als in Bildern und Zeichen. Albert Einstein hat einmal beschrieben, wie er arbeitet: Zunächst gab er sich einem assoziativen Spiel hin, mehr oder weniger klaren Bildern und Zeichen, die immer wieder neu kombiniert wurden. Worte spielten in diesem Stadium des Denkens kaum eine Rolle. Erst wenn das assoziative Spiel genügend gefestigt war und willkürlich wiederholt werden konnte, suchte er »mühevoll« Worte oder andere konventionelle Zeichen dafür.

Kreative Menschen haben die Fähigkeit, Getrenntes, sogar Gegensätzliches, zu einer Einheit zu verschmelzen: Spiel und Ernst, Lust und Arbeit, Intuition und Vernunft. Was überhaupt als kreativ in unserer Kultur angesehen wird — meist intellektuell-theoretische männliche Spitzenleistungen —, ist häufig wieder dem Urteil der linken Gehirnhälfte unterworfen, und diese findet nur gut, was ihren Stempel trägt. Kreativitätsforscher Abraham A. Maslow hält dagegen eine erstklassige Suppe für kreativer als ein zweitklassiges Bild, und Alexander Lowen meint: »Ein Kind so aufzuziehen, daß es sich geliebt, geachtet und geborgen fühlt, ist eine schöpferische Leistung.«

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Aber ist Kreativität automatisch human? 

Man kann in aller Seelenruhe eine erstklassige Suppe kochen und hinterher beim Essen einen Vortrag über den Nutzen eines begrenzten Atomkriegs halten. Man kann auch eine traumhaft schöne Oper komponieren und durch ihre Aufführung das Ansehen eines Diktators stärken. Oder man kann, wie der Physik-Nobelpreisträger William Shockley, dazu anregen, daß sich Menschen mit niedrigem Intelligenz-Quotienten — vorzugsweise Farbige — sterilisieren lassen.

Kreative Spitzenleistungen, die fachidiotisch nur der Stärkung des eigenen Egos dienen, machen die Welt kein bißchen humaner, eher schon die kreative Leistung des Richters in Brechts Kaukasischem Kreidekreis. Er hat ein schwieriges Problem zu lösen: Wem soll er das Kind zusprechen? Vor ihm stehen die leibliche Mutter, die das Kind verlassen hatte und es nun aus Profitgier wieder zurückhaben will, und Grusche, die das Kind aufgezogen hat und es liebt. Da zeichnet der Richter einen Kreis auf den Boden, stellt das Kind hinein und sagt: Die richtige Mutter wird die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu sich zu ziehen. Beide Frauen packen zu, doch schließlich läßt Grusche den Arm des Kindes los, um ihm nicht weh zu tun. Daraufhin spricht der Richter ihr das Kind zu, weil er sie als die wirklich Mütterliche erkennt.

Utopien sind immer nur so gut wie das Bewußtsein, aus dem heraus sie entstehen. Es ist lächerlich, sich eine utopische Kleiderordnung auf einer Südseeinsel auszumalen, während dieselbe Insel durch die Zündung einer Wasserstoffbombe radioaktiv verseucht wird. Es ist einfältig, sich ein utopisches Spießerglück im grünen Bio-Winkel zu erträumen, wo man selig die eigene Geranie begießt und sich freut, wenn die Nachbar-Geranie eingeht. Es ist dumm, abstrakt ideale Staaten zu entwerfen, in die sich die Menschen konkret unter Anwendung von Gewalt einzupassen haben. Es ist geistlos, Maschinen zu vollkommenen Menschen und Menschen zu mustergültigen Maschinen machen zu wollen.

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Utopien sind immer nur so gut wie das Bewußtsein, aus dem heraus sie entstehen. Der Eckpfeiler dieses, des abendländischen Bewußtseins ist der Stolz auf das Ego, auf das Ich, auf die abgegrenzte Persönlichkeit. Es ist dies ein empfindliches Ding, ständig schwankend zwischen Ohnmachtsund Allmachts­gefühlen. Je hilfloser und gedemütigter es sich fühlt, desto mehr muß es auftrumpfen, um seine Stärke zu beweisen. Das Ich ist gefräßig, es nimmt alles her, was seinem ausgeprägten Wunsch nach Macht, Kontrolle und einem makellosen Image dient — und sei es auch die vorübergehende kleine Unbequemlichkeit einer selbstlosen guten Tat.

Solange wir dieses Ich-Bewußtsein pflegen, werden wir die Utopien haben, die wir verdienen: »Die Menschheit wird diese Art mörderische Aggression von Krieg, Unterdrückung und Verdrängung, Anhaften und Ausbeutung nie, ich wiederhole, nie aufgeben, ehe sie nicht den Besitz aufgibt, den man Persönlichkeit nennt — das heißt, ehe sie nicht zur Transzendenz erwacht« (Ken Wilber).

Die Aufgabe der Utopisten ist es nicht, geistvolle Kunststückchen zu vollbringen, denen, je nachdem, Germanisten, Historiker oder Technologen applaudieren. Es hat überhaupt keine Trennung mehr zwischen Utopisten, die träumen, und Realisten, die angeblich auf dem Boden der Tatsachen stehen, zu geben. Wir alle müssen unsere, die wahre Realität wiedererschaffen. Und unsere, die wahre Realität ist der Zustand, in dem die Tatsachen mit den Träumen versöhnt sind. 

Nur wer träumt, ist wirklich Realist, denn das, was die Realisten als Realität bezeichnen, ist nur ein kümmerlicher Schatten ihrer selbst, ein manipuliertes Abstraktum. Etwas, das man leichten Herzens in die Luft jagen kann ... Eine so zurechtgestutzte Realität, die niemand mehr lieben kann, führt zum Tod, denn warum soll man sich für etwas, das man nicht liebt, anstrengen? Man arbeitet freiwillig nur für das, was man liebt. Allein die Versöhnung kalter Tatsachen mit lebendigen Träumen läßt uns die Realität wieder lieben, läßt uns wieder für sie arbeiten. Deshalb können wir ohne Utopien nicht leben.

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Was wir am Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr brauchen, sind die geschlossenen Utopien, die theoretisch möglichst <wasserdichten> Entwürfe idealer Gemeinwesen. Was wir vielmehr brauchen, sind offene Utopien. Offene Utopien sind, gerade weil sie nicht als geschlossenes, leicht präsentierbares Ganzes spektakulär ins Licht rücken, oft schwer als solche zu erkennen. Sie weisen manchmal nur einen Weg, zeigen nur eine Richtung, lassen nur ein Detail aufblitzen.

In unseren Interviews wurden einige Ansätze offener Utopien deutlich. So malt Heide Göttner-Abendroth kein >Matriarchat< der Neuzeit aus, sondern arbeitet an der Entwicklung eines matriarchalen Bewußtseins. So legt Jürgen Zimmer keinen Plan für ein perfektes Schulsystem vor, sondern orientiert Erziehung an konkreten Lebensumständen. So beschwört Dieter Hagenbach kein Paradies, das im Jenseits auf uns wartet, sondern zeigt, daß sich Spiritualität gerade hier auf der Erde offenbart.

So zeigt Marina Gambaroff, daß unter Liebe keine geschlossene Zweierbeziehung, sondern gerade deren Überschreitung zu verstehen ist. So sieht Michael Lukas Moeller in der Utopie eine Entwicklungsgestalt, die durch ihre Bewegung die Evolution beeinflußt. So ist für Constanze Eisenbart >Frieden< kein statischer Zustand, sondern ein Prozeß. So sieht Wolfgang Jeschke als utopische Aufgabe der Science Fiction, über unsere technische Welt hinauszudenken, und keine vorindustriellen Paradiese zu entwerfen. So möchte Otto Schily die Absonderung von der Welt aufheben, anstatt sich in eine alternative geschlossene Gesellschaft zurückzuziehen. Und auch Karl Held, selbst wenn er den Begriff »Utopie« ablehnt, arbeitet an einer neuen Gesellschaft, in der es keine Unterdrückten mehr geben wird.

Die offene Utopie bestimmt mit engagierter Deutlichkeit die Richtung, fixiert aber nicht das Ziel. Die offene Utopie liebt es hin und wieder sogar, sich zu verstecken, damit sie nicht zur geschlossenen gemacht wird. Das kann so weit gehen, daß eine geschlossene Utopie vorgeschoben wird, damit sich die offene in aller Ruhe entwickeln kann: In Hermann Hesses Glasperlenspiel ist die geschlossene Utopie die Ordensprovinz Kastalien, in der die — ausschließlich männlichen — Zöglinge dem reinen, abstrakten Geist zugeführt werden.

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Die Frauen und das chaotische, unordentliche Leben werden ausgesperrt. Die offene — aber versteckte — Utopie ist das Scheitern an dieser künstlichen Trennung zwischen geistigem und sinnlichem Leben, also die Sehnsucht, doch beides miteinander vereinen zu können.

Das Scheitern ist nicht Gegenbeweis, sondern wesentlicher Bestandteil der offenen Utopie. Offene Utopien sind Szenarien, die jederzeit umgeschrieben werden können. Dieses Umschreiben war die Unfähigkeit der Konstrukteure idealer Gemeinwesen. Da sie nun einmal die beste aller Welten ersonnen hatten, war es ihnen natürlich unmöglich, diese zur fortwährenden Korrektur freizugeben. So mußten auch denkbare Außenseiter, die je ein solches Ansinnen stellen könnten, ausgeschaltet werden.

Die Unfähigkeit zu scheitern ist wiederum eng mit der Verhaftung an , die alte Denkstruktur des Ego-Bewußtseins verknüpft. Scheitern kann nur jemand, der sich nicht an das klammert, was er für seine Persönlichkeit, für sein klar umgrenztes Ich hält. Das Ego hält jedes Scheitern für eine Katastrophe, weil es dadurch selbst in Gefahr kommt. Es glaubt dann, die Welt geht unter, weil es sich selbst, aufgebläht, wie es ist, für die ganze Welt hält. Da es nur sich sieht, kann es keine Alternativen erkennen. Der Konzernchef, der sich mit der Leitung seiner Firma identifiziert, erschießt sich, wenn die Firma pleite geht. Der Diktator tötet, wenn jemand seine Allmacht anzweifelt.

Nicht scheitern, zu können ist lebensgefährlich, für sich und für andere. Und wer nicht im Kleinen scheitern kann, scheitert im Großen. Wem es nicht gelingt, auf Dauer sein Ego mit der schmeichelhaften Überzeugung aufzupäppeln, es kontrolliere die ganze Welt, jagt sie eines Tages aus Wut über diese >Niederlage< mit einem Knopfdruck in die Luft. Doch das Festhalten an dem, was man für Sieg hält, ist ein Akt, der sich gegen das Leben selbst richtet: »Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts, und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind« (Thomas Bernhard).

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Eine offene Utopie ist kein Gebäude, das zusammenbricht, wenn man einen Stein herauslöst, sondern sie ist etwas organisch Wachsendes, das ständig im Wandel, in Veränderung ist. Die offene Utopie schließt die Rebellen nicht aus, sondern rebelliert ständig gegen sich selbst. Wenn man eine Utopie zum Scheitern freigibt, läßt man sie überleben, wenn man sie vor dem Scheitern zu bewahren sucht, bringt man sie um. Eine Utopie, welche die Kunst des Scheiterns beherrscht, regeneriert sich immer wieder aus sich selbst heraus. Sie ist stabil, weil sie nicht starr ist.

Um offene Utopien entwerfen zu können, müssen wir lernen zu scheitern. Scheitern können heißt, sich immer wieder von den Dramen des Lebens zu distanzieren, die man ständig schreibt, inszeniert und spielt. Und, genau so wichtig: von den Dramen, die andere schreiben, inszenieren und spielen. Abstand zu halten.

Utopisch zu denken heißt, Alternativen zu den gespielten Dramen zu sehen, heißt. Alternativen zu den Alternativen der gespielten Dramen zu sehen, heißt, Alternativen zu den Alternativen zu den Alternativen ...

Die offene Utopie ist eine Insel, aber eine, die sich nicht trutzig-abweisend gibt; sie ist nicht >die< Insel, sondern nur eine kleine Insel unter vielen anderen, die regen Fährkontakt miteinander haben. Das ist in der Alternativ-Szene die Idee der Vernetzung: Einzelne autonome Projekte tauschen ihre Erfahrungen miteinander aus, unterstützen und ergänzen sich.

Die offene Utopie muß die Welt in sich hineinlassen, auch um die Gefahr des Scheiterns. Jede gescheiterte Utopie legt den Keim für eine neue. Ein System dagegen, das sich gegen Einflüsse von außen abriegelt, bleibt vielleicht länger unangefochten, geht aber aus Mangel an lebendigem Zufluß mit der Zeit auf jeden Fall zugrunde und ist dann endgültig vernichtet.

Die offene Utopie muß die Welt in sich hereinlassen, damit sich das Ego nicht wieder mit dem mehligem Bewußtsein schmückt und als stolzer Gockel damit herumspaziert. Ein paar modisch aufpolierte Ideale von Freiheit und Emanzipation sind noch keine Utopie.

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Der Realist und der Idealist sind zwei Seiten derselben Medaille: Beide sind unmenschlich. Ein noch so schönes Bewußtsein, das nicht konkret ausdrückt, wovon es redet, ist keinen Pfifferling wert. Die klügste Abhandlung über Erziehung ist strohdumm, wenn man sein Kind mißhandelt, um Zeit zu haben, diese kluge Abhandlung schreiben zu können. Die Welt hereinzulassen, bedeutet, das Große ständig durch das Kleine korrigieren zu lassen — und das Kleine dabei nicht als das Mindere anzusehen.

Es gibt keine Utopie, die <objektiv> gut ist und nur (leider, leider) durch die Anwesenheit von Menschen immer wieder verunziert wird. Die Menschen haben nicht die Utopie reinzuhalten, sondern die Utopie hat den Menschen zu dienen. Und »dienen« heißt nicht, gefällig anzupassen, sondern anzustacheln, aufzufordern. Eine Utopie ist von unten nach oben, nicht von oben nach unten zu denken. Die Realisten hatten alles Interesse daran, das utopische Denken in die Wolken abzuschieben — und der Respekt vor diesen sogenannten Realisten war so groß, daß wir ihnen glaubten. Gut eingerichtet finden nur die Herrschenden die Welt, weil sie sie auf Kosten anderer so eingerichtet haben. Und diese anderen sind wir, nicht nur einige Minderheiten in abgelegenen Landstrichen.

 

Jede Utopie arbeitet daran, die — scheinbar — unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Realität und Wunsch, Leistung und Lust, Vernunft und Gefühl aufzuheben, andernfalls wäre sie ja nur ein Ideal. Doch gibt es eine Reihe von Gegensatzpaaren, deren Auflösung in den geschlossenen Utopien nicht nur Realisten für lächerlich, unzulänglich oder ganz und gar mißlungen halten. 

Das sind vor allem folgende drei Gegensatzpaare: 
Rückwärtsgewandte Utopie kontra Fortschritt, 
Individualität kontra Kollektiv und 
Konfliktbereitschaft kontra Harmonie.

 

Rückwärtsgewandte Utopie kontra Fortschritt  

 

Müssen wir uns wirklich entscheiden? Hier die Sehnsucht nach der Idylle, dem unberührten Fleckchen Erde (von keiner industriellen Revolution entweiht) und wir, dumpf eingeschmiegt in die Arme einer sanften Mutter Natur — oder dort der Fortschritt, die technisch brillanten Wunder mit der Super-Utopie der künstlichen Intelligenz, der Triumph des rational Machbaren.

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Entweder warm und dumm oder kalt und klug — das ist keine verlockende Alternative. Dennoch haben sich die geschlossenen Utopien immer wieder dazu verleiten lassen, eine Wahl zu treffen. Die offene Utopie propagiert nicht die Rückkehr in den Mutterschoß, die, wie wir im Kapitel »Die Männer und das Große Runde« festgestellt haben, nur zu Frauenfeindlichkeit führt und den Fortschritt zugunsten des Rückschritts ausschließt. Sie berauscht sich auch nicht an den Glanzleistungen unmenschlicher Technologien, die dem Fortschritt die natürliche Verwurzelung opfern. Die offene Utopie ist kein Pfeil, der, alles Vergangene hinter sich lassend, in die Zukunft schießt, und auch kein Pfeil, der, allem Neuen entgegengesetzt, in die Vergangenheit zielt. Die offene Utopie ist überhaupt kein Pfeil, sondern eher eine Spirale, die bei jeder Bewegung nach oben zurückfaßt und das Vergangene einbezieht, mitnimmt.

Neben dem Rollen zurück ins sichere Nest und dem Marschieren nach vorn in den abstrakten Geist gibt es ein drittes Etwas, das endlich auch die Frauen aus dem Dilemma <geistloses Urweib oder unweibliches Geistwesen> befreien könnte. Ken Wilber hat es als den Übergang von der Großen Mutter zur Großen Göttin beschrieben. Die Große Mutter, das Bergende, Nährende, aber auch Verschlingende, unbewußt und abhängig Haltende, kann nicht symbolische Schutzherrin einer Utopie am Ende des 20. Jahrhunderts sein. Zum einen würde das Patriarchat damit nur gemästet, denn wie wir gesehen haben, verstärkt eine zu große Abhängigkeit vom mütterlichen Urprinzip, als rächende Gegenbewegung, nur die Frauenfeindlichkeit. 

Zum anderen ist eine Utopie, die nur Vergangenem hinterherläuft, lediglich der weinerliche Abklatsch einer modernen Utopie, deren Grundprinzip die Weiterentwicklung der menschlichen Verhältnisse sein muß. Doch auch die Anbetung des reinen abstrakten männlichen Geistes führt (natürlich) zur Verachtung der Frauen und zur Konstruktion jener Waffen, die schließlich jede Diskussion über Utopien oder sonst irgend etwas überflüssig werden läßt, weil es keine Gehirne mehr gibt, die über dererlei nachdenken könnten.

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Die Idee der Großen Göttin ist dagegen gleichsam die offene Spirale gegenüber dem geschlossenen Kreis der Vorstellungen von der Großen Mutter. Auch sie fordert dazu auf, das übersteigerte Ich-Bewußtsein, die isolierende Individualität aufzugeben, doch nicht, um die Menschen abhängig und unbewußt zu machen, sondern um sie über sich hinaus zu wirklicher Weisheit zu führen. Die weibliche Weisheit, die Sophia, bedeutet nicht abstraktes, wertfreies, rationales Wissen, sondern ist »eine Weisheit liebender Bezogenheit«, ist »Weisheit und Nahrung zugleich« (Erich Neumann). Sie ist Rückkehr und Fortschritt: Rückkehr zur Menschlichkeit, zur Bindung an das Leben, zu weiblicher Stärke und Fortschritt hin zu Bewußtheit, zu geistiger Klarheit.

Heimisch zu sein, wo man noch niemals war, ja, sich nur und erst im <Nirgendwo> zu Hause zu fühlen, das ist auch die auf den ersten Blick erstaunliche Quintessenz, die Ernst Bloch aus dem Sinn jeden utopischen Strebens zieht. Das letzte Wort seines Riesenwerkes <Das Prinzip Hoffnung> heißt »Heimat«. Doch er definiert Heimat gerade nicht als die sentimentale Beschwörung eines verlorenen Paradieses, sondern Heimat ist, »worin noch niemand war«. Also ein Land, das man kennt, aber noch entdecken muß.

Die offene Utopie ist der Weg in diese Heimat. Da ist kein Hockenbleiben in der Enge, kein Kleben an der Scholle; aber es fordert auch kein plötzlich heraus­brechender Freiheitsdrang zum gewaltsamen Losreißen von jeder Wurzel, von jeder Bindung auf. Man tritt eine Reise an, doch die zum Ursprung.

 

Individualität kontra Kollektiv

 

»Das Unglück des einzelnen ergibt das Glück der Allgemeinheit, so daß es um das Gemeinwohl desto besser bestellt ist, je mehr Unglück der einzelne erleidet«, lautet die zynische Philosophie des Doktor Pangloss in Voltaires <Candide>, ein Motto, das über allen negativen Utopien stehen könnte. In den positiven Utopien ergibt zwar nicht gerade das Unglück des einzelnen das Gemeinwohl, aber die Individualität wird doch überall auf mehr oder weniger sanfte Weise derart zurechtgestutzt, daß sie zumindest nicht mehr stört. 

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Muß sich wirklich der einzelne für die Gemeinschaft aufopfern, oder muß, wenn man das ablehnt, die Gemeinschaft unter dem Freiheitsdrang einzelner leiden? 

Sieht sich ein Gemeinwesen, ein Staat selbstherrlich als eine Maschine zur Machtausübung oder auch nur als exklusiver Eigner von Wahrheit und Wirklichkeit, und begreift sich der einzelne als ein Ego, das sich gegen die Egos der anderen durchsetzen muß, dann gibt es keine Lösung für diesen Gegensatz. Man muß wieder einmal aus dem Spiel aussteigen, um nicht zwangsläufig der Verlierer zu sein. Nicht nur als Untertan zieht man nämlich den Kürzeren. Der Verlierer ist man auch, wenn das eigene Ego siegt, denn: »Auf Zehen erheben / Kein Stehn / Auf Stelzen schreiten / kein Gehn / Wer da scheinen will / erleuchtet nicht / Wer was sein will / unterscheidet sich nicht / wer sich rühmt / verdunkelt sich« (Lao-tse).

Es war schon immer und ist noch heute der Herzenswunsch jeder Utopie, den Gegensatz von Individuum und Kollektiv in Harmonie zu verschmelzen. Das haben auch die Staatsromane versucht. Nur setzten sie — vor zwei Weltkriegen und noch >naiv< — darauf, daß dieses >Kollektiv< der Staat oder ein staatsähnliches Gebilde sei und daß es, denkt man es sich nur gut genug aus, schon das Rechte für uns tun wird. Wir haben inzwischen Grund genug, dieser frohen Erwartung düsteres Mißtrauen entgegenzubringen. Aber sind wir wirklich am mächtigsten allein?

Nur die offene Utopie kann diesen Konflikt lösen, indem sie nicht mehr ein fixiertes, umgrenztes Staatsgebilde als Kollektiv sieht, also ein Kollektiv, das den Widerstand des einzelnen herausfordern muß. Das Kollektiv ist in der offenen Utopie die Gruppe: die Familie, die Arbeitsgruppe, das Stadtviertel, die Kommune, die Region. Es gibt keine hierarchische Staffelung mehr von unten nach oben — Ich, Familie, Arbeitsplatz, Staat —, deren jede Stufe den Einpassungsdruck auf den einzelnen verstärkt. Die Bindung ans Kollektiv ist natürlich, zwanglos, gewollt, und die Eingliederung in ein Kollektiv ist nicht ein moralischer Zwang, welcher der freien Entfaltung der Persönlichkeit entgegenwirkt. Der einzelne bleibt (oder wird sogar erst) in der Gruppe er selbst und hat es deshalb nicht mehr nötig, sein Ich zwanghaft abzugrenzen.

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Die vollkommene Unabhängigkeit des einzelnen ist nicht nur eine Illusion, sondern sie ist auch unmenschlich. Kann ein >Ich< wirklich glücklich sein, wenn es, sagen wir, in einem Straßencafe sitzt und in aller Ruhe Kaffee schlürfend zuschaut, wie auf derselben Straße politisch unliebsame Personen vom Geheimdienst erschossen werden? Auch wenn man vieles nicht verhindern kann: Niemand kann glücklich sein, wenn andere leiden, nicht mal ein Sadist. Sein Ego freut sich vielleicht, aber er ist nicht glücklich.

C.G. Jung setzte dem Individualismus, der allein auf eine Stärkung des eitlen Egos aus ist, die Individuation entgegen. Individuation bedeutet, zum »eigenen Selbst werden«. Während Individualismus nur ein absichtliches Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Rücksichten ist, bedeutet Individuation »geradezu eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmungen des Menschen, indem eine genügende Berücksichtigung der Eigenart des Individuums eine bessere soziale Leistung erhoffen läßt, als wenn die Eigenart vernachlässigt oder gar unterdrückt wird«.

Individuation ist ein psychologischer Prozeß, der den Menschen genau zu dem Einzelwesen macht, das er nun einmal ist, ihn also gerade von dem Image seiner selbst, das sein Ego künstlich konstruiert, befreit. Daß diese Selbstverwirklichung nicht im Gegensatz zum Kollektiv stehen muß, begründet Jung mit der Tatsache, daß das menschliche Individuum aus lauter universalen Einheiten zusammengesetzt ist. Gerade die intimsten und wesentlichsten Dinge im Leben eines Menschen — Geburt, Sexualität, Liebe, Tod — sind nämlich zugleich allen gemeinsam. Jung: »Da die an sich universalen Faktoren aber stets nur in individueller Form vorhanden sind, so bringt ihre völlige Berücksichtigung auch eine individuelle Wirkung hervor, die durch nichts anderes, am wenigsten durch Individualismus überboten werden kann.«

Die offene Utopie versucht also nicht, das bedrohlich, chaotisch erscheinende Individuum gewaltsam mit einem von oben aufgepfropften, ideal ausgedachten Kollektiv zu verbinden. Sie hilft dem Individuum, sich so zu entfalten, daß es seine natürliche Beziehung zu anderen selbst entdecken kann.

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Konfliktbereitschaft kontra Harmonie 

 

Harmonie — bei diesem Wort denkt man vielleicht an mehrere Personen, die um einen hübsch gedeckten Kaffeetisch sitzen, sich gegenseitig Artigkeiten sagen und dabei nur mühsam die Lust unterdrücken können, jemandem die Torte ins Gesicht zu klatschen. Doch ist Harmonie wirklich nur als Verlogenheit, als Unterdrückung von Aggressionen denkbar? Ja, wenn man darunter nur eine schöne Fassade versteht.

Soziale Harmonie zu erreichen, ist die Sehnsucht aller utopischen Staatsromane. Als erfüllt wird sie dargestellt, wenn mehrere Leute um einen hübsch gedeckten Kaffeetisch sitzen, sich gegenseitig Artigkeiten sagen — und nicht die geringste Lust haben, jemandem eine Torte ins Gesicht zu klatschen. Der Traum von der großen Harmonie ist dann wahr geworden. Die Methode allerdings scheint der des Prokrustes nicht unähnlich zu sein: Dieser Unhold aus der griechischen Sagenwelt pflegte bei ihm einkehrende Wanderer so zu verkürzen oder zu strecken, daß sie genau in sein Bett paßten.

Viele Utopien glauben, daß dann Harmonie herrscht, wenn alle Menschen möglichst gleich sind. Die meisten Utopier tragen die gleiche Kleidung, essen das gleiche, bekommen die gleiche Ausbildung, wohnen in den gleichen Häusern, und es werden immer nur gleichaltrige Kinder zusammengeführt. Wenn Harmonie die größtmögliche Einebnung von Gegensätzen und Unterschieden ist, so fordert sie Rebellion heraus — von denen, die noch die Kraft dazu haben. Sonst versandet sie in resignierter Anpassung. Wenn man schwach ist, fühlt man sich in der Masse am sichersten.

Der Traum von der vollkommenen sozialen Harmonie ist nur in der geschlossenen Utopie zu denken. Die offene Utopie muß versuchen, auf den verschiedensten Gebieten Voraussetzungen für harmonisches Zusammenleben zu schaffen — eine perfekte Harmonie wird sie nie entstehen lassen können, weil die Erde nicht das Paradies ist. Die offene Harmonie bügelt nicht die Konflikte weg, sondern bemüht sich, sie produktiv zu lösen oder zu nutzen. Konflikte entstehen zwischen Verschiedenartigem, und nichts, was lebt, ist vollkommen gleichartig.

In der griechischen Mythologie ist Harmonia die Tochter von Ares und Aphrodite, also vom Gott des Krieges und von der Göttin der Liebe. Sie ist die Eintracht des Unterschiedlichen. Heraklit meinte: »Es strebt wohl auch die Natur nach den Gegensätzen und wirkt aus ihnen den Einklang, nicht aus dem Gleichen. So führt sie das Männliche mit dem Weiblichen zusammen (und nicht etwa ein jedes zu seinesgleichen) und knüpft so den allerersten Bund durch die entgegengesetzten Naturen.«

Soziale Harmonie bedeutet also nicht, alle zu identischen vierblättrigen Kleeblättern zu machen, mit Gewalt und von oben dirigiert, sondern unterschiedliche Menschen, verschiedene Gruppen zu einem harmonischen Ganzen zusammenwachsen zu lassen.

Die offene Utopie ist nicht selbst <die> endgültige, überstrahlende Super-Utopie, sondern lediglich das Gefäß, in das die konkreten Inhalte noch hinein­gegossen werden müssen. Sie ist der neue Schlauch für den neuen Wein. Das Bild, die Form, die Farbe der Utopie findet jeder überall. 

Die Utopie eines einzelnen bleibt vielleicht machtlos, aber die Utopien vieler werden die Wirklichkeit verändern.

 

"Die Frage <Wo ist Utopia?> ist gleichbedeutend mit der Frage <Wo ist nirgendwo?>. 
Die einzige Antwort auf diese Frage ist <Hier!>
 
 (N. Frye)

243-244

Ende

 

 

 

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