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Erziehung und Utopie

Der Traum vom Neuen Menschen 

 

Wo Kinder sind, da ist ein 
goldnes Zeitalter.  --Novalis--

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Gewöhnlich denken wir darüber nach, ob eine Utopie zu uns paßt. H.G. Wells hat dies in seinem Roman <Menschen, Göttern gleich> einmal umgekehrt: Sind wir überhaupt reif für Utopia? Eine englische Reisegruppe gelangt nach Utopia, wo die Menschen schön, klug und sanft sind und sich durch Gedanken­übertragung verständigen. Frauen und Männer sind sich in freier Liebe verbunden. Die Folge? Die englische Reisegruppe ist entsetzt über die »anarchistischen Zustände« und die »viehische Unzucht«, die sie dort vorzufinden glaubt. Wells: »Diese Erdlinge konnten mit Utopia nichts weiter anfangen, als es so schnell wie möglich in die Kämpfe, die Unterwerfung, die Grausamkeiten und Unordnung des Zeitalters der Verwirrung, in dem sie sich selbst befanden, zurückzustürzen.«

Wir alle sind verrückt, böse und schwach. Wir alle klammern uns an unsere Unordnung und unsere Grausamkeiten, weil es bequem ist. Das bißchen Hoffnung, alles könnte doch noch anders werden, setzen wir auf unsere Kinder. Ein Kind ist eine Utopie aus Fleisch und Blut. Die Kinder werden die <Neuen Menschen> sein, die Utopias würdig sind, die überhaupt erst in der Lage sein werden, Utopia zu schaffen.

Kindererziehung ist in jedem utopischen Roman ein Schwerpunktthema. Von Platons philosophisch unter­mauerten Gymnastik-Vorschriften bis zu Goethes Pädagogischer Provinz — jeder hatte und hat da so seine Reformideen. Denkt man die Chancen der Erziehung immer weiter, so endet man bei der zündenden Erkenntnis, daß eine perfekte Erziehung eigentlich die sein müßte, bei der man das gewünschte Ergebnis mit hundertprozentiger Sicherheit erhält. Doch hier verwischen sich mal wieder die Grenzen zwischen positiver und negativer Utopie.

In Huxleys Roman <Schöne neue Welt> werden die idealen menschlichen Wesen zunächst in Reagenzgläsern gezüchtet und dann auf ein gewünschtes Verhalten konditioniert. Indem man etwa kleinen Kindern jedesmal, wenn man ihnen Blumen und Bücher zeigt, gleichzeitig elektrische Schocks versetzt, sind sie ihr ganzes Leben lang »gegen Druckerschwärze und Wiesengrün« gefeit. Einer anderen Gruppe von Kindern wird auf dieselbe Weise die Liebe zum Freiluftsport antrainiert, damit die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt und Sportgeräte gekauft werden. Das ist die Horror-Utopie.

In Skinners <Futurum 2> werden die Kinder in einem Kinderhaus, jedes nur unter Gleichaltrigen, nach akribischen Regeln erzogen. Man ist sogar so vorausschauend, sie auf die kleinen Widrigkeiten des Lebens vorzubereiten. Dazu werden künstlich Frustrationen erzeugt, zum Beispiel, indem sie einem »immer schmerzhafter werdenden Schock« ausgesetzt werden ... Das ist die positive Utopie.

Die Utopie eines Menschen kann keine fehlerfrei funktionierende Maschine sein — die Utopie eines Menschen muß ein Mensch sein. Erziehung kann Kinder zu verzweifelten, haßerfüllten Erwachsenen machen, die ihre Umgebung ins Unglück stürzen. Kann Erziehung dann nicht auch freie, glückliche Menschen erschaffen? Ein Utopia, das nicht von Utopiern bewohnt wird, wäre ein lächerliches, abstraktes Gebilde. Aber ein <Neuer Mensch>, der dies nicht freiwillig wird, ist eine Art konditionierter Ratte.

 

Jürgen Zimmer, *1938, studierte Psychologie und Pädagogik. 1965-1971 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, 1971-1978 Leiter des Arbeitsbereiches Vorschulerziehung im Deutschen Jugendinstitut München. 1978 Wissenschaftlicher Rat und Professor für Erziehungswissenschaft in Münster, ab 1978 ordentlicher Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin, ab 1980 an der Freien Universität Berlin. Er ist Direktor des Instituts für interkulturelle Erziehung und Bildung an der FU. 
Bücher:  <Pädagogik der Befreiung: Lernen in Nicaragua> (1983), <Erziehung in früher Kindheit> (1985). 

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Interview mit Jürgen Zimmer über <Erziehung und Utopie> 

 

Glauben Sie, daß man durch Erziehung den Neuen Menschen erschaffen kann? 

Der Neue Mensch als Zielvorstellung spielt im Augenblick, wenn man rings um den Erdball schaut, am ausdrücklichsten in Nicaragua eine Rolle, wo 1979 eine Revolution stattgefunden hat. Die Sandinisten haben 1980/81 etwas Singuläres getan; sie haben eine »Consulta Educativa Nacional« durchgeführt, eine Befragung von ungefähr 50.000 Menschen, die in einen mehrwöchigen Dialog verstrickt wurden: Wie soll der Neue Mensch aussehen und wie soll ein Bildungswesen beschaffen sein, das diesen Neuen Menschen stützt, entwickelt, befördert? 

Wenn man die Ergebnisse liest, dann ist es ein Mensch mit Eigenschaften. Und zu den Eigenschaften, die da besonders hervorgehoben werden, gehört beispielsweise, daß dieser Mensch gegen Diskriminierung, gegen Rassismus, gegen Unterdrückung kämpfen soll; er soll bescheiden und solidarisch sein, er soll die Würde der manuellen und intellektuellen Arbeit achten. Es ist eine lange Liste mit Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die wahrscheinlich auch die meisten von uns unterschreiben könnten.

Man kann in Nicaragua gegenwärtig trotz der Bedrohung durch die Vereinigten Staaten erkennen, daß die Chance zur Erziehung des Neuen Menschen jenseits der traditionellen pädagogischen Lernorte liegt, nämlich dort, wo sich die Nicaraguaner in einem Prozeß des tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels befinden. In Nicaragua wie auch in anderen Ländern der Dritten Welt kann man aber gleichzeitig deutlich sehen, daß dieser Neue Mensch durch die alten Bildungs­einrichtungen unterlaufen wird.

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Denn in allen diesen Ländern, die einmal Kolonialherren hatten, existiert so etwas wie eine Abklatsch-Kultur, das heißt: Die europäische — oder jetzt auch neuerdings die nordamerikanische — Schule wird in den Aspekten kopiert, die die Reformpädagogen bei uns für besonders verwerflich halten. Kopiert wird vor allem die Spaltung zwischen dem Leben ringsum und der schulischen Realität, die eine Scheinrealität, eine didaktisch vermittelte Realität ist.

Schule ist nicht Teil der Gemeindeentwicklung, nicht Teil der gesellschaftlichen Transformation, sondern in ihr wird etwas Artifizielles betrieben. Das heißt, die Institutionen, in denen der »Nuevo Hombre«, der Neue Mensch, erzogen werden soll, widersprechen dem, was die Campesinos und alle Nicaraguaner, die sich an dieser Consulta beteiligt haben, wollen. Und das gilt nicht nur für Nicaragua. Bei uns ist das Problem ähnlich. Über pädagogische Utopie zu reden, heißt nicht, darüber zu reden, wie die ökologische Restgröße namens Familie in den wenigen Stunden, in denen Kinder sie noch erleben, handelt, sondern darüber zu reden, wie man mit Bildungsinstitutionen umgehen müßte.

Sie schätzen den Einfluß der Eltern bei der Erziehung gering ein?

Ich schätze den Einfluß der Eltern als zunehmend gering ein — wegen der enormen Expansion des Bildungssystems und der Medien in den letzten Jahren.

Aber Sie sagen: Wenn man das Bildungssystem verbessern würde, dann wäre es möglich, den Neuen Menschen zu schaffen?

Ich glaube, daß man durch die pädagogische Verbesserung von solchen Lernorten Kinder zwar glücklicher machen und auch stärker motivieren kann, etwas zu lernen, aber ich glaube nicht, daß man den Neuen Menschen durch eine Erziehung erwirken kann, die abgekoppelt von damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Bewegungen und Veränderungen praktiziert wird. Die Hoffnung einiger Pädagogen Ende der sechziger Jahre im Zuge der Studentenrevolte, sie könnten wie eine pädagogische Avantgarde handeln und stellvertretend für eine nicht existierende Revolution eine Art kulturelle Revolution vom Erziehungswesen her inszenieren — diese Hoffnung ist keine konkrete Utopie, sondern Illusion gewesen.

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Das heißt, es muß eine tiefgreifende gesellschaftliche Transformation im Gange sein oder zumindest das, was der brasilianische Pädagoge Paulo Freire für seine politischen Alphabetisierungs-Kampagnen in Anspruch genommen hat: eine starke gesellschaftliche Bewegung. Es müssen starke gesellschaftliche Kräfte den Wandel erzeugen, um der Pädagogik eine Chance zu geben; sie ist kein Selbstläufer.

Das ist ja der Vorwurf, der auch pädagogischen Modellen oft gemacht wurde, daß man sagt: Da wird eine Insel geschaffen, und die Kinder haben keinen Bezug mehr zum Rest der Welt, der draußen ist. Was halten Sie von pädagogischen Modellen?

Ich halte schon etwas davon, wenn sie in bewußtem dialektischem Zusammenhang mit der Welt stehen, d.h. wenn sie nicht das sind, was ein Teil der Reformpädagogen in den zwanziger Jahren gemacht hat. Der hat gesagt: Weg aus dem Sumpf der Städte, hinaus aufs Land, laßt uns da in freier Natur freie Menschen erziehen. Das finde ich nicht zureichend; die Absetzbewegung von der schlechten Realität muß vielmehr in Kenntnis dieser Realität erfolgen, auch in Auseinandersetzung mit ihr. Und insofern glaube ich schon, daß man dann eine relativ avantgardistische pädagogische Position beziehen kann, wenn die Lerninhalte, die man mit Kindern entwickelt, viel mit der Realität, mit der widersprüchlichen Realität, zu tun haben. Dann ist es ein dialektischer Prozeß. Gesellschaftliche Widersprüche können pädagogisch aufgegriffen werden; umgekehrt muß man davon ausgehen, daß die Pädagogik auch zum Teil in solchen Widersprüchen befangen bleibt. Man kann sich also nicht völlig entkoppeln, aber man kann mehr tun, als nur zu sagen: Wir reproduzieren — als gleichsam konservativer pädagogischer Stand — das, was sowieso läuft.

Dieses Moment der Reproduktion kennzeichnet die deutsche Schulwirklichkeit gegenwärtig weitgehend — und zwar weniger in dem, was Lehrer sagen, als in dem, wie die Institution Schule als solche beschaffen ist.

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Denn die Institution Schule erzieht ja auch, und zwar kräftig; da würde ich mir viel deutlichere Alternativen des Fortschritts innerhalb der Regelschule wünschen. Aber ich wäre skeptisch, das Heil beispielsweise in Alternativschulen zu suchen, die so schichtspezifisch sind, daß sie keine Durchschlagskraft im Hinblick auf größere gesellschaftliche Gruppen haben.

 

Welche Ansätze halten Sie denn überhaupt für fruchtbar von denen, die es in den sechziger Jahren gab?

Ich glaube, daß die sechziger Jahre nach und nach etwas wiederentdeckt haben, was viel früher vorformuliert wurde, nämlich in den zwanziger Jahren. Die erlebten damals eine starke reformpädagogische Bewegung, sowohl in den USA wie in der Sowjetunion wie in Deutschland. Und damals sind Standards formuliert worden, von denen einige noch heute wichtig sind. Dazu zähle ich beispielsweise die Verbindung von Kopf- und Handarbeit, die Überwindung des einseitigen, blutleeren Intellektualismus, den unsere Schulen produzieren. Dazu zähle ich den Vorrang eines an Lebenssituationen orientierten Lernens gegenüber der Vermittlung von reinen Fachinhalten. Das ist ja jeweils ein ganz anderes Lernverständnis, ob ich — wie Paulo Freire das in Lateinamerika macht — von bestimmten Schlüsselproblemen der Menschen ausgehe und die wissenschaftliche Erkenntnis auf die Lösung solcher Probleme richte, oder ob ich umgekehrt den >Zwängen< von Wissenschaftsdisziplinen folge und den Unterricht an den Strukturen und Organisationsprinzipien dieser Wissenschaften orientiere.

 

Das ist mir jetzt etwas zu abstrakt. Wie könnte das konkreter aussehen?

Es gibt ein berühmtes Projekt aus dieser reformpädagogischen Zeit in den USA: Eine Schulklasse stellt fest, daß wieder einmal zwei Kinder wegen Typhus fehlen. Diese Schulklasse macht sich auf, den Bauernhof zu untersuchen, auf dem der Typhus ausgebrochen ist, und entwickelt ein längeres Projekt, um den Typhus auf dem Bauernhof zu bekämpfen.

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Die Schüler untersuchen das Quellwalsser, die Abfälle, sie untersuhen alle möglichen Relaisstationen für Fliegen. Und sie entwickeln am Schluß eine detaillierte Liste für den Farmer mit der Bitte, beispielsweise seine Küchenfenster mit Fliegengittern zu versehen, den Abfall zuzudecken und eine Reihe von weiteren Maßnahmen zu ergreifen. Der Erfolg war, daß auf diesem Bauernhof seit jener Zeit kein Typhus mehr ausbrach.

Das ist ein Projekt, in dem medizinische, physikalische, biologische, chemische, also Erkenntnisse aller möglichen Disziplinen zusammenkommen und auch von den Kindern entsprechend erarbeitet werden müssen, und das dennoch einem übergreifenden sozialen Zweck dient.

Wenn man solche wichtigen Probleme aus dem Leben, aus der Umgebung der Kinder aufgreift, kann man das, was die Fachdidaktiken verfügbar halten, konkret auf diese Probleme beziehen. Das ist eine Praxis, die in der Reformpädagogik entwickelt worden ist und die ein ganz anderes Unterrichtsprinzip darstellt, als alle 45 Minuten im Takt das Thema zu wechseln.

Das radikalste Prinzip, das mir am wichtigsten erscheint, war damals und ist bis heute ein ganz anderer Lernbegriff, als wir ihn gewohnt sind: nämlich Lernen als Teilhabe an lokaler sowie regionaler Entwicklung und Transformation zu verstehen. Das bedeutet. Lernen im Gemeinwesen zu organisieren, aus der Schule herauszugehen. Schule als Basis für die Organisation von Lernprozessen zu nehmen, die möglichst in denjenigen Handlungsfeldern angesiedelt sind, in denen das lokale, regionale, das gesellschaftliche Leben stattfindet. Dafür gibt es einige konkret utopische Beispiele, etwa vor Jahren in Philadelphia, wo man eine »school without walls«, also eine Schule ohne Mauern gegründet hat.

 

Das bedeutet aber, daß diese Art von Lernen der bestehenden Gesellschaft oft kritisch gegenübersteht. Macht das diese Art vielleicht so unbeliebt?

Das hängt vom gesellschaftlichen Umfeld ab. Wenn man Länder nimmt, die einen bewußten Prozeß der Entkolonialisierung eingeleitet haben, dann kann man sehen, daß die Mehrheitsgesellschaft die Transformation mitvollzieht.

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 Die Mehrheitsgesellschaft bei uns ist im Augenblick in einem interessanten Zwitterzustand, weil sie vor zwei unterschiedlichen Zukunftsszenarien steht. Eines könnte man vielleicht mit dem Begriff der »Superindustrialisierung« bezeichnen und das andere Szenarium — ich nehme hier Begriffe, die der Soziologe Wolfgang Sachs gebraucht hat — mit dem der »intelligenten Unterhaltswirtschaft«.

 

Was heißt »intelligente Unterhaltswirtschaft«?

»Intelligente Unterhaltswirtschaft« wäre der ökonomische Bestand der gesamten alternativen Bewegung, ergänzt durch die subsistenzwirtschaftliche Tätigkeit derjenigen, die keinen Arbeitsplatz haben. Die Superindustrialisierung, die gegenwärtig durch eine Abnahme von Arbeitsplätzen gekennzeichnet ist, ohne die weniger werdende Lohnarbeit gleichmäßig auf alle zu verteilen, könnte sich zunehmend hin zu einer geschlossenen Gesellschaft der Arbeitsplatzbesitzer entwickeln, während daneben eine zweite Gesellschaft derjenigen entstehen könnte, die keinen regulären Arbeitsplatz haben oder wollen, sondern sich im Rahmen der Schattenwirtschaft bewegen, dort überleben und dabei auch eine andere gesellschaftliche Philosophie entwickeln, nämlich die Philosophie der Basisdemokratie, der Kleinräumigkeit, der überschaubaren Strukturen, des Regionalismus, all dessen, was heute unter »alternativ« läuft. Wenn man diese beiden auseinanderdriftenden Bewegungen nimmt, kann man sich natürlich auf die Zukunft hin unterschiedliche Machtverhältnisse oder unterschiedliche Chancen ausrechnen.

Entweder verbinden sich beide Bewegungen; das würde bedeuten, daß die weniger werdenden Arbeitsplätze umverteilt werden auf alle, dafür aber auch alle stärker an jenen kulturellen Aktivitäten teilnehmen können, die jetzt von der »zweiten Kultur« wahrgenommen werden. Oder sie entwickeln sich stärker auseinander; dann haben wir zwei Gesellschaften, und die Frage ist, ob die zweite Gesellschaft, die zweite Kultur, nicht schon Vorläufer der postindustriellen Gesellschaft ist, nämlich der Gesellschaft, in der die Automaten im wesentlichen die bisherige Arbeit übernehmen.

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Wenn man die Bewegungen auch mit ihrer jeweiligen Philosophie sieht, dann ist es schon interessant, dabei auch über Erziehung zu sprechen, denn beide Gesellschaftsformationen haben unterschiedliche Erziehungsvorstellungen. Die Gesellschaft der Superindustriellen neigt zur <Hochbeschulung>, zu strikt organisierten, effizienten Lernprozessen. Die andere neigt zur >Niederbeschulung<, also zu möglichst wenig formalem Lernen, weil man als Ökobauer seine Fehler sowieso vor Ort macht und also auch vor Ort lernt, wie man es besser machen kann. Das Lernen dieser Menschen ist von keiner Landwirtschaftsschule einholbar, zumindest gegenwärtig nicht, und schon gar nicht von Gymnasien, Realschulen oder Hauptschulen in der gleichen Region.

Trennt man dadurch nicht wieder, was Sie vorhin eigentlich abgelehnt haben: die Kopf- und die Handarbeit? Da sind auf der einen Seite die Schüler, die sich viel akademisches Wissen aneignen, und nun die anderen, die praxiserfahren sind.

Die Skizzierung dieser beiden Zukunftsbilder entspricht ja nicht meinen utopischen Vorstellungen, sondern es sind Szenarien, die einen gewissen Realismus enthalten. Zu meinen utopischen Vorstellungen würde gehören, daß die Unterhaltswirtschaft nicht dilettiert wie bisher, sondern wirklich intelligent ist und mithin weder anti-aufklärerisch noch feindlich gegenüber einer hochentwickelten sanften Technologie. 

Ich bin nicht der Meinung, daß die Tradition der Aufklärung in Vergessenheit geraten darf, also die Wissensgehalte und kulturellen Standards, die man Kindern vermitteln kann — nur weil sich alles jetzt um die neue Scholle kümmert. Das wäre ein arg naiver Zugang zu sehr komplexen Wirklichkeiten. Sondern meine Frage war: Wo sind die realen Bezüge für konkret utopische Vorstellungen? Wo sind bei uns im Augenblick gesellschaftliche Bewegungen erkennbar, die irgend etwas mit dem zu tun haben, was sich in Nicaragua als Chance des Lernens in der Transformation darstellt?

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Aber selbst wenn wir im Augenblick nur diskutieren, wie man aufgeklärtes kulturelles Erbe vermitteln kann, liegt der Schluß nahe, daß die Organisation der traditionellen Lernorte dazu relativ ungeeignet ist. Denn es gibt einige heilige Kühe der Schulverfassung, die den Sinnzusammenhang, den man dabei herstellen müßte, permanent zerstören. Ich nenne beispielsweise die Einteilung der Fächer, den Verlust von fachübergreifenden Perspektiven, den Verlust von Rhythmen, die von der Sache her bestimmt werden und nicht vom 45-Minuten-Takt der Stundeneinteilung. Das heißt, selbst wenn ich mich auf einen konservativen Standpunkt stellen und sagen würde, das kulturelle Erbe und nichts sonst gälte es zu vermitteln, ist die Schule in ihrer gegenwärtigen Gestalt eigentlich eher eine Zerschlagungsmaschinerie von Sinnzusammenhängen denn eine sinnstiftende Institution. Also müßten in jedem Fall die alten Lernorte von bestimmten Ritualen befreit werden.

Die Diskussion, die wir Anfang der siebziger Jahre hatten, nämlich die sogenannte Entschulungsdiskussion, ist mit diesen Lernorten sehr radikal umgegangen. Sie hat gesagt: Schafft die Schulen ab, befreit die Gesellschaft von diesen falschen Institutionen, die eine Art Herrschaftswissen verbreiten und eine Mafia von Pädagogen beschäftigen, die mit dem Leben selbst kaum etwas zu tun hat; laßt uns das Lernen innerhalb der gesellschaftlichen Kräfte frei organisieren.

Von welcher Art sollten die Lehrer Ihrer Meinung nach sein?

Ich finde, daß Lehrer — und das ist eine utopische Vorstellung — nicht nur Lehrer sein sollten, sondern gleichzeitig immer auch etwas anderes. Ich wünsche mir Lehrer, die mit ihrer Schule produktiv sind.

In einigen asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern hat man die Lehrerbildung versuchsweise so organisiert, daß die Lehrer gleichzeitig Gemeindeentwickler sind, daß sie schon während ihrer Ausbildung in der Landwirtschaft oder in der Gemeindeentwicklung arbeiten und dabei handwerklich-technische Qualitäten erwerben, die sie davor bewahren, so etwas wie >Weiße-Kragen-Lehrer< zu werden. Sie versuchen, ihre Schule so auszurüsten, daß sie zugleich eine landwirtschaftliche oder eine handwerklich-technische Produktion entfalten kann.

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Wir haben eine Chance, die aus dem Mißstand resultiert, daß wir demnächst 150 000 Lehrer ohne Schulen haben. Diese Lehrer müssen sich bis weit in die neunziger Jahre hinein durchschlagen, sie müssen irgend etwas anderes, etwas >Richtiges< tun, egal ob als Taxifahrer, Bürokraft oder Verkaufsstellenleiter. Wenn man diese Lehrer nach 15 Jahren — dann, wenn man wieder Lehrer brauchen wird — zurückholen würde, hätten wir nicht nur eine der größten Lehrerbildungsreformen aller Zeiten, sondern auch wirklich lebenserfahrene Lehrer, die >Leben< und >Lernen<, Schule und neue soziale Bewegungen leichter verbinden könnten als die Lehrer jetzt, die ja kaum etwas anderes hinter sich haben als den langen Marsch durch die pädagogischen Institutionen. Die Lehrer des langen Marsches haben — wie ihre Schüler — im wesentlichen Wirklichkeit nur als didaktisch vermittelte Wirklichkeit erfahren.

Gibt es so etwas auch schon in Europa?

Ja, eine für mich erfolgversprechende Bewegung ist die der »Community Education«; übersetzt hieße das etwa: der gemeinwesenorientierten Erziehung. Das sind Schulen, die das Verhältnis von Schule und Nachbarschaft wiederherstellen und Erwachsenen- und Schulbildung integrieren. Wenn man sich in England solche Schulen ansieht, findet man oft mindestens so viele Erwachsene wie Kinder, die sich dort treffen. Die Erwachsenen kommen weniger am Vormittag, obwohl es auch dann Mütter und Väter gibt, die mit Kindern zusammen beispielsweise eine Sprache lernen, sondern vor allem am Spätnachmittag und Abend. Man kann sich das so vorstellen, wie wenn man bei uns die Volkshochschulen mit den Schulen konzeptionell verknüpfen würde.

Interessant sind solche Community Schools dann, wenn sie neben dem konventionellen Angebot, das alle Schulen in allen Ländern immer wieder haben, Problemstellungen aufgreifen, die für Erwachsene und Kinder der Region existentiell wichtig sind — also beispielsweise in armen ländlichen Gebieten die Frage, wie man alternative Energie gewinnen kann: Wie kann man Wind-Energie in Strom verwandeln oder wie kann man die Solar-Energie nutzen, um Gewächshäuser produktiver zu gestalten? Solche Themen sind sowohl für Schüler als auch für Kleinbauern wichtig, die solche Erkenntnisse umsetzen wollen, damit sie von ihren teuren Stromrechnungen herunterkommen.

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Das würde auch die Trennung aufheben, daß die Eltern — wie Sie anfangs sagten — eigentlich nichts mehr mit der Erziehung ihrer Kinder zu tun haben. 

Jedes Lernen, das sich auf solche Schlüsselprobleme bezieht, ist normalerweise generationsübergreifend. Oft kann man auch erleben, daß die klassische Lehrerrolle relativiert wird, weil der Lehrer nicht mehr der immer Besserwissende ist. Er muß sich ja in solchen Problemsituationen selbst neu zurechtfinden. Ich will noch einmal ein Beispiel aus Nicaragua bringen: Da gibt es im Augenblick 2.800 Projekte von Oberschülern, die sich kleine, dennoch wichtige Landesprobleme vorgenommen haben. Vorausgegangen sind dieser Kampagne Wunschlisten von allen möglichen Einrichtungen des Landes, von der Kooperative bis zum Ministerium, auf denen sie verzeichnet haben, was sie an Lösungen brauchen könnten, damit Nicaragua sich entwickelt. Da tauchen dann zum Beispiel folgende Fragen auf: Wie kann man aus Bananenschalen Papier gewinnen? Wie kann man Sägespäne als Baumaterialien verwenden? Wie kann man Verfahren entwickeln, mit denen ein einfacher Landarbeiter die Trinkqualität seines Wassers prüfen kann?

2.800 Themen dieser Art: Da puzzeln und experimentieren nun Projektgruppen von sechs bis acht Jugendlichen mit ihren Lehrern auf freiwilliger Grundlage für ein, zwei Jahre, bis sie eine Lösung haben. Der Landwirtschaftsminister konnte sich unlängst hinstellen und zu den Vertretern der Kooperativen sagen: Wir können als arme Regierung nicht jeder Genossenschaft einen Traktor schenken, wohl aber diese kleine Düngerund Sämaschine, die von Schülern entwickelt worden und billig zu produzieren ist. Um ein anderes Beispiel zu nehmen, können die ratternden Klimaanlagen in Nicaraguas Büros die Hitze, die sie erzeugen, gleichzeitig in eine Kühlung für Eisschränke umwandeln. Das sind Erfindungen von Schülern, die produktiv und nützlich sind.

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Wir haben hier bei uns zwar Wettbewerbe über Mathematik und so weiter, aber das sind keine Wettbewerbe, die sich vorrangig auf solche wichtigen Probleme im Umfeld von Schulen beziehen. Wohl aber im Rahmen der Community-Education-Bewegung: Da geht es deutlicher um solche lokalen Probleme.

Utopische Staatsromane sind von einem grenzenlosen Mißtrauen geprägt, daß Eltern ihre Kinder selbst erziehen. Es kommt eigentlich überall vor, daß die Kinder so früh wie möglich den Eltern weggenommen werden und eben woanders erzogen werden. Ist das wirklich ein wünschenswertes Ziel?

Da scheint eine Wahlverwandtschaft zwischen utopischen Staatstheoretikern und einigen pädagogischen Ansätzen zu bestehen, Ansätzen, die ich aber strikt mißbillige. Diese Ansätze bestehen darin, daß Eltern von professionellen Pädagogen in den letzten 20 Jahren vielfach als eine geistig minderbemittelte Masse angesehen wurden, auf die man nun eine Fülle von Bildungsprogrammen loslassen muß.

Ich glaube, daß das Verhältnis von Eltern zu Kindern in anderen Zusammenhängen gesehen werden muß. Was wir schon angesprochen haben, nämlich die Teilhabe von Kindern an der Erwachsenenwelt, ist ein wichtiger Schritt, den Eltern unterstützen können. Diese Teilhabe ist nach meiner Meinung wichtiger als die Erzeugung einer artifiziellen Kinderwelt, in die nun alles hineingegeben wird, was die Künstlichkeit eher erhöht: von der vorfabrizierten Ausrüstung des Kinderzimmers über die vielen Puzzles bis zu den vorschulischen Trainingsprogrammen. Teilnahme an der Erwachsenenwelt heißt eigentlich, daß man die Hausarbeit (jetzt nicht im Sinne von Hausfrauenarbeit), also all das, was rings um die Familie geschieht, mit Kindern zusammen organisiert. Meine Beobachtung von Kindern ist, daß sie dann nicht nur intelligenter und vergnügter werden, sondern auch verantwortungsvoller. Sie werden besser >erzogen<, wenn sie eben nicht von der Hausarbeit weggescheucht werden, sondern wenn man sich die Mühe macht, sie mit dem Schrubber und mit dem Fensterwischlappen auszurüsten, wenn man sie mitkochen und an Vollzügen teilnehmen läßt, die das Erwachsenenleben kennzeichnen.

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Das Alltägliche mit Kindern zusammen organisieren und eben keine künstliche Kindheit herstellen, darum geht es hier.

Kindheit ist eine Erfindung des Bürgertums der letzten zweihundert Jahre; sofern damals der Begriff von der Kindheit auf Arbeiterkindheit bezogen wurde, hatte die Bekämpfung von Kinderarbeit ja auch einen Sinn. Das war schon human, gegen eine Kinderarbeit von täglich 14 oder 15 Stunden an der Spinnmaschine anzugehen. Aber wie jeder gute Vorsatz, kann ein solches Prinzip, wenn es sich verselbständigt, ins Gegenteil umschlagen, und die Ausgrenzung von Kindern aus der Welt der Erwachsenen ist nicht nur ein Vorgang, von dem heute ganze Industriezweige und auch traditionelle Lernorte leben, sondern er markiert auch eine Verarmung der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Und was heißt dann Erziehung? Erziehung heißt: Mein Kind macht mit mir mit. Das ist ein mühsamer Prozeß, weil es natürlich schneller geht, wenn ich alles selber mache und mein Kind in die Schachtel >Kindheit< stecke. Erziehung ist dabei übrigens ein konservativer Prozeß, sofern die Erwachsenen so sind. Denn das kann man bei Kindern mühelos beobachten, daß sie gegenüber anderen Kindern reproduzieren, was sie gerade gelernt haben. Insofern sind Kinder nicht besser als die Erwachsenen, mit denen sie zusammenleben, und insofern setzt sich auch die Sünde bis ins dritte und vierte Glied fort, ob man will oder nicht. Da kommen wir mit Erziehung kaum raus.

Aber was ist dann mit dem <Neuen Menschen>?

Ich glaube, daß es zwischen Erwachsenen, zwischen Erwachsenen und Kindern und zwischen Kindern Prozesse der Selbstaufklärung geben kann, sonst könnten wir mit einem Fortschritt in der Tradition der Aufklärung gar nicht rechnen. Insofern halte ich auch nichts davon, Erziehung zu leugnen oder als einen bewußtlosen Vorgang zu begreifen. Ich glaube schon, daß sie ein bewußter Vorgang ist, daß man auch bewußte Positionen gegenüber seinem Kind einnehmen und sich nicht einer Laissez-faire-Pädagogik hingeben soll, die ja auch nicht natürlich ist, weil das Kind gar nicht mehr in natürlichen Zusammenhängen steht. Aber ich glaube nicht, daß man durch eine bloß appellative, normative Pädagogik, also durch eine Pädagogik, die den Dialog durch das Kommunique ersetzt, irgend etwas Sinnvolles erreichen kann.

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Also wird es keinen harten Trennungsstrich zwischen dem >alten< und dem Neuen Menschen geben können? Das war doch immer die Hoffnung von Revolutionen.

Man kann das auch andersherum und positiv sehen, denn man kann an historischen Beispielen erkennen, daß Kinder und Jugendliche von den sozialen und politischen Bewegungen und Entwicklungen der Erwachsenen außerordentlich viel profitieren. Wenn Erwachsene selbst in bestimmten Transformationsprozessen leben, wirkt sich das auf die Kinder und Jugendlichen aus — das steht außer Zweifel. Wenn Erwachsene so etwas tun, übernehmen die Kinder im Rahmen der politischen Sozialisation viel von dieser Bewegung. Das ist etwas ganz Normales. Also machen es sich diejenigen Eltern zu leicht, die sagen: Wir schaffen nicht, die sozialen Verhältnisse zu verbessern, aber die Kinder werden das schon machen.

Sie meinen, daß das die Kinder eigentlich nur machen können, wenn sich die Erwachsenen selber in diesen Prozeß begeben?

Im Regelfall ja, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Wenn man sich die Befreiungsbewegungen in Ländern der Dritten Welt ansieht, dann sind das natürlich im wesentlichen junge Menschen, aber diese Befreiungsbewegungen haben keinen Widerhall, wenn die Erwachsenen, die Älteren, nicht mitmachen. Es ist schon wichtig, daß Erwachsene — und wir müssen dabei gar nicht an Sozialrevolutionäre Verhältnisse denken — nicht erstarren, sondern sich in Bewegung halten. Dann gibt es auch Chancen, daß aus Kindern neue Menschen werden. Ein erstarrtes Elternhaus kann zwar bei Kindern Gegenbewegungen erzeugen, aber das sind oft mehr Gegenbewegungen als Befreiungen.

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Ich glaube, daß bei einer wirklichen Befreiung die Erwachsenen gegenüber den Kindern eine Mittlerfunktion haben. Natürlich kann sich jemand aus einem rechtskonservativen Elternhaus absetzen, indem er, siehe Anfang der siebziger Jahre, Mitglied einer K-Gruppe wird. Aber das Schicksal dieser K-Gruppen hat gezeigt, daß eine Revolution nur über den Kopf nichts bringt, nicht einmal für die eigene Persönlichkeitsstruktur, sondern daß man mit genauso rigiden Mustern seine schein-revolutionäre Aufbauarbeit leisten kann wie der Erwachsene auf der politisch anderen Seite. Der Austausch von Farben oder Emblemen bei gleichen Charakterstrukturen bringt es nicht, und auch nicht eine psychotherapeutische Situation allein, sonst würde ich sagen, laßt uns alle solche Therapien machen, damit wir unsere Biographien aufklären und zum Neuen Menschen werden. Das kann ein Stück helfen, aber ich glaube, daß eine gesellschaftliche, politische Bewegung dazugehört, damit der Neue Mensch ein Stück entstehen kann.

Was halten Sie davon, mit Verhaltenspsychologie das Verhalten von Kindern möglichst genau in eine Richtung zu steuern, die man sich vorstellt?

Das halte ich für unsinnig, weil ich den lerntheoretischen Ansatz dahinter für unzureichend halte. Der Ansatz kommt im wesentlichen von Skinner, und dieser amerikanische Psychologe hat seine Experimente zur Entwicklung dieser Lerntheorie im wesentlichen an Ratten und Tauben durchgeführt, indem er diese Tiere durch Labyrinthe und ähnlich komplizierte Situationen geschickt hat; sie mußten dann irgend etwas tun, um irgend etwas zu kriegen.

Wobei ja Skinners Hypothese gerade ist, daß Menschen genauso wie Ratten reagieren.

Ja, wenn man ein Menschenbild entwickelt, das sich vom Rattenverhalten ableitet, dann kann man das so tun. Wenn ich aber beispielsweise Kraken und Küchenschaben nehme, ergeben sich andere lerntheoretische Parallelen. Skinners Ansatz führt zu keiner zureichenden Theorie vom lernenden Menschen, weil es ein sinnzerstörender Ansatz ist.

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Seine Übertragung in die Schule hat den sogenannten Taylorismus verstärkt. Taylor war derjenige, der die Industriearbeit in Einzelfunktionen zerlegt hat mit dem Effekt, daß die Fließbandarbeit mit den aus dem Zusammenhang herausgelösten wenigen Bewegungen entstand. Bei einem taylorisierten Lehrplangefüge erkennt ein Schüler den Sinnzusammenhang kaum noch, wohl aber den nächsten Schritt, den er machen soll. Das ist ein jeweils kleiner Schritt, der wird kontrolliert und getestet, dann kommt er zum nächsten — ein Scheibchenlernen, nach dessen Muster man auch konditionieren kann.

Da entsteht dann ein Mensch, dessen Qualifikationen eigentlich in beliebigem Sinn verwertbar sind, weil er kein Widerstands­potential mehr hat gegen diese Form des isolierten Abrufs seiner Fähigkeiten. Wenn ich diese Lerntheorie als pädagogische Technik anwende, dann verhalte ich mich antipädagogisch, den Sinnzusammenhang zerstörend.

Es gab einmal einen Dokumentarfilm über amerikanische Bomberpiloten, die über Nordvietnam abgeschossen und dann in Hanoi interviewt wurden. Sie wurden am Boden mit der Wirkung von Brand- und Splitterbomben auf die Zivilbevölkerung, speziell auf Kinder, konfrontiert. Die Piloten waren darüber sehr erschüttert und haben in den Interviews immer wieder gesagt, daß es für sie da oben in den Maschinen um technische Vollzüge ging, also sozusagen um Skinnersche Qualifikationen — das Navigieren, das Anpeilen, das Ausklinken —, und daß die sozialen Folgen nicht gesehen wurden, so daß die soziale Kompetenz von der technisch-instrumentellen Kompetenz abgetrennt war.

Wenn man schulisches Lernen betrachtet, dann fallen ebenfalls die Vermittlung von technisch-instrumentellen Qualifikationen und die Vermittlung von sozialen Qualifikationen weitgehend auseinander. In der Mathematik lerne ich das eine und im Religions- oder Ethikunterricht vielleicht das andere, aber beides kommt nur schwer zusammen.

Wobei Skinner vielleicht sagen würde, daß man ja das soziale Verhalten auch konditionieren könne. 

Soziales Verhalten in komplizierten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu konditionieren, ist durch Psychologen, auch wenn sie einen Intelligenzquotienten von 130 besitzen sollten, nicht zu leisten. Dafür muß ich Menschen haben, die sich sensibel auf neue Situationen einstellen, und da komme ich mit dem vorhin skizzierten dialogischen Verfahren weiter, weil wir alle Fehler machen, aber auch wechselseitig voneinander lernen können.

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