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Klassische Sozialutopien und Phantasien

 

von Dieter Wuckel 1986

 

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Die Anfänge der wissenschaftlichen Phantastik sind u. E. untrennbar mit der Renaissance verbunden. Charakterisiert ist diese Epoche des Übergangs zum Frühkapitalismus vor allem durch gewaltige Veränderungen der Produktivkräfte. Die arbeitenden Menschen werden zu Lohnarbeitern, die Produktionsmittel, in den Händen weniger konzentriert, zu Kapitalien. Damit sind die Voraussetzungen für kapitalistisches Produzieren gegeben. Der Fortschritt wird so auf der einen Seite mit Gewalt durchgesetzt.

Auf der anderen Seite standen die Entdeckungen, Erfindungen, Kunstwerke, die glanzvollen Leistungen der Humanisten. Die sprunghafte technische Entwicklung war unmittelbar verbunden mit den Fortschritten, die die Naturwissenschaften in der Erforschung der Welt machten. Dabei bestimmten neue, vor allem auf dem Experiment und den daraus gewonnenen Erfahrungen beruhende Methoden die Forschung. Wichtigste Erkenntnis war die von Kopernikus (1473-1543) gegebene wissenschaftliche Begründung des heliozentrischen Weltbildes. Durch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wurde es möglich, das neue Wissen rasch und in einer Vielzahl von Exemplaren zu verbreiten. 

 

Abb: 
Der Mensch durchbricht das alte Weltbild. 
Holzschnitt, deutsch, um 1530

 

Der Landweg nach dem sagenhaften Gewürz- und Wunderland «Indien» — womit man den größten Teil Asiens bezeichnete — war durch die islamische Sperre aufs äußerste gefährdet. Man mußte nach anderen Wegen suchen, um billiger an die begehrten Waren heranzukommen. Das war damit zugleich die entscheidende Triebfeder für die Eröffnung des Zeitalters der großen Entdeckungen. Zu Beginn fanden Italiener als die damals erfahrensten Seeleute Aufnahme in Spanien und Portugal, später auch in England. Sie wurden für diese Völker zu Lehrmeistern in der Kunst der maritimen Navigation.

Wichtige Forschungsergebnisse waren die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (vier Reisen zwischen 1492 und 1504), das Finden eines Seewegs nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung herum (1497-1499) durch Vasco da Gama sowie die erste Weltumseglung durch Fernao de Magalhaes und De Elcano, der nach Magalhaes' Tod die Leitung übernahm (1519-1522).

Damit war der praktische Nachweis von der Kugelgestalt der Erde geführt und die zunächst theoretisch gewonnene Erkenntnis glänzend bestätigt. Diese gewaltigen Leistungen waren zugleich Grundlage für einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung aller Wissenschaften, der bildenden Kunst und der Literatur.

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Die Haupttendenz, die sich aus den Veränderungen der Produktivkräfte überall auf unterschiedliche Weise ergab, war der Übergang von einer theozentrischen zu einer anthropozentrischen Auffassung der Welt, also die Besinnung auf den Menschen, auf die Macht der Persönlichkeit, des Individuums. Die Umwälzungen der Epoche sind die objektive Grundlage für die geistige Bewegung des Humanismus und für das sich herausbildende zutiefst humanistische Welt- und Menschenbild. «Der Mensch begann, sich auf seinen Willen und seine Fähigkeiten in der Welt zu verlassen, die er als Betätigungsfeld für seine Energie betrachtete, so daß es für ihn zur Lebensnotwendigkeit wurde, die Welt in ihrer Realität zu begreifen.» (118,15)

Die Philosophie strebte nach der Befreiung des Menschen aus den Fesseln der theologischen Dogmen, in der Gesellschafts­auffassung wurde der weltliche Charakter von Staat und Gesellschaft herausgestellt, die Renaissancekunst streifte die Ketten der mittelalterlichen Konventionen ab und richtete ihren Blick auf die Realität des Lebens, auf den aktiven, die Welt verändernden Menschen.

Aus diesen widerspruchsvollen Prozessen heraus kommt es zur Entstehung neuer, dieser Zeit gemäßer Gattungen und Genres in der Literatur. So beginnt der moderne Roman sich durchzusetzen, während z.B. das Epos in seiner Bedeutung zurücktritt. Zu dem Neuen, das unlösbar mit der Renaissance verbunden ist, gehört die allmähliche Verschmelzung traditioneller phantastischer Vorstellungen mit wissenschaftlichen Ideen bzw. zumindest mit pseudowissenschaftlichen Begründungen: Die Renaissance ist damit die Geburtsphase der wissenschaftlichen Phantastik, der Science Fiction.

Am Beginn zeigt sie sich zunächst als Verschmelzung von Literatur, Philosophie und Gesellschaftstheorie. So wie viele Erscheinungen der Renaissance kann auch die Science Fiction auf Vorbilder in der Antike zurückgreifen. Denn in einigen Werken, vor allem griechischer Autoren, finden sich schon sozialutopische Gedanken. Hesiod («Traum vom Goldenen Zeitalter») und Aischylos gestalten in ihren Hauptwerken Elemente einer neuen Moral. Bei Aristophanes werden Grundprobleme der Zeit phantastisch verfremdet («Die Vögel», «Die Frösche», «Die Frauenratsversammlung»).

Eine besondere Bedeutung hatte die soziale Utopie in der vorhellenistischen Periode gewonnen. Im 5. Jahrhundert bis zum Beginn des 4. Jahrhunderts v.u.Z. entwarfen Hippodamos von Milet und Phaleas von Chalkedon hierarchische Gesellschafts­modelle, die spätere Grundgedanken Platons bereits vorwegnahmen. Diese Anfänge der sozialen Utopie standen eindeutig unter konservativen Vorzeichen.

Bedeutsamer wurde der utopische Entwurf «Heilige Aufzeichnung» (hiera anagrapha), den Euhemeros (um 340 - um 260 v.u.Z.) vorlegte. Zwar findet sich auch bei ihm die schon durch Hippodamos von Milet vorgegebene hierarchische Gliederung der Gesellschaft, doch als neuen Gedanken bringt er das Problem der Aufhebung des Privateigentums in die Sozialutopie ein.

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Im Unterschied zu Euhemeros' Heraushebung einer Elite träumt Jambulos (2. Jahrhundert v.u.Z.) in einer als Reise eingekleideten Märchenutopie von der radikalen Durchsetzung des Gleichheitsprinzips. Allerdings ist sein Werk nicht erhalten geblieben; nur an Hand einer Inhaltsübersicht, die der Historiker Diodorus (etwa 80-30 v.u.Z.) gibt, können wir es uns erschließen. Die Gleichheit bezieht Jambulos nicht nur auf die soziale Stellung in der Gemeinschaft, auf die Verteilung der Produkte, auf die Organisation der Produktion, sondern auch auf die Beschäftigung mit geistig-kulturellen Dingen, ja, es gibt sogar um der Gleichheit willen weder Ehe noch Familie. Kollektiverziehung der Kinder und das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen dominieren. 

Lokalisiert wird diese Gesellschaft auf sieben dem Sonnengott geweihten Inseln südlich von der Arabia felix (= Jemen) irgendwo im Indischen Ozean, einer damals noch unbekannten Gegend. Damit ist ein weiterer wichtiger Grundzug der meisten späteren Utopien vorgeprägt: Ansiedlung des fiktiven Landes jenseits der jeweiligen Erfahrung.

Jambulos wurde eines der großen Vorbilder für die sozialen Utopien der Renaissance — der Philosoph Platon (427-347 v.u.Z.) mit seiner «Politeia» das andere, vor allem durch die Form des von ihm zur Meisterschaft geführten epischen Dialogs, In dessen sozialer Utopie wird aber die Gleichheit der Menschen verneint und durch eine angeblich «natürliche» Ordnung in drei hierarchisch gegliederte Gesellschaftsgruppen ersetzt. Nur für die beiden oberen Stände dieser utopischen Gesellschaft postuliert Platon die Beseitigung des privaten Eigentums und eine Art Konsum-Kommunismus.

Dagegen sind sozialutopische Gedanken von Autoren, die dem christlichen Glauben verhaftet waren, nur von untergeordneter Bedeutung für die Literatur, denn nur sporadisch wird an Gedanken wie die vom Tausendjährigen Reich beim Kirchenvater Augustin angeknüpft.

Als Reaktion auf die eingangs kurz beschriebenen gesellschaftlichen Bedingungen entstehen in vielen Ländern — häufig unter dem Mantel des Christentums — sozialutopische Lehren, die für die Errichtung des «Reiches Gottes» schon auf Erden streiten. Arme und Entrechtete strömen den Verkündern dieser Lehren zu. So finden reformatorische Bestrebungen in verschiedenen Ländern Europas, zugleich auch Aufstände, Kämpfe und Rebellionen (John Wiclif in England [1324-1384], Jan Hus in Böhmen [1369-1415], Ulrich Zwingli in Zürich [1484 bis 153l], Jean Calvin in Genf [1509-1564], Martin Luther [1483-1546] und Thomas Müntzer [1490 bis 1525] in Deutschland), einen gut bereiteten Boden. Der Versuch, sozialutopische Ideen in Realität zu verwandeln, mußte scheitern. Trotzdem lebte der Traum vom Reich der Gerechtigkeit und der Gleichheit aller Menschen weiter. Wir finden in der Literatur kühne Entwürfe von humanistischen Gemeinwesen.

 

Die erste und zugleich bedeutendste Renaissance-Utopie stammt von dem englischen Humanisten Thomas Morus (7.2.1478 - 6.7.1535). Über ihn hat Erasmus von Rotterdam 1519 in einem Brief an Ulrich von Hutten eine ausführliche Charakterzeichnung geliefert. (Vgl. 93, u.a. 146 ff.)

Thomas Morus entstammte einer wohlhabenden Bürgerfamilie. Nach dem Studium wirkte er als ein äußerst angesehener Anwalt. Ab 1504 war er Parlaments­mitglied, 1509 wurde er Untersheriff, ein mit zahlreichen Vollmachten ausgestatteter Richter. 1515/16 reiste er im Auftrag Heinrichs VIII. mit einer Gesandtschaft nach Brügge in den Niederlanden, um dort mit Vertretern des späteren Kaisers Karl V. über vorwiegend ökonomische Fragen zu verhandeln. Diese Aufgabe führte Morus auch zu seinem Freund, dem Stadtschreiber Peter Gilles (Petrus Ägidius), nach Antwerpen. Nach Rückkehr von dieser Gesandtschaft verfaßte Thomas Morus 1516 seine «Utopia» (aus zwei Teilen bestehend). Dabei nahm er Bezug auf diesen Aufenthalt in den Niederlanden und kleidete das Ganze nach Humanistenmanier in einen Brief an Ägidius ein.

Als er zwei Jahre später den Streit um eine päpstliche Schiffsfracht zu aller Zufriedenheit beilegte, holte ihn Heinrich VIII. in den Staatsdienst. Vom Unter­schatz­kanzler stieg er bald zum Kanzler des Herzogtums Lancaster und schließlich, 1529, nach dem Sturz Wolseys, sogar zum Lordkanzler auf. Damit war er neben dem König die Person mit dem größten politischen Einfluß im Lande.

Morus trat sein Amt als Lordkanzler schweren Herzens an. Denn jetzt geriet er als unmittelbar Betroffener in die Situation, die er in seiner Utopie theoretisch fixiert hatte. Seine trüben Ahnungen beim Amtsantritt bestätigten sich nur wenige Jahre später.

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Abb.: 
Thomas Morus. Porträt in der Werkausgabe von 1689.

 

Aus machtpolitischen und persönlichen Beweggründen löste Heinrich VIII. die englische Kirche von Rom. Unterstützt wurde er vom Erzbischof von Canterbury und durch seinen Schatzkanzler Thomas Cromwell. Der Klerus wurde vollständig entmachtet, die Scheidung und Wiedervermählung Heinrichs VIII. durchgesetzt, die Vormachtstellung des Königs über die anglikanische Kirche fixiert (Supremat) und die Thronfolge neu geregelt.

Thomas Morus widersetzte sich diesen Maßnahmen und legte im Mai 1532 angeblich aus Gesundheitsgründen sein Amt als Lordkanzler nieder. Er wurde eingekerkert, blieb aber auch in der Haft seinen Überzeugungen treu und war nicht zu Kompromissen bereit. Deshalb wurde er wegen Hochverrats verurteilt und am 6. Juli 1535 in London enthauptet.  

Thomas Morus ging für seine religiöse Überzeugung, die untrennbar war von seiner humanistischen Auffassung, in den Tod.

Aus der geschichtlichen Distanz betrachtet, dürfen wir nicht übersehen, daß er mit seiner Haltung objektiv auf der Seite der konservativen Kräfte stand. Denn trotz aller geübter Willkür verkörperten Heinrich VIII. und die unter seinem Schutz erstarkende englische Bourgeoisie den gesellschaftlichen Fortschritt.

Thomas Morus' Schrift, erschienen unter dem Titel «Ein wahrhaft goldenes und ebenso heilsames wie erheiterndes Büchlein über den besten Staatszustand und über die neue Insel Utopia...» (in Antwerpen in lateinischer Sprache gedruckt), ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Thomas Morus knüpft bewußt an antike sozialutopische Traditionen an (insbesondere wird mehrfach Platon direkt erwähnt). So wie dort wird das ideale Gemeinwesen als Insel am Rand des bekannten Teils der Erde konzipiert.

Indem er — ein weiterer bemerkenswerter Punkt — der Fiktion den Charakter von Glaubwürdigkeit, von Authentizität verleiht, sprengt er die Grenzen der alten Märchenutopien. Das Werk leitet Morus durch einen Brief an Petrus Ägidius ein, in dem versichert wird, daß sowohl Morus als auch Ägidius die Fakten durch die fiktive Gestalt des Raphael kennengelernt hätten. Im ersten Teil folgt ein platonischer Dialog zwischen Morus, Ägidius und Raphael Hythlodaeus (gr. hythlos == Posse, daios = Feind, auch «Schaumredner», «Schwärmer», «Windmacher»). Dieser Raphael war angeblich ständiger Begleiter des Amerigo Vespucci «auf den drei letzten seiner vier Seereisen, die man schon hier und da gedruckt lesen kann». (93, 12) Auf der letzten Reise waren 24 Teilnehmer an der Ostküste Brasiliens zurückgelassen worden, um eine befestigte Faktorei zu gründen. Raphael gibt vor, einer dieser «Expeditions­teilnehmer» gewesen zu sein. Bei Streifzügen durch das Land stieß er auf Utopia, weitere abenteuerliche Erkundungen führten ihn nach «Taprobane» (= Sri Lanka) und nach «Caliquit» (= Calicut). Von dort gelangte er mit einem portugiesischen Schiff wieder nach Europa.

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Abb.:  Die Gesprächsrunde der «Utopia» (Baseler Ausgabe von 1518).

 

Diese geographischen Angaben spiegeln den damaligen Erkenntnisstand wider, daß das von Kolumbus entdeckte Land identisch mit dem Wunderland Indien sei.

Schließlich wird die «Authentizität» noch dadurch verstärkt, daß Morus im ersten Teil der «Utopia» konkrete Erscheinungen im England seiner Zeit geißelt, so die Blutgesetzgebung, durch welche die enteignete Landbevölkerung grausam zur Lohnarbeit gezwungen wurde, und den Vorgang des Bauernlegens selbst.

Während Morus also im ersten Teil die Mißstände seines Landes und seiner Zeit einer scharfen Kritik unterzieht, entwirft er im zweiten Teil als Gegenbild ein ideales Staatswesen. Der Name Utopia wird vordergründig auf den Eroberer des Gebiets, Utopus, zurückgeführt. Ursprünglich eine Halbinsel von Amerika, wurde auf Befehl von Utopus das Land auf einer Breite von 15 Meilen abgetragen, so daß eine Insel, eben Utopia (gr. u — nirgend, topos — Land, also Nirgendsland), entstand: 200 Meilen breit, 500 Meilen Umfang, mit 54 Städten.

In vielen Details schildert Morus seine ideale utopische Ordnung. Das Entscheidende ist als Grundlage für alle Einrichtungen die Beseitigung des Privateigentums (an Produktionsmitteln). Nur deshalb ist das der einzige Staat, «der mit vollem Recht die Bezeichnung (Gemeinwesen) für sich beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo vom Gemeinwohl spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in Utopien dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich ernstlich nur um das Interesse der Allgemeinheit...» (93, 136)

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Abb.: 
Karte der Insel «Utopia» (Baseler Ausgabe von 1518).

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Von dieser Voraussetzung her, der ökonomischen und sozialen Gleichheit, ist es möglich, alle politischen Einrichtungen, die Gesetze, Bildungsinstitutionen usw. nach dem Prinzip wahrer Gerechtigkeit zu gestalten. Morus schildert die Arbeitsorganisation, das Leben der Bewohner in den Städten und auf dem Land, die Ehe, die Pflege der Kranken, die Erziehung der Kinder, die Gesellschaftsstruktur, die ausgeübten Handwerke, die Reisen, die Geringschätzung des Geldes, die Behandlung von Verbrechern, die Übungen aller zu Verteidigungszwecken. 

Am Ende wird die fiktive Religion geschildert, die vor allem auf die Entwicklung von Sitte und Tugend gerichtet ist. Schwerpunkt des Buches sind eindeutig die Probleme, die Morus besonders am Herzen liegen: Rechtswesen, Kriegswesen und religiöse Toleranz.

Die «Utopia» ist ein kühnes, optimistisches Bekenntnis zur Humanität, zum Glück des Menschen. Darauf verweist auch ein Hexastichon, ein sechsversiges Gedicht, des angeblichen lorbeergeschmückten Dichters Anemolius, Neffen des Hythlodaeus, über Utopia, gerichtet an seine Schwester, in dem es heißt, daß dieses Land besser «Eutopia» (91, 230) benannt werden sollte.

Thomas Morus' sozialkritisches Werk ist also, wie er selbst heraushebt, eine Eutopie (d. i. Schön-, Wunschland) und steht am Anfang einer kaum überschaubaren Reihe von Schilderungen glücklicher, menschenwürdiger Zustände in der Literatur folgender Jahrhunderte.

 

Die zweite bedeutende frühbürgerliche Utopie, «Der Sonnenstaat. Idee eines philosophischen Gemeinwesens» (La Citta del Sole; Civitas solis) von Tommaso Campanella, erwächst schon aus einem anderen gesellschaftlichen Umfeld.

Campanella wurde 1568 als Giovanni Domenico in ärmlichen Verhältnissen in Kalabrien geboren. Als Fünfzehnjähriger trat er in den Dominikanerorden ein und übernahm den Klosternamen Tommaso. Mehrmals mußte er sich in der Folge wegen angeblicher Ketzerei rechtfertigen. Er beteiligte sich 1599 führend am Aufstandsversuch gegen die spanische Fremdherrschaft, wurde grausam gefoltert und zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Den größten Teil seines philosophischen Werkes schrieb er während der Haftjahre, die er verbüßen mußte. Erst zur Jahreswende 1628/29 kam er frei, jedoch nicht zur

Ruhe. Da die Gefahr einer erneuten Verhaftung bestand, wurde ihm die Flucht nach Frankreich unter falschem Namen ermöglicht. Hier lebte er von 1634 bis zu seinem Tod 1639, hochgeehrt vom königlichen Hof wegen seines antispanischen Kampfes und von den zeitgenössischen Wissenschaftlern wegen seines philosophischen Werkes, in einem Dominikanerkloster in Paris,

«Der Sonnenstaat» entstand in Campanellas schwerster Zeit, in der Spanne zwischen Verhaftung und Verurteilung, als er unaufhörlich verhört und gefoltert wurde. Es gibt wesentliche Übereinstimmungen in der Konzeption eines wahrhaft humanen Gemeinwesens mit den Auffassungen von Thomas Morus. Auch für Campanella beruht die gerechte soziale Ordnung darauf, daß es kein Privateigentum gibt. Zugleich ist unter solchen Bedingungen das Tätigsein für das Gemeinwohl, die produktive Arbeit, Sache aller Bürger. 

Abb.:
Tommaso Campanella.

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Auf dieses Ziel hin ist die Erziehung der Kinder gerichtet, die nicht nur in den damals bekannten geistigen Disziplinen, sondern — um einen modernen Begriff zu verwenden — unter polytechnischem Aspekt erfolgt. Während der Ausbildung lernen die Kinder alle Werkstätten und Handwerke kennen, damit die spezielle Neigung und Fähigkeit des einzelnen erkannt wird.

Das System Campanella zielt auf die allseitige Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Stärker noch als bei morus ist im «Sonnenstaat» die körperliche Übung und Vervollkommnung Pflicht aller; denn jeder muß in der Lage sein, das Gemeinwesen im Kriegsfall wirkungsvoll zu schützen.

Das Gemeinschaftsleben beschränkt sich nicht nur auf die Arbeit und die Mahlzeiten, sondern alle Dinge sind gemeinsam. Ähnlich wie in der antiken Utopie Platons hat auch die Ehe einen anderen Charakter. Es gibt die «Weibergemeinschaft». (25, 61) Die Paare werden nach astrologischen Gesichtspunkten von der Leitung des Staatswesens zusammengegeben. Auch Gedanken der Eugenik spielen dabei eine Rolle.

Anders als Morus geht Campanella nicht von konkreten Mißständen seiner Zeit aus. Natürlich ist seiner Utopie in gewissem Maß auch Kritik immanent, vor allem aber will er die Gesellschaftslehre als Teil seines philosophischen Denkgebäudes herausstellen. Betont wird die Einheit alles Bestehenden. Eine wesentliche Rolle spielt «der Gedanke, daß sich der Rang, die Vollkommenheit des Individuums nach dem Grad seiner Annäherung an die Vollkommenheit des göttlichen Seins richtet», (1, 82 f.) Oberster Regent ist daher stets ein Bürger, der den höchstmöglichen Grad einer solchen Annäherung erreicht hat.

Bei Campanella wird der Dialog zwischen dem Verwalter (Hausvater) eines Klosterhospizes und seinem Gast geführt, einem schon aus früheren Utopien bekannten weitgereisten Seemann, der über das ideale Gemeinwesen berichtet. Der Staat liegt wiederum auf einer Insel am Rand der bisherigen Menschlichen Erfahrung. Mittelpunkt ist die Sonnenstadt, die in sieben konzentrischen Kreisen aus herrlichen Palästen an einem Berg errichtet ist, auf dessen Gipfel ein Tempel alles überstrahlt. Daß das Vorbild Jambulos' nicht nur mit seinen sieben Inseln auf die sieben Kreise gewirkt hat, sondern auch die dort gestaltete Verehrung der Sonne auf die Titelgebung bei Campanella, ist wahrscheinlich.

Morus und Campanella werden Vorbilder für die nächsten Jahrhunderte: Vor allem in England und Frankreich, aber auch in anderen Ländern, erscheint in der Folge eine Vielzahl von Utopien. Zwar wurde der Sammelbegriff für die Gattung in Anlehnung an Thomas Morus' Werk erst im 19. Jahrhundert üblich, jedoch die «Staatsromane» der deutschen Literatur, die «phantastischen Reiseabenteuer» (voyages imaginaires) der französischen sind Sozialutopien oder enthalten zumindest sozialutopische Gedanken. Allein in Frankreich wächst ihre Zahl so an, daß im 18. Jahrhundert im Durchschnitt «zehn bis zwanzig Neuerscheinungen, in einigen Jahren aber auch bis zu dreißig, auf den Markt geworfen» (69, 777) werden. Die meisten sind vergessen und höchstens für spezielle literaturwissenschaftliche Untersuchungen interessant. Deshalb und weil es sehr schwer ist, eine klare Grenzlinie zu ziehen zwischen den ausgesprochenen Staatsromanen und den Sozialutopien, die mit vollem Recht einer Geschichte der wissenschaftlich-phantastischen Literatur zugeordnet werden können, verzichten wir auf eine summarische Aufzählung aller nur erdenklicher Titel. Einige Beispiele dieser großen Wirkungsbreite müssen genügen.

Die Suche nach dem Glück des Menschen ist in jenen Jahrhunderten unweigerlich mit sozialutopischen Hoffnungen verbunden. Daher verwundert es nicht, daß auch die großen Renaissanceromane wie Rabelais' «Gargantua und Pantagruel» (z.B. die Abtei Theleme) und Cervantes' «Don Ouijote» (noch mehr der Altersroman «Persiles und Sigismunda») derartige Elemente aufweisen.

Ein in der Zeit beachtetes Werk war die aus christlich-sozialer Sicht geschriebene «Christianopolis» aus dem Jahre 1619 von Johann Valentin Andreae. In der ersten bedeutenden französischen Utopie, der «Geschichte der Sevaramben» (1678) von Denis vairasse d'älais, geraten Schiffbrüchige auf eine zunächst als unbewohnt angesehene Insel. Später stellt sich heraus, daß doch Menschen dort — in einem idealen Gemeinwesen — leben. Da unter den Schiffbrüchigen nur ein Fünftel Frauen sind, werden einige pikante Situationen ausgemalt.

Häufig wird ein Werk mit den Büchern von Morus und Campanella in einem Atemzug genannt: «Nova Atlantis» von Francis Bacon (um 1623 entstanden).

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Abb.:
Titel einer alten Ausgabe von Bacons «Nova Atlantis».

 

 

Dieser Philosoph stellt den Grundsatz der Empirie ins Zentrum seiner Lehre. Damit wird er trotz aller religiöser Vorbehalte zum «wahre(n) Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft». (89, 135) Seine Fragment gebliebene Utopie geht auf Platons Bericht von der im Meer versunkenen, auf hoher Kulturstufe stehenden Insel Atlantis zurück. Sie erschien erst 1627, also nach Bacons Tod.

Die Einkleidung der Fabel ist nicht neu. Da gerät ein von Südamerika nach Japan segelndes Schiff in einen Sturm und wird an eine Insel verschlagen, die die Eingeborenen Bensalem nennen. Erst als die Schiffbrüchigen bejahen, Christen zu sein, dürfen sie an Land und sechs Wochen bleiben. Dieser Insel hatte ein Weiser namens Salomon vor 2000 Jahren Gesetze gegeben und den Orden der Wissenden (eine Art Akademie) gegründet. Wiederum ist es ein geretteter Seemann, der die Schilderung des Gemeinwesens gibt. Insoweit bestehen Übereinstimmungen mit den Utopien.

Und dennoch ist bacons Werk keine echte Sozialutopie. Das Entscheidende ist, daß die bestehende Klassenhierarchie nicht angetastet wird. (Zur Entstehungszeit von «Neu-Atlantis» hat sich die bürgerliche Struktur in England schon befestigt.) Es gibt Besitzlose und Besitzende, Beherrschte und Führer, niedere und gehobene Schichten. Erst auf den letzten Seiten des Fragments wird die Richtung klar, in die der Blick des Lesers gelenkt werden soll. Die Insel Bensalem ist ein gewaltiges Forschungs­laboratorium, das die gesamte Natur in die Untersuchungen einbezieht. Das ganze Werk ist darauf ausgerichtet, das «Haus Salomons» vorzuführen, dessen Zweck es ist, «die Ursachen und Bewegungen sowie die verborgenen Kräfte in der Natur zu ergründen und die Grenzen der menschlichen Macht soweit wie möglich zu erweitern» (7, 89). Große Aufmerksamkeit wird der Erfindung wichtiger Geräte gewidmet (leistungsstarke Ferngläser; optische Geräte, die besser sind als die herkömmlichen Brillen und Spiegel; Maschinen und Instrumente für alle Arten der Bewegung einschließlich Flugmaschinen). Außerdem orientiert man sich auf die Züchtung neuer, besserer Tierrassen. Experimente mit Licht und Schall werden genauso wie anatomische Untersuchungen vorgenommen.

Indirekt stellt sich die wissenschaftliche Utopie Bacons als Sozialutopie heraus, auch wenn ihr die spontankommunistischen Züge der anderen fehlen. In «Neu-Atlantis» wird letztlich akzentuiert, daß für die junge Bourgeoisie und den neuen Adel Englands der unumschränkte Einfluß über Wissenschaft und Technik Vorbedingung zum Erringen der politischen Macht ist.

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Nach der unter dem Banner des Puritanismus, der Ideologie des Bürgertums, durchgeführten Revolution, die schließlich 1688 zum Staatsstreich ohne Beteiligung der Volksmassen führte («Glorreiche Revolution»), kam es in England zum historischen Kompromiß zwischen Adel und Bürgertum: Es bildete sich die bürgerlich-parlamentarische Staatsverfassung heraus. Damit war die politische Voraussetzung für die bürgerliche Entwicklung auf breitester Ebene geschaffen worden. 

«Es war eine Zeit der Umbrüche, in der auf allen Gebieten der Wirtschaft, des Staats, der Verwaltung, der Kultur, der Geselligkeit die Regeln des Marktes zum bindenden Gesetz wurden ... Im Puritanismus fand der wirtschaftende Mensch mit seinem Sinn für Methode und strengste Disziplin die für ihn tauglichen Tugenden des Pflichtbewußtseins, der Energie, des Fleißes, der Mäßigung und der Sparsamkeit und machte sie seinen eigenen Zwecken dienstbar.» (12, 3 52 f.)

Ein Kind dieser Zeit des Umbruchs war Daniel Defoe. Er schuf eine besondere Art der Sozialutopie, die im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder Nachfolger und Nachahmer fand, vor allem in mehreren Büchern von Jules Verne weitergeführt und im

 

Abb.: 
Francis Bacon.

 

Abb.:
Robinson Crusoe. Holzschnitt nach Grandville, 1850.

 

 

20. Jahrhundert — verlagert in den Weltraum — variiert wurde. Als Neunundfünzigjähriger veröffentlichte er 1719 nach wirtschaftlichem und sozialem Auf und Ab, nach rastloser Arbeit auf den verschiedensten Gebieten seinen Roman «Leben und seltsame, wunderbare Abenteuer des Matrosen Robinson Crusoe aus York». Er knüpfte mit diesem Buch an die Journale der kühnen Renaissance-Seefahrer und -Entdecker, an die fiktive Reiseliteratur vieler Vorgänger, aber auch an Schilderungen vom Einsiedlerdasein auf Inseln an. Historische Beispiele wie das Schicksal des ausgesetzten Matrosen Alexander Selkirk waren allgemein bekannt. All das verwertete Defoe in seinem Extrembeispiel von Schiffbruch und achtundzwanzigjährigem Inselleben.

Anders als in den damals bekannten Seefahrerberichten geht es nicht mehr um eine aktionsreiche Lebensgeschichte, die durch viele exotische Stationen führt, sondern gleich zu Beginn wird das Handlungs-

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schema durch den Schiffbruch und das alleinige Überleben des Helden durchbrochen. Jetzt rückt ins Zentrum das Abenteuer des Einzelnen, sein Bewähren in ungewöhnlichen Situationen. Dabei vermied Defoe alles rein Phantastische. Er ließ die Dinge zahlenmäßig genau aufmarschieren: Stunden, Tage, Wochen, Jahre, fast drei Jahrzehnte ausfüllend. Nach Lockes Philosophie waren Natur und Vernunft die Urkräfte, auf die alle individuelle und gesellschaftliche Evolution zurückzuführen war. Natur und Vernunft standen sich auch in Defoes Roman gegenüber.

Dabei erschien die Vernunft des Menschen vor allem als die Fähigkeit, Erfahrungen zu sammeln, zu vergleichen, auszuwerten und dann produktiv anzuwenden. Das war der Kern des Romans, Robinson sammelte Erfahrungen mit der Welt: mit Naturereignissen, Pflanzen und Tieren, mit Nahrung, Kleidung und Obdach, mit Raum und Zeit, mit Werkzeugen, Instrumenten, mit Wilden und im Kampf, mit Individuen und einem Gemeinwesen. Im Umgang mit der Welt wurde der Mensch aktiv. Damit erwarb er zugleich das Eigentumsrecht an Land, an Dingen, aber auch, wie das Beispiel des geretteten Wilden Freitag bewies, an Menschen. Die auf Erfahrung beruhende Vernunft triumphierte und sicherte den Erfolg des bürgerlichen Individuums. 

 

Der zweite Band des Romans in einer deutschen Ausgabe von 1720.

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Die Wirkung des Buches ging zu einem erheblichen Teil von dem Kunstgriff Defoes aus, als Erzähler zurück­zutreten und den fiktiven Helden die Erlebnisse selbst berichten bzw. in Tagebuchform aufzeichnen zu lassen. Diese Genauigkeit des Stils kam dem Anliegen der englischen Bourgeoisie zu Beginn des 18. Jahr­hunderts weitestgehend entgegen.

Doch trotz dieser scheinbar totalen Orientierung auf die Realität gehört Daniel Defoes Buch in eine Geschichte der wissenschaftlichen Phantastik. Denn um die Harmonie von Wohl der Gemeinschaft und Wohl des Individuums triumphieren zu lassen, blieb Defoe nur die Hinwendung zum Utopisch-Irrealen. Das phantastische Element bestand eigentlich schon in der Figur des Helden. 

Aus zeitgenössischen Berichten war bekannt, daß vereinsamte Schiffbrüchige nach kurzer Zeit vertieren (so auch das direkte Vorbild Selkirk) und meist alles vergessen, was die Zivilisation sie gelehrt hat. Dagegen war der fiktive Ich-Erzähler Robinson ein überragendes Individuum, das erst die äußere Natur besiegen und dann die menschliche Natur (Freitag!) unterwerfen konnte. 

Durch Setzen dieser einsamen Existenz entfielen zunächst für Defoe alle konkreten Fragen des Privateigentums, der Klassen­schichtung, der Interessenkämpfe usw., die in anderen Utopien im Zentrum standen. Zugleich aber war Voraussetzung für das Gelingen der Robinson-Existenz, daß die abwesende bürgerliche Gesellschaft der Zeit durch ihre Ideologie ständig anwesend blieb. Als Konsequenz daraus verlor Robinson in dem Augenblick, in dem er die Isolation aufgab und ins «normale» Leben zurückkehrte, alles Außergewöhnliche. So war es kein Wunder, daß der noch im gleichen Jahr erschienene zweite Band des Romans sich nicht mehr über die sonstige Abenteuer- und Reiseliteratur der damaligen Zeit erhob. Der 1720 herausgegebene dritte Band «Ernste Betrachtungen während Robinson Crusoes Leben und erstaunlicher Abenteuer» schließlich war voll moralisierender Redseligkeit und stand weit unter dem literarischen Niveau des ersten Buches.

Mit der Geschichte vom Schiffbruch und Inseldasein Crusoes wurde der Reigen der unzähligen Robinsonaden, der Ein-Mann-Utopien (auch Einzelutopien genannt) im dargelegten Sinn eröffnet. Die meisten allerdings hatten nur geringes literarisches Niveau und standen auch im Erfindungsreichtum hinter Defoes Werk zurück. Eine gewisse Bedeutung hatten Bücher wie Johann Gottfried Schnabels «Die Insel Felsenburg» (ursprünglich «Wunderliche Fata einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Julii, eines geborenen Sachsens ...», den später geläufigen Titel gab erst im folgenden Jahrhundert der Neuherausgeber Ludwig Tieck). Dieses vierteilige Werk (1731-1743 erschienen) erreichte zwar an künstlerischer Geschlossenheit das englische Vorbild nicht, war aber in den gesellschaftskritischen Zügen zum Teil schärfer. Hier handelte es sich nicht um die von Defoe geprägte Ein-Mann-, sondern um eine Gruppenutopie. Die gestrandeten Helden wurden in der reinen «Natur» wieder der «Vernunft» zurückgegeben. Das führte bei Schnabel zur Errichtung einer Inselgesellschaft mit urkommunistisch-protestantischen Zügen. Der Gemeinsinn beruhte auf tätiger Frömmigkeit, wie sie von den Pietisten verkündet wurde.

Sieben Jahre nach Daniel Defoes «Robinson Crusoe» erschien das zweite berühmte Buch der englischen Aufklärungsliteratur, Jonathan Swifts «Reisen in verschiedene ferngelegene Länder der Erde von Lemuel Gulliver, erst Wundarzt, später Kapitän mehrerer Schiffe» (1726). In diesem Werk unterzog Swift im rationalistischen Sinn der Aufklärung das englische Regierungssystem, die ökonomischen und sozialen Ergebnisse der nachrevolutionären Entwicklungsphase in England, aber auch die Unterdrückungs­maßnahmen gegen Irland einer vernichtenden Kritik. Wie Defoe knüpfte er an die Traditionen der Reise­literatur an. Doch während der «Robinson» ein Loblied auf die Tugenden des englischen Puritaners war, der im Kampf mit den Widerwärtigkeiten der Natur schließlich eine britische Kolonie gründete, war Swifts Buch nicht nur eine grausame Satire auf den untergehenden Feudalismus, sondern zugleich die erste literarische Abrechnung mit dem Kapitalismus.

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Abb.:
Marsch der Liliputaner durch Gullivers Beine (Ausgabe London, 1815).

 

 

Sowohl die beißende Kritik an den existierenden Zuständen wie auch das dahinter aufschimmernde Bild humaner Lebensformen der Menschen werden aus der Begegnung mit «anderen» entwickelt. Zunächst kommt der Held auf seinen abenteuerlichen Reisen in Länder, in denen alles lediglich in den Proportionen anders ist: Die Liliputaner sind zwölfmal kleiner als Gulliver, im umgekehrten Verhältnis schafft Swift das Königreich Brobdingnag, das Land der Riesen. So entwickelt er, aufbauend auf den philosophischen Lehren Descartes', eine geometrische Utopie; denn mit seinen Zeitgenossen teilte er die Überzeugung, daß man alle Eigenschaften der Körper unverändert erhalten könne, wenn man sämtliche Größenmaße proportional verändert. Diese geometrische Utopie wurde zum Mittel, die Gebrechen der Zeit zu verfremden: 

«In der Reise Gullivers ins Land der Liliputaner zeigte Swift das Elend der menschlichen Größe. In der Reise Gullivers ins Land der Riesen zeigte er die Größe des menschlichen Elends.» (121,411)

 

Abb.:
Gulliver sichtet die fliegende Insel Laputa (Ausgabe London, 1815).

 

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Auf weiteren Reisen kam Gulliver u.a. zur fliegenden Insel Laputa und ins Reich der vernunftbegabten Tiere. Das Motiv der Überlegenheit des Tiers über den Menschen tritt uns in der Literatur schon seit dem Altertum entgegen. Aber gerade in diesem humanen Land der «anderen» wurde von Swift das Zerrbild des Menschen, die Yahoos, angesiedelt — ein totaler Gegensatz zum sonstigen zeitgenössischen Bild des «edlen Wilden». In der Konfrontation mit den humanen Pferden, den Houyhnhnms, verfremdete Swift die Auffassung, daß der Mensch der sogenannten zivilisierten Welt eigentlich nichts anderes sei als ein gesteigerter, noch schlimmerer und damit gefährlicherer Yahoo. Für die weitere Entwicklung der Science Fiction waren weniger die zeitgenössische Satire und die Sozialutopie Swifts bedeutsam als vielmehr die von ihm genutzten Möglichkeiten, das menschliche Individuum und unsere Gesellschaft im Bild der «anderen» zu spiegeln und gerade durch die Konfrontation mit phantastisch deformierten Lebensformen auf sein Wesen zu reduzieren.

 

Abb.:
Gulliver und ein Houyhnhnm (Josef Hegenbarth, 1954).

 

 

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren weite Teile der Welt durch Entdeckungen und systematische Erforschung erschlossen und kartographiert, die Erdteile bekannt, viele Länder von den sich entwickelnden Kolonialmächten in Besitz genommen, so daß die naive Fiktion eines auf der Erde möglichen Utopiens sehr an Überzeugungskraft verlor. Das ließ Schriftsteller nach neuen Formen der Sozialutopie suchen.

 

Abb.:
Die Yahoos, das Zerrbild der Menschen (Josef Hegenbarth, 1954).

 

 

In diesen Jahren setzte sich in Dänemark der Pietismus durch. Das gesellige Leben war bar aller Fröhlichkeit. Komödien durften nicht mehr aufgeführt werden. Und zur gleichen Zeit lebte und wirkte der bedeutendste Theaterdichter Dänemarks, Ludvig Holberg! Er hatte innerhalb von drei Jahren rund 12 Komödien geschrieben und in seinem Heimatland ein Theater geschaffen — damit war es nach einer königlichen Verordnung von 1738 aus. Für zwei Jahrzehnte mußte sich Holberg seinen Lebensunterhalt mit wissenschaftlichen Arbeiten verdienen. Sich zur Freude schrieb er in dieser Situation, seinen erklärten Vorbildern Lukian und Swift folgend, den Roman «Nicolai Klims unterirdische Reise, worinnen eine ganz neue Erdbeschreibung wie auch eine umständliche Nachricht von der fünften Monarchie, die uns bishero ganz und gar unbekannt gewesen, enthalten ist». 

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Abb.:
Erste Varianten der «anderen» in der SF: Baum-, Affen- und Musikantenmensch
(Ausgabe Copenhagen und Leipzig, 1753).

 

Das Buch erschien 1741 in Leipzig zunächst in lateinischer Sprache, wurde jedoch bald in zahlreiche lebende Sprachen übersetzt. Der Held Niels (= Nicolai) Klim will in der Nähe seiner norwegischen Heimatstadt Bergen eine Höhle erforschen. Dabei reißt das Seil, und ein Luftzug wirbelt ihn ins Innere der Erde. Dort befindet sich ein zweites All, Niels landet auf dem Planeten Nazar. Dessen Bewohner sind vernünftige Bäume. Holberg bringt damit zwei neue Elemente in die wissenschaftliche Phantastik ein: Erstens liegt die Wunschwelt nicht mehr auf der Erde, zweitens sind die «anderen» nicht mehr menschenähnliche oder Tierwesen. Die Residenz in dem harmonisch geordneten Gemeinwesen trägt den beziehungsreichen Namen Potu, die Umkehrung von Utop. Aus den Detailschilderungen im Buch ragen besonders zwei Aspekte heraus: Während in Holbergs Realität die Bauern leibeigen und vollständig rechtlos waren, galten sie in dem unterirdischen Phantasiekosmos als die nützlichsten und ehrenwertesten Glieder der Gesellschaft, und die Frauen hatten dort absolut die gleichen Rechte wie die Männer, sie konnten sogar Richter werden.

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Bereichert wurde die Schilderung durch einige technische Phantasien. So ließ Holberg Schiffe auf dem Meer dieser Unterwelt mit Hilfe einer versteckten Maschinerie, ohne Segel und Ruder, fahren. Allerdings war der fiktive Erzähler Niels Klim nicht in der Lage, die Einzelheiten des technischen Wunders zu erläutern.

Als Gegenbild finden sich bei Holberg andere Staaten, an deren Beispiel die Welt karikiert wird, so das Affenland und schließlich die Tyrannei, die Klim mit Hilfe einer (auf Pulver beruhenden) Vernichtungswaffe errichtet. Als sich das Volk gegen ihn erhebt, will er sich in einer Höhle verbergen — und damit ist er wieder dort, wo er zehn Jahre vorher aufgebrochen war. Das Buch ist noch heute eine vergnügliche Lektüre, auch wenn die politischen und philosophischen Scherze im Vergleich zu Swifts satirischen Attacken wie harmlose Witzchen erscheinen.

Eine neue Möglichkeit erprobte Sebastian Mercier. Nachdem 1747 eine wahrscheinlich von Piron verfaßte Novelle «Malle Bosse» erstmals eine Parallele zwischen dem 18. und dem 24. Jahrhundert geboten hatte, erschien 1752 in London Merciers Buch «L'an deux rnille quatre cent quarante» (Das Jahr 2440). Hier wird die Schilderung der gewünschten Zustände in eine Traumvision eingekleidet. Der Held, ein des Pariser Großstadtlebens überdrüssiger Engländer, sinkt in Schlaf, glaubt zu erwachen und an einem Obelisken mit der eingemeißelten Jahreszahl 2440 zu erkennen, daß 672 Jahre vergangen sind. Alle Reformen, die Mercier für wünschbar hielt, kleidete er in dieses Traumbild. Für die Geschichte der Science Fiction ist das Werk nicht nur deshalb interessant, weil das Motiv der Veränderung in der Zeit durch Schlaf oder kataleptische Starre erstmals auftaucht, sondern deshalb, weil zur bis dahin üblichen Sozialutopie im Raum, in der das gewünschte Gemeinwesen am Rand der bisherigen geographischen Erfahrung angesiedelt war, die Sozialutopie in der Zeit trat.

Mercier fand rasch Nachfolger. Zwei Mitglieder der Kaiserlichen Akademie Rußlands, Legopanow und Aletowitz, lieferten 1781 eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur. Diese Broschüre erschien mit der fiktiven Jahresangabe 2001. Als Druckort war (das inzwischen angeblich russisch gewordene) Konstantinopel angegeben. Retif de la Bretonne nutzte die Möglichkeit der Zeitutopie in seiner Komödie «Das Jahr 2000», die 1790 (also in der Revolutionszeit!) aufgeführt wurde und in der er das Bild einer Volksmonarchie mit bürgerlichen Grundsätzen entwarf. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden schließlich die Zeitutopien und das Spiel mit der Zeitversetzung zu einem eigenständigen Zweig der Science Fiction.

 

Abb.:
Titelblatt der lateinischen Erstausgabe von Holbergs «Niels Klim», 1741.

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Gegenüber der Verschmelzung von sozialen Vorstellungen und Phantastik ist die Einbeziehung von technischen Träumereien in die Anfänge der wissen­schaft­lichen Phantastik ohne große Bedeutung. Zwar finden sich — wie angedeutet — in einzelnen Werken durchaus Grenzüberschreitungen der realen menschlichen Möglichkeiten, aber im allgemeinen dominieren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Vorstellungen, wie sie aus den frühen Phantasien, z.B. den Mythen und Märchen, aber auch den Geschichten Lukians, bekannt waren. Denn dort erhob sich ja der Mensch schon von der Erde — aber das war stets nur möglich durch das angewandte Vorbild des Vogelflugs. 

So werden die Schwanjungfrauen oder die verzauberten Raben des Märchens zum Fliegen befähigt durch das entsprechende Federkleid. Dädalos verknüpft für sich und seinen Sohn Ikaros Vogelfedern mit Leinfäden und Wachs, um mit Hilfe dieser Flügel übers Meer aus Kreta zu entkommen. In der germanischen Thidrekssaga entflieht der zum Krüppel gemachte Wieland der Schmied ebenfalls mit Hilfe eines kunstvoll angefertigten Federkleides. Lukian Mennipos (in «Ikaromennipos oder Der Himmelsstürmer») nimmt je einen Flügel von Geier und Adler, um zu den Göttern in den Himmel zu fliegen. Eine Zwischenlandung erfolgt auf dem Mond, wo er Empedokles begegnet. Dieses Treffen wird benutzt, um Kritik an philosophischen Schulen und an Zuständen der Erde zu üben. (Damit liefert Lukian ein Modell, das vor allem im 18. Jahrhundert von den Aufklärern im geistigen Kampf gegen ihre Gegner aufgegriffen wird.

Vom Mond aus geht der Weiterflug des Mennipos an der Sonne und Sternen vorbei zur Himmelspforte. Dort erfolgt die satirische Abrechnung mit der Götterwelt und wiederum mit zeitgenössischen und vergangenen Philosophen. Zeus läßt Mennipos schließlich die Flügel nehmen und ihn durch den Götterboten Hermes mit seinen geflügelten Schuhen wieder zur Erde zurück­bringen. In der «Wahren Geschichte», einer Lügensammlung, wird ein Schiff vom Sturm gepackt und an den Himmel geschleudert. Hier kommt es zu Abenteuern in seltsamen Ländern, wiederum vor allem auf dem Mond mit seinem Herrscher Endymion. Dann wird von Lukian eine Vorform des «Krieges der Welten» gebracht; denn es tobt eine Schlacht zwischen dem Mond- und dem Sonnenreich wegen der Kolonisation der Venus. Seltsame Menschen («andere» Lebewesen) begegnen dem Leser, und in einem Walbauch hat der Autor zudem noch eine eigene Welt installiert.

An diese und andere Vorformen knüpfen die Schreiber phantastischer Werke zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert an. Sehr häufig nutzen sie — wie Lukian — die technische Utopie zur Kritik an philosophischen Richtungen, vor allem auch zur Popularisierung des kopernikanischen Weltbildes.

So erscheint 1638 John Wilkins Streitschrift für das heliozentrische System «Discovery of a New World; or, A Discourse that it's probable there may be another habitable World in the Moon». Im gleichen Jahr kam postum heraus «Der Mann im Mond» von Francis Godwin (ursprünglicher Titel «A View of St. Helena, an Island in the Ethiopien Ocean in America with an Account of the admirable Voyage of Domingo Gonzales, the little Spaniard, to the World of the Moon, by the help of several Gansas or large Geese. An ingenious Fancy, written by a late learned Bishop»). 

In dieser «geistreichen Phantasie» («ingenious Fancy») des «jüngst verstorbenen gelehrten Bischofs» Godwin gelingt dem kleinen Spanier Domingo Gonzales die beabsichtigte Flucht mit Hilfe einiger von ihm abgerichteter großer Gänse, die sein Gefährt durch die Luft ziehen. Allerdings hat er sich verrechnet; denn der Vogelflug geht nicht — wie üblich — in ein anderes Land, sondern geradewegs in den Himmel, in die Welt auf dem Mond.

Godwins Werk wurde rasch in andere Sprachen übersetzt, vor allem ins Französische. Von da wiederum übertrug es Jakob Christoffel von Grimmelshausen schon 1659 unter dem Titel «Der fliegende Wandersmann nach dem Mond» ins Deutsche.

Die von Godwin vorgezeichnete Linie wurde weitergeführt durch Savinien Cyrano de Bergerac in den «Mondstaaten» («L'autre monde ou Les Etats et Empires de la Lune») und den «Sonnenstaaten» («Histoire comique des Etats et Empires du Soleil»), die in deutscher Sprache unter verschiedenen Titeln, meist in einer Ausgabe, erschienen (z.B. «Mondstaaten und Sonnenreiche. Phantastischer Roman» oder «Phantastische Reisen zu den Staaten und Reichen des Mondes und der Sonne»). Beide Bücher erschienen erst nach Cyranos Tod (1655). Verfaßt wurde die 1656 erstmals gedruckte Mondreise vermutlich im Jahr 1642. 

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Abb.:
Dädalus und Ikarus. Wandgemälde aus Pompeji, vor 79 u.Z. 

Abb.:
Der Flug von Godwins Domingo Gonzales.

 

Die Sonnenreise dagegen ist erst nach 1650, dem Todesjahr Descartes', niedergeschrieben, weil der unter den Philosophen im Jenseits als Jüngstverstorbener auftritt. Unverkennbar bildet die Philosophie Gassendis, dessen Schüler Cyrano (gemeinsam mit Molière!) war, die Grundlage seines Denkgebäudes. Auch Einflüsse Descartes' lassen sich erkennen. Zum Teil suchte Cyrano zwischen den Lehren der beiden zu vermitteln. In einem glänzenden satirischen Stil entwarf er eine materialistische Theorie von der Entstehung des Weltalls und äußerte kühne Gedanken über Politik, Religion und Natur.

Interessant — für uns zugleich komisch — sind seine Vorstellungen über die Reisemöglichkeiten ins Weltall. In den «Mondstaaten» behängt sich der Erzähler mit Flaschen, die mit Tau gefüllt sind, und wird von der Sonne, die Tau aufsaugt, emporgezogen. Weil er jedoch zum Mond will, zerbricht er in der Luft eine Flasche nach der anderen und kehrt zur Erde zurück. Die hat sich wegen ihrer Kugelgestalt gedreht, so daß die Landung in Canada (zu dieser Zeit Entdeckungsobjekt vor allem der Franzosen) erfolgt. Mit einer zweiten Konstruktion verunglückt der Erzähler; er salbt seine Wunden mit Ochsenmark. Die Maschine findet er auf dem Markt von Quebec wieder, umgeben von Raketen, mit denen man das Johannisfest feiern will. Um den Apparat zu retten, springt er hinein. Doch just in dem Moment gehen die Raketen los, und so erfolgt der erste technische Start in den Himmel. 

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Bald sind die Raketen ausgebrannt, und der Wagen fällt wegen der Schwerkraft zurück zur Erde. Cyrano jedoch steigt weiter; denn Ochsenmark wird durch den Mond angezogen. Auf dem Mond findet er nicht nur das Paradies mit dem Baum des Lebens, sondern noch andere soziale Formen. Von großen kentaurenartigen Wesen wird der Erzähler für ein Affenweibchen gehalten und zu einem Männchen in den Käfig gesteckt, weil man hofft, Nachwuchs zu erzielen. Es stellt sich heraus, daß der gefangene Gefährte niemand anderes ist als Godwins kleiner Spanier. In die zahlreichen philosophischen Erörterungen sind technische Phantasien eingefügt, z.B. bewegliche Städte, deren Häuser und Mauern auf Rädern stehen und mit Hilfe von Segeln und Blasebälgen vorwärtsbewegt werden, Glühwurmlampen, Glaskugeln mit Sonnenlicht ohne Wärmestrahlung. Als schließlich der Teufel einen Freigeist des Mondes holt, hängt sich Cyrano an den jungen Spötter, um ihn zu retten. Dadurch wird er wieder zur Erde — nach Italien — transportiert, denn dort gelangt man durch einen Vulkan in die Hölle.

 

Abb.:
Eine Flugvariante bei Cyrano de Bergerac.
 Rolf Winkler illustrierte die 1913 (in München und Leipzig) erschienene Ausgabe der utopischen Werke Cyrano de Bergeracs.

 

Abb.:
Begegnung mit einem Mondmann (Ausgabe 1913) 

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Zu Beginn der Sonnenreise finden wir Cyrano in einem Turm eingekerkert. Um zu entfliehen, baut er innerhalb von acht Tagen eine komplizierte Flugmaschine. «Es war ein großer, sehr leichter Kasten, der ganz genau schloß, er war sechs Fuß oder ungefähr so hoch und drei bis vier Fuß breit. Dieser Kasten hatte unten ein Loch und über den Deckel, wo er auch eins hatte, setzte ich ein Gefäß aus geschliffenem Glas auf, das ein ebensolches Loch hatte und in Kugelform aber außerordentlich groß gefertigt war, dessen Hals genau in der Öffnung, die ich an dem Oberteil angebracht hatte, endigte und sich einfügte. Das Gefäß war absichtlich mehreckig gebaut und in Form eines Ikosaeders, sodaß, da jede Seitenfläche konvex und konkav war, meine Kugel die Wirkung eines Brennspiegels hervorbrachte...» (32, 218) Diesen Apparat bringt Cyrano morgens auf die Spitze des Turmes, setzt sich auf ein darin angebrachtes leichtes Brett und wartet. 

«Als die Sonne von Wolken frei meine Maschine zu bestrahlen begann, da verbreitete der durchsichtige Ikosaeder, der durch seine Seitenflächen die Schätze der Sonne empfing, ihr Licht durch den Hals in meine Zelle; ... da fühlte ich plötzlich meine Eingeweide in Bewegung gesetzt in der gleichen Weise, wie sie einer aufzucken fühlt, der mittels einer Rolle emporgehoben wird. Ich wollte meine kleine Tür öffnen, um die Ursache dieser Bewegung zu erkennen; aber wie ich die Hand ausstreckte, gewahrte ich durch das Loch im Boden meines Kastens meinen Turm schon sehr tief unter mir, und mein kleines Schloß in der Luft, das mir die Füße aufwärts trieb, ließ mich im Handumdrehen Toulouse in die Erde versinken sehen.» (32, 219 f.)

Natürlich gelingt wieder nicht nur die geplante Flucht, sondern Cyrano steigt in die Sonnenreiche auf. Während des Fluges werden von oben die Drehbewegung der Erde beobachtet und beschrieben sowie Grübeleien angestellt «über die Ursachen des Aufbaues dieses großen Weltalls». (32, 227) Auf der Sonne sind die philosophischen Gespräche und Darlegungen wieder eingekleidet in Begegnungen mit seltsamen Lebewesen, so mit Vögeln (Grundidee von Aristophanes übernommen), dann mit dem hitzeerzeugenden Salamander und dem abkühlenden Hemmfisch. 

Völlig neu ist die Phantasie von einem aus vielen kleinen Menschlein zusammengesetzten schönen großen Jüngling. Gerade dieses Motiv wird in der Science Fiction weiter ausgeführt werden. Wie bekannt und beliebt Cyrano de Bergerac und seine Phantasien waren, geht auch daraus hervor, daß Edmond Rostand (1897) ihn zum Helden einer «Heroischen Komödie» machte.

Ein Jahrhundert später, 1752, erschien die naturphilosophische Erzählung «Mikromegas» von Voltaire, in der ein acht Meilen großer Siriusbewohner den Saturn besucht, indem er seine Größe und die Gravitationsgesetze für seinen Weltraumsprung ausnutzt, und dann gemeinsam mit einem ebenfalls großen Siriusbewohner durch unser Sonnensystem auf Reisen geht. Sie gelangen schließlich auf unsere Erde mit ihren — im Verhältnis zu ihnen — winzigen Menschlein. 

Satirisch griff Voltaire damit vor allem Thomas von Aquino an, seine «Summe der Theologie» und das darin verkündete scholastische Weltbild mit dem Menschen als dem Zentrum der Schöpfung. Auch in den «Candide» (18. Kapitel) hat Voltaire eine wissenschaftliche Phantasie eingeflochten: Eine Flugmaschine, die Konstruktion ist nicht beschrieben, ermöglicht Reisenden die Rückkehr aus dem unzugänglichen südamerikanischen Sagenland Eldorado.

Mit diesen sozialutopischen und technisch-phantastischen Werken endete Mitte des 18. Jahrhunderts die seit der Renaissance andauernde Phase, in der sich die Science Fiction allmählich als ein eigener Zweig in der Literaturlandschaft ausprägte.

Die industrielle Revolution bewirkte nicht nur eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß, sie hatte ebenso weitreichende Wirkungen auf die Sozialstruktur und alle Gebiete des gesellschaftlichen und geistigen Lebens. Auch die junge Science Fiction trat in einen neuen Abschnitt ihrer Entwicklung.

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