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Prolog

Im Labyrinth der Vergangenheit

 

 

 

  Die Minute des Abschieds  

13-25

In Rußland gibt es den schönen Brauch, sich zum Abschied eine Minute still niederzusetzen. Während draußen der Taxifahrer auf die Hupe drückt, weht ein Hauch von Ewigkeit durch die gute Stube.

Doch selbst wenn die Zeit knapp ist – »die Minute« muß sein. Man erinnert sich gemeinsam an gute und an schlechte Tage. Man denkt an die Ungewißheiten der Zukunft und daran, daß es niemals wieder so sein wird wie es war. Nach einem kleinen Moment erhebt man sich und küßt einander zum Abschied. Dann geht es los, zum Flughafen oder zum Bahnhof. 

In den letzten Jahren gab es für die DDR-Bürger ein Übersoll an Abschiednehmen. Doch selten war Zeit für die Minute der Besinnung. Die Ereignisse kamen zu plötzlich und zu überstürzt. Als Erich Honecker am 19. Januar 1989 anläßlich der Eröffnung des geplanten Thomas-Müntzer-Jahres verkündete, die Mauer würde noch 50 oder 100 Jahre stehen, schlug ihm keineswegs lautes Gelächter entgegen. Eher herrschte resigniertes Kopfschütteln über den verhärteten Sinn der SED-Führung, ohne deren guten Willen man sich eine Verbesserung der Lage in der DDR nicht vorstellen konnte. Die Thomas-Müntzer-Feierlichkeiten versprachen im Januar noch, einer der Höhepunkte des Jahres 1989 zu werden. Der zentrale Festakt war für den 21. Dezember vorgesehen. Der greise Generalsekretär sollte an diesem Tag eine feierliche Rede zum 500. Geburtstag des Bauernführers halten. Doch als es soweit war, hatte längst das große Abschiednehmen begonnen.

Erst verschwanden die Angst und die bedrückende Ereignislosigkeit der Diktatur. Dann fiel die Mauer. Es verschwanden die Symbole und Uniformen der DDR, die ewigen Polizeikontrollen und die blauen Hundert-Mark-Scheine mit dem bärtigen Antlitz von Karl Marx. Es verschwanden die Goldpapier-Tüten mit Mokka-Fix, die Jugend-Mode-Läden, die grünen SV-Ausweise und die Klappkarten der Stasi. Es verschwanden die sicheren Arbeitsplätze, die Nestwärme des Kollektivs, die ganze enge, aber überschaubare Welt des Realsozialismus. Es verflüchtigte sich auch der spezifische DDR-Geruch, dessen genaue Zusammen­setzung wohl für immer unerforscht bleiben wird. Es verschwand der unverwechselbare barsche und belehrende Tonfall der Verkäuferinnen, Kellner und Volkspolizisten. 


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Nur allzuoft stellt sich beim Anschauen der alten Bilder und Filme die trauliche Stimmung des Wiedererkennens von Markenzeichen, Symbolen, Alltagsdingen, Gesten und Worten her. Gespeichert für alle Ewigkeit ist diese Alltags­welt vor allem in den Filmen des DDR-Fernsehens, die sich beim Publikum wieder großen Zuspruchs erfreuen. Die Faszination der Krimi-Serien wie »Polizeiruf 110« oder »Der Staatsanwalt hat das Wort« ist nicht ganz einfach zu erklären. Nicht die packende Handlung oder die hohe künstlerische Qualität verschaffen diesen Filmen eine treue Zuschauergemeinde. Vielmehr findet vor der Mattscheibe eine Art Wiedersehensfeier statt. Die grauen Plaste-Telefone von RFT mit einer richtigen Wählscheibe, die Schrankwand »Sibylle« aus dem VEB Möbelkombinat Zeulenroda und das typische Design der HO-Gast­stätten, die Blümchentapeten und die lappigen Gardinen – all dies verbreitet jene unnachahmliche und trauliche Atmosphäre der DDR.

All das ist verschwunden. Nun verschwinden allmählich auch die Örtlichkeiten des Geschehens. Fast täglich müßten Nachrufe erscheinen. Überall wird renoviert, abgerissen, neu gebaut. Zuerst übertünchten die bunten Reklameschilder und Pappfassaden der Marktwirtschaft die graue Welt des Realsozialismus. Dann folgten die Schließungen und Abwicklungen. Schließlich entstand Neues; die gleichen Kosmetik-Geschäfte, Pizza-Buden, Fast-Food-Ketten und Supermärkte wie in Düsseldorf oder Hamburg. Man möchte die Dinge festhalten, bewahren, einmotten und weiß doch, daß die Musealisierung der Realität ein sinnloses Unter­fangen ist. Gefühle lassen sich nicht archivieren. Ängste und Hoffnungen kann man nicht in die Glasvitrine legen. Die gegen­ständliche Hinterlassenschaft ist leblos. Im besten Fall hat sie eine Art Signalwirkung.

Abschied gilt es auch zu nehmen von den Jahren des Wandels und des Umbruchs, von dem schwindelerregenden Sturz aus der jahrelangen Lethargie in die Turbulenzen der Wendezeit und der allmählichen Wiederkehr einer Art Normalität. Im Spätsommer 1989 verwandelte sich das »langweiligste Land der Erde«, wie es Volker Braun einmal genannt hatte, in einen Abenteuer­spielplatz. Was sich da abspielte, war nicht nur eine »friedliche«, sondern auch eine »fröhliche Revolution«. Das Feuerwerk eines ungeahnten Sprachwitzes in den Losungen der Umzüge im Wendeherbst ist oft bewundert worden. Es gab auch sonst viel zu lachen in jenen Wochen und Monaten. Diese Revolution war bis zum Einbruch des Alltags im Sommer und Herbst 1990 ein gigantisches Happening, ein Gesamtkunstwerk, wie es sich kein Aktionskünstler schöner hätte ausdenken können.

Fast unbemerkt verschwand auch die alte Bundesrepublik. Als in Berlin die Mauer abgerissen wurde, beklagten die Natur­schützer die Vernichtung mancher Biotope, die im Schatten des »Antifaschistischen Schutzwalls« entstanden waren. Seltene Lurch- und Kriechtierarten hatten sich in den stillen Winkeln zwischen Betonmauern und Panzersperren angesiedelt. Nach dem Mauerfall scheuchte sie der Abriß der Sperranlagen erbarmunglos auf. Dies mag man symbolisch verstehen. Zunächst traf es nur die Sieger des Kalten Krieges: das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, das Gesamtdeutsche Institut und den RIAS, Radio Free Europe und Radio Liberty. Im idyllischen Bonn am Rhein gab es ein böses Erwachen. Nicht wenige murrten im Westen über die deutsche Einheit, und es entstand eine heimliche Sehnsucht nach der wärmenden Geborgenheit des Kalten Krieges.


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Dies ist ein Buch des Abschieds. Und in der Minute des Abschieds ist alles erlaubt: Zärtlichkeit und Haß, Sentimentalität und Bitterkeit, Nostalgie und Optimismus, Trauer und Zorn. Die Menschen, die aus der DDR kamen, sind noch immer in der Situation des Aufbruchs. Was geschehen ist, hat sie viel zu tief geprägt, als daß sie es einfach abschütteln könnten. Noch sind sie nicht wirklich angekommen in der neuen alten Gesellschaft der vereinigten Bundesrepublik, und ihr einziges Reisegepäck besteht aus Erfahrungen, Erinnerungen und Biographien.

 

   Die gespaltene Erinnerung  

 

Die elegische Abschiedsstimmung kann freilich auch zur Falle werden. Wer läßt sich schon gern an Erniedrigungen, an peinlichen Selbstbetrug und an mehr als faule Kompromisse erinnern. Schwierig für die Betroffenen wird es vor allem, wenn die Belehrungen darüber von außen kommen. So wie nach dem Krieg Emigranten wie Thomas Mann vorgehalten wurde, nichts über Deutschland zu wissen und die Ereignisse aus der bequemen Loge verfolgt zu haben, so hörte man auch nach 1989 ungern auf die Aufrufe zur inneren Einkehr, zumal wenn sie von denen kamen, die verfolgt und diskriminiert gewesen waren. Nichts wird strenger bestraft, als recht behalten zu haben.

»Die ideologische Strategie der politischen Klasse in der Bundesrepublik konzentrierte sich seit 1990 darauf, die DDR mit der Doktrin vom >Unrechtsstaat< und der These von der reinen Mißwirtschaft zu verteufeln«, schrieb ein ehemals führender SED-Historiker in einer der PDS nahestehenden Schriftenreihe. »Damit aber wurde die in sich widersprüchliche Gesamtheit der DDR-Gesellschaft mit ihren positiven und negativen Zügen, von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen gewiß unterschiedlich, aber im ganzen eben in dieser Differenziertheit erlebt und auch verarbeitet, auf ein der gegenwärtigen Politik genehmes, rein negatives, ja verabscheuungs­würdiges Klischee zurechtgestutzt ...«1

Der Sinn dieser gewundenen Sätze ist nur allzu klar. Die Ideologen und Machthaber des SED-Staates, die ihre Heimat in der PDS gefunden haben, verstecken sich heute gern hinter jener großen Zahl von Menschen, die unverschuldet in das Desaster hineingeraten sind. Doch es soll nicht bestritten werden, daß gelegentlich zwischen den früheren Stützen des Regimes und den notgedrungen Angepaßten eine Eintracht entsteht, wie sie zu DDR-Zeiten nie existiert hat.

Bei aller Skepsis gegenüber Meinungsumfragen zu derartig komplexen Sachverhalten sind doch die Resultate einer Befragung des »Sozial­wissen­schaftlichen Forschungs­zentrums Berlin-Brandenburg e.V.« aus dem siebten Jahr nach dem Ende der DDR bemerkenswert. Einleitend heißt es dort: »Die jüngste Erhebung bestätigte erneut, daß die Ostdeutschen mehrheitlich einer differenzierten Betrachtung der DDR-Vergangenheit den Vorzug geben. Pauschale Negativ-Urteile und Negativ-Klischees, wie z.B. die Kennzeichnung als Unrechtsstaat, sind nicht mehrheitsfähig ... Für die überwiegende Mehrheit gilt die DDR nach wie vor als >Versuch, eine gerechtere Gesellschaft zu gestalten<.

Nachdem in der 95er Befragung die in den Vorjahren in der Antwortvorgabe verwandte einschränkende Kennzeichnung als >gescheiterter Versuch< entfiel, wuchs die Zustimmung zur zitierten Meinungsvorgabe an (1990 = 63 %, 1992 = 60 %, 1993 = 65 %, 1995 = 75 % völlige Zustimmung).«2 


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Die Zahlenübersicht weist aus, daß auf die Meinungsvorgabe »[die] DDR war vor allem der Versuch, eine gerechtere Gesellschaft zu gestalten« 74,8 Prozent mit »ja«, 14,9 Prozent mit »teilweise«, 6,6 Prozent mit »nein« reagierten und 3,6 Prozent »keine Antwort« gaben. Der Auffassung »[die] DDR war ein Unrechtsstaat« stimmten nur 18,2 Prozent vorbehaltlos zu, 33,9 Prozent antworteten »teilweise«, 42,8 Prozent verneinten, und 4,9 Prozent wollten keine Antwort geben. Selbst wenn man die offenbar beabsichtigte Unschärfe der Fragestellung in Rechnung stellt und weiß, daß an der Spitze des Instituts ehemals führende SED-Wissenschaftler stehen, sind die Ergebnisse eindeutig und stimmen im übrigen mit der allgemeinen Wahrnehmung überein.

Auch das Institut für Demoskopie in Allensbach stellte in seinen Umfragen ganz ähnliche Befindlichkeiten fest. »In Ost­deutsch­land wird die DDR-Zeit schöner in der Erinnerung«, kommentierte Elisabeth Noelle-Neumann eine Umfrage aus dem Jahre 1995. »Das zeigt sich bei einer Frage, die 1992 und unverändert 1996 gestellt wurde ... 1992 sagten 42 Prozent: >In dieser Zeit hat man oft das Gefühl gehabt, einer großen Gemeinschaft anzugehören, das war sehr schön.< Ende 1996 war diese Zustimmung auf 50 Prozent gestiegen. Zugleich fiel die Aussage: >Die SED hat uns alle betrogen< von 70 Prozent auf 48 Prozent.

>Man fühlte sich in der DDR unfrei und gefangen<, erinnerten sich 1992 54 Prozent, 1996 dagegen nur noch 41 Prozent. >Man hat sich bespitzelt gefühlt, konnte kaum jemandem trauen<, berichteten 43 Prozent 1992, 1996 nur noch 30 Prozent... >Die Bevölkerung fühlte eine richtige Befreiung, als das SED-Regime gestürzt war<, erinnerten sich 1992 60, 1996 47 Prozent.«3

 

Es fehlte in den Jahren nach 1989 nicht an zeitgeschichtlicher Forschung, an Aufklärung und Aufarbeitung. In den Medien nahmen und nehmen die DDR-Themen einen breiten Raum ein. Neben Sachverhalten, die zwar bekannt, aber seit geraumer Zeit auch im Westen kaum noch öffentlich zu hören waren, wurden viele neue und erschreckende Tatsachen bekannt. Sie betrafen insbesondere den Repressionsapparat, aber auch die wirtschaftliche und ökologische Situation. Doch viele ehemalige DDR-Bürger fühlen sich durch den Umgang mit der Geschichte tief verletzt. Sie sehen durch die radikale Kritik an der DDR-Realität ihre eigene Biographie in Zweifel gezogen. Jahre oder sogar Jahrzehnte haben sie für diesen Staat gearbeitet, ohne dafür Privilegien in Anspruch zu nehmen. Manche von ihnen haben ehrlichen Herzens an eine Verbesserung des Sozialismus geglaubt. Heute fühlen sie sich betrogen und enttäuscht. Ihre Verbitterung richtet sich oft gegen jene, die deutlich auf die Verant­wortlichkeiten hinweisen.

Manche sehen in der »Aufarbeitung der Geschichte« und der »Vergangenheitsbewältigung« nichts als das Bestreben der »neuen Herren«, die DDR pauschal zu diskreditieren, um die eigenen Machtpositionen zu festigen. Insbesondere die angeblich von den westlichen Medien entfachte »Stasi-Debatte« soll ihrer Auffassung nach die ehemaligen DDR-Bürger diskriminieren und demütigen. Sie bestreiten zwar nicht die Faktizität der Mauer oder des gigantischen Spitzelsystems, verweisen aber darauf, daß diese Dinge nicht ihr persönliches Leben bestimmt hätten. »Es verwundert nicht«, heißt es in der oben zitierten PDS-Broschüre, »daß die totale Abqualifizierung der DDR-Vergangenheit als Mißachtung und Verleugnung jahrzehntelanger harter eigener Arbeit, als Entwürdigung der eigenen Biographie empfunden und verstanden wird, als überhebliche Demütigung von millionenfach gelebtem Leben.«4


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Die Existenz in der DDR sei behüteter, menschlicher, irgendwie schöner gewesen als die in der vereinigten Bundesrepublik. Diese Bewußtseinslage kommt in dem so oder ähnlich oft zu hörenden Diktum zum Ausdruck, heute hätten die Menschen vor der Arbeitslosigkeit mehr Angst als früher vor der Stasi. Solche Argumente sind einerseits grenzenlos verlogen, andererseits jedoch nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Sie offenbaren ein elementares Defizit der bisherigen Diskussionen über die DDR-Vergangenheit. Es ist bisher nicht gelungen, die Lücke zwischen individueller, komplexer Lebens­erfahrung und detailorientierter akademischer Forschung zu schließen.

Auch in den öffentlichen Disputen zwischen ehemaligen Bürgern der DDR entsteht oft der Eindruck, als sprächen Menschen miteinander, die in unterschiedlichen Welten gelebt haben. Die einen erinnern sich an die Fünf-Pfennig-Schrippe, an die angeblich so guten Kindergärten und die netten Brigadeabende im Arbeitskollektiv. Die anderen weisen mit anklagendem Pathos auf die Toten an der Mauer, nennen die Zahlen der politischen Unrechtsurteile und das Spitzelunwesen. Es obliegt der Geschichts­schreibung, die auseinanderfallenden Sichtweisen wieder zusammenzufügen und ein Gesamtbild zu entwerfen. Es geht bei einer solchen Skizze nicht allein darum, das rechte Maß zwischen Dämonisierung und Verharmlosung der SED-Diktatur zu finden, sondern um die Darstellung des Zusammenhangs zwischen Repression und Alltag, also um die dämonische Dimension der Harmlosigkeit und die harmlos-alltägliche Seite der Dämonie. Beide haben aber, auch wenn es vielen so schien, nicht unabhängig nebeneinander existiert. Sie bedingten einander. Diesen Zusammenhang hat die westliche Seite oft bewußt übersehen. Da die Menschen hinter der Mauer offenbar ganz gut zurechtkamen, schienen Teilung und SED-Diktatur als Preis für die politische Stabilität erträglich. In der DDR dagegen wurde der Zusammenhang gern verdrängt. Das öfters verwendete Hegel-Zitat »Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit« lud viele dazu ein, sich innerlich frei zu fühlen, weil sie ihre Ketten nicht mehr wahrnahmen.

 

   Das unerbittliche Gedächtnis   

 

Zuviel Erinnerung ist gefährlich. In seiner Erzählung »Das unerbittliche Gedächtnis« beschreibt der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges einen Mann, der nichts vergessen konnte.5) Dieses »Nicht-vergessen-können« ist nicht sinnbildlich, sondern ganz wörtlich gemeint. Nichts von dem, was der seit einem Sturz vom Pferd gelähmte Mann gelesen, gehört oder gesehen hatte, ging seinem Gedächtnis verloren. Er, der bis zu seinem Unfall ein einfacher Gaucho gewesen war, las jetzt spielend lateinische Texte und merkte sich jedes Wort, jedes Gesicht und jedes Bild. »Er war der einsame und klare Beobachter einer vielgestaltigen und fast unerträglich deutlichen Welt.« 

Bald schon brach er unter der Last dieses unendlichen und vollkommen undifferenzierten Wissens zusammen. Er starb mit 21 Jahren einen armseligen und kläglichen Tod. Die Botschaft der Erzählung lautet: Ein Mensch, der nichts vergessen kann, ist ein bedauernswertes Monstrum. Das Vergessen hat im menschlichen Seelenhaushalt eine heilende Funktion. Die Erinnerung ordnet die Dinge, rückt sie in das rechte Licht, und meist ist es das sanfte und wärmende Licht der Vergebung.


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Was für die Neurologie längst selbstverständlich ist, scheint dem Historiker schwer akzeptabel. Erinnerung und Vergessen sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten desselben Vorgangs. Vergessen ist eine Form der Erinnerung. Das Gehirn speichert Sinnes­wahr­nehmungen oder Informationen nicht einfach ab und hält sie dort abrufbar wie in einem Archiv. Je intensiver die Auseinander­setzung mit der Geschichte stattfindet, desto mehr verändert sich ihr Bild. Folgerichtig kann man Geschichts­schreibung als die Erfindung der Vergangenheit bezeichnen. Insofern widerstrebt alles, was gemeinhin unter dem Signum von »Aufarbeitung« und »Vergangenheits­bewältigung« rubriziert wird, der natürlichen Gravitationskraft des Alltagsdenkens. Die »Schlußstrichzieher« aller Zeiten haben stets den gesunden Menschenverstand auf ihrer Seite.

Diese Erfahrung ist nicht neu. In einer Mischung aus Resignation und Abscheu schrieb Hermann Glaser in seiner Kulturgeschichte der Bundesrepublik über die Ex-Nazis in der neuen Demokratie:

Die <blonde Bestie>, die in ihrem hybriden Rassenwahn die anderen Völker unterjocht, das europäische Judentum ausgerottet, den deutschen Geist zerstört, den totalen Krieg provoziert und ein unermeßliches Trümmerfeld hinterlassen hatte — sie war domestiziert. Eifrig ging sie in die Klippschule der Demokratie. Selbst die höchsten nationalsozialistischen Führer, die im Nürnberger Prozeß belangt und verurteilt wurden, behaupteten, von den Verbrechen kaum etwas gewußt zu haben ... So bedurfte es auch keiner exorzistischen Anstrengung, um vom nationalsozialistischen Menschenbild und von nationalsozialistischer Weltanschauung freizukommen. Die neue Umwelt bewirkte den neuen Phänotyp des demokratischen Staatsbürgers in schier unvorstellbar kurzer Zeit. 6)

 

Ähnlichkeiten mit der Zeit nach 1989 sind keineswegs rein zufällig. Der Bequemlichkeit des Mitläufertums folgte die Bequemlichkeit des Vergessens. »Sie haben uns alles verziehn / Was sie uns angetan ...«, sang Wolf Biermann schon im Jahre 1990 in seiner »Ballade vom gut Kirschenessen« und brachte damit den psychologischen Mechanismus auf die denkbar kürzeste Formel.7)

Sie nehmen Toleranz, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit mit der gleichen Selbstverständlichkeit in Anspruch, mit der sie all das früher verweigert haben. Dies kann vielleicht nicht anders sein. Die rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaft muß wohl die Erfahrung akzeptieren, daß zwar – wie Schilder beim Einkauf verkünden – jeder Ladendiebstahl zur Anzeige kommt, ein Volk 40 Jahre seiner Freiheit zu berauben dagegen nicht strafbar ist. Wer die Macht hat, kriminelle Gesetze zu verkünden, und sich konsequent an sie hält, bleibt der juristischen Logik zufolge straffrei.

Trotzdem bleibt ein irrationaler Rest. Und dieser Rest ist Ekel. Dieses Gefühl des Abscheus ist wichtig und bewahrenswert. Der russische Dichter Vladimir Nabokov, der erst vor der Oktober­revolution und dann vor Hitler fliehen mußte, meinte auf seine Lebenserfahrungen zurückblickend: »Ich habe es gelernt, meinen Ekel wie einen Schatz zu hüten ...«8


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Die dialogische Methode oder Die doppelte Wahrheit des Rabbi Löw

Im jüdischen Legendenschatz findet sich folgende Anekdote. 

Die schöne Esther erscheint beim hohen Rabbi Löw und klagt über ihren Ehegemahl: »An den Haaren zieht er mich, wegen jeder Kleinigkeit gibt es Prügel. Rede meinem Mann ins Gewissen, weiser Lehrer!« Der Rabbi stimmt ihr zu und bestellt den Ehemann zu sich, der sich darüber beschwert, sein Weib sei ein faules Stück: »Stundenlang steht sie schwatzend auf der Gasse, statt sich um den Haushalt zu kümmern.« Der Rabbi gibt auch ihm recht und schickt ihn nach Hause. Da stürzt die Frau des Rabbis herein, die an der Tür gelauscht hat, und meint empört: »Du kannst doch nicht beiden recht geben. Entweder sagt der Mann die Wahrheit oder die Frau.« Der Rabbi überlegt eine Weile und sagt dann: »Da hast du auch wieder recht.« 

Zu jeder These läßt sich die Antithese formulieren. These und Antithese werden zur Synthese vereinigt, welche wiederum eine neue These bildet. Doch aus jeder Antwort ergeben sich neue Fragen. Auch der Historiograph ist in der traurigen Lage des Sisyphos: kaum hat er unter Mühen den Felsbrocken historischen Wissens den Berg hinauf­gewuchtet, rollt der Stein wieder dem Abgrund entgegen. Und es bleibt nur die Lösung, dies zum eigentlichen Sinn wissen­schaftlichen Strebens zu erklären.

Ein Beispiel mag dies illustrieren. Oft hört man die Meinung, die DDR sei in den Augen vieler Menschen eine echte Alternative zur kapitalistischen und restaurativen Bundesrepublik gewesen. Danach bot das Gemeineigentum an Produktions­mitteln allen evidenten Mängeln zum Trotz die Chance für die Verwirklichung der sozialistischen Utopie auf deutschem Boden und stellte somit eine permanente Herausforderung an die Gesellschaft der Bundesrepublik dar. Aber auch im Inneren gab es immer wieder Hoffnung auf eine demokratische und zugleich sozialistische Entwicklung, ohne die die lange Stabilität der DDR überhaupt nicht erklärbar sei. Nicht allein Unterdrückung, Anpassung und Opportunismus führten also zu einer Identifikation vieler Bürger mit ihrem Staat.

Die Gegenthese lautet: Für jeden Zeitgenossen mit nur halbwegs klarem Verstand war die DDR als Diktatur von Moskaus Gnaden erkennbar. Vom ersten bis zum letzten Tag beruhte ihre Existenz auf den Bajonetten der Roten Armee. Das sozialistische Wirtschaftssystem war schon von den theoretischen Grundlagen her verfehlt. Seine notwendigen Folgen bestanden aus permanentem Mangel an Versorgungsgütern und Dienstleistungen, einem nicht mehr aufzuholenden technologischen Rückstand gegenüber dem Westen, dem Raubbau an der Natur und dem Verfall aller Kulturgüter. Der Mehrheit der DDR-Bürger erschien zu jedem Zeitpunkt der vierzigjährigen Teilung das westliche Gesellschaftsmodell als erstrebenswert. Jede konsequent demokratische Reform mußte deswegen zwangsläufig zur Auflösung des Staatswesens und zur Wiedervereinigung Deutschlands führen.

Für beide Standpunkte lassen sich zahllose weitere Argumente anführen. Obwohl sie sich diametral widersprechen, sind sie beide auf ihre Weise richtig, gleichzeitig in ihrer Verabsolutierung aber falsch. Wie in der Geschichte von der schönen Esther und dem weisen Rabbi Löw spiegeln also beide Versionen die Wahrheit. Doch so leicht wie der Wunderrabbi kann sich der Historiker nicht aus der Affäre ziehen. Von ihm wird eine klare Aussage erwartet.


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»Genossen, ihr müßt das dialektisch sehen!«, möchte man ausrufen. Mit diesen bedeutungs­schweren Worten leiteten die von der SED bestellten Dozenten und Seminarleiter oft ihre Diskussionsbeiträge ein. Wenn es zu erklären galt, warum gerade wegen der Entspannungspolitik die revolutionäre Wachsamkeit zu erhöhen sei oder warum es auch in der Erntezeit kein frisches Gemüse im Konsum gab, waren die Künste der dialektischen Betrachtungsweise gefragt. Der Begriff der Dialektik kam in jenen Jahren in Verruf. Trotzdem kann eine Darstellung der Geschichte gar nicht anders als dialektisch sein. Damit ist nicht der scholastische Hokuspokus der ruhmlos unter­gegangenen Staatsideologie gemeint, sondern eine »dialogische« Methode.

 

Die Geschichte als Ereignislosigkeit  

An den Schulen und Universitäten der DDR war die Geschichte des eigenen Staates der langweiligste Lehrstoff, den man sich nur vorstellen kann. Das lag nicht nur an den ideologisch bedingten Verzerrungen der Realität. Diese hat es auf anderen Sachgebieten in nicht geringerem Umfang gegeben, und auch verfälschte Geschichte kann sehr interessant sein. Die Ursachen für die innere Ödnis, die von den auf schlechtem Papier gedruckten und mit immer den gleichen Bildern ausgestatteten offiziösen historischen Darstellungen ausging, lagen tiefer.

Die Geschichte der DDR geronn – wenigstens in den Darbietungen der Schul- und Universitäts­lehrer – zu einer Aneinander­reihung von Parteitagen, Plenarsitzungen, Konferenzen, Proklamationen und Planziffern. Im Grunde hatten die Herrschenden die Geschichte abgeschafft. Jegliches Ereignis bedeutete Bewegung, und Bewegung hielt man für gefährlich. Die wenigen echten Ereignisse wie den 17. Juni 1953 reduzierte das offizielle Geschichtsbild der DDR auf einige hölzerne Formeln. Alles, was Geschichte interessant macht – Bilder, Details, Augenzeugenberichte –, wurde konsequent eliminiert.

Das gleiche galt für die Biographien der Herrschenden. Sie erschienen so unwirklich, leblos und typisiert wie die hagio­graphischen Legenden ostkirchlicher Heiliger. Dabei sehnten sich die Führer der DDR nach geschichtlicher Größe und bezogen allein aus der Vergangenheit jene Legitimation, die ihnen das Volk verweigerte. Hätte sich die DDR wie ein Individuum auf die Couch des Psychiaters legen können, wäre der Befund schnell klar gewesen. Ein Geburtstrauma und permanenter Liebesentzug hatten zu einem schweren Minderwertigkeitskomplex geführt, den sie durch autoritäres Gebaren kompensierte. Unfähigkeit zur Selbstkritik, paranoider Verfolgungswahn, Streben nach Anerkennung und Zuwendung, mit einem starken Hang, diese mit Gewalt zu erzwingen, waren die Folgen der traumatischen Deformation. Individual-psychologisch gesehen besaß die DDR alle Elemente der autoritären Persönlichkeit.

Die Machthaber nahmen sich selbst ungeheuer ernst. Stets schielte ihnen der Geist der Geschichte über die Schulter. »In den drei Jahrzehnten seit ihrer Gründung vollbrachte die Deutsche Demokratische Republik eine wahrhaft geschichtliche Leistung«, hieß es im Vorwort der parteioffiziellen »Geschichte der SED« von 1978.9) 


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Im Zusammenhang mit der Staatsgründung von 1949 führte sie dann weiter aus:

»Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik war das bedeutendste Ergebnis der marxistisch-leninist­ischen Politik der SED, ein Ereignis von historischer und internationaler Tragweite. Erstmals wurde ein deutscher Staat geschaffen, dessen Weg voll und ganz bestimmt ist vom Charakter und von den Gesetz­mäßigkeiten der welthistorischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ... Die Schaffung eines Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden erhöhte den Einfluß des Sozialismus in Europa. Sie war eine schwere Niederlage des Weltimperialismus ... Mit der Gründung der DDR vergrößerten sich die Chancen, Europa in einen Kontinent des Friedens und der Sicherheit zu verwandeln und die aggressiven Kräfte des Imperialismus zu zügeln. Die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik markierte die entscheidende Wende in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des deutschen Volkes ...«10

 

Auch einzelnen Parteitagen, Fünfjahrplänen, Freundschaftsverträgen und Staatsbesuchen wurde mit leichter Hand das Etikett »historisch« angeheftet. Jedes Jahr markierte »eines der erfolgreichsten in der Geschichte«, jede zu lösende Aufgabe war die »größte«, jeder Erfolg der »gewaltigste«. 

Der Superlativ bildete den eigentlichen Aggregatzustand der Propagandasprache der SED. Allerdings war die Permanenzerklärung der Ausnahmesituation ein Widerspruch in sich. Das galt in der Sprache wie in der Politik. Immer neue Formulierungen mußten gefunden werden, um die alten Sprachregelungen zu überbieten. Der »Erhöhung der Rolle der Partei« folgte die »weitere Erhöhung der Rolle ...«, die »ständige weitere Erhöhung ...«, »die noch weitere ständige Erhöhung ...«, »die Erhöhung, in bisher unbekanntem Maße« und so fort. Besonders gern betonte man in den siebziger und achtziger Jahren die Bedeutung des VIII. Parteitages und die folgende Entwicklungsphase. 

»In Durchführung der Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED gestaltete sich die folgende Zeit zum bisher erfolgreichsten Abschnitt der Geschichte der SED und der DDR. Die Vorzüge des Sozialismus traten besonders deutlich hervor, seine Triebkräfte entfalteten sich zunehmend wirksamer. Die Direktive des VIII. Parteitages für die Entwicklung der Volkswirtschaft wurde ... in wichtigen Kennziffern wesentlich überboten, und das bis dahin umfangreichste, in der Wirkung auf das Leben des Volkes bedeutsamste sozialpolitische Programm wurde verwirklicht ...«11

 

Die Versuchung liegt nahe, die liturgischen Formeln der Selbstbeweihräucherung einfach umzukehren. Doch der Austausch der Variablen würde nicht mehr als eine neue Hofhistoriographie, nun unter negativen Vorzeichen, schaffen. Der historische Stoff muß vielmehr gründlich gewendet werden. Die Geschichte der DDR läßt sich nur »von unten« erzählen, als Geschichte ihrer Menschen, ihrer Wünsche, Träume und Hoffnungen. Nur so gewinnt die DDR ihre historische Dimension zurück. Vor allem aber erhalten dadurch diejenigen, die seit der Wende unter dem Verlust ihrer Biographien leiden, die Chance, sich mit sich selbst zu versöhnen.

»Die Geschichtsschreibung ist mit der Geschichte der Gesellschaft, nicht mit der Geschichte des Menschen befaßt«, bemerkte der tschechische Romancier Milan Kundera in seinem Essay »Die Kunst des Romans«. »Deshalb werden die historischen Ereignisse, die in meinen Romanen vorkommen, von den Geschichtsschreibern oft übersehen.«12 Warum insistiert Kundera so sehr auf dem Roman? 

»Die <Leidenschaft des Erkenntnisstrebens>, die Husserl zufolge das eigentliche Wesen der europäischen Geistigkeit ausmacht, hat sich des Romans bemächtigt, damit er das konkrete Leben des Menschen erforscht und vor der >Seinsvergessenheit< schützt; damit die >Lebenswelt< immer wieder ins Licht rückt... Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans.«13)


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Besser ließe sich auch der Sinn der Geschichtsschreibung kaum formulieren. Nimmt man den Befund ernst, so ergibt sich die Frage nach den Möglichkeiten einer Synthese, zumindest aber danach, was Geschichtsschreibung und Literatur voneinander lernen können. Und doch werden Literatur und Geschichtswissenschaft meist als zwei feindliche Brüder wahrgenommen. Auf der einen Seite steht der freie Flug der Phantasie, die Unverbindlichkeit der subjektiven Imagination und der scheinbar leicht erworbene Dichterlorbeer. Auf der anderen Seite stehen die Kärrnerarbeit der strengen Faktenforschung, die nüchterne Fachsprache der Wissenschaft und die Seriosität des wissenschaftlichen Urteils. Die Klassifikation als »romanhaft« ist für ein wissenschaftliches Buch vernichtend. Dagegen bedeutet das Beiwort »wissenschaftlich« für den Belletristen im besten Fall ein zwiespältiges Kompliment. Obwohl es in der Vergangenheit an Grenzgängern zwischen Wissenschaft und Literatur nie gefehlt hat, darf der Leser die berechtigte Erwartung hegen, daß der Autor ihm das bietet, was das Titelblatt verheißt.

Insofern sollten Roman, Erinnerungsbuch und Geschichtsdarstellung streng geschieden sein. Dennoch sind die Fragen und Meinungen des Autors eher aus dem Erleben als aus dem Studium der Quellen geboren. Das tendenziell ins Unendliche gehende dokumentarische Material dient eher der Überprüfung, Korrektur und Präzisierung, auch der Beweisführung und nicht zuletzt der Illustration. Kurzum, der Historiker sollte keine Wahrheit versprechen, sondern lediglich Wahrhaftigkeit.

 

Die fröhliche Aufarbeitung  

Eine spezielle, ebenfalls sehr subjektive Erfahrung bestimmt auch den Stil der vorliegenden Darstellung. Die grotesken und lächerlichen Züge des Realsozialismus waren nicht zu übersehen und wurden auch niemals übersehen. Milan Kundera ließ den Helden seines Romans »Abschiedswalzer« kurze Zeit vor Verlassen seiner Heimat sagen: »... das Land entwickelt sich nicht zum Besseren oder Schlechteren, sondern immer nur zum Lächerlicheren.«14 Das traf für die Tschechoslowakei jener grauen Jahre der »Normalisierung« nach dem Ende des Prager Frühlings ebenso zu wie für die DDR.

Den Außenstehenden mag das Bekenntnis verwundern – es wurde viel gelacht im Sozialismus. Daß es nicht immer ein fröhliches Lachen war, versteht sich von selbst; und auch beim Studium der Akten – gerade der berühmten Stasi-Akten – könnte man oft vor Lachen brüllen. So ist es auch kein Zufall, daß sich die literarische »Bewältigung« der DDR bisher fast ausschließlich in der Form der Groteske oder Satire vollzogen hat.

In den Jahren unmittelbar nach der Wende brachten die bekannten DDR-Autoren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum mehr als trotziges Greinen hervor, soweit sie es nicht vorzogen, gänzlich zu schweigen. Viele saßen im Schmoll­winkel und haderten mit der Weltgeschichte. 


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Dann meldete sich eine jüngere Generation zu Wort, die es scheinbar leichter hatte, den Ballast einer verfehlten Ideologie abzuwerfen und ihre eigene Sprache zu finden. Nicht das Vorzeigen der Wunden, das Beklagen der Opfer und der traumatischen Erlebnisse erweist sich mittlerweile als literarisches Erfolgsrezept, sondern das befreiende Lachen.

Die Liste der Autoren, die das DDR-Thema mit auf diese Weise bewältigen, ist inzwischen schon lang und kennzeichnet fast schon eine eigene literarische Kategorie. Thomas Brussigs »Helden wie wir« sexualisiert die Thematik, Bernd Schirmer schrieb in »Schlehweins Giraffe« eine Metapher vom Zootier, das zur Altlast wird. Dieter Schubert komponierte eine Persiflage auf den Biermann-Fall mit dem Titel »Puppenspieler Pinow«, Christoph D. Brumme veröffentlichte unter dem Titel »Tausend Tage« einen humoristisch gefärbten Rückblick auf seine Militärzeit in der NVA. Thorsten Becker schrieb aus der Retrospektive des Jahres 2015 über die Wiedervereinigung, indem er den DDR-Witz aufgriff: Was steht in 100 Jahren unter dem Stichwort DDR im Lexikon? »Kleines zänkisches Bergvolk am Rande des Chinesischen Reiches«. Selbst das Stasi-Thema wurde zum Gegenstand der fröhlichen Bewältigung. Unter dem Motto »Lach kaputt, was dich kaputt macht« berichtete Joachim Oertel über seine »Feindberührung« mit dem MfS. Als »Ministerium für Satire« löste er die Abkürzung auf und schlug damit den Grundton seiner Art der Aufarbeitung an.

»Die größte DDR der Welt« ruft offenbar auch Jahre nach ihrem Untergang vor allem Spötter auf den Plan. Doch nicht allein darum geht es. Es gibt eine verborgene strukturelle Ähnlichkeit zwischen Karikatur oder Satire und der Geschichtsdarstellung. Ebenso wie der Karikaturist mit seinem Zeichenstift und der Humorist mit sprachlichen Mitteln die charakteristischen Züge einer Person oder einer Situation scharf pointiert und dadurch den gewünschten Effekt erzielt, wählt der Historiker aus der Material­fülle die Beispiele aus, die ihm besonders typisch oder bedeutsam erscheinen. Denn dem Wesenskern der Dinge – so wie er ihn sieht – nähert er sich nicht durch den statistischen Mittelwert. Ausgewogenheit und Proporz sind nicht das Ziel der Übung. Erst der Brennspiegel der Groteske verzerrt die Dinge zur Kenntlichkeit.

Die Anekdote, die Metapher, die Imagination, selbst die individuelle Erfahrung sind keineswegs nur das Sahnehäubchen auf der sonst allzu trockenen Schilderung vergangener Ereignisse, sondern im gelungenen Fall Schlüssel zum Verständnis eines komplexen Zusammenhangs. Eine Waldlandschaft in der Abenddämmerung läßt sich in jedem meteorologischen, botanischen und geologischen Detail beschreiben – von der Luft­feuchtigkeit bis zur Bodenbeschaffenheit. Das Ergebnis wird dennoch nicht an Goethes »Wanderers Nachtlied« erinnern. Für die poetische Wahrheit ist es unerheblich, welche Windgeschwindigkeit die Worte »kaum einen Hauch« bezeichnen oder welcher botanischen Gattung die »Wipfel« angehören, über denen dieser Hauch zu verspüren ist. Die Tatsache, daß der Dichter in diesem Fall auch passionierter Wetterkundler und Gesteinssammler war, mag die Akzeptanz des Beispiels erleichtern. Die Vermittlung satirischer Wahrheit beruht auf der Auswahl signifikanter, illustrativer, im Idealfall sogar gleichnishafter Details, die eine komplizierte Realität durchschaubar und begreifbar machen.


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   Klio als Göttin der Freiheit   

 

In George Orwells Anti-Utopie »1984« findet sich folgende Schlüsselszene: Nachdem Winston Smith und seine Geliebte Julia in der Wohnung O'Briens der geheimen Bruderschaft zum Sturz des Großen Bruders beigetreten sind, erhebt das Mitglied der Inneren Partei, O'Brien, in einer Mischung aus Pathos und Ironie sein Glas, um einen Toast auszusprechen: "Was soll es diesmal sein?", sagt er, ... "Auf den Untergang der Gedankenpolizei? Auf den Tod des Großen Bruders? Auf die Menschheit? Auf die Zukunft?" Winston zögert nicht. "Auf die Vergangenheit", sagt er.« 15) 

Dieser seltsame Trinkspruch verweist auf die zentrale Stellung von Geschichte und ihrer Fälschung nicht nur in Orwells Zukunfts­staat, sondern überhaupt im Spannungs­verhältnis zwischen totaler Macht und geistigem Widerstand. »Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Gegenwart. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Zukunft«, heißt eine der Parolen der Partei in Orwells Buch. 

Winston Smith beginnt an der Weisheit des Großen Bruders zu zweifeln, als ihm ein Zeitungsartikel über drei Parteiführer in die Hände fällt, die bereits vor längerer Zeit »vaporisiert« worden waren. Theoretisch hätten alle Erinnerungen gelöscht sein müssen. Danach hätten die drei niemals existiert. Der Zeitungsartikel aber beweist das Gegenteil. Smith beginnt nachzuforschen, »wie es vor der Revolution war«. Er beschreitet den Weg des Gedankenverbrechens, der ihn zwangsläufig in die Folterkeller des Liebesministeriums führt. Nach seinem Verrat verbringt er als gebrochener Mensch seine Tage im Cafe »Zum Kastanienbaum«, wo er schließlich selig die Meldung über neue Siege Ozeaniens erfährt und mit Tränen in den Augen seine Liebe zum Großen Bruder bekennt. Nun ist Winston Smith reif für den Genickschuß. Damit endet der Roman.

Todkrank auf einer einsamen Insel lebend hat George Orwell dieses pessimistische und zugleich aufrüttelnde Buch zu Papier gebracht. Die einfache Umkehrung der Jahreszahl 1948 zum Titel »1984« deutet an, daß er bereits seine Gegenwart als das Reich des Großen Bruders sah. Hitler, Stalin, die Erfahrungen im spanischen Bürgerkrieg und im britischen Propaganda­ministerium nährten seinen schwarzen Pessimismus. Orwells Anti-Utopie zeigt keinen Ausweg mehr. Und doch ist sie auch eine Apotheose auf den »Last Man«, wie das Buch ursprünglich heißen sollte, und durch die zentrale Funktion der Geschichts­fälschung im Herrschafts­system des Großen Bruders das Hohelied auf die aufklärerische, antitotalitäre, subversive und emanzipatorische Kraft der Erinnerung. Ein gläserner Briefbeschwerer mit bunten Koralleneinlagen wird zum Symbol der »wahren« Geschichte. »Ein Stück Geschichte, das sie zu verfälschen vergessen haben«, nennt Winston Smith das eigentlich nutzlose Stück, das er in einem Antiquitätenladen erworben hat.

 

Die turbulenten Monate des Mauerfalls und der Stasi-Auflösung waren vom Gefühl des Triumphs begleitet: Es hat »ihnen« alles nichts genutzt – ihr gigantisches Spitzelsystem, die perfektionierten Überwachungs­methoden, ihre verdummende Propaganda, ihr gewaltiger Militärapparat, die ausgefeilte Psychologie der Menschenbeherrschung. In wenigen Tagen brach zusammen, was in über 40 Jahren mühselig aufgebaut worden war. »Irgendetwas gibt es im Menschen, das stärker ist als ihr«, hielt der auf der Folter liegende Winston Smith seinem Peiniger entgegen und erntete den Hohn des Stärkeren. Bei Orwell geht O'Brien auch argumentativ als Sieger aus dem Streitgespräch hervor.

Der Lauf der Geschichte aber hat Winston Smith recht gegeben. Mit brennenden Kerzen in den Händen haben die Menschen in der DDR gewaltlos das System zum Einsturz gebracht. Klio, die Muse der Geschichte, ist gewiß nicht die Göttin der Freiheit, die wie auf Eugene Delacroix' berühmtem Gemälde mit entblößtem Busen, die Trikolore in der Rechten und die Flinte in der Linken das Volk auf die Barrikaden führt. Doch ganz unwichtig sollten die Erfahrungen früherer Kämpfe nicht sein. Der theoretische Ansatz der Zeitgeschichte im Jahrhundert der totalitären Diktaturen sollte deswegen radikal aufklärerisch, emanzipatorisch, freiheitlich und, wo es sein muß, auch subversiv und rebellisch sein. »Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen«, schrieb Milan Kundera in seinem »Buch vom Lachen und Vergessen«16. Ein Stück dieses fröhlichen Kampfes gegen die Macht des Vergessens möchte das vorliegende Buch sein.

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