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10.  Das Orakel Gaias

Inzwischen habe ich den Verdacht, daß das Universum nicht nur seltsamer ist, als wir es uns vorstellen, sondern sogar seltsamer, als wir es uns vorstellen können... Ich habe den Verdacht, daß es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als wir uns in allen Philosophien träumen ließen.«  J.B.S. Haldane *1892 in Oxford

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Daß die Erde lebt, ist eine alte Vorstellung. Die meisten Stämme und Völker teilten sie. Man hat sie ein universales Stadium im primitiven Denken genannt. Gaia, der Name, mit dem der Wissenschaftler James Lovelock den lebendigen Planeten bezeichnet, ist der griechische Name der Mutter Erde. Ihr Name ist auch in dem Wort Geologie verewigt.

Vielleicht ist dieses Denken überhaupt nicht primitiv, denn alte und moderne Denkrichtungen scheinen sich zuweilen einander anzunähern. Oft fällt dieses Phänomen einem Forscher auf, der sich eingehender mit dem Funktionieren unseres Planeten befaßt.

Im 17. Jahrhundert kam diese Vorstellung William Gilbert — einem Physiker am Hofe Elisabeth I. — zu Ohren, dem ersten Physiker, der erkannte, daß sich die Erde wie ein riesiger Magnet verhält; und sie kam Johannes Kepler zu Ohren, der als erster erkannte, daß die Erde und die übrigen Planeten elliptische Bahnen um die Sonne ziehen.

Im 18. Jahrhundert befaßte sich der Schotte James Hutton mit dieser Idee. Hutton studierte in Leyden Physiologie und schrieb seine Doktorarbeit über den Blutkreislauf. Er praktizierte nie, gelangte aber nach einem lebenslangen Studium der Geologie dazu, den Planeten so zu sehen, wie William Harvey den menschlichen Körper sah, als eine wunderschöne Maschine, lebendig und pulsierend. Er beschrieb die Erde als eine Art Superorganismus, der angemessen mit einer planetaren Physiologie zu studieren wäre.

Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich diese Vorstellung im Kopf Matthew Maurys fest, seines Zeichens Leutenant bei der Karten- und Instrumenten­verwaltung der amerikanischen Marine. Maury, ein Pionier in der Erforschung der Meeresströmungen, sah den Planeten als Lebewesen, dessen Atem der Wind und dessen Blut das Meer ist.

Im späten 19. Jahrhundert unternahm der russische Universalgelehrte Vladimir Vernadsky (*1863) in der Ukraine lange Landspaziergänge mit seinem älteren Cousin Korolenko (*1853), einem ehemaligen Armeeoffizier, der außerordentlich belesen, äußerst unabhängig und auf Aphorismen versessen war. Einer der Lieblings­aphorismen Korolenkos lautete: »Die Welt ist ein lebender Organismus!«

Diese Vorstellung prägte Vernadskys Werdegang. Im frühen 20. Jahr­hundert widmete er sich der schwierigen und schönen Wissenschaft, die Hutton beschrieben hatte, dem Studium des Stoffwechsels und der Physiologie der Erde.

Diese Männer gehören mit zu den Begründern der modernen Physik, Astronomie, Geologie, Ozeanographie und Biochemie. Also baut Lovelock auf einen alten Grund. Er mag recht oder unrecht haben, aber er hat sich nicht von der traditionellen Geowissenschaft entfernt. In gewisser Hinsicht könnte man sagen, die Gaia-Theorie entspräche einer orthodoxen Sicht des Planeten Erde.

Viele Menschen wenden sich heute mit bestimmten Fragen an Gaia, die frühere Generationen vielleicht Gott gestellt hätten.

Hutton, der ganz am Anfang der Industriellen Revolution stand, konnte den ängstlichen Klang in diesen Fragen nicht voraussehen (obwohl Black, der Entdecker, und Watt, der Förderer des Kohlendioxids, zum Freundeskreis Huttons zählten). Er nahm wahr, daß die Oberfläche des Planeten durch natürliche Ursachen ständig abgetragen wird, daß seine Ufer weggeschwemmt, seine Berge ins Meer gespült werden.

Er wunderte sich über dieses langsame und unaufhaltsame Vergehen des Planeten. Als ehemaliger Mediziner fühlte er sich zu folgenden Fragen veranlaßt: Aber soll man deshalb die Welt nur als eine Maschine betrachten, die nicht länger bestehen wird, als ihre Teile ihre gegenwärtige Anordnung, funktionsfähigen Formen und Eigenschaften beibehalten? Oder könnte man sie vielleicht als einen belebten Körper sehen, der so beschaffen ist, daß die unumgängliche Abnutzung der Maschine auf natürliche Weise behoben wird? 

wikipedia  Gäa   

Lovelock  detopia 

wikipedia  James_Hutton  

wikipedia  Wladimir Korolenko   1853-1921  =>   Wernadski

wikipedia  Haldane J.B.S. (1892-1964)  ein theoretischer Biologe und Genetiker.
... in den 1920er Jahren einer der Begründer der Populationsgenetik

wikipedia  Joseph_Black *1728

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Ein lebender Körper ist anfällig, aber er kann sich selbst reparieren. Hutton kam letztlich zu der Überzeugung, daß die Erde diese Fähigkeit besaß. Seine geologischen Studien lehrten ihn, zu sehen, daß »ein Kreislauf in der Materie dieses Globus« unseren Planeten ständig repariert, so daß die Erde an einem Ort verwüstet und an einem anderen wiederhergestellt wird; »ein System von wunderbarer Ökonomie in den Tätigkeiten der Natur«.

Heute fürchten wir eher die künstlichen als die natürlichen Ursachen der Erosion, und wir wissen, daß sie den Planeten fast überall zugleich verwüsten. Das macht unsere Frage so dringlich. Sie ist eine wissenschaftliche Frage und zugleich eine Art Gebet:  

 

Lovelocks wissenschaftliche Tätigkeit begann in den vierziger Jahren in der medizinischen Forschung. Er trat dem <British Medical Research Council> in London bei, und seine erste Arbeit war eine Untersuchung der gewöhnlichen Erkältung. Als nächstes (»ich hatte über die gewöhnliche Erkältung wenig entdeckt«, sagt Lovelock, »außer, daß sie nicht durch Kälte verursacht wird«) untersuchte er die Möglichkeiten der Lebens­erhaltung durch Gefrieren. Um 1953 hatte er es geschafft, einen Goldhamster tiefzukühlen und wieder zu beleben. Heute schämt er sich ein wenig dieser Tierversuche. Immerhin brachte ihm diese Arbeit in sehr jungen Jahren seine Aufnahme in die British Royal Society ein.

Lovelock bemerkte, daß einige lebende Zellen das Gefrieren besser vertragen als andere. Der Unterschied schien mit dem Vorhandensein bestimmter Lipide (Fettsäuren) in den Zellmembranen zusammenzuhängen. Wie das Glück es wollte, hatte ein Kollege in einem höheren Stockwerk soeben den Gaschromato­graphen eingeführt, der damals das beste Instrument für die Entdeckung winziger Quantitäten Fettsäure war.

Unter unsäglichen Mühen kratzte Lovelock eine Probe zusammen und brachte sie nach oben zu Archer Martin, dem Erfinder dieses neuen Instruments. Die Probe war kleiner als ein Stecknadelkopf. Martin lachte ihm ins Gesicht. »Was, das ist alles, was Sie haben?« — »Ja...« — »Dann kann ich nichts für Sie tun. Am besten erfinden Sie selbst etwas.«

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Und das tat Lovelock dann auch. 1957 (während ein anderer frischgebackener Doktor namens Charles David Keeling in La Jolla, Kalifornien, neuartige Instrumente zur Entdeckung von Kohlendioxid zusammenhämmerte) saßen James Lovelock, Archer Martin und ein paar andere Wissenschaftler in London um Lovelocks neues Gerät und warteten auf den Ausgang eines Versuchs. Die dabei verwendete Probe war fast unsichtbar winzig. Aller Augen wandten sich dem Oszilloskop zu. Große Zacken wanderten über die Anzeige.

»Wir waren ungeheuer aufgeregt, besonders ich«, sagt Lovelock. »Aber dann stellten wir fest, daß die Zacken nicht durch Fettsäuren erzeugt wurden.« Er brauchte lange, um herauszufinden, was die Ausschläge des Geräts bewirkte. Der Detektor ignorierte seine Proben völlig. Statt dessen nahm er winzige Spuren von Verunreinigungen wahr, die zwischen den Fettsäuren und in der Luft des Labors vorhanden waren. Diese Unreinheiten entdeckte er in einer Größenordnung von Teilen pro Billion.

Sein Instrument, ein Elektronendetektor, »übersah fast alles und entdeckte nur eine einzige Gruppe von Dingen«, sagt Lovelock. »Aber was er entdeckte, war seltsam.« Die Liste schloß einen langen Katalog bekannter Karzinogene mit ein und auch Vinylchlorid und Trichloräthylen, Komponenten, die damals als so harmlos betrachtet wurden, daß sie als Anästhetika in der Chirurgie Verwendung fanden. Später stellte sich heraus, daß sie krebserregend wirkten. Tatsächlich schien Lovelocks Instrument ein fast magisches Gespür für lebensgefährdende Substanzen zu haben. »Inzwischen betrachte ich jede Substanz, die es entdeckt, mit einer gewissen Skepsis«, sagt Lovelock.

Elektronendetektoren dieser Art wurden bald in größeren Mengen hergestellt und an Wissenschaftler überall auf der Welt verkauft. 1960 wiesen Forscher mit diesen Geräten Spuren des Pestizids DDT in Pinguinfett und in der Milch menschlicher Mütter nach. Diese Entdeckungen stützten die These, die Rachel Carson* in ihrem 1962 veröffentlichten Buch <Stummer Frühling> aufgestellt hatte, und waren bei der Gründung von Umweltschutzbewegungen hilfreich.

Zehn Jahre später nahm Lovelock seinen Elektronendetektor mit auf eine Reise in die Antarktis an Bord eines britischen Forschungsschiffes, der Shackleton. Er setzte ihn ein, um herauszufinden, ob Fluorchlorkohlenwasserstoffe von der nördlichen Hemisphäre in die südliche abgetrieben waren.

* Rachel Carson auf detopia 

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Lovelock wußte, daß Fluorchlorkohlenwasserstoffe im Gegensatz zu Pestiziden absolut inert sind und weder mit lebendem Gewebe noch mit anderer Materie reagieren. Er nahm an, diese Eigenschaft könne die FCKWs zu einer guten Arbeitshilfe machen. Sie konnten zum Beispiel Geochemikern helfen, herauszufinden, wie lange Luftmassen aus der nördlichen Hemisphäre brauchen, um über den Äquator zu gelangen. Fluorchlor­kohlen­wasserstoffe mochten sich als ebenso aufschlußreich wie Tropfen roter Farbe in den Wirbeln eines Flusses erweisen.

Wie er 1973 in dem Journal <Nature> berichtete, fand er heraus, daß Fluorchlorkohlenwasserstoffe in der Luft über der Antarktis eine Konzentration von vierzig Teilen pro Billion erreicht hatten. Ein paar Berechnungen machten deutlich, was das bedeutete: Alle seit ihrer Einführung durch Midgley in den dreißiger Jahren produzierten FCKWs hingen noch in der Luft.

In seinem Bericht lag Lovelock nichts ferner, als einen weiteren Umweltalarm auszulösen. »Die Anwesenheit dieser Komponenten stellt in keiner Hinsicht eine Gefahr dar«, schrieb er. Er fuhr fort, wenn Roger Revelle die Freisetzung von Kohlendioxid in die Atmosphäre »ein außerplanmäßiges geophysik­alisches Experiment« nenne, würde er, Lovelock, die Freisetzung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe — die im Gegensatz zum Kohlendioxid vollkommen harmlos seien — das »ideale Experiment von globalem Ausmaß« nennen.

Kurz darauf erkannten die Atmosphärenchemiker Rowland und Molina allerdings, daß die so hartnäckig in der Luft verweilenden Fluorchlor­kohlen­wasserstoffe schließlich in die Stratosphäre treiben und dort die Ozonschicht abtragen würden. Rowland und Molina alarmierten die Öffentlichkeit.

So hatte Lovelock - ohne es zu wollen - die Ozondebatten der siebziger Jahre ausgelöst, die ebenso aufrüttelnd wirkten wie die DDT-Debatten der sechziger Jahre.

Bis zu diesem Punkt stellte die Laufbahn Lovelocks eine Parallele zu der Charles David Keelings dar. Wie Keeling hatte er einen neuen Detektor gebaut, ausgerichtet, aufs Ziel eingestellt — und signifikante Veränderungen auf dem Planeten gefunden. Gemeinsam halfen sie (unbeabsichtigt) mit, die Umwelt­schutz­bewegung in Gang zu setzen.

Während Lovelock und andere unseren Planeten mit dem Elektronendetektor erforschten, bereitete sich das neue amerikanische Raumfahrtprogramm auf die Erforschung fremder Welten vor. Lovelocks Erfindungstalent war 1961 hinreichend bekannt, und die NASA lud ihn ein, beim Entwurf der Weltraumroboter mitzuwirken, die als Surveyors bezeichnet wurden. Für ihn war diese Einladung die Erfüllung eines Kindheitstraums. Sie trug dazu bei, daß er seine Aufmerksamkeit für immer von so kleinen Dingen wie Zellmembranen ab- und so großen Dingen wie planetaren Atmosphären zuwandte.

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Bald nach den Surveyors begann die NASA mit der Planung ihrer Viking-Forschungssonden, die die uralte Frage nach Leben auf dem Mars beantworten sollten. NASA-Wissenschaftler beim Jet-Propulsion-Laboratorium in Pasadena baten Lovelock, sich über Experimente Gedanken zu machen, mit deren Hilfe man Leben entdecken könnte.

Lovelock dachte monatelang über dieses Problem nach, sprach mit dem Philosophen Dian Hitchcock und stellte ihm fundamentale Fragen wie: »Was ist Leben?« Schließlich flog er zum Jet-Propulsion-Laboratorium und verkündete: »Ich hab' die Antwort.« - »Sie brauchen keine Mission zum Mars, um herauszufinden, ob der Mars belebt ist oder tot«, erklärte Lovelock. »Er ist so tot wie ein Türnagel. Sie können es von hier aus sehen!«

Lovelocks Überlegung war einfach. Die Marsluft besteht in der Hauptsache aus Kohlendioxid. Sie enthält absolut keinen freien Sauerstoff. Ein Astronom kann das von jedem modernen, gut ausgerüsteten Observatorium aus feststellen, wie zum Beispiel von dem auf dem Vulkan Mauna Loa. Das gleiche gilt für die Venus: Auch dort gibt es fast nur Kohlendioxid und keinen Sauerstoff.

Diese Gasmischung ist genau das, was man von einer toten Welt erwarten würde. Mit den Gasen des Mars und der Venus scheint es schon vor Äonen abwärtsgegangen zu sein, bis sich ein chemisches Gleichgewicht einpendelte. Sie sind fast völlig inert. Oder wie Lovelock es ausdrückt: »Wenn Sie ein Quantum Luft von einem dieser beiden Planeten nähmen, in Gegenwart einiger von der Oberfläche stammender Felsen stark erhitzten und dann langsam wieder abkühlen ließen, würden sie eine geringe oder gar keine Veränderung feststellen.«

Auf der Erde besteht die Gasmischung hingegen aus einundzwanzig Prozent Sauerstoff und weniger als einem Prozent Kohlendioxid. Einem Chemiker, der von einem imaginären Punkt auf dem Mars oder der Venus aus unseren Planeten beobachten würde, käme das Vorhandensein dieses ganzen Sauerstoffs sehr merkwürdig vor, weil Sauerstoff ein reaktionsfreudiges und potentiell explosives Gas ist. Es bringt Prozesse in Gang. Sauerstoff läßt Holz brennen und Eisen rosten — rosten ist nichts anderes als eine langsame Verbrennung. Sauerstoff läßt Tiere und Pflanzen atmen — auch die Atmung ist eine kontrollierte, sehr langsame Verbrennung.

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Für den erwähnten Chemiker würde die Entdeckung von so viel Sauerstoff in der Erdluft das gleiche bedeuten, als fände ein Physiker einen riesigen Felsen, der auf einem Berggipfel balanciert: Instabilität. Die Gesetze der Physik sagen voraus, daß dieser Fels früher oder später den Berg hinunterrollen wird. Die Gesetze der Chemie sind in bezug auf die Instabilität ebenso sicher, wie die Gesetze der Gravitation sicher bei der Bestimmung des Orbits eines Planeten oder des Geschicks eines Felsens sind, der auf einem Berggipfel ruht.

Der Sauerstoff in unserer Atmosphäre sollte Felsen rosten lassen, unsere stählernen Wolkenkratzer rosten lassen, er selbst sollte durch Waldbrände aufgezehrt oder von Eulen und Ameisen, Bäumen und Farnen eingeatmet werden, bis keine Spur mehr von ihm in der Luft ist. Und das hätte schon vor langer Zeit geschehen müssen. Tatsächlich sollte es überhaupt keinen Sauerstoff in der Luft geben (oder jedenfalls nicht mehr als ein Prozent).

Die Erde verdankt ihren Sauerstoff den Pflanzen. Sauerstoff hat sich in unserer Atmosphäre angesammelt, seit sich vor wenigen Milliarden Jahren die ersten Pflanzen auf dem Planeten entwickelten. Der Fels sitzt dort auf dem Berggipfel, weil die Pflanzen ihn hochgewuchtet haben. In der griechischen Mythologie war Sisyphos dazu verdammt, für alle Zeiten einen Fels auf einen Berg zu rollen. Immer, wenn er den Fels fast bis auf den Gipfel gewälzt hatte, kollerte dieser wieder bis an den Fuß des Berges zurück, und Sisyphos mußte von vorne anfangen. So rasch der Fels den Berg wieder hinabrollt — so rasch verschwindet der Sauerstoff aus der Atmosphäre, aber ebenso schnell geben die Pflanzen neues Gas in die Atmosphäre hinein.

Lovelock sagte den Direktoren der NASA: Ihr müßt nicht selbst zum Mars fliegen, um herauszufinden, ob er belebt ist. Ihr müßt nur feststellen, ob sich Sauerstoff — oder eine andere Art chemischer Abnormität oder Instabilität in seiner Atmosphäre befindet. Wenn nicht, ist der rote Planet tot.

Es ist überflüssig zu sagen, daß Lovelocks Vorschlag nicht auf Gegenliebe stieß. Die NASA startete die Viking-Mission trotz seines Rats unter großem Pomp und mit großer Spannung. Lovelock scheint recht gehabt zu haben. Der Mars ist wahrscheinlich ebenso tot wie der Mond. Heute sind die meisten Wissenschaftler der Ansicht, daß die Erde der einzige belebte Planet in unserem Sonnensystem ist.

Lassen Sie uns die Überlegung einen Schritt weiterführen. 

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Wenn es auf unserem Planeten ein wenig mehr Sauerstoff gäbe — etwa fünf oder zehn Prozent —, könnte das zu einem globalen Inferno führen. Die Atmosphäre und die Biosphäre wären so leicht entflammbar, daß Waldbrände, einmal entfacht, außer Kontrolle gerieten und weitertoben würden, bis die gesamte Biosphäre in einem atmosphärischen Armageddon in Flammen aufgegangen wäre.

Gäbe es hingegen etwas weniger Sauerstoff — wiederum fünf oder zehn Prozent —, stünde den Lebewesen nicht genug Energie zur Verfügung. Es könnte noch Bakterien auf Erden geben und vielleicht noch ein paar weitere mikroskopische Geschöpfe wie die Amöben, Flagellaten und Pantoffeltierchen. Aber kein Lebewesen von der Größe des Menschen würde durchs Mikroskop schauen. Die Erde wäre belebt, doch niemand könnte sich umsehen und staunen.

Deshalb besitzt die Erde nicht einfach Sauerstoff, sie hat zudem genau die richtige Menge an Sauerstoff. 
Irgend etwas hält den Sauerstoffgehalt exakt auf dem richtigen Pegel - und tut dies offensichtlich seit Millionen von Jahren.

 

Bei Überlegungen dieser Art entwickelte Lovelock eine der gewagtesten und umstrittensten Theorien, die das Licht der Welt erblickten, seit Alfred Wegener seine Kontinentaldrift-Theorie vorlegte. Das größte Lebewesen in unserem Sonnensystem ist nicht der Blauwal, der mehr als dreißig Meter lang werden kann; es ist nicht der Riesenmammutbaum, dessen Krone sich in mehr als sechzig Metern Höhe befindet. Das größte und verehrungswürdigste Lebewesen in unserer Gegend des Weltraums ist vielmehr die Erde selbst. 

Die Erde lebt. Ihr Gewebe besteht aus Walen und Mammutbäumen, Hirschen und Gras. Jedes Lebewesen, von der Taube bis zur Ameise und zum Menschen, ist ein Teil von ihr, wie die Zellen, aus denen unsere Haut, unser Gehirn, unser Herz besteht, Teile von uns sind. Alles, was da kreucht und fleucht und wächst, von Grönland bis Neuseeland, vom Tapir zur Termite und zum Trypanosoma, spielt eine Rolle in der globalen Kooperative.

Und nicht nur das; auch die Wolken sind ein Teil des Superorganismus, die Luft, die wir atmen, der Mutterboden und der Fels, auf dem wir gehen, die Erdkruste selbst: Alles zusammen ist ein großes Lebewesen.

Eines Tages ging Lovelock mit einem Nachbarn in dem Dorf Bowerchalke in Wiltshire spazieren. Der Nachbar war William Golding, der Nobelpreisträger und Autor von <Herr der Fliegen>. Lovelock erzählte ihm von seiner neuen Vision des lebendigen Planeten, und Golding erwiderte: »Sie müssen sie unbedingt Gaia nennen.«

Die Wissenschaft im 20. Jahrhundert war so erfolgreich, daß Laien sie sich manchmal als eine Art monolithischer korporativer Organisation vorstellen, wie einen großen Industriekonzern. Für uns sehen alle Wissenschaftler gleich aus, handeln gleich, denken gleich und sprechen denselben Jargon.

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In Wahrheit ist die Wissenschaft wie der Turm zu Babel. Die Tage sind längst vorbei, da sich ein einzelnes Genie wie Isaac Newton mit den Grenzgebieten der Physik, Mathematik, Optik, Theologie, Alchimie befassen konnte, und damit noch nicht Wissenschaft, sondern etwas betrieb, das schlicht Naturphilosophie hieß.

Heute gibt es nur sehr wenige Naturphilosophen. Und es gibt nicht gerade viele Geowissenschaftler. Zuviel wurde über den Planeten veröffentlicht, als daß ein einzelner Verstand alles in sich begreifen könnte. Es gibt chemische Ozeanographen und physikalische Ozeanographen. Es gibt atmosphärische Chemiker und troposphärische Chemiker. Diese Fachbereiche vermischen sich nicht, oder zumindest vermischen sie sich nicht mehr, als sich Meer und Luft, ihre Untersuchungsgegenstände, oder die verschiedenen Schichten der Troposphäre vermischen. Die Spezialisierung ist uns aus der Hand geglitten. Der Baum des Wissens weist heute mehr Zweige auf als der Baum des Lebens. Ein Pedologe untersucht Böden; ein Petrologe befaßt sich mit Gestein. Der Pedologe siebt den Erdboden und wirft die Steine fort. Der Petrologe klaubt Steine auf und säubert sie vom Erdreich. Gehen sie zufällig auf demselben Feld ihrer Arbeit nach, prallen sie zusammen wie Stan Laurel und Oliver Hardy.

Wenn Gaia existiert, kann man sie nicht scheibchenweise studieren, indem sich Professor X fragt, ob der Himmel lebt, und Professor Y, ob Berge lebendig sind, während sich Professor Z die Frage stellt, ob Professor X lebt. Wenn Gaia existiert, sind alle Elemente des Planeten untereinander verbunden und arbeiten zusammen wie die Organe unserer eigenen Körper.

»Werden die Verbindungen, die zu dieser Art des Studiums erforderlich sind, zwischen Menschen hergestellt oder in einem einzelnen Verstand?« formulierte die Frage einmal der atmosphärische Chemiker Ralph Cicerone in seinem Büro im amerikanischen Zentrum für Atmosphärenforschung in Boulder, als ich dort war. In anderen Worten: Werden die Verbindungen durch die Zusammenarbeit von zwei oder drei Forschern hergestellt oder durch einen Wissenschaftler, der sich bemüht, in mehreren Disziplinen zugleich zu arbeiten?

»Ich bin widerstrebend zu der Überzeugung gelangt«, sagte Cicerone, »daß unsere größte Hoffnung in einem einzelnen Verstand liegt.«

Lovelocks Verstand gehörte zu den wenigen, die den Versuch machten, mehrere Disziplinen zu erfassen. Cicerone und andere stimmen darin überein, daß Lovelocks Verstand zudem — dank seiner raschen Karriere und dem, was vielleicht Genie ist — einer der sehr wenigen ist, die dabei möglicherweise Erfolg haben werden.

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Wenn Sie Ihren Weg durch den babylonischen Turm finden können, wie Lovelock es kann, erhaschen Sie an jeder Biegung einen Anblick auf Gaia. Wären zum Beispiel die Ozeane viel salziger, als sie es sind, würde das maritime Leben unmöglich sein. Der Atlantik und der Pazifik wären so unbelebt wie das Tote Meer. Tatsächlich wissen die chemischen Ozeanographen nicht, wieso der Atlantik und der Pazifik keine toten Meere sind. Flüsse und Ströme waschen jährlich Millionen Tonnen Salz in die Meere, und doch werden sie nicht salziger. Irgend etwas hält die Chemie der Ozeane genau in dem Gleichgewicht, das Leben ermöglicht. Ein weiteres planetares Geheimnis.

Oder nehmen Sie Kohlendioxid, dieses wichtige und bekannte Gas. Wie wir sahen, wäre die Erde mit viel mehr Kohlendioxid eine Hölle wie die Venus. Mit viel weniger wäre sie gefroren wie der Mars. Die Konzentration dieses Gases hat in der Vergangenheit immer ein wenig geschwankt, aber nie so stark, daß sich die Erde in einen Feuerofen oder einen Gefrierschrank verwandelt hätte. Die Meere sind in den viereinhalb Milliarden Jahren seit der Erschaffung des Planeten nie verkocht und nie steinhart gefroren. Und doch ist die Sonne selbst seit ihrer Geburt um nicht weniger als fünfundzwanzig Prozent heller geworden. Tumultuarische vulkanische Zeitalter sind gekommen und vergangen. Was hat die ganze Zeit über die Kohlendioxidkonzentration an der Erdoberfläche innerhalb bestimmter Grenzen gehalten? Vielleicht das Leben selbst.

Als Lovelock 1979 sein kleines Buch <Gaia> veröffentlichte, erwartete er, daß es von Biologen begrüßt und von Theologen attackiert werden würde. Er wurde von Biologen geschmäht und erhielt eine Einladung, eine Mahnpredigt in der Cathedral of St. John the Devine in New York City zu halten.

Evolutionsbiologen fanden Gaia absurd unwissenschaftlich. Sie glaubten, Lovelocks These setze einen allem Leben gemeinsamen Grundplan voraus. Sie dachten, sie setze voraus, daß Flechten, Bäume, Termiten und Affen auf irgendeine Weise gemeinsam planten und für das Wohl des Ganzen tätig seien. Kann der Eintopf der Arten des Planeten tatsächlich kooperieren, um die Erde im Gleichgewicht zu halten? Kann auch nur eine Spezies über ihr eigenes Schicksal bestimmen?

Die meisten Biologen halten das Phänomen Leben nicht für vernunftbegabt. Es ist bequemer für sie anzunehmen, daß sich die Termiten und die Bäume ausschließlich mit ihren jeweils eigenen Geschäften befassen: Manchmal hilft es, manchmal schmerzt es, und die Welt humpelt weiter.

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Der kanadische Biochemiker Ford Doolittle von der <Dalhousie University> veröffentlichte eine der ersten Kritiken dieses Tenors an der Gaia-Hypothese. Die Evolution, so meinte Doolittle, geht ohne Plan oder Voraussicht vor, durch natürliche Auslese. Die Individuen jeder Generation, die für das Überleben und die Reproduktion in der Welt, in der sie leben, am tauglichsten sind, haben wahrscheinlich die meisten Nachkommen. Diese Nachkommen weichen von Generation zu Generation leicht voneinander ab. Einige Individuen sind überlebenstüchtiger als andere und vererben ihre Gene an mehr Nachkommen. Und so weiter. Auf diese Art verbreiten sich nützliche genetische Varianten, während schädliche letztlich verschwinden. Dieser stockblinde Prozeß der Darwinschen natürlichen Auslese reicht aus, um die außerordentliche Entwicklung der Artenvielfalt zu erklären.

Doolittle übersah, daß sich auch Gaia, die die globale Kooperation der Arten umfaßt, durch natürliche Auslese entwickelt haben könnte, durch den ständigen Wettkampf zwischen Individuen — Tennysons »Natur mit geröteten Zähnen und Klauen«.

Doolittle sagte, Lovelocks Vision erinnere ihn an die Märchenwelt des Doktor Doolittle: In Hugh Loftings Buch <Doktor Doolittle auf dem Mond> wundert sich John Doolittle über das Ausbleiben des Darwinschen Wettbewerbs in der Flora und Fauna des Mondes. Dieses Fehlen war, wie sich herausstellte, auf den Einfluß »des Rates« zurückzuführen, »der aus Vertretern des animalischen wie auch des vegetabilischen Königreichs bestand. Sein Hauptzweck war die Regelung des Lebens auf dem Mond, die zur Folge hatte, daß kein Krieg mehr herrschte«.

Doolittle bemerkt zu seinem Gehilfen: »Unsere Welt, die sich für so fortgeschritten hält, besitzt nicht die Weisheit, die Voraussicht, Stubbins, die wir hier gesehen haben. Kämpfen, kämpfen, kämpfen; immer kämpfen! So geht es bei uns unten zu... Das >Überleben der Tauglichsten<!... Aber ist es diese Einrichtung hier, dieser Rat des Lebens — der Lebensanpassung —, die die Tage und das Glück für alle gerettet haben könnte.«

Kurz gesagt, Doolittle glaubt, daß Gaia nicht durch natürliche Auslese geschaffen werden könne, sondern nur durch bewußte Gestaltung.

»Lovelocks Gaia gleicht stark dem irdischen Äquivalent von Loftings lunarem Rat«, schrieb Doolittle. »Aber der Rat wurde durch Otho Bludge, dem ersten Mondmann und von der Erde Geflohenen, ins Leben gerufen. Wer erschuf Gaia?«

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Lovelock war von diesen Kritiken förmlich erschlagen.

Ihnen folgten noch herbere Worte zum selben Thema von dem englischen Evolutionisten Richard Dawkins, dessen Bücher hauptsächlich die Eigennützigkeit und Blindheit der natürlichen Auslese zum Hauptthema haben (siehe <Das egoistische Gen> und <Der blinde Uhrmacher>).

Für eine Weile fragte Lovelock sich, ob auf seine These tatsächlich zutraf, was diese Biologen von ihr zu halten schienen.

Gehörte Gaia in dieselbe Kategorie wie der Glaube an spiritistische Buchstabentafeln, magische Kristalle, Marskanäle, Pyramidenkräfte oder Geister, oder bestenfalls in dieselbe Kategorie wie der Glaube an Gott?

deto-2021: Buttlar Marsgesicht

Und doch war Lovelock davon überzeugt, daß seine Gaia-Theorie nicht im Widerspruch zu den Gesetzen der natürlichen Auslese stand. Tatsächlich betrachtete er sie als Konsequenz der natürlichen Auslese. Nach seiner Ansicht vollzog sich die natürliche Auslese nicht nur auf der Ebene der Biochemie und der Individuen, sondern auch der Biogeochemie. Er hatte die Evolutionisten in Verdacht, daß sie im Turm zu Babel einfach nicht hoch genug gestiegen waren. Sie befaßten sich mit der Evolution des Lebens; inzwischen studierten die Geochemiker ein Stockwerk höher die Evolution der Erde. Und doch finden diese beiden Evolutionen zugleich und auf demselben Planeten statt. Sie hängen zusammen.

Nach vielem Nachdenken fand Lovelock seine Antwort an Doolittle und Dawkins: eine einfache Darlegung des Weges, auf dem die natürliche Auslese zu Gaia führen konnte. Seine Allegorie ist ein schematisierter Planet, den er »Gänseblümchenwelt« nennt.

Die Gänseblümchenwelt ist eine ebenso idealisierte Welt wie die bezaubernden schwebenden Welten, die Antoine de Saint-Exuperys Kleiner Prinz besuchte. Sie liegt auf einem ebenmäßigen Planeten, in einem sanften Schatten. Das Klima ist angenehm, und Pflanzen gedeihen vom Äquator bis zu den Polen. Damit der Planet nicht zu kompliziert wird, reduziert Lovelock alle Variablen des Lebens auf eine einzige: die Temperatur. Und er vereinfacht die wimmelnde Vielfalt des Lebens zu einer einzigen Art: die Gänseblümchen. Es gibt auf diesem Planeten weiße Gänseblümchen und schwarze Gänseblümchen.

Jetzt stellen Sie sich vor, die Helligkeit der Sonne nähme allmählich zu. Gäbe es kein Leben auf der Gänseblümchenwelt, würden auch die Temperaturen auf dem Planeten zunehmen, in Übereinstimmung mit seiner Sonne. Weil es aber Leben auf der Gänseblümchenwelt gibt, läuft die Sache ein wenig anders ab. Das Leben reagiert auf das Ansteigen der Temperatur - durch natürliche Auslese. 

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Die Zahl der schwarzen Gänseblümchen beginnt rasch abzunehmen, weil ihre dunkle Farbe das Sonnenlicht absorbiert und bewirkt, daß sie sich schneller aufheizen als die Planetenoberfläche selbst, bis sie zu heiß sind, um überleben zu können. Die weißen Gänseblümchen halten es länger aus, da ihre weiße Farbe das Sonnenlicht reflektiert und sie und ihre unmittelbare Umgebung kühler hält.

Diese Phänomene beeinflussen die Temperatur des ganzen Planeten. Ein mit weißen Gänseblümchen bedeckter Planet reflektiert mehr Sonnenlicht als ein schwarz ummantelter Planet. Im Jargon der Planetologie ausgedrückt: Weiße Gänseblümchen haben eine höhere Albedo. Während sich die Gänseblümchenwelt mit immer mehr weißen und immer weniger schwarzen Gänseblümchen bedeckt, erhält der Planet eine zunehmende Albedo und bleibt kühl.

Und jetzt wollen wir annehmen, die Sonne würde beginnen trüber zu werden. Die weißen Gänseblümchen werden spärlich, aber die schwarzen vermehren sich. Der Planet wird dunkler, und je dunkler er wird, desto mehr Sonnenlicht absorbiert er. Seine Oberfläche erwärmt sich.

Was auch mit der Sonne geschieht, die imaginäre Welt wird durch das Leben auf ihr geschützt. Dank der Gänseblümchen behält die Gänseblümchenwelt weit länger eine konstante Temperatur, als es einer toten Welt möglich wäre. Hier handelt es sich um negative Rückkopplungsschleifen. Hitze bringt weiße Gänseblümchen hervor, die den Planeten abkühlen. Kälte erzeugt schwarze Gänseblümchen, die den Planeten erwärmen.

Die Sonne muß sehr heiß oder sehr kühl werden, bis die Grenze des Erträglichen erreicht wird. Aber es gibt natürlich einen Punkt, an dem alle Gänseblümchen vergehen. Die Gänseblümchenwelt stirbt. Danach ist der Planet gegen weitere Veränderungen der Sonne machtlos wie ein unbelebtes Objekt.

Hier geschieht nichts als natürliche Auslese: Das Gedeihen einer Spezies und der Untergang einer anderen entsprechen den Umweltveränderungen. Und doch verhält sich das Leben dieser einfachen Welt wie ein Thermostat. Bis zu einer bestimmten Grenze trägt es aktiv dazu bei, die Temperaturen seiner Welt konstant zu halten.

In einem mit einem Thermostaten ausgestatteten Haus ist es der Hausbewohner, der die erwünschte Temperatur festsetzt: den »Sollwert«. Achtzehn Grad Celsius beträgt der durchschnittliche Sollwert in den Wohnungen Europas; in den Vereinigten Staaten ist er etwa drei Grad höher. Wie hoch ist der Sollwert eines Planeten? Es gibt keinen, weil es keine globale Planung oder Voraussicht gibt. Es gibt nur die einfachen, völlig unbewußten Reaktionen der Myriaden Lebewesen auf eine Myriade lokale Veränderungen. 

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»Die Gänseblümchenwelt hat kein klar bezeichnetes Ziel wie einen Sollwert«, sagt Lovelock. »Der Planet läßt sich nur wie eine Katze in eine bequeme Lage nieder und widersetzt sich allen Versuchen, ihn aufzustören.«

In der realen Welt gibt es nicht nur eine Variable wie die Temperatur, sondern Tausende oder sogar Zehntausende von mehr oder weniger stabilen Variablen — nicht nur die Temperatur, sondern auch die Chemie und der Salzgehalt der Meere und die Zusammensetzung der Atmosphäre. Jeder dieser Faktoren muß irgendwie homöostabilisiert werden, das heißt, innerhalb bestimmter Grenzen gehalten werden, wie Lovelock in Die Zeitalter von Gaia, seinem zweiten Buch über dieses Thema schreibt. »Es gibt für fast alle Chemikalien eine Konzentration, die vom Leben benötigt oder geduldet wird«, heißt es dort. »Von vielen Elementen wie etwa Jod, Selen und Eisen ist zuviel giftig, und zuwenig hat keinen Nährwert. Reines, unversetztes Wasser enthält zuwenig davon, die gesättigte Sole des Toten Meeres zuviel.«

Die Schönheit des Gänseblümchenwelt-Modells besteht in seiner Allgemeingültigkeit. Es paßt auf alle diese Faktoren — auf jeden Faktor, der das Leben betrifft, von der Temperatur bis zum Jodgehalt des Meeres. Es paßt außerdem auf alle anderen Planeten, auf denen sich Lebensformen entwickelt haben könnten. Auch diese Lebewesen werden durch ihre Entwicklung die Umwelt verändern, und auch sie werden durch den Prozeß der natürlichen Auslese eine konstante Umwelt erzeugen.

Lovelock und sein Kollege Andrew Watson haben viele andere Gänseblümchenwelt-Varianten auf einem Computer durchgespielt, indem sie das zentrale Prinzip Gaias, die natürliche Auslese, in einfachen Graphiken darstellten. Das unbewußte Wachstum und die Evolution des Lebens werden unter diesen Voraussetzungen immer konstante, stabile Zustände hervorrufen und erhalten. Der Planet als Ganzes wird einige Eigenschaften entwickeln, die wir mit einzelnen Lebewesen zu assoziieren gewohnt sind: Seine Temperatur und seine innere Chemie werden dazu tendieren, im Gleichgewicht zu bleiben, innerhalb gewisser Grenzen, wie eine dösende Katze.

Vor kurzem, als ich versuchte, Gaia auszuloten, erinnerte ich mich an ein Spiel, das mein Vater, mein Bruder und ich früher gespielt hatten. Es hört sich unglaubwürdig an, aber wir bauten einen Computer aus Bechern und Pappstücken, und das Gebilde wurde bald so intelligent, daß es uns bei einem strategischen Spiel alle drei schlug. Ich erinnerte mich noch an den Spaß, den es uns machte, als wir in der Küche saßen und zusahen, wie der Becher-Computer immer bessere Züge machte, bis er uns gegen Ende des Abends jedesmal übertrumpfte. 

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(Abende wie diese sind nichts für jeden. Leser, bei denen der Gedanke, einen Computer zu bauen — und sei es auch nur einen aus Bechern — kalten Schweiß hervorruft, sollten lieber im Anhang nachsehen.)

 

Der Computer wurde von Henry David Block entwickelt, einem Mathematiker an der Cornell University, der sich für etwas interessierte, was er »mechanische Biologie« nannte. Er versuchte, einfache Anordnungen herzustellen, die einige der Fähigkeiten von Lebewesen besaßen. In der Zeitschrift American Scientist hat Block im März 1965 gezeigt, wie leicht es ist, einen lernfähigen Computer zu bauen.

Block nannte seinen Computer G-1. (G steht für Golem, den künstlich hergestellten Diener in einer mittelalterlichen jüdischen Legende, einem Lehmklumpen, den ein Zauberkundiger zum Leben erwecken konnte, indem er ihm den Namen Gottes zuflüsterte.) G-1 besteht aus einer Reihe von 1 bis 12 durchnumerierter Becher. In jedem Becher befinden sich drei aus Pappe geschnittene Kärtchen, die mit den Ziffern 1 bis 3 beschriftet sind. Das ist alles, woraus der Golem besteht; man braucht nur ein paar Minuten, um ihn zu bauen. Wir fanden es unterhaltsam, die Reihe der Becher auf der uns gegenüberliegenden Tischseite aufzubauen, damit uns Golem wie ein menschlicher Spielpartner anschauen konnte.

Block zeigte, daß sein Computer tausend strategische Spiele beherrschen lernen kann. Eines der ältesten und einfachsten ist ein Kneipenspiel, das manchmal Nim genannt wird. Nim beginnt mit einem Dutzend Münzen, Streichhölzern oder Zahnstochern — beliebigen Spielmarken —, die mitten auf dem Tisch auf einen Haufen gelegt werden. Sie und Ihr Mitspieler nehmen abwechselnd Spielmarken fort. Bei jedem Zug dürfen Sie ganz nach Belieben eine, zwei oder drei Marken vom Haufen wegnehmen. Wer die letzte Marke nimmt, hat verloren.

Sie beginnen also mit zwölf Marken:

 

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Sie können dieses Spiel mit Golem ebenso wie mit einem menschlichen Partner spielen. Natürlich ist Golem nicht in der Lage zu sprechen, also müssen Sie sich mit einer Zeichensprache begnügen, wie Sie es bei einem Fremden aus einem anderen Land tun würden. Und Golem kann sich nicht bewegen, also müssen Sie auch dieses physische Handikap überwinden. Immer, wenn Golem am Zug ist, zählen Sie ihm die im Spiel befindlichen Marken vor. Sagen wir, es sind zwölf Marken auf dem Tisch. Dann gehen Sie zu Golems zwölften Becher und nehmen ein Kärtchen nach dem Zufallsprinzip, um Golems Entscheidung herauszufinden. Trägt die Karte die Zahl 2, bedeutet das, daß Golem beschlossen hat, zwei Marken fortzunehmen (Sie leisten zwar dabei seine »Beinarbeit«, er aber vollbringt die »Kopfarbeit«). Dann legen Sie die Karte in den Becher Nummer 12 zurück.

In dieser Weise wechseln Sie und der Computer einander ab.

Das Geheimnis des Lernens besteht in der Fähigkeit, aus Fehlern einen Vorteil zu ziehen. Und genau das ist Golems großes Talent. Denn immer, wenn Golem eine Spielrunde verliert, nehmen Sie die letzte Karte, die Golem gespielt hat (die Karte also, die den Computer das Spiel verlieren ließ). Sie holen diese Karte aus dem Becher und legen sie gesondert ab.

Anfangs verliert Golem, da er nach dem Zufall spielt, fast jede Runde. Aber immer, wenn er einen falschen Zug gemacht hat, legen Sie die entsprechende Karte beiseite. Golem wird diesen Fehler nie wiederholen. Also macht der Computer immer weniger falsche Züge und immer mehr richtige.

Es ist faszinierend, ihm beim Lernen zuzuschauen. 

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Ich will nicht alle Vorgänge bei dem Wettbewerb zwischen Golem und der Menschheit schildern*, aber nach einer Weile wird der Computer klug. Er macht nur noch richtige Züge, weil er die falschen Züge vergessen hat. Er hat einfach vergessen, wie man verliert.

* Eine vollständige Anleitung zum Bau eines Golems finden Sie in Blocks Originalartikel oder in meinem Essay »In Gaia's Garden« in The Sciences (Juli 1986), S. 2.

Sie können die Lernkurve Golems auf Millimeterpapier aufzeichnen, indem Sie alle Gewinn- und Verlierpunkte notieren. Zu Beginn, wie gesagt, verliert Golem. Dann geht seine Erfolgskurve für ein paar Dutzend Spiele zögernd in die Höhe; einen Schritt vor, einen zurück, wie Keelings Kurve.

Nach ein paar hundert Runden Nim spielt Golem wie ein Meister. Mit nichts als einigen Pappstückchen erweckt er den Eindruck vollständiger Planung und Voraussicht. Die Becher arbeiten zusammen, als seien sie mit teuflischer Intelligenz begabt. Einem beherzten Zug durch Becher 10 folgt ein vorsichtiger Zug von Becher 7, und dieser erlaubt Becher 4, das Spiel zu gewinnen.

Und das ist die bemerkenswerte Eigenschaft des Becher-Computers — die Fähigkeit, etwas zu entwickeln, das sich wie eine Verschwörung ausnimmt, ein abgestimmtes Vorgehen. Block meint dazu: »Am Verhalten solcher Maschinen ist besonders interessant, wie eine einfache Folge lokaler Veränderungen in eine im umfassenden Sinn optimale Verfahrensweise mündet.«

Lovelocks Vision Gaias, in der das Leben das Klima bestimmt, scheint weniger unglaubwürdig, wenn man erst einmal einen Golem gebaut und in Aktion gesehen hat. Es ist demütigend, von einer Reihe von Bechern geschlagen zu werden. Und doch kann man die ganze Zeit über sehen, daß Golem durch den blinden Prozeß der natürlichen Auslese lernt. Das Prinzip ist nichts weiter als Darwins Überleben der Tauglichsten. Karten mit Verliererzügen sterben aus.

Wenn die natürliche Auslese bei Pappstückchen soviel bewirkt, was vermag sie dann erst bei Arten?

Stellen Sie sich vor, jedes Ökosystem auf dem Planeten besäße einen Becher. Es gibt Dutzende von Ökosystemen auf dem Planeten. Jedes Lebewesen stellt eine Karte in einem dieser Becher dar. Individuen mit Gewinnerkarten neigen dazu, zu gewinnen. Jene mit Verliererkarten neigen dazu, jung zu sterben.

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Wieso entwickeln die Karten in den Bechern Golems immer eine umfassende Strategie? Wieso bereiten die Karten in Becher 10 und Becher 7 den Gewinnzug für Becher 4 vor? Sie sind nicht »altruistisch«. Es gibt keine Planung und auch keine Kooperation. Nur natürliche Auslese. Das Überleben jeder dieser Karten hängt von allen anderen Karten in allen anderen Bechern ab. Das heißt, ein Verlust in einem Becher betrifft letztlich das Überleben oder die Ausmerzung der Karten in allen anderen Bechern. Ihre Schicksale sind untrennbar miteinander verknüpft. Sie beeinflussen die Überlebenstauglichkeit der anderen.

Und dasselbe gilt für die Arten in der Biosphäre. 

Ökologen schätzen, daß jede Spezies im Durchschnitt unmittelbar von vier anderen Arten abhängt. Alle diese benachbarten Arten entwickeln sich gemeinsam, und währenddessen entwickeln sie Beziehungen, einschließlich des Verhältnisses Jäger-Beute, Wirt-Parasit und der faszinierenden Beziehung, die Ökologen Symbiose nennen, in der jede der beteiligten Arten die andere unterstützt. Es gäbe keinen Regenwald ohne Bienen, Schmetterlinge und Wespen, die für die Bestäubung der Baumblüten sorgen. Seit Darwin haben die Evolutionsbiologen akzeptiert, daß sich alle diese Beziehungen durch blinde natürliche Auslese entwickeln können.

Somit ist durchschnittlich jede Spezies Teil der Umwelt von zumindest vier anderen Arten. In größerem Maßstab (aber immer noch in einem einzelnen Becher oder Ökosystem) gibt es Arten, die unmittelbar mit nicht nur vier, sondern Tausenden anderer Arten zusammenhängen. Die Bäume des Regenwaldes bieten Sitzstangen, Schatten, Humus, Nahrung und (wie wir gesehen haben) sogar Wolken und Regen für alle Arten, die auf, zwischen und unter ihnen leben. Wieder gibt es keinen vorhergehenden Entwurf. Nach der Evolutionstheorie entwickelt sich all das, so rätselhaft es auch scheinen mag, durch blinde natürliche Auslese.

Jede Spezies steht außerdem in direktem Kontakt zu ihrem Medium, der Atmosphäre oder der Hydrosphäre, und beeinflußt diese Sphäre mehr oder weniger. Jedes Individuum setzt zum Beispiel ein wenig Kohlendioxid frei und trägt damit zum Kohlenstoffzyklus und der Atmung der Welt bei. Ohne das gehaltvolle hausgemachte Gasgebräu, das aus Becher 12 aufsteigt, dem Regenwald, wäre das Leben nirgendwo auf dem Planeten so, wie wir es kennen. Ohne die Pflanzen gäbe es nirgends Sauerstoff.

Auf diese Weise ist jede Spezies auf Erden, im Meer und in der Luft mehr oder weniger mit allen übrigen verbunden. Jede Art berührt das Überleben der anderen. Die Arten in Becher 12 und Becher 6 tragen zu den Gewinnzügen in Becher 3 bei. Im umgekehrten Fall würde ein Mißerfolg in Becher 12 zu Verlusten in Becher 3 führen.

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Es mag eine romantische Vorstellung sein, daß sich aus diesen unzähligen globalen Querverbindungen wechselseitige Verhältnisse zu reißfesten Ketten oder symbiotischen Netzen entwickelt haben, die unsere Begriffsfähigkeit übersteigen. Lovelock und seine Gewährsleute (darunter sein berühmter Kollege und Mitarbeiter Lynn Margulis, ein Mikrobiologe an der Universität Boston) gestehen freimütig ein, daß sie Romantiker sind. Und doch entwickelt sich in jedem Becher auf lokaler Ebene tatsächlich ein wechselseitiger Nutzen. Es gibt tausend Beispiele dafür in jedem Ökosystem. Denken Sie an die Inbesitznahme der Stranddünen durch Gräser, die dazu führt, daß dort Bäume gedeihen und Vögel nisten können. Die Gräser planen die Dünen nicht. Sie wollen den Vögeln keine Geschenke machen. Sie wollen nichts als wachsen. Die Gene sind egoistisch, und der Uhrmacher ist blind, aber der Kurs der Evolution führt auf lokaler Ebene immer wieder zu einer gewissen Kooperation.

Weshalb nicht auch auf höherer Ebene? Warum sollte nicht die gleiche Kooperation zwischen den Bechern stattfinden? 

In der Theorie Lovelocks sehen wir nichts, das mehr (oder weniger) Geheimnisse und Wunder enthielte als die Evolution durch natürliche Auslese auf allen Ebenen, von der Koevolution der Schmetterlinge und Blüten bis zur Koevolution von Atmosphäre und Biosphäre. In Lovelocks Augen stehen seine Überlegungen nicht im Widerspruch zu Darwins Idee der natürlichen Auslese; sie sind nur eine neuartige Auslegung derselben alten Gesetze. Während einer der vielen Gesprächsrunden bei einer Konferenz über die Gaia-Hypothese in San Diego flüsterte mir Lovelock ins Ohr: »Der Kernpunkt bleibt die natürliche Auslese — denken Sie daran.«

Wenn das so ist, können wir uns glücklich schätzen, daß Gaia nicht von einer einzelnen Tier- oder Pflanzenart abhängt. Es kommt immer wieder zu Unfällen, die Arten aus dem Spiel nehmen (die Durchschnittsrate betrug vor dem Eingreifen des Menschen etwa eine Spezies pro Jahr). Aber es sind immer Millionen Arten, und Gott allein weiß, wie viele Individuen im Spiel sind. Sie verleihen Gaia Stabilität und ermöglichen ihr, mit dem Unerwarteten fertig zu werden. Das sind die Vorteile der Redundanz.

Nachdem Block seinen ersten Becher-Computer gebaut hatte, stellte er verschiedene Experimente an, um ihm lernen zu helfen. Zum Beispiel legte er, damit das Spiel interessanter wurde, die Verliererkarte nicht beiseite. Statt dessen fügte er Duplikate der Gewinnerkarte hinzu. Das ist Lovelock und Margulis zufolge genau die Weise, in der Gaia lernt. Arten mit Verliererkarten fallen aus, während sich Arten mit Gewinnerkarten in ihren Bechern vermehren. So verfeinert Gaia ihr Spiel.

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Block machte auch Versuche mit Varianten des Nimspiels, in denen eine erfolgreiche Strategie nur für mathematisch versierte Spielexperten erkennbar ist. Er stellte fest, daß die Kompliziertheit des Spiels für die Becher nicht von Belang war; der Computer erlernte Gewinnstrategien ebenso rasch wie zuvor durch natürliche Auslese. Block erkannte, daß er mit genügend vielen Bechern, Karten und ausreichender Geduld einen Computer bauen konnte, der fähig war, Ticktacktoe*, Dame oder sogar Schach zu gewinnen.

Ich kann mir vorstellen, daß Gaia einen ebensolchen Apparat mit jeweils Millionen Karten in Myriaden Bechern darstellt. Ihre Spiele sind so undurchsichtig und kompliziert, daß wir sie nicht begreifen. Sie wird seit nahezu vier Milliarden Jahren ununterbrochen geprüft. Als Sie oder ich anfingen, sie zu beobachten, hatte es Gaia allem Anschein nach schon zu der Weisheit einer Gottheit — oder eines Golems — gebracht.

Wenn ich an all die entsetzlichen Dinge denke, die sich in den nächsten hundert Jahren in den sieben Sphären ereignen könnten, komme ich mir ein wenig wie der Schullehrer Ichabod Crane vor. Er hatte vernommen, daß die Erde Kugelgestalt besitzt, und nahm daher an, daß die Menschen in Australien mit dem Kopf nach unten gehen. Er gehörte zu der Sorte übermäßig phantasievoller Lehrer, die ihre Schüler lehren, Nord- und Südpol könnten jederzeit fortfliegen und die Bürger Sleepy Hollows gingen alle auf dem Kopf.

Wäre das Gleichgewicht der Natur wirklich derart instabil, würde das Leben auf Erden nicht schon so lange bestehen. Mehr noch: Es hätte sich nie Leben entwickeln können. Aber der Planet Erde trägt Leben, und die Biosphäre existiert schon seit fast vier Milliarden Jahren. Sie ist älter als die zwanzig hellsten Sterne am nächtlichen Himmel. »Gaia besteht seit Äonen«, sagt Lovelock. »Sie hat das Alter von Sternen. Sie ist fast unsterblich.«

Wir sehen nur Bruchteile der sieben Sphären:

* Man muß in Kästchen einer kreuzförmigen Figur drei Kreuze in einer Linie einzeichnen. Der Gegner versucht, dies zu verhindern, indem er Nullen einzeichnet. (AdÜ)

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Vielleicht sind sie auch so zart miteinander verbunden wie sieben Seifenblasen. Niemand kennt die wahre Gestalt der sieben Sphären oder die Geographie ihrer Beziehungen. Ob wir die Erde lebendig nennen oder nicht, das Studium des globalen Stoffwechsels ist eine der großen Herausforderungen an die Wissenschaft. Die Biochemiker des 20. Jahrhunderts haben die Wege gesehen, die der Kohlenstoff in Lebewesen zurücklegt. Zyklen von erstaunlicher Kompliziertheit wurden entdeckt, zu denen auch der Respirationszyklus und der dunkle und helle Zyklus der Photosynthese gehören. Die Biochemiker fanden aus chemischen Komponenten bestehende Wasserräder, die sich in allen Zellen unseres Körpers drehen und die Gesamtheit der uns verfügbaren Energie verwalten. Die Kartographierung dieser molekularen Mühlen brachte mehr als einem Wissenschaftler einen Nobelpreis ein. 

Es ist möglich, daß in den kommenden Jahrzehnten ebenso große oder größere Entdeckungen gemacht werden, wenn Forscher aus vielen Disziplinen kooperieren, um die Arbeitsweise der sieben Sphären zu verfolgen. Wie sehen die Verbindungen der Sphären untereinander aus? Was wir erkennen können, läßt vermuten, daß die Muster kompliziert und wunderschön sind; aber sie sind immer noch dunkel für uns, als versuchten wir, von draußen einen Blick durch ein erblindetes Glasfenster zu werfen.

Ist die Gaia-Sichtweise optimistisch oder pessimistisch? 

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Sie ist optimistisch aus der Sicht derer, die nach Harmonie unter den Sphären Ausschau halten. Sie läßt noch zu entdeckende Muster und Querverbindungen erahnen. Sie ist auch aus Gaias Sicht optimistisch. Sie läßt hoffen, daß die Querverbindungen unter den Dingen dem Leben helfen könnten, die folgenden schwierigen Jahre zu überleben.

Aber die Gaia-Sichtweise ist nicht optimistisch aus der Sicht einer einzelnen Spezies, die ihre eigene Haut retten möchte. Gaia ist unserem Geschick gegenüber so gleichgültig, wie die Sterne es sind. Die Biosphäre wird überleben, aber nicht ihre Arten, ebenso wie unsere Körper überleben, obwohl einzelne Zellen absterben und ersetzt werden. Zu gewissen Zeiten wurde, wie wir gesehen haben, die Hälfte aller Arten fast gleichzeitig ausgemerzt. Die nächsten hundert Jahre könnten wieder eine solche Zeit bringen. Die Geschichte des Lebens wird durch Eiszeiten, vulkanische Winter, Meteorkollisionen und Massensterben unterbrochen. Und im Augenblick wird sie durch uns unterbrochen.

Für unser eigenes Überleben ist die Gaia-Sichtweise nicht tröstlicher als die entgegengesetzte Sicht, die der Ökologe Paul Ehrlich vertritt.

»Es sind Glück und Zufall, die verhindert haben, daß es mit uns den Bach runterging«, sagt Ehrlich. »Vielleicht stellen wir eine große Rarität im Kosmos dar, weil viele lebende Planeten bereits gestorben sind.«

Lovelock hat experimentelle Katastrophen aller Art über die Gänseblümchenwelt hereinbrechen lassen. Er hat seine imaginäre Welt einem Übermaß an Streß ausgesetzt, indem er die Stärke seiner computerisierten Sonne unerträglich erhöhte oder herabsetzte. Er hat die meisten seiner Gänseblümchen durch Seuchen oder Herden gefräßiger Kühe oder Meteoritenschauer vernichtet. Unabhängig von der Art der Katastrophe waren die Folgen immer dieselben. Der Thermostat dieser Welt versagte. Ihre Temperaturen begannen unkontrolliert zu fallen oder zu steigen.

 

 

 

»Das erinnert stark an Eiszeiten«, sagt Lovelock. Es sieht den gezackten Aufzeichnungen der Temperaturen des Planeten in den letzten drei Millionen Jahren sehr ähnlich, in denen wir öfter als fünfzigmal in rascher Folge Wechselbädern von kalt auf warm und umgekehrt unterworfen waren. Für Lovelock ist diese Ähnlichkeit zwischen der Gänseblümchenwelt und der Erde bedeutsam. 

Er vermutet, daß wir Menschen aus geologischer Sicht genau die falsche Zeit für unser globales Experiment erwählt haben. Wenn er die Gänse­blümchen­welt einer Belastung aussetzt, während die Sonne zu heiß ist, tanzen die Temperaturen noch rasch einen Jitterbug, und dann ist alles aus. Die Temperatur läßt jede Skala hinter sich. Alle Gänseblümchen sterben.

 

 

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The Next One Hundred Years / Die Klimakatastrophe / Von Jonathan Weiner