Start    Weiter  

4 - Die Natur schlägt zurück  (Taylor-1970)

  

1 Bevölkerungsexplosionen — 2 Schädlingsbekämpfung — 3 Aussterbende Tiere — 

4 Künstliche Seen: Wohltat oder Plage?  — 5 Die großen Kreisläufe — 6 Landwirtschaft im Nitratrausch — 7 Gefährliche Gase

 

87-116

Wenn man Adler schießt, so heißt es, lädt man sich eine Heuschreckenplage auf den Hals. Denn die Adler halten die Eidechsen in Schach. Wenn aber die Eidechsen überhandnehmen, nehmen die Frösche, von denen sich Eidechsen ernähren, ab. Wenn aber die Frösche abnehmen, vermehren sich die Heuschrecken, die sonst von den Fröschen gefressen werden.

Das Studium von Beziehungen dieser Art nennt man Ökologie.

Diese Geschichte mag Ökologenlatein sein, aber eine sehr ähnliche wahre Geschichte erzählte mir Professor LaMont Cole. In Malaysien verursachte der Versuch, die Malaria auszurotten, fast einen Pestausbruch und brachte mehrere Dächer zum Einsturz. Als man die malariaverbreitenden Moskitos besprühte, reduzierte man gleichzeitig die Zahl der Küchenschaben. Dadurch wurde aber auch die Zahl der Geckos vermindert, was wiederum die Zahl der Katzen reduzierte. Weniger Katzen aber bedeuten mehr Ratten und damit mehr pestübertragende Läuse. Also war es angezeigt, die Ratten durch Rattengift auszurotten. Doch wären dadurch die Läuse gezwungen gewesen, sich nach neuen Wirten umzusehen, was nach Lage der Dinge Menschen gewesen wären.

Glücklicherweise waren Mitglieder der Weltgesundheitsorganisation zur Stelle, und sie taten das einzig Richtige, was in dieser Situation möglich war: Sie setzten zusätzliche Katzen mit Fallschirmen ab, und die Pestgefahr war gebannt.

Was aber war mit den Dächern? Ein Nebeneffekt aller dieser <Hauptwirkungen> war, daß eine gefräßige Raupe, die auf den blattgedeckten Dächern lebte, sich ungewöhnlich vermehrte, vermutlich weil die Wespe, die sie normalerweise auffrißt, vom DDT mitdezimiert worden war. Vielleicht hatten auch die Geckos etwas damit zu tun. Jedenfalls fingen die Raupen, vom Wespenräuber befreit, an, kräftig loszukauen, bis die Dächer zusammenfielen.

Zweifellos gab es noch weitere Wirkungen, die man zwar nicht bemerkte, die aber für die betroffenen Tiere durchaus wichtig sein konnten. Alles in allem ein gutes Beispiel für das <Gleichgewicht in der Natur> oder, wie man heute sagt, für die Ökologie. Es gibt eigentlich in der Natur nicht nur ein einziges Gleichgewicht, vielmehr handelt es sich um viele Gleichgewichte, die alle sehr leicht gestört werden können, und daher ist die Natur ständig dabei, sie wiederherzustellen. Die Gefahren, die damit verbunden sind, wenn solche Gleichgewichte gestört werden, sind bislang kaum erkannt.

 

   1  Bevölkerungsexplosionen  

 

Im Jahre 1929 erreichten einige afrikanische Moskitos den Nordosten Brasiliens; sie waren wahrscheinlich auf einem französischen Zerstörer von Dakar herüber gekommen. Es kam zu einem schweren Ausbruch von Malaria; in der Hafenstadt erkrankten fast alle Einwohner, aber dann ebbte die Seuche ab. Während einiger weniger Jahre breiteten sich die Moskitos in aller Ruhe entlang der Küste und des Jaguaribe-Flusses aus, bis dann im Jahre 1937 eine Epidemie aufflammte, die bis 1938 und 1939 andauerte, Hunderttausende an Malaria erkranken ließ, schätzungsweise 20.000 Menschen tötete und das Leben auf dem flachen Land fast zum Stillstand brachte. Es war eine der schlimmsten Epidemien, die Brasilien je erlebt hatte. Die Gründe waren leicht zu durchschauen. Die einheimischen Moskitos vermehrten sich nur in den Wäldern und drangen nicht in Häuser ein. 

88/89

Die afrikanischen Moskitos dagegen vermehrten sich auch außerhalb der Wälder und drangen auch in Häuser ein. Man mußte eine 2-Millionen-Dollar-Kampagne starten — unterstützt von der Rockefeller-Stiftung und etwa 3000 gelernten Arbeitern —, um die tödlichen Besucher auszurotten. Eine Folge dieser Bemühungen war die Einführung einer Quarantäneinspektion von Flugzeugen. Diese Maßnahme erfolgte gerade noch rechtzeitig, um die afrikanische Tsetse-Fliege abzufangen, die die Schlafkrankheit überträgt und die heute noch auf Afrika beschränkt ist.

Von Bevölkerungsexplosionen dieser Art werden wir leider immer öfter zu hören bekommen, denn sie sind das Ergebnis sowohl eines immer dichteren Reiseverkehrs und Welthandels als auch der zunehmenden Schwierigkeiten einer wirkungsvollen Überwachung.

Zahlreiche andere Beispiele existieren. Die Krankheit der Eßkastanien erreichte die USA zu Beginn dieses Jahrhunderts; sie war mit jungen Baumpflanzen aus Asien eingeschleppt worden. 1911 hatte sie sich schon über 10 Staaten ausgebreitet, und man schätzte den Schaden auf 25 Millionen Dollar. Heute ist die Eßkastanie fast überall in den Vereinigten Staaten ausgestorben, und man unternimmt Versuche, an ihrer Stelle die Chinesische Kastanie einzuführen, die gegen Kastanienmehltau resistent ist. In der Zwischenzeit gelangte der Mehltau nach Spanien und Italien (dort wird die Chinesische Kastanie nicht wachsen können), und sicher wird er bald Großbritannien erreichen. Der Gesamtschaden läßt sich nicht abschätzen.

Ein weiteres Beispiel ist das Neunauge. Dieser Fisch erreichte den Eriesee im Jahre 1929, aber der See behagte ihm nicht. Bis 1937 war er durch den verschmutzten St.-Clair-Fluß zum Huronsee und zum Michigansee gekommen und 1946 sogar zum Oberen See. In diesen Seen <explodierte> er. Das Neunauge ist sowohl Jäger als Parasit. Es hängt sich an einen Fisch und preßt ihm einen Saft ein, der die Blutgerinnung stoppt. Es <rauht> dann sein Opfer an und saugt das Fleisch aus, bis der Fisch tot ist — ein Vorgang, der eine ganze Woche in Anspruch nehmen kann. Zehn Jahre nach dem Einfall der Neunaugen sank die Zahl der gefangenen Forellen von 8.600.000 Pfund auf knappe 25.000 Pfund ab, und auch andere Fischarten waren betroffen.


   90

Der große Ökologe Charles Elton, der diese und viele andere Geschichten in seinem bahnbrechenden Buch <The Ecology of Invasions by Animals and Plants> (Die Ökologie der Invasionen von Tieren und Pflanzen) erzählt, meinte:   wikipedia  Charles_Sutherland_Elton  1900-1991

»Wir leben in einer Periode der Weltgeschichte, in der die Durchmischung Tausender von Arten von Organismen aus den verschiedensten Teilen der Erde zu schrecklichen Verschiebungen führt. Wir sind Zeuge ungeheurer, weltweiter Verschiebungen von Populationsgleichgewichten.«

Und er fragt: »Wird es eine Verlorene Welt sein?«

Die Ökologen haben zwar entdeckt, warum es den afrikanischen Moskitos in Südamerika so gut ging, doch vermögen sie die Ursachen derartiger Explosionen zumeist nicht zu erklären. Warum, fragt Elton, wurde der Kartoffelkäfer erst 300 Jahre nach der Einführung der Kartoffel plötzlich zu einer Pest? Warum hat der Kiefernspanner plötzlich angefangen, schottische Kiefernwälder zu attackieren, obwohl er schon lange vorher dort vorkam? Ein anderes Beispiel: Das Myxomatose-Virus ist für seinen natürlichen Wirt in Brasilien, das Baumwoll­schwanzkaninchen, normalerweise ungefährlich, für westeuropäische Kaninchen erwies es sich dagegen als eine tödliche Gefahr. 

Oder noch komplizierter: Warum flammen Grippe- und Pestepidemien immer wieder auf, töten Tausende von Menschen und verlöschen dann wieder? Der Grippeepidemie von 1918 fielen 100 Millionen Menschen zum Opfer, und nicht einmal die Eskimos blieben verschont. Wer macht was bei wem, um eine solche Katastrophe auszulösen?

Elton meint, daß fast die Hälfte aller wichtigen Pflanzenseuchen der Vereinigten Staaten Importe aus Übersee sind: Einige breiten sich immer noch aus, andere haben gerade einen Fuß zwischen die Tür bekommen. Der Fadenwurm (Nematode), den man zuerst 1942 auf Long Island entdeckte, hat bisher nur 32 Quadratkilometer in Mitleidenschaft gezogen, aber Versuche, ihn auszurotten, waren ohne Erfolg.


   91

Als wären die Gefahren zufälliger Importe noch nicht genug, verursachen oft bewußte Experimente, neue Arten einzuführen, großen Ärger. Als die Russen beispiels­weise eine neue Störart in den Aralsee einsetzten, schleppte diese einen Parasiten ein, der den einheimischen Stören schwere Schäden zufügte.

Man glaubt heute immer mehr, daß Seuchen dadurch unter Kontrolle gebracht werden können, daß man die natürlichen Feinde importiert. Man nennt dieses Verfahren optimistisch <biologische Kontrolle>, als ob die Importeure genau wüßten, was sie eigentlich machen. Manchmal ist diese Methode allerdings sehr erfolgreich. Als die Blattläuse aus Australien die gesamte kalifornische Zitrusindustrie lahmzulegen drohten, konnte die Gefahr gebannt werden, indem man 139 Marienkäfer einer Rasse importierte, die diese Insekten auffressen: Die zahlreichen Nachkommen der Käfer lösten innerhalb weniger Jahre das Problem.

Aber nicht immer läuft es so glatt. Die riesige Achatschnecke war 1936 von Japan nach der Hawaii-Insel Maui gebracht worden; andere Arten importierte man von Formosa nach Oahu und hielt sie dort <aus ästhetischen Gründen> in einem Garten. Bald aber wurden sie eine Landplage, und im Jahre 1951, nachdem mehrere Versuche, sie wieder loszuwerden, fehlgeschlagen waren, entschloß man sich zur <biologischen Kontrolle>. Will man aber das ökologische Gleichgewicht verschieben, so tut man gut daran, zunächst einmal die Lebensgewohnheiten des <Jägers> zu studieren, den man einführen möchte.

Die zwei wichtigsten Schneckenräuber, die man importierte, um die Riesenschnecke loszuwerden, waren zwei weitere Schnecken, nämlich Gonaxis und Euglandina. Gonaxis nun vermehrte sich kräftig, aber sie griff die Achatschnecke nicht an, und man hatte nun zwei Landplagen. Euglandina fraß zwar die Achatschnecke auf, aber sie ließ es dabei nicht bewenden. Sie ist ein Baumkletterer, und sie zog auch prompt aus den Kalkstein­niederungen aus, in denen die Achatschnecke lebte, und begab sich in die Bergwälder und veranstaltete dort unter den ansässigen Baumschnecken ein Massaker.

Ein kompetenter Malakologe (Schneckenexperte) hatte sich gegen die Schneckenimporte ausgesprochen, aber man hatte nicht auf ihn gehört.


  92

Dr. Henry van der Schalle, Kurator an der Universität von Michigan, von dem ich diese Geschichte habe, kommentierte: »Auf die Dauer könnte es sich herausstellen, daß Euglandina schwieriger unter Kontrolle zu bekommen ist als Achatina, die Achatschnecke.« Aber dies ist nicht alles. Die Hawaii-Ratten hatten sich an den großen Achatschnecken gütlich getan, und ihre Zahl hatte kräftig zugenommen. Diese Ratten sind aber durch und durch mit einem Ratten-Lungenwurm verseucht, der, wie es sich jetzt herausstellt, eine schwere Gehirnerkrankung beim Menschen auslöst, die unter dem Namen eosinophile Meningoencephalitis bekannt ist. »Allein auf Formosa«, sagte Dr. van der Schalie, »wurden tausend Patienten registriert, die an dieser Krankheit leiden.«

Unverdrossen bereiten die Behörden gerade einen Angriff auf eine andere Schneckenart vor, die als Zwischenwirt der Erreger der gefährlichen Bilharziose oder, wie man auch sagt, Schistosomiasis fungiert. Als Parasit wurde eine Fliege aus der Familie der Sciomyziden ausgewählt, die ihre Eier in Schnecken ablegt. Niemand weiß aber, ob man sich auf diese Fliege verlassen kann und ob sie sich wirklich zur Bekämpfung gerade dieser Schneckenart eignet, ganz abgesehen davon, ob sie überhaupt in den Tälern bleibt, in denen man sie aussetzte.

Wie der große Naturforscher Dr. Harley van Cleave vor seinem Tod bemerkte: »Der Mensch hat sich überall eingemischt... Wie ein Anarchist genießt er den Schutz und die Vorteile der Gesetze, aber seine Aktionen zeigen nur Verachtung für gerade die Gesetze, die seine Zerstörung verhindern.«

Der Mensch — Schlittschuhläufer auf dünnem Eis — verschiebt tölpelhaft biologische Gleichgewichte und zündet so Bevölkerungsexplosionen. Gelegentlich aber versucht er ebenso blindlings, Tierarten auszurotten, die er nicht mag, mit Konsequenzen, die fast komisch anmuten.

 

   2  Gefahren der Schädlingsbekämpfung   

 

Wenn der Mensch Kartoffeln oder Getreide anbaut und optimale Erträge zu erzielen wünscht, versucht er, ein künstliches Ökosystem zu errichten. Aber da dieses System sich nicht mit den Ökosystemen seiner Umgebung im Gleichgewicht befindet, neigt es dazu, eines Tages zusammenzubrechen, wie die folgende Geschichte zeigt. Sie wurde von Gordon Conway, einem Mitglied der Landwirtschaftlichen Untersuchungsstation in der Provinz Sabah in Malaysia, berichtet.


  93

Kakao ist eine ziemlich neue Nutzpflanze in Sabah: Die ersten Pflanzungen hat man erst 1956 angelegt. Große Lichtungen wurden in die Wälder gehauen; nur wenige Bäume ließ man stehen, um den Kakaopflanzen Schatten zu geben. Fast unmittelbar danach erschienen mehrere Unterarten von <Astbohrer>-Larven bestimmter Motten zusammen mit einem winzigen <Bohrer>, der die Bäume ringförmig in der Nähe des Erdbodens attackierte. Bis zu 20 Prozent der unter zwei Jahre alten Bäume wurden getötet. 1959 wandte man Dieldrin und DDT in hohen Konzentrationen an. Die Bohrer sahen ein bißchen blaß aus, aber sie überdauerten. In der Zwischenzeit erschienen verschiedene blattfressende Blattläuse, Mehlwürmer und Raupen auf der Szene. Die Sprühkommandos kehrten zurück und fügten ihren ursprünglichen Waffen noch HCH (=Hexachlorcyclohexan], Bleiarsenat und farbloses Paraffinöl (Albolineum) hinzu. Alles in allem ein sehr schwerer Beschuß.

Die Astbohrer schienen jedoch geradezu davon zu leben: Bis 1961 wurde jeden Monat einer von sechs Bäumen frisch verseucht. Jetzt folgten auch noch zwei weitere blattfressende Raupen und außerdem <springende Larven>. Eine der Raupen hatte sich offensichtlich auf neue Kost umgestellt: Bisher hatte sie nur Kokosnüsse angebohrt. Alle diese Insekten wurden »außergewöhnlich zahlreich«, sagt Conway. 

»Die Larven vermehrten sich derart, daß die erwachsenen Tiere sich wie große Wolken von den Ästen erhoben, wenn sie aufgescheucht wurden. Im Juli kam es dann zur ernstesten Invasion: Diesmal kamen Sackwürmer verschiedener Arten (Raupen der Sackträger). Diese Sackwürmer bauen sich eine Tasche aus Seide und sitzen dann darin, nur der Kopf schaut heraus. Droht Gefahr, ziehen sie sich ins Innere zurück und machen den Deckel zu. Dies schützt sie sehr wirkungsvoll vor den Insektiziden und, da die Eier ebenfalls in solchen Taschen aufbewahrt werden, sind auch diese geschützt. Sie zeigten daher eine fast völlige Unempfindlichkeit gegenüber DDT, HCH, Dieldrin, Diazon und Dimethoat — ein glatter Sieg der Sackwürmer.


   94

Diese Tiere fressen nicht nur, um zu leben; sie zerkauen auch große Mengen von Blättern, um ihre Taschen zu bauen, und daher ist der Schaden, den sie anrichten, beträchtlich. Im Spätjahr 1961 gab es 28 Hektar kahler, sterbender Bäume, und die Seuche breitete sich weiter aus. Wütendes Sprühen warf einige Raupen aus dem Rennen, aber die Sackwürmer lachten. Man versuchte, sie voller Verzweiflung mit der Hand aufzulesen; doch diese Methode war unwirksam und außerdem viel zu teuer.

Um diese Zeit hatte jemand einen brillanten Einfall: Man solle doch mit dem Sprühen aufhören. Könnte es nicht sein, daß diese Breitspektrum-Insektizide die Jäger der Schädlinge viel wirkungsvoller außer Gefecht setzten als die Schädlinge selbst?

Fast sofort waren die Kakaobäume mit weißlichen Kokons übersät, als ungezählte Parasiten die Raupen angriffen, und schon im Juni war die Zahl der Raupen bis zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. Im April und Mai wurde es klar, daß auch die springenden Larven sich auf dem Abmarsch befanden; im August waren sie gegangen, und im gleichen Monat konnte man einen Rückgang der Astbohrer registrieren. Beim Öffnen einiger Bohrlöcher stellte man fest, daß eine Wespe den Astbohrern nachstellte. Ende des Jahres hatte auch ihr Stündlein geschlagen.

Dadurch wurden genügend Arbeitskräfte freigesetzt, und man konnte die >Ringrindenbohrer< individuell behandeln, indem man in ihre Tunnel direkt Dieldrin injizierte. Zur gleichen Zeit entdeckte man, daß die Bohrer von ganz bestimmten, schwerverseuchten Wäldern herüberkamen. Daraufhin wurden jene Wälder gezielt zerstört, und durch diese beiden Maßnahmen rottete man die Landplage aus. Verschont geblieben waren bis jetzt aber immer noch die hübschen kleinen Sackwürmer. Man fand jedoch ein genügend selektives Insektizid, das etwa 75 Prozent abtötete, und so konnten die Bäume wieder neue Blätter ansetzen. 1963 konnte man auch diese Behandlung aufgeben, denn in der Zwischenzeit hatte eine schmarotzende Fliege begonnen, sie in Schach zu halten. 

 

In den folgenden fünf Jahren, bis zu Conways Bericht, trat keine der Seuchen wieder auf. Aufgrund dieser Erfahrungen drängte man die benachbarten Plantagen, ebenfalls die Sprühaktionen einzustellen — mit dem gleichen Erfolg. Nur auf einer Plantage, wo man an den Sprühmethoden festhielt, wurde man die Schädlinge nicht los.


   95

Wie Conway zwar recht zurückhaltend sagte: «Meine Erfahrungen und die anderer Entomologen auf Malaysia legen den Gedanken nahe, daß es nicht in jedem Fall sehr nützlich ist, wenn man sich auf die modernen Pestizide verläßt, wie dies in immer größerem Umfang geschieht.«

Wie diese Geschichte zeigt, kann man sich sehr leicht Unannehmlichkeiten einhandeln, wenn man größere Gebiete mit einer einzigen Nutzpflanze bebaut: Monokultur kann gefährlich sein. Wenn dort ein Schädling eindringt, ist es wahrscheinlich, daß er sich schnell verbreitet und großräumigen Schaden anrichtet. Wenn die angebauten Pflanzen wichtige Grundnahrungsmittel abgeben, wie Reis oder Weizen, dann kann es zu einer Hungerkatastrophe kommen. Es ist geradeso, wie wenn jemand alle seine Eier in einen einzigen Korb legt. Die Moral von der Geschicht' läßt sich auch etwas allgemeiner und wissenschaftlicher formulieren: Vereinfache deine Ökosysteme nicht allzusehr!

Die meisten Leute leben immer noch in der Illusion, daß man eine Schädlingsinvasion — oder auch eine menschliche Krankheit — ausrotten kann, ohne irgendwo irgendwelche negativen Reaktionen dadurch zu provozieren. Sie sehen einfach nicht ein, wie sehr unsere Welt, in der wir leben, aus einem >Netz< der vielfältigsten Beziehungen besteht.

Israel hat in jüngerer Zeit ein weiteres Beispiel beigesteuert. Künstliche Oasen in der Wüste, die mit Hilfe von künstlichen Bewässerungssystemen den Anbau von Pfirsichen, Weintrauben und anderen Früchten erlauben, haben auch neue Probleme geschaffen. Ihre feuchtwarme Umgebung hat verschiedene zuvor bedeutungslose Insekten zu wichtigen Schädlingen avancieren lassen.

Vor der Einführung der Bewässerung zog man Zwiebeln aus Samen, die spät im Jahr ausgesät wurden. Zwiebelfliegen fanden daher, wenn sie aus ihren Puppen schlüpften, keinen Platz, um ihre Eier abzulegen, es sei denn, sie waren im Dezember oder im Januar geschlüpft. Nach Einführung der Bewässerung aber säte man schon im September und Oktober die Zwiebelsamen aus, mit dem Ergebnis, daß die Zwiebelfliegen jetzt immer schöne weiche Pflänzlinge fanden, um ihre Eier abzulegen.


   96

Schlimmer ist der rote Kürbiskäfer: Seine Larven greifen die Wurzeln junger Kürbispflanzen an, während die geschlüpften Käfer sich über die jungen Blätter hermachen. Ganze Felder können so zerstört werden, und dies oft genug kurz vor der Ernte. Kürbispflanzen werden heute unter Bewässerungsanlagen gezogen, was dem Kürbiskäfer besonders behagt, denn seine Eier brauchen Feuchtigkeit, um sich zu entwickeln. Seine Larven mögen dann die große Feuchtigkeit nicht mehr, sie wandern deswegen von den Wurzeln fort und tun sich statt dessen an den Früchten gütlich.

Die Maisfliege, die einst geradezu willkommen war, weil ihre Larven Heuschreckeneier auffressen, legt ihre Eier ebenfalls gerne an feuchten Plätzen ab und war, solange man die Landwirtschaft noch trocken betrieb, kein Problem. Vielerorts kannte man sie so gut wie gar nicht. Heute ist sie zum Status einer größeren Landplage aufgestiegen.

 

Ich zitiere diese Beispiele, um zu zeigen, wie empfindlich Ökosysteme sind und wie leicht Bevölkerungsexplosionen unter Schädlingen ausgelöst werden können. Darauf hinzuweisen scheint mir aus zwei Gründen dringend notwendig: Einmal wendet sich die internationale Landwirtschaft immer mehr einer intensiven Nahrungsmittel-produktion zu, und gerade deren Methoden sind besonders risikoreich. Zum andern sollte man sich immer wieder vor Augen halten, wie wenig wir die Folgen voraussagen können, wenn wir Menschen in unsere Umwelt eingreifen.

Man hat festgestellt, daß in Regenwäldern keine Bevölkerungsexplosionen von Insekten vorkommen. Der Grund dürfte darin liegen, daß es dort immer eine große Zahl verschiedener Jäger und Parasiten gibt, die bereit sind, mit einer bestimmten Art, die sich anschickt, besonders zahlreich zu werden, den Kampf aufzunehmen. Ein Fall, der diese Theorie stützt, wurde in Malaysia bekannt, und zwar der Fall des sogenannten Tsutsugamushi-Fiebers (Milbenfleckfieber), das dem Menschen gefährlich geworden war. Der für diese Krankheit verantwortliche Erreger wird von einer Tierart weitergegeben, die das Gras (Lalang) bewohnt, das für das Decken von Dächern herangezogen wird.


   2  Gefahren  97

Wo der Wald gerodet wird, beherrscht Lalang die ganze Vegetation. Im Wald dagegen werden die Organismen, die das Milbenfleckfieber weiterverbreiten, immer kurz gehalten.

Typisches Beispiel einer vereinfachten Pflanzen- und Tiergemeinschaft ist der Obstgarten, aus dem alle anderen Pflanzen als Obstbäume ausgejätet, die Insekten totgesprüht und die größeren Tiere durch Zäune ferngehalten werden. Um die Spanner loszuwerden, sprühte man DDT, aber dadurch wurde die Rote Milbe zum weltweiten Problem. Ungepflegte Gärten kennen dieses Problem auch heute noch nicht. Eine nähere Untersuchung hat erwiesen, daß diese Milbe nicht weniger als 45 natürliche Feinde besitzt, die alle durch das Spritzen getötet werden.

Daher wurde in jüngster Zeit vorgeschlagen, man solle doch die natürliche Vielfalt künstlich wiederherstellen. So hat man in Kalifornien, wo die Blattläuse im Sommer in den Obstplantagen zu Tausenden auftreten, versucht, die Taubnessel, die ihnen als Nahrung dient — und die zuvor sorgfältig ausgejätet worden war —, absichtlich wieder einzuführen. 

Die Logik ist folgende: Wenn die Läuse sich auf diesen Pflanzen vermehren können, fangen sie damit schon früher im Jahr an und geben ihren natürlichen Feinden dadurch eine bessere Chance. 

Kurz gesagt, die meisten unserer Schädlingsprobleme haben wir uns selber zu verdanken. Wenn wir Ökosysteme vereinfachen, indem wir unerwünschte Arten entfernen, geschieht es auf unsere Gefahr hin. Wir können dabei mehr verlieren als gewinnen. Unsere Umwelt ist viel feinnetziger und ökonomischer organisiert, als wir es ihr in unserer Arroganz zugestehen wollen.

 

    3  Aussterbende Tiere    

 

Es gibt eine Million verschiedener Insektenarten, und niemand würde die Vernichtung einiger weniger Arten bemerken, wenn sich nicht daraus offensichtliche ökologische Konsequenzen ergäben. Die Sache sieht aber bei den größeren Tieren, vor allem bei den größeren Säugetieren, ganz anders aus. Man kann sie relativ leicht ausrotten.

98/98

Um 1700 gab es in den amerikanischen Prärien 60 Millionen Büffel. Die Indianer jagten sie, aber nicht so intensiv, daß ihre Zahl merklich abgesunken wäre. Dann aber kam der weiße Mann mit seinen Gewehren, und um 1900 waren nur einige Dutzend übriggeblieben. Es lag allerdings weniger an den Gewehren als an fehlendem Respekt gegenüber der Natur. Die Indianer hatten getötet, wenn sie einen Büffel brauchten; der Weiße tötete als Sportsmann. Wettschießen wurden veranstaltet, und die Leute stellten Rekorde auf, wieviel Büffel sie an einem Tag erlegen konnten. Buffalo Bill erhielt seinen Namen auf Grund hervorragender Leistungen bei solchen Wettbewerben; seine Bestleistung wird mit 250 Büffeln angegeben, die er an einem einzigen Tag schlachtete. Manchmal zog man das Fell ab, manchmal riß man die Zunge aus, meistens aber ließ man die Kadaver einfach verrotten.*

Beim Vogelfangen ließen sich noch sehr viel eindrucksvollere Rekorde erreichen. In Michigan wurde innerhalb eines Jahres eine Milliarde Wandertauben abgeschossen. Bei einer anderen Gelegenheit wurden an einem einzigen Tag und Ort 7 Millionen dieser Vögel erlegt. 1914 war die Art ausgestorben.

Heute arbeiten wir nicht mehr in diesen Größenordnungen. Doch der Polarbär ist ebenfalls dank sportlicher Jagdpartien in Gefahr. Auch schießt man ihn bedenkenlos ab, wenn er sich menschlichen Lagerplätzen nähert, obwohl er bekanntlich Menschen ohne Provokation nicht angreift. (Hin und wieder wird zwar von solchen unprovozierten Attacken berichtet, aber bei näherer Untersuchung erweisen sich diese Vorwürfe als unbegründet. Sie dienen vielmehr als Legitimation zum Töten.) Die Schildkröte ist aus ganz anderen Gründen in Gefahr geraten: sie ist zu nützlich. Ihr Fleisch, ihr Panzer, ihre Eier, alles ist begehrt.

* Es ist allerdings ein offenes Geheimnis, daß nicht nur spielerischer Sportsgeist den Büffeln zum Verhängnis wurde, sondern auch gezielte Bevölkerungspolitik. Es war deshalb eine lohnende Aufgabe, einen Büffel mehr zu erlegen, weil man damit den Indianern die Existenzgrundlage entzog. Ein toter Büffel war fast so gut wie ein toter Indianer (AdÜ).


  99

Vinzenz Ziswiler, ein Schweizer Ökologe, nennt in seinem Buch <Bedrohte und ausgerottete Tiere> etwa 150 Arten, von denen man weiß, daß sie in den letzten drei Jahrhunderten eingegangen sind. Auf der Liste stehen der Auerochse (1627), der Dodo (17. Jahrhundert), die indische rosaköpfige Ente (1940). Es gibt viele Gründe, warum Tiere aussterben: Der Sittich von Tahiti mußte daran glauben, weil sein Wohngebiet (Habitat) durch Entwässerungsmaßnahmen verändert worden war. Die neuseeländische Wachtel erlag Krankheiten, die die Siedler eingeschleppt hatten. Der tasmanische Wolf wurde gejagt, weil man ihn für ein Raubtier hielt — dabei ist er noch nicht einmal ein Fleischfresser, sondern ein Beuteltier wie das Känguruh. Der Nachtkiwi wurde durch Wiesel ausgerottet, die man eingeführt hatte, um die neuseeländische Fauna zu bereichern. Schomburgks Hirsche wurden aus religiösen Gründen in Thailand gejagt.

Es ist zu spät, noch irgend etwas für diese 150 ausgestorbenen Arten zu tun; sehr wohl aber könnten wir etwas für die 240 Arten unternehmen, die heute vom Aussterben bedroht sind. Dazu gehören das Baktrische Kamel (400 Überlebende), die afrikanische Oryx-Antilope (200), der Sumatra-Elefant (100), das Kap-Zebra (81), der japanische Kamm-Ibis (12), die Everglade-Gabelweihe (4-5), der Bali-Tiger (3-4) und andere, von denen man keine genauen Zahlen hat.

Nicht nur Tiere, sondern auch viele Pflanzen sterben aus. Allein in England sind etwa 300 Arten in höchster Gefahr. Am ernstesten ist die Lage auf Inseln, auf denen Pflanzen wachsen, die sonst nirgends vorkommen. Auf den Hawaii-Inseln zum Beispiel kommen 95 Prozent der heimischen Pflanzen nur dort vor, aber viele von ihnen stehen kurz vor dem Aussterben. Man kann heute durchaus seine Ferien auf Hawaii verbringen, ohne je eine echte Hawaiipflanze zu Gesicht zu bekommen. Die Philip-Insel im westlichen Pazifik ist jetzt völlig leer gewaschen; lediglich in den Tälern konnten sich noch einige Pflanzen behaupten. Als Captain Cook sie im Jahre 1774 entdeckte, war sie überall mit Pflanzen überzogen. Es gab dort drei nur auf dieser Insel vorkommende Arten, von denen man eine, die glorreiche Erbse, seit 1805 nicht mehr gefunden hat. Seit ein paar Jahren ist von den beiden anderen Arten nur eine übriggeblieben, von der es noch einige wenige Büsche gibt.


  100

Sammler sind wahrscheinlich die größte Gefahr vor allem für Orchideen und Succulenten. Viele seltene afrikanische Orchideen sind fast verschwunden. In England existiert der Frauenschuh (ebenfalls eine Orchidee) nur noch an einer geheimen Stelle. Anders als in Deutschland oder in Österreich gibt es in Großbritannien keinen gesetzlichen Schutz für seltene Pflanzen.

Macht es denn wirklich so viel aus, wenn der Mensch ganze Arten von unserem Planeten verschwinden läßt? Die Evolution macht schließlich auch verrückte Sprünge, und viele Arten sind nur noch für naturkundliche Museen von Interesse. Aber neben den zweifelsohne ins Gewicht fallenden ästhetischen Gründen, eine üppige und abwechslungsreiche Flora und Fauna zu erhalten, gibt es sehr wohl auch praktische Gründe. Pflanzen haben oft einzigartige Eigenschaften, wie zum Beispiel die sogenannten Arzneipflanzen

Von den aussterbenden Tieren gälte es noch viel zu lernen: So kann die Oryx-Antilope unbegrenzt ohne Trinken auskommen, und sie könnte daher als Protein­quelle in trockenen Gebieten wichtig werden, wenn die explodierende Weltbevölkerung auch in diese unwirtlichen Gebiete eindringt. Wer weiß, was die Menschen in der Zukunft für Bedürfnisse haben? Aber abgesehen davon erscheint es als reine Torheit, den Vorrat an genetischen Varianten einfach zu dezimieren, den die Natur so mühevoll über Millionen von Jahren aufgebaut hat.

 

    4  Künstliche Seen: Wohltat oder Plage?  

 

Die Ketten von Ursache und Wirkung können sehr lang und kompliziert sein. Einige der schlimmsten Beispiele dafür, wie die Natur zurückschlagen kann, liefern die großen künstlichen Seen wie der Assuanstaudamm oder der Karibadamm mit ihren Kraftwerken.

Die augenfälligste und auch überraschendste Konsequenz des Dammbaus am Assuan war der Zusammenbruch der Sardinenfischerei im Mittelmeer. Das Mittelmeer ist arm an Nährstoffen, mit Ausnahme seiner östlichen Teile, wo der Nil seine reichen Ladungen an fruchtbarem Schlamm ablädt. 


100/101

Die ägyptische Sardinenindustrie verarbeitete 18.000 Tonnen im Werte von 7 Millionen Dollar; Sardinen machten fast die Hälfte aller Fischfänge im Mittelmeer aus. Jetzt aber hält der Assuanstaudamm die Schlammassen zurück, und die Sardinenindustrie liefert nur noch etwa 500 Tonnen, während der Export an Fischereiprodukten allgemein innerhalb der ersten vier Jahre nach Vollendung des Assuanstaudammes auf die Hälfte abfiel.

Ein großer Teil der ägyptischen Fische kommt aus den fünf großen Brackwasserseen, die vom eigentlichen Mittelmeer durch Sandbänke abgetrennt sind. Hier leben 19.000 Menschen, die in flachen Becken Fische aufziehen, um sie dann in die Seen auszusetzen. Der größte von ihnen, der Burullus-See, lieferte pro Jahr 15.000 Tonnen Fisch. Die Fangausbeuten sinken, seit Unkrautvertilgungsmittel (Herbizide), Insektizide und Kupfersulfat in die Seen gespült werden. In den letzten Jahren zeichnet sich eine noch viel ernstere Gefahr ab: Die Sandbänke verschwinden langsam, seit der Nil nicht mehr seine Schlammassen in dieser Gegend absetzt. Irgendwann einmal werden sich die Sandbänke öffnen, und die Seen werden verschwinden.

Die Sardinenflotte versucht, sich der neuen Lage anzupassen, und fischt jetzt nach Hechtdorschen und anderen Fischen, während die Regierung voller Verzweiflung zwei Hochseekutter gekauft hat, die vor der Küste Ostafrikas fischen sollen. Trotz alledem wird der jährliche Verlust sich auf 20 Millionen Dollar belaufen. Im Frühjahr 1970 wurde berichtet, daß der erhöhte Salzgehalt des Mittelmeeres die Fischerei im gesamten Mittelmeerraum ungünstig beeinflußt, und deshalb könnten die endgültigen Verluste sehr viel höher liegen, als man jetzt annimmt.

Das Ausbleiben des Nilschlamms hat zur Konsequenz, daß man im einst so fruchtbaren unteren Niltal jetzt künstliche Düngemittel einsetzen muß. Die Regierung mußte Düngemittelfabriken bauen und einen Teil der vom Assuanstaudamm erzeugten Energie zu ihrem Betrieb abzweigen. Der Damm soll im Laufe der Zeit zusätzliche 8000 Quadratkilometer für die Landwirtschaft erschließen. Es gibt allerdings enorme Wasserverluste durch Verdunstung aus dem 200 Meilen langen Assuan-See, der durch den Assuanstaudamm aufgestaut wird, sowie durch die zahllosen neuen Bewässerungsgräben.


  102

Die Verluste sind größer als die vom Vorgängerdamm insgesamt aufgestaute Wassermenge. Man hat ausgerechnet, daß insgesamt weniger Wasser zur Verfügung steht als zuvor, von den Sickerverlusten ganz abgesehen. Zugegeben, das Wasser wird dort zur Verfügung stehen, wo man es braucht, aber nur das Schwemmland entlang der Flußufer ist fruchtbar; in geringer Entfernung vom Fluß beginnt nach wie vor die Wüste. Dr. A. A. Ahmed, früher technischer Berater beim ägyptischen Ministerium für öffentliche Bauvorhaben, soll gesagt haben: »Die Verdunstungsverluste scheinen so groß zu sein, daß der Bau des großen Dammes von zweifelhaftem Vorteil war, wenn nicht sogar gefährlich.« Ahmed glaubt, daß schon in den ersten zwanzig Jahren nach dem Dammbau das ganze zufließende Wasser versickern könnte, während er für die nächsten zehn Jahre mit einem Verlust von 70 Prozent rechnet. Den Wadi Rayan aufzufüllen wäre seiner Ansicht nach billiger und ebenso wirkungsvoll gewesen.

Eine noch ernstere Konsequenz dieses Unternehmens betrifft die Ausbreitung einer abstoßenden Krankheit, die in Afrika Bilharziose genannt wird und anderswo auch unter dem Namen Schistosomiasis bekannt ist. Diese Krankheit wird durch einen Blutegel verursacht, der in einer Schnecke lebt, aber seine Eier auch in Menschen ablegt. Die Eier werden zunächst ins Wasser abgegeben, entwickeln sich dort zu Larven, die in die Schnecken eindringen. Dort werden sie zu gabelschwänzigen Würmern, die sich an Menschen anheften, die in das verseuchte Wasser gehen; sie bohren sich durch die Haut und begeben sich zur Leber, wo sie weitere Eier legen.

Heute, wo die Malaria weitgehend unter Kontrolle gekommen ist, wurde Bilharziose zur am weitesten verbreiteten Seuche der Welt mit etwa 114 Millionen erkrankten Personen.

In Ägypten ist die Krankheit schon erschreckend verbreitet, und zwar deshalb, weil die Exkremente ganz allgemein direkt in die Flüsse geleitet werden und weil überall Wasserleitungen fehlen. Die Menschen gehen auch oft in die Flüsse, um sich zu waschen oder zu baden, um Tiere zu tränken, und dabei werden sie immer wieder angesteckt. Seit den Tagen der Pharaonen kennt man diese Seuche.


  103

Heute rechnet man, daß in Unterägypten etwa 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sind; manche Dörfer sind bis zu 100 Prozent verseucht. Die Lebens­erwartung für Frauen beträgt dementsprechend nur 27 Jahre, für Männer 25 Jahre. Die Geschwindigkeit, mit der die Eier produziert werden, ist phantastisch. Dr. C. H. Barlow, der sich 1944 aus wissenschaftlichen Gründen absichtlich infizierte, produzierte 30.000 Eier pro Tag. Er wurde schwer krank und konnte nach anderthalb Jahren nur deswegen geheilt werden, weil er sich einer Behandlung unterzog, die so unangenehme Nebenwirkungen hat, daß die meisten Leute sich weigern, sie zu Ende zu führen.

Das warme, langsam fließende Wasser der Bewässerungsgräben bietet ein ideales Milieu für die Wirtschnecke und begünstigt außerdem eine Krankheitsform, die zu schweren Darmschäden führt. Daher folgt der Ausbreitung der Bewässerungskanäle die Bilharziose auf dem Fuß. Darüber hinaus hält man jetzt die Gräben das ganze Jahr über voll Wasser; früher trockneten sie im Winter aus, und die Kälte tötete einige der Schnecken ab. Dr. Henry van der Schalie meinte, daß die Ausbreitung der Bilharziose sehr wohl alle Vorteile des 1,3-Milliarden-Dollar-Unternehmens überwiegen könnte. 

Die Krankheit verursacht extreme Müdigkeit und Gleichgültigkeit, mit dem Effekt, daß die landwirtschaftliche Produktion absinkt statt zuzunehmen. Heute gibt es immer noch kein Heilmittel — die Kur, der Barlow sich unterzogen hatte, ist fast noch gefährlicher als die Krankheit selbst —, und es ist außergewöhnlich schwierig, die Wirtschnecke auszurotten. Man kann Kupfersulfat in die Gräben kippen, um sie abzutöten, aber wenn nur eine überlebt, wird sie sehr rasch den ganzen Distrikt neu bevölkern. Van der Schalie hat an einem solchen Experiment teilgenommen. Vierzig Tonnen Kupfersulfat wurden mit einem Kostenaufwand von 13.000 Dollar eingesetzt. Im nächsten Jahr gab es zwar nur halb so viele Schnecken, doch die Zahl der Infektionsherde war gleich geblieben, und im Jahr darauf hatten sie ihre alte Zahl wieder erreicht.

Unterägypten wurde schon immer von dieser Plage heimgesucht, während der Sudan relativ frei davon war. Wenn nun die neuen Bewässerungskanäle gebaut werden, wird diese Krankheit sich wahrscheinlich auch nach Oberägypten ausweiten.


   104

Willard Wright, ein führender Parasitologe, schrieb 1951: 

»Man schätzt, daß die Bilharziose dem Land jährlich 20 Millionen Pfund kostet. Die Arbeitskraft der Bevölkerung ist um ein Drittel reduziert. Alle Schwerarbeiten werden von Leuten aus Oberägypten ausgeführt, wo diese Krankheit nur sehr selten auftritt. In den letzten 20 Jahren wurden bei der Musterung 22 Prozent der Rekruten aus Unterägypten wegen physischer Mängel zurückgewiesen, während nur 3 Prozent der Kandidaten aus Oberägypten ausscheiden mußten. Man glaubt, daß daran einzig und allein die hohe Bilharzioseverseuchung in Unterägypten schuld ist.«

Natürlich ist Ägypten nicht das einzige betroffene Gebiet. Bilharziose breitet sich auch im Karibagebiet aus. Ein kleines Bewässerungsprogramm im Sambesital führte zu Infektionen mit ungewöhnlichen Symptomen wie Lähmungserscheinungen und Gehirnveränderungen. Rhodesien hat daher diese Art von Bewässerungssystem so gut wie aufgegeben. »Die jungen Länder Afrikas müssen alle mit einer erschreckenden Ausweitung der Bilharzioseverseuchung rechnen«, sagt van der Schalie.

Die großen Dämme verdanken ihr Entstehen allzuoft einem übertriebenen technologischen Optimismus sowie dem Gefühl, daß die gigantischen Bauwerke nationales Prestige verleihen. Die Auswirkungen sind am schlimmsten, wenn es sich um Einzweckdämme handelt, die beispielsweise nur elektrische Energie produzieren, wie im Fall des Karibadammes, dem größten künstlichen See der Erde.

Die Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung wurden sehr oft vernachlässigt, es sei denn, daß politisch einflußreiche Kreise betroffen waren. Der künstliche Karibasee überflutete Anschwemmgebiete, auf denen lokale Stämme eine für ihren Lebensunterhalt ausreichende Landwirtschaft betrieben, deren Erträge aber zu gering waren, als daß sie im Bruttosozialprodukt des Landes erschienen. Daher kümmerten sich die Planer nicht um den Verlust dieser Landwirtschaft. Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um einen echten Verlust, denn wie Professor Thayer Scudder, der diese Gegend studierte, erläutert, wird sich im Falle einer Hungersnot der zusätzliche Ausfall erheblich bemerkbar machen.


  105

Der Abfluß des Wassers aus diesem Damm wurde von den Ingenieuren reguliert, ohne irgendwie die Bedürfnisse der Anlieger zu berücksichtigen, die um Selbstversorgung bemüht waren. In den ersten drei Jahren, als der See sich füllte, kam überhaupt kein Wasser, und die Leute begannen, niedriger gelegene Felder anzubauen. Diese wurden dann im April 1962 innerhalb eines Tages überflutet. Eine lokal begrenzte Hungersnot brach in den Gebieten aus, in denen man die seegeschädigten Stämme wieder angesiedelt hatte. Im folgenden Jahr wiederholten sich die Mißstände regelmäßig. Nur in der Trockenzeit, wenn man für Wasser dankbar gewesen wäre, sank der Wasserspiegel des Flusses, und das Getreide wurde von der Hitze ausgedörrt. Hätte man aus dem Stoff eine Komödie geschrieben, wäre sie sicher sehr lustig geworden.

»Es ist kaum vorstellbar, daß die Verantwortlichen, die den Durchfluß des Wassers durch den Damm regulierten, der stromabwärts gelegenenen Landwirtschaft noch größeren Schaden hätten zufügen können«, kommentiert Professor Scudder. Die plötzlichen Fluten spülen den Boden am Flußufer mit sich weg, und man rechnet, daß in zehn bis fünfzehn Jahren nicht einmal genug Erde da sein wird, um die ansässige Bevölkerung zu ernähren. In jedem Fall aber können die ausgesiedelten Stämme in den neuen Siedlungsgebieten nicht ein ausreichendes Auskommen finden, und eine Verknappung der Nahrungsmittel deutet sich bereits an.

Die Moral auch dieser Geschichte: Übereinfache Lösungen, die uns die moderne Technologie anbietet, können nicht die komplizierten, natürlichen Systeme ersetzen. Krankheit und Leiden für Millionen von Menschen sind oft die direkten Folgen.

 

   5  Die großen Kreisläufe  

 

Die Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Tieren, die wir bisher betrachtet haben, stehen gleichfalls in engem Zusammenhang zum Boden, zum Klima, zum Wasser und zur Atmosphäre. Die Gesamtheit all dieser Beziehungen nennen wir ein Ökosystem.

105/106

Wir glauben allzu gern, daß Wasser, Erde und Luft einfach da sind und zu unserer Verfügung bereitstehen, denn ihre Veränderungen spielen sich in einem ganz anderen Zeitmaßstab ab als unser kurzes menschliches Leben. In Wirklichkeit aber stehen auch sie über eine ganze Reihe von Reaktionen miteinander in Verbindung. Felsmassen werden durch vulkanische Kräfte an die Erdoberfläche gehoben, sie verwittern an der Luft und bilden zusammen mit organischen Resten schließlich unseren Boden. Der Boden wird dann wieder von Flüssen ins Meer geschwemmt, wo er im Laufe der Zeit erneut zu Felsen zusammen­gepreßt werden kann und so weiter.

Von den vielen Kreisläufen sind für uns zwei besonders wichtig, und zwar jene, die für den Nachschub von Sauerstoff und Stickstoff in der Luft sorgen, ohne die Leben unmöglich wäre.

Wenn wir Sauerstoff einatmen, atmen wir ihn als Kohlendioxyd wieder aus, das heißt wir verknüpfen zwei Sauerstoffatome mit einem Kohlenstoffatom. Ähnlich wird Sauerstoff <verbraucht>, wenn irgendwo ein Feuer brennt, wobei natürlich auch das Verbrennen von Öl oder Benzin in Motoren eingeschlossen ist. Vor dem Industriezeitalter wäre in etwa 10.000 Jahren aller Sauerstoff verbraucht worden, wenn er nicht ständig wieder ersetzt worden wäre. Nicht aller Sauerstoff wird verbrannt. Ein Teil verbindet sich mit Mineralien und Metallen, wie es jedermann bei der Rostbildung an Eisen beobachten kann. Rost ist nichts weiter als Eisenoxyd, also Sauerstoff verknüpft mit Eisenatomen.

Der einzige Grund, warum uns der Sauerstoff nicht ausgeht, ist die Tatsache, daß Pflanzen — im Gegensatz zu Tieren — Sauerstoff ausatmen; sie atmen Kohlendioxyd ein und behalten den Kohlenstoff zurück. Die Treibpflanzen der Meere — das sogenannte Phytoplankton — steuern 70 Prozent unseres Sauerstoffs bei, der Rest kommt von Landpflanzen, vor allem von Bäumen, die beträchtlich mehr Kohlendioxyd verarbeiten als eine gleichgroße Grasfläche. (Ein klein wenig Sauerstoff wird durch direkte Einwirkung des Sonnenlichtes in der oberen Atmosphäre aus Wasser entwickelt, aber diese Mengen spielen keine Rolle.)

Die Atmosphäre ist daher erstaunlicherweise ein biologisches, von Lebewesen erzeugtes Produkt: Würde alles Leben aufhören, so würde der Sauerstoff allmählich verschwinden und die Atmosphäre wieder zu einem primitiven Zustand zurückkehren. Dies führt zu dem paradoxen Schluß: Die Erde ermöglicht Leben nur, weil es auf ihr Leben gibt — oder, pointierter, Leben erhält Leben. (Umgekehrt kann man sagen: Planeten wie der Mars haben deshalb keine Atmosphäre, die Leben ermöglicht, weil es dort kein Leben gibt, das zu unterhalten wäre.)


   107

Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, greift der Mensch in diese Zusammenhänge zerstörerisch ein. Aber zuvor sollten wir über ein anderes Element der Atmosphäre sprechen, das zwar ebenso wichtig für den Menschen ist wie der Sauerstoff, aber viel weniger diskutiert wird: Stickstoff.

Stickstoffmangel bedeutet menschliche Armut. Viele der Moleküle, die den Körper aufbauen, enthalten Stickstoff: Proteine und damit Enzyme, Hormone, Vitamine und auch die Nucleinsäuren, die Wachstum und Entwicklung kontrollieren. Je mehr die Weltbevölkerung zunimmt, um so mehr wird die Stickstoffversorgung zum kritischen Faktor; Stickstoffmangel wird zur Hauptursache von Hungersnöten.

Etwa vier Fünftel der Atmosphäre ist Stickstoff. Das ist eigentlich sehr merkwürdig, denn nirgendwo sonst findet man Stickstoff in nennenswerten Mengen. Gewöhnlich verbindet er sich mit Sauerstoff entweder zu Nitriten (zum Beispiel NaNO2) oder zu Nitraten (zum Beispiel NaNO3) oder aber er verbindet sich mit Wasserstoff zu Ammoniak (NH3). Der Name Ammoniak stammt von Jupiter Ammon, dessen Tempel in alten Zeiten unverkennbar nach Ammoniak dufteten, das aus dem Mist der Kamele frommer Wallfahrer entstand.

Das einzige, was den Stickstoff in der Atmosphäre wieder ersetzt, sind bestimmte hochspezialisierte Algen und denitrifizierende Bakterien. Sie nehmen Nitrate auf und geben Stickstoff ab — auch der Atmosphärenstickstoff hängt von Lebewesen ab.

Pflanzen und Tiere benötigen Stickstoff, um Aminosäuren zu produzieren, aus denen die Proteine aufgebaut sind (grob gesprochen sind Fleisch oder Muskeln Proteine). Pflanzen beziehen ihren Stickstoff von bestimmten nitrifizierenden Bakterien, die auf den Wurzeln leben und den Stickstoff verfallener pflanzlicher Materie wieder in eine verwertbare Form überführen, und natürlich von stickstoffhaltigen Düngemitteln. Tiere füllen ihren Stickstoffbedarf, indem sie Pflanzen oder Tiere fressen, die ihrerseits wieder Pflanzen fressen. Zum Glück sind die nitrifizierenden Bakterien zahlreich, sonst wären wir alle tot.


       108

Wenn Pflanzen oder Tiere sterben, verwandeln bestimmte Bakterien die Überreste in Aminosäuren und andere Rückstände. Dann überführen andere Bakterien diese Reste in Ammoniak (daher der Geruch bei Jupiter Ammons Tempel). Wieder andere Bakterien wandeln Ammoniak in Nitrite um, und eine sechste Gruppe von Bakterien verwandelt diese Nitrite schließlich in Nitrate zurück, die die Pflanzen wieder aufnehmen können. Der Stickstoff wandert daher in einem Kreislauf von Pflanzen zurück zu Pflanzen, und überall sind Bakterien mit von der Partie. Zusätzlich wirkt die Atmosphäre als ein ausgleichendes Reservoir, aus dem Stickstoff abgezogen oder in das Stickstoff eingebracht werden kann, wobei wiederum zumeist Bakterien an den Transaktionen beteiligt sind. Trotzdem überschütten wir unbekümmert unsere Umgebung mit Tausenden neuer toxischer Substanzen, ohne zu testen, ob sie nicht für unsere bescheidenen Diener< eine tödliche Gefahr bedeuten.

Die Verweilzeit des Stickstoffs in der Atmosphäre ist viel länger als die des Sauerstoffs. Man rechnet mit etwa 100 Millionen Jahren, doch für geologische Maßstäbe ist dies nicht allzu lang. Würde Leben aufhören, würde der Stickstoff sich allmählich mit dem Sauerstoff zu Nitraten verbinden, und beide würden aus der Luft bis auf winzige Reste verschwinden.

In der Atmosphäre gibt es auch Kohlendioxyd und Wasserdampf. Alle diese Gase bleiben bemerkenswert konstant dank bestimmter Rückkoppelungs­mechanismen, die man nur teilweise durchschaut. So etwa absorbieren Wasserdampf und Kohlendioxyd die roten langwelligen Anteile des Sonnenlichts, was bedeutet, daß bei einer Zunahme dieser Gase mehr Licht abgeschirmt wird und deswegen die Photosynthese der Pflanzen mit reduzierter Geschwindigkeit abläuft; dies führt dann wieder zu einer Abnahme sowohl des Wasserdampfes als auch des Kohlendioxyds. Aber sicher gibt es auch noch andere regulierende Rückkoppelungsmechanismen. Heute beispielsweise wundern sich die Wissenschaftler, wie Kohlenmonoxyd aus der Atmosphäre entfernt wird. Der Mensch jagt beträchtliche Mengen dieses Gases in die Atmosphäre, doch bleibt seine Konzentration konstant. Was er hinzufügt, bleibt etwa ein bis zwei Jahre >oben<, dann verschwindet es wieder.


  109

Unwissenheit bedingt aber keineswegs Bescheidenheit, und die Bereitwilligkeit, mit der manche Wissenschaftler in diese Kreisläufe eingreifen wollen, sollte Anlaß zu echter Besorgnis geben. »Ich erinnere mich nur mit Schrecken«, sagt Professor LaMont Cole, »wie zwei prominente Chemiker äußerten — und ich fand diese Meinung dann auch in Lehrbüchern —, daß es doch wünschenswert sei, nach einem Weg zu suchen, die Denitrifizierung zu blockieren, denn Ammoniak und Nitrate seien für die Landwirtschaft so ungeheuer wertvoll.« 

Gerade weil wir nicht alle Mechanismen verstehen und keine Ahnung haben, warum sie so gut funktionieren, gerade deswegen sind einige Wissenschaftler besorgt, daß die Einmischung des Menschen zu Störungen führt. Jeder Rückkoppelungsmechanismus kann ausmanövriert werden, wenn man ihn <überfüttert>. Der Thermostat, der die Zimmertemperatur reguliert, kann die Temperatur nicht mehr konstant halten, wenn man an einem eisigen Wintertag alle Fenster aufreißt, und noch viel weniger kann er die Bewohner kühl halten, wenn das Haus brennt.

Was noch wichtiger ist, alle diese Mechanismen reagieren sehr träge. Daher könnte es Jahrhunderte dauern, um die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten wieder auszugleichen, sofern es überhaupt funktioniert. In der Zwischenzeit könnten sich schon lange lebensfeindliche Bedingungen eingestellt haben. Der Mensch hat angefangen, in diese wunderbar ausbalancierten Mechanismen einzugreifen, und er hat auch die Kreisläufe des Kohlenstoffes, des Schwefels, des Phosphors und anderer Substanzen nicht verschont. Niemand weiß, wieviel Überlastung sie aushalten können.

Allein was der Mensch an Stickstoff in seine Ökosysteme <pumpt>, ist ungeheuerlich.


  110

  6  Landwirtschaft im Nitratrausch  

 

Stickstoff ist in den meisten Fällen ein limitierender Faktor bei der Nahrungsversorgung von Mensch, Tier und Pflanze. Sauerstoff ist im Überschuß da, und Wasser gewöhnlich auch, aber verwertbarer Stickstoff, das heißt Nitrate, sind im allgemeinen knapp. Die Masse an lebendem Gewebe, die eine Pflanze aufbauen kann, ist meistens durch den im Boden zur Verfügung stehenden Stickstoff begrenzt. Daher ist der erste Schritt, den ein Bauer zur Verbesserung der Erträge tun kann: Stickstoff auf seine Felder zu kippen. In trockenen Gebieten ist natürlich Wasser ebenfalls wichtig, aber ohne Stickstoff kann auch Wasser nichts ausrichten. Wenn es ausreichend Wasser und Stickstoff gibt, ist Phosphor der nächste Engpaß.

Professor Barry Commoner hat eine genaue Untersuchung über den Verbrauch von Stickstoffverbindungen angefertigt. Er findet, daß in den USA etwa 7 Millionen Tonnen Stickstoff »auf natürlichem Weg« pro Jahr umgesetzt werden. Diesem Kreislauf werden weitere 7 Millionen Tonnen in Form von künstlichen Düngemitteln aufgeladen, wozu noch 2-3 Millionen Tonnen aus Autoabgasen und Kraftwerken kommen. Das ist eine gewaltige Belastung. Niemand hat, soweit ich weiß, für ein anderes Land ähnliche Zahlen erarbeitet. Aber in vielen europäischen Ländern, vor allem in Holland, werden sehr viel mehr künstliche Düngemittel verwendet als in den USA. »Diese Überfütterung«, sagt Commoner, 

»hat zu schweren Belastungen und zu einer erheblichen <Verschlechterung> unserer Umwelt geführt. Wenn wir so weitermachen, laufen wir Gefahr, daß alle diese Kreisläufe an entscheidenden Punkten zusammenbrechen. Wollen wir aber korrigierend eingreifen, so müssen wir sehr ernste wirtschaftliche, soziale und auch politische Probleme lösen.«

Der Einsatz von Stickstoff durch den Menschen ist deswegen so problematisch, weil im wesentlichen große Mengen von Nitraten verwendet werden, die in der Natur sehr selten sind. In den USA hat sich der Verbrauch an Stickstoffdüngern in den letzten 25 Jahren vervierzehnfacht.


  111

Streut man Stickstoffdünger auf die Felder, so wird ein guter Teil davon wieder in Flüsse und Seen abtransportiert, bevor er von den Pflanzen aufgenommen werden kann. In den Flüssen und vor allem in den Seen düngt er die Algen, die dann <aufblühen>: Die Algenpopulation explodiert. Sterben sie ab, zerstören Bakterien die Überreste, vermehren sich dabei enorm und verbrauchen in stark erhöhtem Maße den so kostbaren, in Wasser gelösten Sauerstoff. Das Wasser wird dabei zunehmend anoxisch (sauerstofffrei), und dies bedeutet, daß Fische, Bakterien und andere Lebensformen sterben. Damit aber sterben auch die Algen — in stinkenden, fauligen Massen —, und der See wird abiotisch (frei von Leben). Die Algenexplosion wird ausgelöst, wenn die Stickstoffkonzentrationen 0,3 ppm erreichen.

Unter natürlichen Bedingungen gehen die Seen langsam durch alle diese Stadien — man nennt das Eutrophierung — und <sterben> je nach Größe nach Hunderten oder Tausenden von Jahren. Von den Zubringerflüssen wird organisches Material eingebracht, das schließlich zu <reichem> Bodenschlamm zerfällt und dabei Nitrate freisetzt. Ein ausgedienter Kanal oder ein mit Wasserlinsen angefüllter Teich zeigen einige dieser Prozesse in Aktion. Bergseen bleiben klar, weil das schmelzende Eiswasser, das in sie einfließt, wenig organisches Material mit sich bringt. Ähnlich verhält es sich in der Regel bei Flüssen, die die organischen Reste ständig weiterbefördern und sie erst im Meer ablagern. Der Mensch beschleunigt also einen natürlichen Alterungsprozeß auf das ungeheuerlichste.

Ohne Sauerstoff ist auch die Fähigkeit der Selbstreinigung dahin. In einem Bericht, der unter der Leitung von Dr. Athelstan Spilhaus angefertigt wurde, wird geschätzt, daß in den Vereinigten Staaten diese Prozesse bis 1980 den ganzen Sauerstoffgehalt der Flüsse aufgebraucht haben werden. Dies könnte eine Katastrophe bedeuten, da nitratüberladenes Wasser zum Trinken untauglich ist. Eine Kleinstadt in den USA, Elgin, Minnesota, mußte sich aus diesen Gründen nach einer neuen Wasserquelle umsehen, während andere Städte unmittelbar davorstehen.


  112

Die Gesundheitsbehörden haben 10 ppm als zulässige Höchstmenge im Trinkwasser festgesetzt. Decatur, eine Stadt in Illinois, erreichte diese Grenze im Frühling 1967 und 1968, und in einem Report aus Illinois heißt es, daß bei einem Viertel der Fälle das Grundwasser aus weniger als 8 Meter tiefen Brunnen diese Grenze überschritten hat. Eine Studie, die 1960-61 in Kalifornien durchgeführt wurde, zeigte, daß von 800 untersuchten Quellen 88 über dem Grenzwert lagen und weitere 182 über 5 ppm.

Commoner führte recht detaillierte Untersuchungen durch, um festzustellen, woher die Nitrate eigentlich kommen. Im San-Joaquin-Tal zum Beispiel, in dem man durchschnittlich 190 Kilogramm Düngemittel pro Hektar eingesetzt hatte, fand man im Wasser unter der Erdoberfläche im Durchschnitt 44,5 ppm Nitratstickstoff. Eine andere Studie ergab, daß im Durchschnitt 36 Prozent des als Düngemittel verwendeten Stickstoffs im abfließenden Wasser nachzuweisen war; über ein Drittel — eine erschreckende Menge. Früher glaubte man, daß die Nitrate im Trinkwasser nicht von den Düngemitteln, sondern von Futterplätzen kämen, und da diese gewöhnlich in der Nähe der Wohnhäuser liegen, können sie tatsächlich die häuslichen Brunnen in Mitleidenschaft ziehen. Nähere Untersuchungen zeigten jedoch, daß der künstliche Dünger der Hauptschuldige ist.

Die Verhältnisse liegen anders, wenn man sich den Fall des Eriesees betrachtet, in den viele Städte ihre Abwässer leiten. Im Bericht der Bundeskommission für Wasserverschmutzung vom Jahre 1968 wird geschätzt, daß dem See jährlich etwa 32.000 Tonnen Stickstoff von den landwirtschaftlich genutzten Flächen und etwa 40.000 Tonnen aus den städtischen Kläranlagen zugeführt werden. Man hat ausgerechnet, daß dieser See innerhalb dieses Jahrhunderts um 15.000 Jahre gealtert ist. Das Südende des Michigansees ist bereits abgestorben, ebenso wie das Südufer des Ontariosees in der Nähe Buffalos. Keine der Abwässer werden einer Behandlung unterzogen, die ihre biologischen Effekte abmildern könnte. Überall wachsen jetzt Algen, und die Zahl der in den Seen herumschwimmenden Darmbakterien ist gefährlich gestiegen.

Obwohl man viel vom Eriesee hört, ist wahrscheinlich der Michigansee in einer noch schlechteren Verfassung. Die Mengen an DDT und anderen chlorierten Insektiziden sind hier größer als in irgendeinem der anderen Seen, und im Jahre 1969 mußte man große Mengen von Lachsen vernichten, weil sie zuviel DDT enthielten.


    113

Viele europäische Seen sind heute schon eutroph, vor allem wegen der städtischen Abwässer. (Diese Seen sind natürlich viel kleiner als die Großen Seen in Amerika.) Die Eutrophierung bedroht auch die San-Francisco-Bucht und den San-Joaquin-Fluß, der in die Bucht einmündet.

1968 untersuchte eine britische Forschungsgruppe, durch die amerikanischen Befunde aufgeschreckt, einen 80 Kilometer langen Streifen entlang dem Great Ouse, einem Fluß, der mitten durch stark kunstgedüngtes Ackerland führt. Man stellte fest, daß 90 Prozent des im Wasser enthaltenen Stickstoffs von Kunstdüngern stammten. Die Mengen waren ungeheuer: Sie entsprachen 46,25 Kilogramm pro Hektar. Die Bauern hatten im Durchschnitt r 60 Kilogramm pro Hektar ausgestreut, was bedeutet, daß ein Viertel des Düngers in den Fluß gespült wurde. Aber abgesehen von der ungeheuren Verschwendung braucht England das Oberflächenwasser zu seiner Trinkwasserversorgung. Einige Brunnen in Essex liegen nachweislich heute schon über den von der Weltgesundheitsorganisation festgesetzten Sicherheitsgrenzen für Nitrate.

Eigentlich sind die Nitrate selbst recht harmlos. Warum man aber trotzdem so sehr auf die Nitratwerte im Trinkwasser achtet, liegt daran, daß sie im Körper in Nitrite umgewandelt werden können, die mit dem Blutfarbstoff Hämoglobin reagieren und diesen daran hindern, den Sauerstoff zu transportieren. Ergebnis: Atemnot und in schlimmeren Fällen Tod. Dieses Risiko kennt man schon lange, aber erst jetzt hat sich herausgestellt, daß Nahrungsmittel derart viele Nitrate enthalten können, daß es tatsächlich zu Hämoglobinveränderungen kommen kann (das veränderte Hämoglobin wird als Methämoglobin bezeichnet, und daher spricht man hier von Methämoglobinämie). 

In den vergangenen 5 Jahren haben mehrere Ärzte in Europa von Fällen berichtet, in denen Säuglinge betroffen waren, denen man Spinat aus Dosen gefüttert hatte. Spinat ist reich an Nitraten, die von in der Luft vorkommenden Bakterien auch bei Kühlschranktemperaturen in Nitrite umgewandelt werden können. Auch Enzyme des Spinats sind dazu in der Lage, sowohl bei frischem als auch tiefgefrorenem oder eingemachtem Spinat. 


  114

Andere Babynahrung enthält ebenfalls Nitrate, vor allem rote Rüben; Experimente haben nachgewiesen, daß die Nitratmengen im Spinat direkt proportional sind zur Menge des angewendeten Stickstoffdüngers. In den USA, wo allgemein weniger Düngemittel verwendet werden, sind bisher keine Spinatmethämoglobinämiefälle bekannt, obwohl man auch dort bedrohlich hohe Nitratkonzentrationen in Proben von Spinat und anderen Gemüsen gefunden hat. Von Nitratvergiftungen bei Zuchtvieh wurde allerdings häufig berichtet. Untersuchungen, die durch diese Befunde angeregt wurden, haben zudem ergeben, daß Nitratkonzentrationen von 53 bis 78 ppm Weißblech korridieren.

 

   7  Gefährliche Gase  

 

Während die Nitrate den Boden und das Wasser durchdringen, verursachen andere Stickstoffverbindungen Probleme in der Luft: Stickoxyde und Ammoniak. Kraftfahrzeuge geben Stickoxyde ab, und die Belastung der Atmosphäre scheint zum Teil aus dieser Quelle zu kommen; zum Teil dürfte auch die Landwirtschaft daran schuld sein. Hohe Stickoxydwerte wurden in Gebieten beobachtet, wo Kunstdünger angewendet wurde oder viele Autos fahren.

Die Beziehung zwischen Kraftfahrzeugdichte und anorganischem Stickstoff im Regen ist recht eindeutig. In den USA werden jedes Jahr um 6 Millionen Tonnen solcher Oxyde von den Autos abgegeben. Außer in Los Angeles nehmen die neuen Gesetze darauf keinen Bezug, sie beziehen sich ausschließlich auf Kohlenwasserstoffe und Kohlenmonoxyd. Man erwartet, daß in den nächsten zehn Jahren die Autoabgase um 50 Prozent steigen werden; für den Luftverkehr nimmt man sogar an, daß sie sich in dieser Zeit mindestens vervierfachen werden.  

Die Alarmgrenze liegt niedrig: bei 5 ppm. Bei Konzentrationen von 25 ppm wirken diese Gase wie Kampfstoffe und erzeugen Lungenschäden. Aber schon bei niedrigeren Konzentrationen reduzieren sie wie Nitrate die Fähigkeit des Bluts, Sauerstoff zu transportieren. Bis jetzt wissen wir nicht, wie wir mit diesen Oxyden fertig werden sollen. Es kommt erschwerend hinzu, daß die Oxyde zusammen mit Kohlenwasserstoffen und Sonnenlicht den berüchtigten Smog erzeugen. Es gibt sogar Hinweise, daß krebserzeugende Nitrosoverbindungen durch diese Stickoxyde gebildet werden können.

 114/115

Wahrscheinlich müssen wir den Gebrauch künstlicher Düngemittel einschränken; ein Entschluß, der den leichtsinnigen Ökonomen und Agronomen — wir werden ihnen in einem späteren Kapitel begegnen — in hohem Maße unwillkommen sein muß, denn sie wollen ja gerade die Welternährungsprobleme durch den massiven Einsatz von Kunstdünger lösen. Der Kern des Problems liegt darin, daß künstlich zugeführtes Nitrat nicht in den Humus eindringt, der natürlicherweise für den Stickstoffnachschub sorgt. Im Laufe der Zeit verliert dann der Boden sogar seinen natürlichen Stickstoff, und daher würde einfache Reduktion der Kunstdüngung zu geringeren Ernteerträgen führen. 

Man muß vielmehr versuchen, die natürliche Fruchtbarkeit des Bodens wieder herzustellen. Dies gilt auch für die physikalische Struktur des Bodens: Seine poröse Beschaffenheit hängt von der Anwesenheit organischen Stickstoffs ab, und nur poröser Boden kann den Sauerstoff bis zu den Wurzeln leiten. Die Bearbeitung des Bodens mit schwerem Gerät sorgt ohnedies schon für eine Verfestigung der Ackerkrumen, und die Anwendung anorganischen Stickstoffs macht die Geschichte nur noch schlimmer.

Diese Probleme hängen unmittelbar mit der Überbevölkerung zusammen: Weniger Leute bedeuten weniger Getreide, weniger Kartoffeln und damit auch weniger Kunstdünger. Darüber hinaus aber — und dieser Zusammenhang ist wichtig — können es sich kleinere Bevölkerungsgruppen leisten, ihr Land extensiv zu bewirtschaften. Sie bebauen eben so viel Land, wie sie brauchen. Erst wenn Land kostbar geworden ist, wird es notwendig, ihm hohe Erträge abzupressen. Doch daran denkt man recht selten, und die Wirtschaftsexperten verweisen oft auf die niedrigen russischen Erträge, als ob dies ein Nachteil wäre. Sie begreifen nicht, warum die Erträge in Europa höher liegen als in den USA: Europa hat einfach weniger Land pro Kopf.

Jeder Versuch, den Gebrauch von Kunstdünger einzuschränken, würde naturgemäß auf erbitterten Widerstand stoßen. Wie Commoner es einmal formulierte, sind die Landwirte so lange vom Nitrat berauscht gewesen, daß sie jetzt süchtig geworden sind. Auch der Einsatz von Polizeihunden oder die Androhung langjähriger Strafen könnte sie kaum noch abschrecken. Das Problem ist zu einem Politikum geworden. Wie hoch soll der Preis sein, den wir für die Sicherstellung unserer Ernährung zu zahlen bereit sind? Er wird sehr hoch liegen müssen.

Der gordische Knoten ließe sich allerdings lösen, wenn man eine vernünftige Bevölkerungspolitik betriebe, aber das wird gewöhnlich übersehen.

  116

 

 

 www.detopia.de     ^^^^  

 The Doomsdaybook (1970) Can the world survive?