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Von der Utopie zum Albtraum - Einleitung

Taxacher-2012

 

7-15

Der utopische Traum von einer idealen Gesellschaft entsteht in der Neuzeit: 1516, in der Kinderstube der Epoche, gibt ein Buch von Thomas Morus einem ganzen literarischen Genre den Namen: Utopia.(1) Die Bewohner dieser abgelegenen Insel halten dem kriegerischen und frühkapitalistischen England einen Spiegel vor, weil sie ihr Leben tatsächlich nach der Vernunft gestalten, möglichst friedlich sind und untereinander gleich.

Mit der Aufklärung tauchen - während der reale Ozean immer flächen­deckender erkundet wird - mehr und mehr solche Inseln der Vernunft in der Literatur auf. Im 19. Jahrhundert siedeln die Bürger der Nicht-Orte dann nicht mehr im imaginären Raum, sondern in der Zeit.

Utopie wird zur erhofften oder gar berechneten Zukunft: sei es die einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen abgeschafft ist; sei es die einer Befriedigung der Menschheits­bedürfnisse durch technische Errungenschaften. Fortschritt scheint das geeignete Verkehrsmittel zur Erreichung der Insel Utopia. Ihr Weltmeer heißt Zukunft.

Doch dann kippt dieses Weltmeer um, wie Ökologen sagen würden. Aus dem utopischen Traum wird in der Moderne ein Albtraum.

Die Weltkriege und die totalitären Imperien sich bekämpfender Ideologien bringen den Glauben an die Geschichte als einer unfehlbaren Besserungsanstalt ebenso ins Wanken wie die inhumanen Folgen von Indus­trial­isierung und Technik. Im 20. Jahr­hundert reagiert eine Gegen-Literatur auf die Fiktion von Thomas Morus, - sprachlich einigermaßen unglücklich - »Dystopie« genannt.(2) Nun geht es darum, sich das schlimmst-mögliche Ende des Fortschritts vorzustellen. Gerade seine Verwirklichung erscheint den literarischen Unheilspropheten als das, was keinesfalls geschehen darf. Denn der Traum der Menschheit, würde sie ihn leben können, wäre eine permanente Apokalypse.

Zum Einstieg in die Analyse der apokalyptischen Situation der Gegenwart, die dieses Buch geben möchte, dienen drei Romane des 20. Jahrhunderts, zwei weltberühmte und einer, der es auch sein sollte: »1984« von George Orwell, »Brave New World« von Aldous Huxley und »Kein Land wie dieses« von Ignacio de Loyola Brandao.

Den ersten beiden düsteren Fiktionen ist gemeinsam, dass sie die Apokalypse nicht mehr wie die alten religiösen Texte als ein Ende mit Schrecken schildern, auf das Gottes Rettung folgt, sondern als einen Schrecken ohne Ende. Die moderne Apokalypse ist keine katastrophische Wende zum Guten, sondern eine bleierne Endzeit ohne Ende. Aber zum Ende des 20. Jahrhunderts ändert sich das, wie der dritte Roman illustriert: Nun kommt wieder ein Kollaps in Sicht, jedoch ohne dass Gott die Hand im Spiel hätte.

Die drei gewählten Beispiele stehen paradigmatisch für drei Albtraum-Aspekte der Moderne. Sie überbieten sich gegenseitig. Sie setzen gewissermaßen drei apokalyptische Reiter der Gegenwart ins Bild. Auch diese Reiter bringen, wie ihre biblischen Vorbilder, jeweils einen anderen Tod: den Tod der Freiheit, den Tod der Menschlichkeit und den Tod der Natur.

 

   »1984« - Die Welt, ein Konzentrationslager  

George Orwells Roman von 1949 hat einen vergessenen Vorgänger. Unter dem Eindruck der russischen Revolution beschrieb Jewgenij Samjatin in seinem Roman Wir schon 1920 ein Imperium, das sich selbst »Einziger Staat« nennt und von einem »Wohltäter« regiert wird, der dem »Großen Bruder« von »1984« durchaus ähnlich sieht.(3) Die »schwarze Utopie« wird also geboren, als eine Ideologie der idealen Welt die reale Welt zu gestalten beginnt. Orwell zieht knapp 30 Jahre später, am Ende seines Lebens und in der Mitte des blutigen Jahrhunderts, eine imaginäre Bilanz von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus. Was er uns vorstellt, ist die ultimative Verwirklichung des Totalitarismus. Orwell entkleidet die Ideologien des 20. Jahrhunderts, Kollektivismus wie Nationalismus, ihrer gesamten Schein-Inhalte und entlarvt ihr eigentliches Ziel: die Errichtung absoluter Kontrolle, absoluter Herrschaft über die Menschen.

Der Staat des »Großen Bruders« hat Freiheit - und auch Wahrheit als ihre Grundlage - gänzlich destruiert  wiktionary  destruieren 

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Wilson, der Protagonist des Romans, arbeitet als kleiner Beamter in der Propagandamaschinerie, welche auch die Geschichte ständig umfälscht und retuschiert. Wilson ist zugleich die Figur, durch welche der Leser in diese fremde, lückenlose Welt der Diktatur Eingang findet. Denn er kämpft auf verlorenem Posten wenigstens um einen Rest Privatleben, einen Rest an eigenen Gefühlen und eigenen Denkens. Alle uns bekannten, schon verwirklichten Ingredienzien totalitärer Systeme - die permanente Kriegsmobilisierung, die Überwachung, die Propagandakampagnen, die Geschichtsfälschung, die Erniedrigung der Menschen zu Arbeitsameisen, die Aushöhlung der Sprache, schließlich die Verhaftungen, Gehirnwäsche und Folter - stellt der Roman in einer übersteigerten Vollgestalt vor, so dass diese Welt aus lauter Bekanntem doch wie eine andere Welt, eine negative Utopie, eine Dantesche Höllenreise erscheint.

Auf dieser Reise ist Wilson unser Führer, in dem wir uns Leser noch einigermaßen erkennen können. Aber gerade diese Ähnlichkeit zerstört das System am Ende des Buches: Wilson überlebt die Folter, aber er ist seelisch gebrochen. Indem man ihn zum Verrat an seiner Geliebten zwingen konnte, hat der Staat sich seines Innersten bemächtigt. Es gibt keinen verschwiegenen Rest mehr, den Wilson ihm vorenthalten, vor ihm retten konnte. »Er liebte den großen Bruder«, heißt es am Ende.

Damit hat der Leser seinen letzten Orientierungspunkt verloren. Das System ist abgeschlossen. Und darin besteht die »apokalyptische« Situation bei Orwell: nicht in einem katastrophalen Zusammenbruch, sondern in der absoluten Stabilität des katastrophalen Endzustandes der Geschichte, aus dem es kein Entkommen mehr gibt.

Wie lesen wir das Buch heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts?

Die Frage ist schwer eindeutig zu beantworten. Denn einerseits finden sich auch gegenwärtig in vielen Staaten die Ingredienzien des Orwellschen Totalitarismus. Andererseits scheint nach 1945 und dann nochmals seit 1989 der globale Trend nicht mehr in Richtung »Ozeaniens« zu verlaufen. Die großen totalitären Ideologien und Blöcke sind der Gewaltherrschaft eher regionaler Despotien und Terrorregime und der Vorherrschaft des »westlichen« Modells globalisierten Kapitalismus gewichen. So werden vom Staat des »Großen Bruders« heute eher einzelne Versatzstücke rezipiert und auf Entwicklungen etwa der Kriminaltechnik, der Datensammlung und der Verwaltung übertragen.

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Das Buch hat seine warnende Aktualität nicht verloren. Dennoch wirkt es eher als ein Zeugnis des 20. Jahrhunderts, ein Dokument aus dessen Mitte, als die Welt nur noch die Alternative von Teufel oder Beelzebub zu bieten schien. Die Welt ist ein einziges Konzentrationslager - das ist die Wahrnehmung jener Jahre. Die unsere ist es trotz der fortdauernden Existenz zahlreicher Konzentrationslager derzeit nicht.

 

  <Brave New World> - Perfektion ohne Entrinnen  

Das zweite literarische Beispiel ist einige Jahre älter als Orwells Schreckensgemälde des totalen Staates: Aldous Huxleys »Schöne neue Welt« entstand schon 1931. Interessanterweise erschien seine wirkungsvolle, mit einem kommentierenden Vorwort des Autors versehene Neuauflage jedoch erst zu Beginn der 1950er Jahre: Offenbar erkennen sich erst die Menschen der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit zahlreich in ihm wieder. In seinem Vorwort nimmt Huxley selbst Stellung zur Realitätsnähe seiner Fiktion. Er sieht, mit einem vorangestellten Zitat von Nikolai Berdjajew, die Moderne als das Zeitalter der machbaren Utopien, in dem es Aufgabe der Intellektuellen sei, »die Utopien zu vermeiden«.(4)

Und gegenüber der Erstauflage seines Buches kommt es ihm nun so vor,

»als wäre uns diese Utopie viel näher, als irgend jemand es sich vor nur fünfzehn Jahren hätte vorstellen können. Damals verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, dass uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt; das heißt, wenn wir in der Zwischenzeit davon absehen, einander zu Staub zu zersprengen.«(5)

Der Vorbehalt, der uns von der Brave New World noch trennt, ist also die Möglichkeit einer atomaren Apokalypse.

Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist gerade die Angst vor dieser Apokalypse zwar nicht gegenstandslos geworden, aber durch das Ende der Ost-West-Konfrontation doch in den Hintergrund getreten. Vielleicht ist uns also nach dem Ende der Drohkulisse des Kalten Krieges Huxleys Schrecken näher auf den Leib gerückt. Er könnte uns gerade erwarten, wenn der Orwells gebannt ist, wie Huxley selbst in einem Brief an Orwell schrieb:

"Ich habe das Gefühl, dass der Albtraum 1984 zwangsläufig in den Albtraum einer Welt übergehen wird, die mehr meinen Vorstellungen in Brave New World entspricht."(6)

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Schildert Orwell den apokalyptischen Endzustand des Totalitarismus, so entwirft Huxley die Apokalypse der westlichen Zivilisation. Seine Dämonen sind nicht Hitler oder Stalin als Vorbilder des »Großen Bruders«, sein Dämon ist der moderne Kapitalist Henry Ford, der in Huxleys »Brave New World« zum Gott geworden ist. Sein Gesellschaftssystem beruht auf einer Biotechnologie, welche die Zucht staatlich determinierter Menschengruppen ermöglicht und die natürliche Fortpflanzung abgeschafft hat.

Huxley imaginiert sein »Bokanowsky-Verfahren« einige Jahre bevor James D. Watson und Francis Crick in England der DNA auf die Spur kommen. Das Verfahren der Züchtung von Dutzendlingen durch »Knospung« in Reagenzgläsern, der vorgeburtlichen Verdummung der künftigen Arbeitssklaven durch Alkoholbeigabe und Sauerstoffentzug wirkt heute geradezu antiquiert.

Umso faszinierender ist es, dass Huxley die drohende Anwendung von Klonung und Genmanipulation vorwegnahm, ohne deren wissenschaftliche Grundlagen kennen zu können. Genauso fasziniert liest man die Passagen über »Fühlkino« und Sportparks, über den Einsatz, von Verhütungsmitteln und Drogen - um die Entkoppelung von Sexualität und Familie erträglich zu machen -, über Ferntourismus in die Reservate der »Wilden«, über die pseudoreligiösen Ford-Gottesdienste mit ihrer einem »Rave« ähnlichen, inhaltsleeren Gemeinschaftsextase, über die Abschaffung der Vergangenheit unter dem Ford-Motto »Geschichte ist Mumpitz«.

Huxley gelingt die Schilderung eines vollendeten Kollektivimus, der zumindest für die Oberschicht den westlichen Individualismus und Hedonismus vollkommen integriert hat. Huxley selbst nannte das im Rückblick auf sein Buch einen »non-violent totalitarism«, einen gewaltlosen Totalitarismus.

Die Angehörigen dieser Oberschicht gleichen jenem westlichen, amerikanisierten Menschentypus, den Horkheimer und Adorno ebenfalls schon in den 1940er Jahren beobachteten, und dem "personality kaum mehr etwas anderes bedeutet als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen." (7)

Die Totalität der Brave New World kommt, zumindest an ihrer Oberfläche und für die Mehrheit, ohne den brutalen Zwang einer primitiven Diktatur aus.

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Sie ist zwar eine Klassengesellschaft, aber in einem Kapitalismus von Brot und Spielen ist dem Klassengegensatz das revolutionäre Potential genommen. Denn er richtet sich die Menschen, die mit ihm zufrieden sind, selber zu, vom Reagenzglas über das Erziehungssystem bis hin zu der gigantischen Freizeit- und Kulturindustrie. Diese Gesellschaft sichert die Abschaffung aller Alternativen vom Bestehenden und einer möglichen besseren Welt nicht durch die Abschaffung der Freiheit für die Menschen, sondern schon durch die Abschaffung eines zur Freiheit fähigen Menschen.

Auch Huxley braucht als Protagonisten Außenseiter - den intellektuellen Aussteiger Sigismund und den »Wilden« Michel -, um uns diese Welt überhaupt von außen anschauen zu lassen. Nur in den Außenseitern wird noch ansichtig, was in dieser Welt verloren ging: der Mensch selbst, das Humanum. Aber die beiden Protagonisten scheitern, sie werden entweder reintegriert und geben sich auf, oder sie werden ausgestoßen und irre. Es gibt in diesem System so wenig eine Lücke wie in Orwells totalem Staat. Das Apokalyptische der negativen Utopie Huxleys besteht wie bei Orwell nicht im Untergang, sondern in der absoluten Statik einer nicht mehr endenden Endzeit, in die hinein die menschliche Geschichte untergegangen ist.

   »Kein Land wie dieses« -- Die Öko-Apokalypse der Dritten Welt  

Ganz anders verhält es sich im dritten literarischen Beispiel. Es stammt aus dem Brasilien der 1980er Jahre: Ignacio de Loyola Brandaos »Kein Land wie dieses«.(8) Brandaos »Aufzeichnungen aus der Zukunft« (so der Untertitel) schildern die Apokalypse der »Dritten Welt«, des »Südens«. Und im Gegensatz zu Orwells Apokalypse des Faschismus oder Stalinismus und Huxleys Apokalypse des Kapitalismus und der liberalen, technologischen Zivilisation schildert Brandao einen tatsächlichen Untergang, die Dynamik der gegenwärtigen Ereignisse bis zu einer letzten Katastrophe.

Diese Apokalypse steuert deshalb nicht nur in den Tod der Freiheit und den Tod des Humanen - wiewohl beide Tode auch hier gestorben werden -, sondern in den Tod der Natur, des Lebens selbst, in den Zusammenbruch der Umweltbedingungen, die menschliches Leben ermöglichen.

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Politik bedeutet nur noch die Beantwortung der Machtfrage, wer zuerst stirbt und wer später.

Waren es bei Orwell und Huxley vor allem letzte Überbleibsel des Abendlandes, der Kultur - wie Musik oder Gedichte -, deren wehmütige Erinnerung die Totalität des Verlusts verdeutlicht, so geht Professor Souza, der Held Brandaos, in ein Museum, welches die Wasser der ausgetrockneten Tropenflüsse in Gläsern zeigt, und seine schmerzvolle Erinnerungsarbeit gilt dem Tod seines Großvaters, der, selbst Holzfäller, sich schließlich und vergeblich den Holzfällern am Amazonas entgegenstellte.

Auch in Brandaos Brasilien bereitet die Diktatur einer unsichtbaren Regierung und ihrer »Militechner« jeder Freiheit ein Ende. Auch hier versucht die Fortschrittstechnik des Kapitalismus, mit künstlicher Nahrung und Glücksdrogen das Volk zu versorgen. Aber am Ende steht kein stabiler düsterer Zustand, sondern der Kollaps. Auch Diktatur und Kapitalismus funktionieren nicht mehr und lösen sich in gewalttätigem Chaos auf. Die Katastrophe ist zwar politisch und ökonomisch herbeigeführt, aber sie selbst ist die ökologische: Am Ende tötet die Sonne. Dann stehen die Menschen unter riesigen Betonmarsen, deren Baus sich die Regierung rühmt, weil sie selbst vom Mond aus zu sehen seien, und erwarten ihren Tod.

Brandaos Roman ist zugleich surrealistischer und realistischer als die Erzählweise von Orwell und Huxley.

Immer mehr lässt er den Leser - ebenso wie die Hauptperson Souza - im Unklaren darüber, was wirklich geschieht. Zugleich leitet der Roman die Katastrophe weitaus linearer aus unserer Gegenwart her als die früheren negativen Utopien: Der Ort der Handlung ist ein durchaus noch erkennbares Sao Paolo. Und der Weg in die Apokalypse wird in den Erinnerungen des Helden und in einer Art Geschichtsschreibung aus der Zukunft in immer neuen Anläufen rekonstruiert. Auf diese Weise schildert Brandao, was geschieht, wenn die Trends der Gegenwart nicht aufgehalten werden: Die Abholzung des Regenwaldes, die Landflucht der Hungernden in die städtischen Slums, die Politik der Sicherheit für die Reichen und Herrschenden sowie der Ausbeutung und bestenfalls Beruhigung für die Massen. Der all dies erinnernde (Anti-)Held des Romans ist ebenfalls eine weit realere Figur als Winston Smith oder Sigismund:

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Geschichtsprofessor Souza ist sozusagen der letzte Intellektuelle des alten Brasiliens, und wir erleben mit dem Zerfall der Zivilisation auch den Zerfall seiner bürgerlichen Existenz und seiner Persönlichkeit. Souza stemmt sich gegen diesen Zerfall, indem er verzweifelt zu begreifen versucht, was geschieht, und seine Erinnerungsarbeit ist zugleich Arbeit am Schuldgefühl, in den entscheidenden Jahren, als vielleicht noch etwas zu ändern und aufzuhalten gewesen wäre, nicht gehandelt zu haben.

Brandaos Apokalypse findet fantastische Bilder für den Untergang: die riesigen aufgegebenen Stadtautobahnen, aufdenen die verlassenen Autos vom letzten, nicht mehr aufgelösten Stau verrosten; die Flüchtlingsströme aus den Wüsten, die zuvor noch von den Superreichen als ultimatives Event besucht wurden; die Hitzebälle, in denen die Menschen verglühen. Solche Bilder sind zugleich fantastisch und aus dem Fernsehen bekannt. Esliegt kein Bruch zwischen dem Heute und dem Ende, nur die schiefe Ebene in den Abgrund. Souzas Leben spielt sich auf dieser schiefen Bahn ab, und der Knotenpunkt seiner Erinnerung sind die »Offenen Achtziger«. So heißt im Rückblick die Gegenwart des Romans. Darin liegt der appellative Charakter von Brandaos Apokalypse. Eine Hoffnung bietet sie nicht.

Dass uns die Apokalypse literarisch nirgends so nahe rückt wie in einem Entwurf der sozialen und ökologischen Katastrophe der »Dritten Welt«, scheint mir sachlich stringent.  wiktionary  stringent

Brandaos Sao Paolo ist den heute herrschenden Zuständen weitaus näher als das London Orwells oder Huxleys. (Der deutsche Übersetzer hat Huxleys Handlung nach Berlin versetzt.) Brandaos Roman ist keine negative Utopie mehr, sondern nur noch Apokalypse.

Orwell und Huxley schildern, was sein könnte, wenn moderne Utopien sich tatsächlich verwirklichen würden. Brandao schildert, was kommt, wenn wir nichts mehr ändern. Wie es gleichzeitig in der »Ersten Welt« aussieht, erwähnt er allerdings mit keinem Wort. Es wäre für die handelnden Personen auch völlig irrelevant, denn eine andere Welt als die »Dritte Welt« ist für sie nicht erreichbar.

Die apokalyptischen Reiter, die Orwell, Huxley und Brandao sehen, sind keine Ausgeburten der Fantasie. Sie reiten alle drei durch unsere Welt. Theologische Gegenwartsanalyse - das Vorhaben dieses Buches - heißt, unsere derzeitige Stellung den modernen apokalyptischen Möglichkeiten gegenüber abzuschätzen - und das Ergebnis aus der Weltdeutung des biblischen Glaubens zu reflektieren. Deshalb wird hier in den ersten beiden umfangreichen Kapiteln scheinbar gar keine Theologie geboten, sondern eine Analyse der globalen ökologischen und sozialen Lage. Es geht darum, deren apokalyptischen Charakter wirklich zu erfassen.

Im dritten Kapitel wird diese Situation sozusagen geschichtsphilosophisch eingeordnet: Was heißt es, im »Anthropozän« zu leben? In den beiden letzten Kapiteln versuche ich eine theologische Deutung: Wie verhält sich die empirische Diagnose der apokalyptischen Situation zu den apokalyptischen Kategorien der Bibel? Und welche Konsequenzen hat eine theologische Qualifikation der Gegenwart als eine apokalyptische Situation für die Kirchen, für die Glaubenden?

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Literarisches Vorspiel - Von der Utopie zum Albtraum