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32  Anarchosyndikalismus – Geburtshelfer der Revolution 

Man muß die Arbeiter nicht so sehr dazu auffordern,
die Arbeit niederzulegen, als vielmehr dazu,
sie unter eigener Regie fortzuführen.
Errico Malatesta

 

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Im Dezember 1922 kamen in Berlin Delegierte aus einem Dutzend europäischer und amerikanischer Länder zusammen, um eine anarchistische Gewerkschaftsinternationale zu gründen. Sie vertraten knapp zwei Millionen organisierter Mitglieder. Zehn Jahre später zählte die Internationale Arbeiter-Assoziation mehr als doppelt soviele Anhänger in dreiundzwanzig Ländern. Nach gut weiteren zehn Jahren waren von dieser mächtigen Bewegung nur noch kümmerliche Reste vorhanden.

Die einundzwanzig Jahre zwischen den beiden Weltkriegen markieren eine erste große Blütezeit des Anarchismus. Die libertäre Bewegung hatte endgültig den Bannkreis der kleinen, isolierten Zirkel verlassen und war zu dem geworden, was man damals eine "Massenbewegung" nannte. Ihre Ideen wurden in manchen Ländern geradezu volkstümlich. Eine Zeit großer Erwartungen brach an, und tatsächlich sollte es in dieser Phase erstmals gelingen, die libertäre Utopie in einer modernen Massengesellschaft im großen Stil zum Funktionieren zu bringen. Die neue Formel, mit der dies gelang, hieß Anarchosyndikalismus. Mit diesem Wort verband sich in den zwanziger und dreißiger Jahren die Hoffnung einer ganzen Generation.

Am Ende aber stand der Sieg der Bajonette, und die Hoffnung endete erneut unter den Stiefeln der Militärs. Ein neuer Gegner war auf die Bühne der Geschichte getreten, an dem das anarchistische Experiment vorerst scheiterte: der Faschismus. Zwar war dessen Triumph von relativ kurzer Dauer und währte etwa in Deutschland nur zwölf Jahre, aber die verbrannte Erde, die er zurückließ, hinterließ auch eine politische Wüste, in der es für lange Zeit keinen Platz mehr für soziale Utopien zu geben schien. Die anarchistische Bewegung war zerschlagen, ihre Hoffnungen ins Bodenlose gefallen. Nach 1945 versank ihr reicher Schatz an Erfahrungen und Experimenten im Vergessen einer Gesellschaft, in der einzig der Sieger als Inhaber von Wahrheit und Werten auftrat.

 

Der Wille zur Veränderung 

Zu Beginn der zwanziger Jahre hatten die Erfahrungen in Rußland gezeigt, daß die libertäre Selbstorgani­sation der Menschen kein Hirngespinst war. Sogar das Scheitern dieser Revolution hatte indirekt der anarchistischen Kritik am Kommunismus recht gegeben. Aus diesen Fehlern wollte man lernen, und die erste Lehre war, daß das naive Vertrauen in Lenins Phrasen von 1917 ein tödliches Vertrauen war. Als logische Konsequenz daraus brauchte man endlich einen eigenen, soliden und gangbaren Weg, auf dem man die Höhenflüge der schönen Utopie auf den rauhen Boden der Wirklichkeit holen könnte. 


Funktionsfähige Umsetzungsmodelle waren gefragt: Revolution ohne Avantgarde, Produktion ohne Kapitalisten, Ordnung ohne Diktatur. Nicht gerade wenig, und vor allem keine Strategie, bei der die großen Sprüche zählten. Gerade die kleinen Schritte würden hierbei wichtig sein. In gewissem Sinne Neuland für Anarchisten, die sich bisher eher in der Pose des radikalen Kritikers eingerichtet hatten.

Aber die Einsicht war ebenso groß wie der Wunsch, die Utopie endlich zu verwirklichen. Das Konzept hierzu war in Ansätzen schon vorhanden und wartete nur darauf, umgesetzt zu werden. So wurde das möglich, was am ersten Weihnachtstag des Jahres 1922 die frierenden Delegierten aus Mexiko, Spanien und Chile mit den kälteresistenten Genossen aus Rußland und Norwegen in Berlin an einen Tisch brachte. Als der Kongreß am 2. Januar 1925 auseinanderging, gab es eine weltweite libertäre Organisation mit einem gemeinsamen Programm und einer konkreten Strategie. Noch zehn Jahre zuvor hätte man das kaum für denkbar gehalten.

Es schien, als hätten sich die Anarchisten das zu Herzen genommen, was der alte Kropotkin ihnen kurz vor seinem Tode ins Stammbuch geschrieben hatte: daß es höchste Zeit sei, vom bloßen Gerede über die Soziale Revolution zur unmittelbaren Vorbereitung der konstruktiven Arbeit überzugehen.

 

Sozialpartnerschaft oder Revolution? 

Unter Gewerkschaften versteht man gemeinhin die Interessenvertretung der Arbeiterschaft. In ihrem heutigen Selbstverständnis begreift sich eine moderne Gewerkschaft als "Sozialpartner", der in Verhandlungen mit der Interessenvertretung der Arbeitgeber versucht, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen. In der Praxis läuft das auf ein Dienstleistungsunternehmen mit Vereinskasse hinaus, das die Löhne der jeweiligen Inflation anpaßt – angesiedelt irgendwo zwischen Behörde, Traditionsverband und Geselligkeitsverein. Ihre Philosophie besteht im Interessenausgleich. Ihr ganzer Stolz ist es, ein wichtiger Teil des Rechts-, Sozial- und Politiksystems zu sein – dafür haben Generationen von Gewerkschaftern gerungen, ganz besonders in Deutschland. Keine Frage: Gewerkschaften sind heute eine tragende Stütze im modernen Industriestaat.

Das war keineswegs schon immer so.

Ursprünglich hatten Gewerkschaften mit dem Staat nichts am Hut. Er spuckte auf sie, und sie pfiffen auf ihn. Arbeiter hatten sich zusammengeschlossen, um gemeinsam dagegen zu kämpfen, daß es ihnen so dreckig ging. Es gab damals keine Gewerkschaft, die nicht als Endziel eine andere Gesellschaft angestrebt hätte. Alle wollten ein Leben ohne Kapitalisten, die meisten auch ohne Obrigkeit. Vom Verschwinden des Staates zu träumen, gehörte m der Gewerkschaftsbewegung, bevor sich die deutschen Sozial­demokraten ihrer annahmen, sozusagen zum guten Ton. Sich als Partner der Kapitalisten zu verstehen, hätte als unanständig gegolten, Teil des Staatssystems zu sein, als lächerlich. Erst nachdem Theorien und Theoretiker in den Arbeiter­vereinen den Ton angaben, wurden Gewerkschaften zum Objekt für Parteien und tagespolitische Interessen: eine vielversprechende Spielwiese für karrierebewußte Funktionäre und profilierungsfreudige Politiker. 

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Die klügsten unter ihnen hatten in den Arbeitern längst die kommende soziale Kraft erkannt, ohne die politisch nichts mehr ginge; die cleveren hatten gerochen, daß man im Gewerkschaftsapparat steil aufsteigen und Geld machen konnte. Dazu aber war es nötig, daß die Gewerkschaften das System nicht mehr bedrohten – sie mußten ein Teil von ihm werden.

So entstand die Philosophie der Sozialpartnerschaft, so wurde aus den Gewerkschaften ein Teil der Ausbeutungsmaschine.

Für die Anarchisten sind Gewerkschaften stets das geblieben, was sie ursprünglich sein sollten: eine Organisationsform zur Erreichung der freien und sozialen Gesellschaft. Mit der Herausbildung des Anarchosyndikalismus bekam dieser diffuse Wunsch eine geschlossene Theorie und eine gangbare Praxis.

 

Das syndikalistische Rezept  

Ihr zufolge sollte die Gewerkschaft - französisch syndicat - eine doppelte Funktion bekommen. Zum einen bleibt sie ein Werkzeug, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen hier und heute konkret zu verbessern. Zum anderen ist sie eine Organisation, aus der sich Strukturen der Zukunft entwickeln sollen. Die Syndikate mußten demnach dazu taugen, das bestehende System zu zermürben, anzugreifen und zu kippen, gleichzeitig in ihrem Schöße aber die Alternativen heranreifen zu lassen, die an die Stelle der alten Ordnung treten sollten. Dieses Konzept war destruktiv und konstruktiv zugleich. Damit bot es sich als Lösung für das alte Dilemma des Anarchismus an, der zwischen Negation und Utopie oft keine gangbare Brücke finden konnte.

Daß der Kampf um alltägliche Verbesserungen nicht bittstellernd und devot geführt wurde, versteht sich bei Anarchisten fast von selbst. Ihr Syndikalismus verstand sich als selbstbewußt und kämpferisch und entwickelte einen ganzen Fächer verschiedener Methoden und Formen der Aktion. Angefangen von Betriebsversammlungen, Protest und Demonstrationen über Streiks, Blockaden, Boykott und Sabotage reichte dieses Spektrum bis hin zu direkten Aktionen, Generalstreik, Arbeiterbewaffnung und Volksaufstand. Eine Horrorvision für jeden DGB-Funktionär unserer Tage, eine Hoffnungsvision für Millionen Arbeiter der Zwischenkriegszeit. 

Die libertären Gewerkschaften waren deswegen aber keine Rabaukenhaufen, sondern überaus disziplinierte Arbeiter­organisationen, die durchweg auch das taten, was man ›seriöse Gewerkschaftsarbeit nennt: Da gab es Streiks um Arbeits­verbesserungen, Tarifabschlüsse, Sicherheit am Arbeitsplatz und soziale Absicherung gerade so wie ein stetiges Engagement in sozialen Bereichen und allgemeinen gesellschaftlichen Fragen. Zwei Dinge aber waren grundlegend anders: Erstens behielten die Syndikalisten ein völlig anderes Ziel im Auge: die Überwindung dieser Gesellschaft. Deswegen blieben sie bei diesen Aktionsformen nicht stehen, sondern verhielten sich latent subversiv. Wann immer die Gelegenheit günstig schien, griffen sie in den reichen Fundus ihrer empfindlicheren Kampfformen. Sie waren ständig bereit, vom Lohnstreik zum Aufstand zu schreiten. Kleine Schritte waren der Weg, nicht das Ziel. Zweitens verhandelten oder kämpften bei ihnen nicht die Gewerk­schaften für die Arbeiter, sondern die Arbeiter be-

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stimmten selbst und direkt. Sie waren die Gewerkschaft. Der Anarchosyndikalismus kannte keinen anonymen Apparat; Funktionäre, Bürokratie und Tarifmauschelei hinter verschlossenen Türen waren ihm fremd. Es entschieden ausschließlich die Betroffenen selbst - entweder als Vollversammlung der Belegschaft oder als gewerkschaftliche Basisgruppe. Eine Organisationsform also, in der die Entscheidungsfindung von unten nach oben lief und dadurch die Gewerkschaft zu einer Art Volkshochschule für den libertären Alltag machte.

Genau hier beginnt der konstruktive Teil des syndikalistischen Konzepts.

Die libertären Syndikate verstanden sich als Keimzelle der neuen Gesellschaft, als ihr verkleinertes Abbild, in dem sich schon in der Gegenwart ansatzweise die Lebensformen der Zukunft entwickeln sollten. Insofern waren sie weit mehr als Berufsorganisationen: ein Vorgriff auf das Ziel, ein Stück vorwegenommener Utopie. Das war natürlich nur begrenzt möglich, denn innerhalb der Unfreiheit ist die vollkommene Simulation von Freiheit nicht denkbar. Dennoch erfüllte der Anarchosyndikalismus seine Funktion als ›soziales Laboratoriums indem er um die klassischen gewerkschaftlichen Aktivitäten herum eine eigene Welt entstehen ließ, die für viele Menschen zur sozialen Heimat wurde. Hier bildeten sich neue Formen des Zusammenlebens, der Kultur, der Wirtschaft und des sozialen Umgangs heraus, in der eine ganze Generation selbstbewußter Menschen lernte, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen: vom Lohnkampf über Erziehung, Bildung und Kultur bis hin zum täglichen Einkauf entstand hier eine Schule der Selbstverwaltung, in der auch die kniffligsten Fragen von Kommunikation und Organisation praktisch bewältigt wurden. In diesen Inseln der Freiheit wurden ›libertäre Grundtugenden‹ zu alltäglichen Handlungsmustern. So entwickelte sich das, was sich nach den Vorstellungen mancher Anarchisten am "Tag der Revolution" angeblich von selbst einstellen sollte: libertäres Verhalten.

Weit entfernt davon, sich von der Welt abzuschotten, wurde diese soziale Kultur zu einer Art virulenter Gegengesellschaft, die die hierarchische Normgesellschaft des Staates von innen her untergrub. Zugleich schuf sie in der Nachbarschaft, in Betrieben, Stadtteilen, Genossenschaften und Kulturgruppen ein Klima des Vertrauens. Anarchisten waren keine anonymen Bestien mehr, sondern Nachbarn und Kollegen, deren Wort etwas galt. Dies hat vermutlich mehr zum Verständnis und zur Verbreitung des Anarchismus beigetragen als Tonnen von Agitationsliteratur.

In erster Linie aber bereitete sich die syndikalistische Arbeiterschaft auf die Übernahme der Gesellschaft vor, insbesondere der Betriebe. Und das tat sie mit System. Nach einem Umsturz, dem man nach Kräften zuarbeitete, sollten die im gewerkschaftlichen Umfeld gewachsenen Strukturen dazu dienen, die Selbstverwaltung einer ganzen Gesellschaft in Gang zu setzen. Dem kam die Erfahrung in der landesweiten Vernetzung einer großen Gewerkschaft ebenso zugute, wie die internationalen Kontakte, die sich zunehmend entwickelten. Vor allem aber war es nötig, exakte Kenntnisse über den Fluß von Waren, Werten und Rohstoffen zu erlangen. Produktionsablauf, Kalkulation, Transport, Austausch - das ganze ABC der Betriebs- und Volkswirtschaft rückte ins Interesse der einfachen

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Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich vorgenommen hatten, die neue Gesellschaft zu errichten. Ohne den nötigen Durchblick durch die komplexen Zusammenhänge einer modernen Gesellschaft war es weder denkbar, freiheitliche Alternativen zu entwickeln, noch einen möglichst reibungslosen Übergang zu schaffen.

So erklärte das anarchosyndikalistische Konzept praktisch die vorrevolutionäre Phase zu einem Trainingslauf für die nachrevolutionäre Zeit. Während gleichzeitig soziale Verbesserungen erkämpft, die autoritäre Gesellschaft geschwächt und die notwendigen Erfahrungen gesammelt wurden, standen immer mehr fähige Menschen in den Startlöchern, bereit, jene große Umwandlung zu vollziehen, die aus einer Revolte erst eine Revolution macht. Man brauchte dann eigentlich nur noch auf eine günstige Gelegenheit zu warten, und die lieferte das System mit seinen tiefen Krisen in schöner Regelmäßigkeit. Es leuchtet ein, daß die politische Taktik der Anarchosyndikalisten darin bestand, diesen Krisen nachzuhelfen. Jede Situation eines staatlichen Machtvakuums konnte so zum Ausgangspunkt der sozialen Revolution werden.

Dieses Konzept war in sich schlüssig und genügte sich selbst. Die herkömmliche Gewerkschaft war ein Hilfswerkzeug politischer Parteien gewesen, nun wurde sie zu einem eigenständigen Faktor. Hieraus erklärt sich die strikte Abgrenzung der libertären Syndikate gegen politische Parteien, Wahlen und Parlamente - eine Haltung, die in etwas irreführender Weise "apolitisch" genannt wurde. Gemeint war damit, daß diese Gewerkschaften kein Instrument einer politischen Organisation sein wollten - auch keiner anarchistischen! -, sondern autonome Körperschaften der Werktätigen. Es versteht sich von selbst, daß die Mitgliedschaft kein Glaubensbekenntnis zum Anarchismus voraussetzte. Die Syndikate vertraten den Standpunkt einer Klasse, keine Ideologie. Ihre Strukturen, Aktionsformen und Ziele waren libertär, das genügte.

So einfach war die Grundidee des anarchosyndicalisme, der in Frankreich ausgebrütet und schon bald als anarcosindicalismo in Spanien verfeinert wurde.

 

Die Geburt eines Konzeptes

Natürlich ist dieses ›Rezept‹ nicht küchenfertig vom Himmel gefallen. Schon Proudhon und Bakunin müssen als gedankliche Urheber angesehen werden, und schon immer waren Anarchisten gewerkschaftlich organisiert. In der Arbeiterbewegung der romanischen Länder war der libertäre Standpunkt ohnehin prägender als der sozialdemokratische. Als die Sozialisten 1889 die von der deutschen Sozialdemokratie beherrschte Zweite Internationale aus der Taufe hoben, machte man den Anarchisten zunehmend Schwierigkeiten. Es kam zu ›Säuberungen‹ und schließlich wurden alle "Antiparlamentarischen" ausgeschlossen. In diesem Klima und im Bewußtsein der Sackgasse, in die die "Propaganda der Tat" geführt hatte, besann man sich in libertären Kreisen auf die Zielsetzung der Ersten Internationale. 1895 erschien in Les Temps Nouveaux ein Aufsatz, in dem Fernand Pelloutier bereits das Grundmuster eines Syndikalismus vorstellte, der zu einer "praktischen Schule des Anarchismus" werden sollte. Pierre Monatte entwickelte die Idee weiter und wies euphorisch

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auf die Perspektiven hin, die sich aus der geballten Kraft dieses Konzepts ergeben könnten. Emile Pouget insistierte* auf der Eigenständigkeit des Syndikalismus und entwickelte mit seiner Schrift Le Sabotage eine neue Form des militanten, passiven Widerstandes. Arnold Roller schließlich entwickelte eine Theorie des Sozialen Generalstreiks und steuerte den Begriff der "direkten Aktion" bei, die zu einer ungemein populären Aktionsform wurde. Selbst der schillernde Sozialphilosoph Georges Sorel, der sich zeitlebens als kämpferischer Marxist verstand, wurde zum Theoretiker des militanten Syndikalismus und verhalf der Idee vor dem Ersten Weltkrieg in den französischen Gewerkschaften zum Durchbruch. In Spanien, wo sich das neue Konzept bereits auf reiche Erfahrung stützen konnte, trugen die Schriften von Soledad Gustavo und Anselmo Lorenzo zu einer praktischen Ausrichtung bei.

In einem sehr kontroversen Diskussionsprozeß hielt die Idee einer libertären Gewerkschaftsstrategie nur langsam Einzug in die anarchistische Bewegung. Vor allem die Anhänger einer ›reinen Lehre‹ befürchteten, daß Gewerkschaft "niemals etwas anderes sein kann, als eine legalitäre* und konservative Bewegung", wie Errico Malatesta sich ausdrückte. Diese Kritik, die vor allem auf die Gefahren der Funktionärsbürokratie hinwies, war im Rückblick auf die gemachten Erfahrungen durchaus verständlich. Sie verkannte allerdings die Innovationskraft des Konzepts und zeichnete sich angesichts der Chancen, die in dieser Idee steckten, durch konservative Phantasielosigkeit aus. Vor allem aber waren die Kritiker vom puristischen Flügel selbst ratlos, denn ihnen mangelte es überhaupt an irgendeiner Strategie. "Sie verkrochen sich", wie Daniel Guerin schreibt, "in ihren geistigen Klöstern und verbarrikadierten sich in Elfenbeintürmen, um dort eine Ideologie zu reproduzieren, die zunehmend irrealer wurde". Es war nur eine Frage der Zeit, bis so kluge Köpfe wie Malatesta sich zu einer differenzierteren Sichtweise durchrangen, und so dem pragmatischeren Weg zum Durchbruch verhalfen. Die Gefahr der Bewegung, zur Sekte zu verkommen, war gebannt.

Um 1910 ist der neue Kurs allgemein akzeptiert und wird vielerorts mit Elan umgesetzt. Da die Entwicklungen und Voraus­setzungen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich waren, ergaben sich hierbei starke zeitliche Verschiebungen. In Frankreich etwa lag die Blüte des Syndikalismus sehr früh, während sie in Deutschland, den Niederlanden, Portugal und Italien erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. In den USA und einigen Ländern Lateinamerikas prägte er die Gewerkschafts­bewegung ohne Unterbrechung von der Jahrhundertwende bis in die vierziger Jahre, wohingegen er in Schweden einen landestypischen Sonderweg beschritt, der bis heute fortdauert. In Spanien, wo der Anarchosyndikalismus 1956 schließlich zur praktischen Umsetzung gelangte, erfuhr das Konzept seine differenzierteste Modernisierung. Populäre Autoren wie Ricardo Mella, Eleuterio Quintanilla oder Isaac Puente trugen zu einer weiten Verbreitung der Ideen bei, für die eine überaus reiche Presse zur Verfügung stand. Zeitungen wie die Solidaridad Obrera oder das Kulturmagazin La Revista Bianca erreichten enorme Auflagenhöhen. Fähige Organisatoren wie Salvador Segui und Angel Pestana beschleunigten das Wachstum, Praktiker wie Juan Peiro und Buenaventura Durruti entwickelten neue Aktionsformen. Entscheidende Impulse zu einer

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inhaltlichen Modernisierung, die zum Teil auch in sehr kontroversen Auseinandersetzungen vorangetrieben wurde, trugen Theoretiker wie Orobon Fernandez und Diego Abad de Santilldn bei. Der Deutsche Rudolf Rocker schließlich profilierte sich zu einem der profundesten Denker des Syndikalismus, und noch in den sechziger Jahren arbeiteten Helmut Rüdiger und Evert Arvidsson an einer Anpassung der Idee an die Gegebenheiten des modernen Sozialstaates.

 

Die direkte Aktion

 

Eine Hinterlassenschaft der kämpferischen Gewerkschaften, die alle Zeiten überdauert hat, ist die Taktik der direkten Aktion. Sie erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und ist auch außerhalb anarchistischer Kreise heimisch geworden.

Wie bei allen genialen Ideen liegt auch hier der Trick in der Einfachheit: Ein Problem wird direkt angegangen, die angestrebte Lösung zielt direkt auf die Ursache. Wenn Menschen hungern, bittet man nicht seinen Abgeordneten um Hilfe, sondern man gibt ihnen zu essen und nimmt es denen, die genug davon besitzen. Sind die Löhne zu niedrig, hört man auf zu arbeiten bis der Lohn wieder stimmt, statt seinen Gewerkschaftssekretär aufzufordern, mit dem Arbeitgeberverband in Verhandlungen um einen Manteltarifvertrag zu treten. Gibt es keine Schulen, so hofft man nicht auf die Kirche, den Staat oder den Sieg der Fortschrittspartei bei den nächsten Wahlen, sondern gründet selbst welche. Ist der Arbeitstag zu lang, tritt man nicht einer Partei bei, der es dereinst im Parlament gelingen möge, einen Arbeitsgesetzentwurf einzubringen, sondern macht einfach früher Feierabend — überall und gleichzeitig.

Solches Vorgehen hat etwas von der erfrischenden Direktheit kleiner Kinder und der Dickköpfigkeit von Menschen, die zu oft an der Nase herumgeführt wurden. Die anarchistischen Arbeiter zwischen Feuerland und Finnischem Meerbusen haben dieses Prinzip sehr geliebt und es mit viel Phantasie auf alle möglichen und unmöglichen Situationen angewandt - meist mit durchschlagendem Erfolg. Staat und Unternehmer haben es ebenso eindeutig gefürchtet. Die militantesten Anarchos machten daraus in den zwanziger und dreißiger Jahren sogar eine sehr direkte Methode der Geldbeschaffung. Fehlte es an finanziellen Mitteln zur Organisierung eines Streiks, zur Gründung einer Schule oder zur Unterstützung der Familien inhaftierter Genossen, eröffneten sie kein Spendenkonto, sondern holten es sich direkt von dort, wo es lag: von der Bank. Moralische Bedenken schienen dabei keine große Rolle gespielt zu haben, standen sie doch auf dem Standpunkt, daß das Geld der Kapitalisten ohnehin von den Arbeitern erwirtschaftet wurde. Und wo immer es ging, wurden die Gefangenen nicht durch Petitionen aus dem Gefängnis befreit, sondern eben - direkt.

Das ähnelt natürlich in gewisser Weise dem Denkmuster der "anarchistischen Expropriation" wie es etwa bei der Bonnot-Bande gepflegt wurde. Aber die Historiker sind sich über einen entscheidenden Unterschied einig: Die syndikalistischen Diebe waren treuherzig wie pedantische Buchhalter, und ihre "revolutionäre Ehre" gebot ihnen, nur für "die Sache" zu stehlen. Das spätere Massenidol Durruti, dessen ganzes Leben der Inszenierung einer

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acción directa glich, pflegte seiner Organisation stets Abrechnungen vorzulegen, die auf die Pesete genau stimmten. Gegenüber der Presse erklärte seine Mutter einmal, daß sie ihn jedesmal, wenn er heimlich bei ihr auftauchte, neu einkleiden mußte - weil er immer so abgerissen herumlief.

Bis heute wirkt die direkte Aktion als Scheidemittel der Geister. Die einen erhoffen vom Staat, er möge ihre maroden Betriebe subventionieren und die Arbeitsplätze erhalten, die anderen besetzen den Betrieb und führen ihn in Selbstverwaltung weiter. Die einen beten zu Gott, er möge Kriege verhindern und Frieden bringen, die anderen blockieren Rüstungstransporte oder sabotieren den Wallenexport. Die einen wählen eine bestimmte Partei, die verhindern möchte, daß Wohnraumspekulation betrieben, Atomkraftwerke gebaut und Wale ausgerottet werden, die anderen besetzen Häuser, legen Baustellen lahm oder attackieren die Walfänger mit dem eigenen Schiff.

Die direkte Aktion ist, wie aus diesen Beispielen ersichtlich, eine Form des Handelns - nicht mehr. Sie läßt sich nicht überall einsetzen und schon gar nicht aus Prinzip. Sie ist weder ein Konzept, noch ersetzt sie eine Bewegung oder eine Strategie. Und ohne eine angemessene Handlungsethik wird aus diesem Mittel der Befreiung nur allzu leicht ein Werkzeug des Terrors. Richtig dosiert aber ist sie fast unschlagbar.

Die Wahl zwischen direkter Aktion und indirekter Aktion ist immer auch die Wahl zwischen Selbstvertretung und Stellvertretung, zwischen selbst handeln und handeln lassen. Selbst und direkt agieren bedeutet, geradlinig aufs Ziel zuzugehen. Das stärkt das Vertrauen in die eigene Kraft und schafft überdies unverhohlene Sympathie, denn es macht Dinge nachvollziehbar und zieht die Lacher auf die Seite der Listigen. Das dürfte erklären, warum direkte Aktionen bei allen staatsbejahenden Strömungen wie Sozialismus, Kommunismus, Sozialdemokratie, Parteien, Kirchen und sonstigen Sekten so unbeliebt sind.

 

Zur Aktualität der Struktur

 

Vom Anarchosyndikalismus als Klassenbewegung ist heute nicht viel übriggeblieben. Das liegt in erster Linie daran, daß die Klassenbewegung überhaupt auf den Hund gekommen ist. Die Arbeiterklasse, von der sich viele fragen, ob es sie überhaupt noch gibt, ist mit Sicherheit nicht mehr der Motor sozialer Veränderung. Die große Zeit der Gewerkschaften ist vorbei. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Umwälzung ergibt sich heute aus anderen Spannungsfeldern als ausgerechnet dem des Elends westlicher Industriearbeiter.

Deshalb versuchen modernere anarchistische Szenarien, das genial-einfache Konzept des Anarchosyndikalismus zu übertragen. Hierzu müssen sie seine Struktur von ihren historischen Bindungen lösen, denn sie ist ja keineswegs an die Form der Gewerkschaft oder die Klasse des Industrieproletariats gekoppelt. Gewiß machen auch heute noch einige Gruppen wackerer Anarchas und Anarchos in Nostalgie und halten das Banner des Proletariats hoch. Solche historisierenden Versuche erschöpfen sich aber für gewöhnlich in einem Syndikalismus ohne Gewerkschaften und einem Klassenkampf ohne Klasse. Selbst die wenigen noch funktionierenden echten Anarcho-Gewerkschaften sind sich bei allen Achtungserfolgen,

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die sie gelegentlich erringen, ihrer Marginalisierung* durchaus bewußt. Nur in Spanien und Schweden und gibt es heute libertäre Gewerkschaften, die diesen Namen verdienen.

Das Originelle am Anarchosyndikalismus aber war ja nicht, daß die Anarchisten vor hundert Jahren ihr Herz für die Gewerkschaften entdeckten, sondern daß sie einen Weg fanden, wie die Lücke zwischen Utopie und Realität zu schließen wäre. Das ganze schlüssige Zusammenspiel zwischen sofortiger Verbesserung und revolutionärer Strategie, zwischen Aufbau und Subversion, zwischen kleinen Schritten und großen Sprüngen ist das eigentlich Interessante an dieser Strategie - ihr Wesen, das auch jenseits des historischen Zusammenhanges noch heute seine Bedeutung hat. Es dürfte nach wie vor der einzig plausible Weg sein, wie eine libertäre Gesellschaft zu erreichen wäre. Ein Weg, der der großen Masse unpolitischer Menschen die Möglichkeit gäbe, die Veränderung auch herbeizuführen, deren Notwendigkeit sie möglicherweise spüren. Ein Weg, auf dem die Anarchisten ihre ungeliebte Funktion einer politischen Elite überwinden und das Risiko von Chaos, Diktatur, Krieg und Hungersnot bei der Geburt der freien Gesellschaft kalkulierbar machen könnten.

 

 

Literatur: Max Nettlau: Anarchisten und Syndikalisten, Teil I (= Geschich. d. Anarchie, Bd V) Vaduz 1985, Topos, 551 S. / Enrico Malatesta: Anarchismus-Syndikalismus Berlin 1978, Libertad, 40 S. / Emile Pouget: Der Syndikalismus Berlin o.J., Der Syndikalist, 16 S. / Arnold Roller: Die direkte Aktion Bremen o.J., Impuls, 85 S. / ders.: Der soziale Generalstreik Berlin o.J., 48 S. / Rudolf Rocker: Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus Berlin 1924, Der Syndikalist, 20 S. / Bertrand Russell: Wege zur Freiheit – Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus Frankfurt/M. 1971, Suhrkamp, 173 S. / G. Yvetot: ABC des Syndikalismus Hamburg o.J. (1973?), MaD, 20 S. / Evert Arvidsson: Der freiheitliche Syndikalismus im Wohlfahrtsstaat Darmstadt 1960, Die Freie Gesellschaft, 51 S. / Ahto Uisk: Syndikalismus – eine Ideenskizze Berlin 198 5, Libertäres Forum, 37 S. / Helmut Rüdiger: Sozialismus in Freiheit (Aufsätze) Wetzlar 1976, Büchse der Pandora, 156 S.

 

  

33 Zwischen den Kriegen

 

"Die Weltgeschichte zeigt zu allen Zeiten, daß die
auf Unterdrückungen unmittelbar folgenden sogenannten
›Befreiungen‹ noch lange keine wirkliche Freiheit bringen."
- Max Nettlau -

DIE RELATIV KURZE ZEITSPANNE zwischen den beiden Weltkriegen war in der ganzen Welt eine Ära des politischen Umbruchs, eine Zeit, in der die Karten neu gemischt wurden. In diesem Übergang zur Moderne installierte sich der Kapitalismus amerikanischer Prägung, und in vielen westlichen Ländern verschwanden die Reste dessen, was man in romantischer Verklärung als monarchistische Gemütlichkeit empfunden hatte. In Rußland versuchte sich eine Alternative zu etablieren, die, wie wir gesehen haben, keine war. Zwischen diesen beiden Polen wird sich in den kommenden siebzig Jahren die Weltgeschichte abspielen.

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Die Epoche, die wir in Deutschland die "Weimarer Ära" nennen, war von einer unglaublichen Dichte an Ereignissen, Ideen und Experimenten geprägt, die Kultur, Technik, Politik, Wissenschaft und Weltanschauung gleichermaßen aufwühlten. Es schien, als ob die Menschen nach dem Schock des Ersten Weltkrieges nichts so sehr suchten wie einen radikalen Neuanfang. Diese latente Bereitschaft war diffus und grenzte nicht selten an irrationalen Wahn. Heilsverkünder aller Couleur hatten Hochkonjunktur in dieser durchgerüttelten Menschheit und hielten reiche Ernte. Am Ende setzten sich die brutalsten und fanatisiertesten durch und führten geradewegs in den nächsten großen Krieg.

Jenseits von Faschismus, Stalinismus und gewöhnlichem Kapitalismus gab es jedoch mehr als eine interessante Alternative. Die meisten von ihnen sind heute vergessen. Der Anarchismus spielte auch in diesen Jahren auf der politischen Bühne keine Hauptrolle, aber seine Alternativen zählen zu den innovativsten und sind nicht mehr zu übersehen. Aus anarchistischer Perspektive stand diese Zeit ohne Zweifel für einen enormen Aufschwung. Nicht nur ein Zuwachs an Stärke machte sich bemerkbar, sondern vor allem auch an Kreativität und Aktion. Im neunzehnten Jahrhundert hatte der Anarchismus zu keinem Zeitpunkt eine für ein Land prägende soziale Rolle gespielt, in der Zwischenkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts sollte dies gleich in mehreren Ländern der Fall sein.

Machen wir also einen kurzen Streifzug durch diese zwei Jahrzehnte, bei dem wir neben der syndikalistischen Hauptströmung auch andere Stränge verfolgen werden, um landestypischen oder inhaltlichen Tendenzen nachzugehen, die bei der bisherigen Betrachtung ausgeblendet werden mußten. Einige dieser damals exotischen ›Nebenlinien‹ sind inzwischen übrigens zu Trendsettern geworden.

 

Nordamerika

Das Land, das sich im Zwanzigsten Jahrhundert anschickte, seine Lebensart in alle Welt zu exportieren, gilt als die Heimat des smarten, erfolgsorientierten Unternehmertums. Der amerikanische Mythos von den unbegrenzten Möglichkeiten des Selfmademan* hat jedoch als Kehrseite eine besonders krude* Variante des Kapitalismus hervorgebracht, mit deren Hilfe sich die Vereinigten Staaten zur führenden Industrienation machten. Das Fußvolk dieser rasanten Entwicklung bildeten die Massen billiger Arbeitskräfte, die als nahezu rechtlose Emigranten ins Land gekommen waren. Unter ihnen machten sich schon früh radikalsozialistische Tendenzen bemerkbar, die mit der starken individualistischen Tradition amerikanischen Pioniergeistes zu einer landestypischen anarchoiden Legierung verschmolzen. Besonders deutsche Einwanderer spielten hier eine wichtige Rolle, später zunehmend auch russische, schwedische, jüdische, und italienische Emigrantenkreise. Den Samen legten die deutschen Revoluzzer von 1848, die nach Amerika geflohen waren, dem "Land der großen Freiheit".

In den Industriezentren des Ostens gibt es bereits um 1860 eine kämpferische Arbeiterbewegung, einige sehr aktive Sektionen sind in der Internationale organisiert. Die deutschen Sozialisten verfügen über die beste Infrastruktur. Ihre Mitglieder zählen nach Tausenden und gelten als ebenso diszipliniert wie aktiv. Sie besitzen Häuser, Druckereien, mehrsprachige Zeitungen, Verlage und kleinere genossenschaftliche Unternehmen.

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 Ihre beliebteste Organisationsform ist der "Lehr- und Wehrverein", eine Mischung aus linker Abendschule und Schützenverein. Selbstverteidigung schien auch dringend angeraten: Die Methoden der Unternehmer waren oft brutal, Arbeitskonflikte ließen sie gerne von mietbaren Agenten, den berüchtigten "Pinkertons", mit dem Revolver lösen. Spezifisch anarchistische Ideen erlangen erst unter dem Einfluß von Johann Most größere Bedeutung, der 1883 in die USA auswandert und dort das legendäre Blatt Freiheit herausgibt. Dieser volkstümliche Agitator, der sich vom populärsten Sozialdemokraten Deutschlands zum überzeugten Anarchisten gewandelt hatte, verhilft den libertären Ideen auch in den USA zu einer großen Anhängerschaft. Um diese Zeit tobt ein harter Kampf um die Einführung des Achtstundentages. Am 1. Mai 1886 streiken in Chicago 80.000 Arbeiter. Es kommt zu Ausschreitungen, die auf beiden Seiten Tote fordern. Acht anarchistischen Streikführern wird daraufhin der Prozeß gemacht, vier von ihnen werden gehängt, einer begeht Selbstmord. Die drei Überlebenden kommen 1893 frei, nachdem der Gouverneur von Illinois den Schauprozeß offiziell zum Justizmord erklärt hatte. Die fünf Justizopfer, vier von ihnen deutsche Emigranten, gingen als die "Märtyrer von Chicago" in die Geschichte ein; der erste Mai ist seither der internationale Kampftag der Arbeiter.

1927 wird die Welt erneut durch amerikanische Justizmorde erschüttert: Am 23. August sterben die Italo-Amerikaner Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl. Der Gesinnungsprozeß gegen die beiden Anarchisten, denen man die Beteiligung an einem Raubüberfall vorwarf, hatte sieben Jahre lang für Schlagzeilen gesorgt und auf allen fünf Kontinenten die größten Protestdemonstrationen ausgelöst, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Auch Sacco und Vanzetti wurden von der amerikanischen Justiz rehabilitiert - nach genau fünfzig Jahren. 1977 erklärte der Gouverneur von Massachusetts den 23.August zum "Sacco und Vanzetti-Gedenktag"...

Die amerikanische Justiz hat eine sehr lange Liste von anarchistischen ›Märtyrern‹ produziert. Solch harte Verfolgung wirft ein Schlaglicht auf die Bedrohung, die die Behörden durch den Anarchismus empfunden haben müssen; die beiden ausgewählten Fälle markieren die Bandbreite der Bewegung: Vom militanten Arbeiterverein bis zur klassischen Agitationsgruppe, zu denen Sacco und Vanzetti gehörten, war der Anarchismus in den Vereinigten Staaten präsent und prägend. Dabei spielte er eine weitaus wichtigere Rolle als etwa die sozialistische Partei, die niemals Bedeutung erlangte. Auch der Marxismus blieb in den USA eher das Hobby städtischer Intellektueller der Ostküste. Die respektlose Direktheit des Anarchismus und das libertäre Ideal eines freien Individuums schienen den rebellischen Traditionen des amerikanischen Volkscharakters eher zu entsprechen.

Es überrascht nicht, daß auch der Syndikalismus in diesem riesigen Land eine etwas andere Prägung bekam. Hier waren die klassenbewußten Arbeiter frei von sozialdemokratischer Konkurrenz, mußten sich dafür jedoch gegen mafiaähnliche Branchenkartelle behaupten, die die offiziellen Gewerkschaften fest im Griff hatten. Diese sahen in der Interessenvertretung der Arbeiter eher ein lukratives Protektionsgeschäft ohne sozialpolitische Inhalte.

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 Die 1905 gegründeten Industrial Workers of the World, kurz IWW genannt, waren die Antwort der selbstbewußten Arbeiter auf diese Zustände. Der Rückhalt dieses Verbandes lag in den Schlüsselindustrien Stahl und Kohle, seine Stärke waren die Transportarbeiter auf Straßen, Schiene und zur See. Ihr verdankten die Wobblies, wie die militanten Syndikalisten im Volksmund genannt wurden, eine rasante Verbreitung im ganzen Land und auch in Übersee, wo sie einige Filialen gründeten. 

In der gesamten Zwischenkriegszeit gab die IWW in den wichtigsten Arbeitskämpfen den Ton an und brachte es in den Variationen der direkten Aktion zu wahrer Meisterschaft. Neben militanten Streiks entwickelten sie sehr effektvolle Taktiken der Blockade, des passiven Widerstands und vor allem des Boykotts, die nahtlos in die Aktionsformen der Bürgerrechts- und Protestbewegungen unserer Tage übergegangen sind. Mit Erfolg wandte die IWW auch das Mittel des Label an, eines syndikalistischen Markenzeichens für Waren, deren Konsum von den Gewerkschaften empfohlen wurde. Industrie­zweige, die einen arbeiterfeindlichen Kurs verfolgten, erhielten kein Label, und ihre Produkte wurden, begleitet von sehr wirksamen Publicity-Kampagnen, mit einem Boykott belegt. Der große Anklang, den die Wobblies unter den Wander­arbeitern, im Millionenheer der entwurzelten Arbeitslosen und den Saisonarbeitern in der kalifornischen Landwirtschaft fanden, trug zur Bildung einer spezifischen Subkultur unter Tramps bei, die Eingang in Mythen und Folklore fand. So ist es nicht überraschend, daß der legendäre ›Märtyrer‹ der Wobblies, Josef Hillström, nicht nur ein berüchtigter Streikredner war, sondern vor allem Musiker, Dichter und Sänger. Die Popularität seiner Protestsongs war so besorgniserregend, daß auch er einem Justizkomplott zum Opfer fiel. Auf Betreiben der Kupferbosse wurde Joe Hill, wie ihn die Arbeiter nannten, im November 1915 hingerichtet. Auch seine typisch amerikanische Form des Protestes lebte durch Sänger wie Woodie Guthrie, Pete Seeger und die Protestsänger der 68er Generation fort und ist heute eine feste Größe im Repertoire sozialer Bewegungen.

Der spätere Niedergang der Wobblies ist nicht nur durch die äußerst brutale Verfolgung zu erklären, der die militante Gewerkschaft ausgesetzt war. In einem immens großen Land mit einem stetigen Überangebot von Arbeitskräften war es schwierig genug, Arbeitskämpfe zu rühren und Solidarität zu wahren. Für die Durchsetzung politischer Ziele blieb da wenig Spielraum. So kam die IWW selten über punktuelle Aktionen hinaus. Sie blieb in erster Linie eine Organisation, die mit großer Militanz zwar einiges an den himmelschreienden Zuständen im wilden Kapitalismus Amerikas änderte, aber nicht in der Lage war, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und dem aufkommenden Nationalismus der vierziger Jahre zu begegnen.

Typisch für den amerikanischen Anarchismus war, daß die linke Dogmatik Europas kaum eine Rolle spielte. Die Trennung zwischen reinem Anarchismus, militantem Syndikalismus und sozialer Protestbewegung mit ihren rivalisierenden Theorien und Schulen hat die USA weitgehend verschont. Als herausragende Vertreterin eines solch undogmatischen Standpunktes kann Emma Goldman gelten, die von der zeitgenössischen Presse einmal als "die gefährlichste Frau Amerikas" bezeichnet wurde. Sie hat sich nicht unterteilt in Frau

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und Feministin, Anarchistin und Agitatorin, Gewerkschafterin und Philosophin, und genau deshalb war sie so geachtet. Stattdessen hat sie, wie der Titel ihrer Autobiographie verrät, ihr Leben gelebt, und das äußerst intensiv. Ihr bewegtes Schicksal, das sie zwischen Rußland, Amerika und Europa hin und her führte, machte sie schon früh zum begehrten Objekt der Medien. Als junge Fabrikarbeiterin teilt sie das typische Schicksal russischjüdischer Emigranten, engagiert sich für die Rechte der Frau, beteiligt sich an Streiks, agitiert für die mexikanische Revolution und wird zu einer der brillantesten Rednerinnen Amerikas. Sie gründet ihre eigene Zeitschrift, Mother Earth, hält Vorträge, lebt in provozierend offenen Männerbeziehungen. Als man sie nach Rußland deportiert, stürzt sie sich in die revolutionären Ereignisse, flieht vor drohender Verfolgung nach Europa, organisiert die Gefangenenhilfe, spricht auf anarchistischen Kongressen, erlernt einen weiteren Beruf. Bei alldem schreibt sie ebenso klug wie offenherzig über politische Themen, wobei sie ihre eigenen Erfahrungen nachvollziehbar reflektiert. Sie greift dabei auch Fragen auf, die in der männergeprägten Welt des Anarchismus tabu oder zumindestens heikel sind. Selbstverständlich finden wir sie 1936 im revolutionären Spanien wieder, und sie setzt all ihre Kraft ein, im Ausland um Unterstützung für dieses libertäre Experiment zu werben. Es ist bezeichnend, daß die Vereinigten Staaten, deren Bürgerin sie einst war, der berühmten Anarchistin die Rückkehr nie erlaubt haben. Als sie 1940 in Kanada stirbt, war die erste libertäre Blüte in Amerika schon vorüber. Immerhin fühlten sich die Vereinigten Staaten von Amerika dadurch so nachhaltig bedroht, daß sie bis auf den heutigen Tag grundsätzlich jedem Menschen ein Visum verweigern, der sich vor dem Immigration Office als Anhänger anarchistischer Ideen zu erkennen gibt. Es wird ausdrücklich danach gefragt.

 

Lateinamerika

 

Als die IWW nach dem ersten Weltkrieg in den Pazifikhäfen Süd- und Mittelamerikas erste Ortskartelle gründete, drang sie auf ein Terrain vor, in dem der Anarchosyndikalismus bereits Fuß gefaßt hatte. Kein Wunder, denn einzelne Länder des Subkontinents konnten auf eine lange libertäre Tradition zurückblicken. Der erste Streik in der Geschichte Mexikos fand 1865 statt, organisiert vom libertären Syndikat der Hutmacher. In Brasilien wurde 1890 eines der frühen anarchistischen Siedlungs­projekte, die Kommune Cecilia gegründet. Argentinien galt als das Land mit der weltweit größten Dichte anarchistischer Presse: dort erschienen über 60 libertäre Blätter in allen möglichen Sprachen, und Buenos Aires leistete sich gar den Luxus zweier anarchistischer Tageszeitungen – eine morgens, eine abends.

Das sind natürlich nur Indizien, die auf die frühe Popularität des Anarchismus in Lateinamerika schließen lassen. Seine Verbreitung war jedoch keineswegs gleichmäßig und hatte sehr unterschiedliche Ursachen. Zwar dürfte es auf dem Subkontinent kaum ein Land ohne libertäre Spuren geben, aber während man in Mexiko, Argentinien, Uruguay oder Kuba von wirklich starken Traditionen sprechen kann, finden wir in Brasilien, Chile, Peru, Bolivien, Costa Rica oder Paraguay bestenfalls zeitweise und regional interessante Ansätze. In Argentinien wiederum ist die Kraft des Anarchismus eindeutig in den Einwanderungs-

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bewegungen um die Jahrhundertwende zu suchen, während seine Wurzeln in Mexiko bis ins hausgemachte Elend der indianischen Ureinwohner reichen. Unterschiedlich stark wirkten sich auch die Bindungen an das sogenannte "Mutterland" Spanien aus, das seinerseits intensiv vom anarchistischen Virus befallen war. Diese Bindungen waren zu Kuba und Mexiko bedeutend stärker als etwa zu Argentinien. Mexiko ist überdies ein Land mit ausgesprochen rebellischen Traditionen. Besonders die landlosen indianischen Kleinbauern haben immer wieder rebelliert und tun dies bis heute. Dabei haben sie, ohne ›Anarchisten‹ zu sein. Aktions- und Lebensformen hervorgebracht, die kaum anders als libertär zu nennen sind. Als in der Agrarrevolution vor dem Ersten Weltkrieg der Bauerngeneral Emiliano Zapata die Indios zum Sturm auf die Hauptstadt führte, geschah dies nicht zufällig unter der libertären Losung "Land und Freiheit". Zapata stand in regem Kontakt zu den Brüdern Flores-Magon, den hervorragendsten Köpfen der anarchistischen Bewegung Mexikos. Gewisse Analogien mit Machnos ukrainischer Bauernguerilla fallen hier geradezu ins Auge.

In der Zwischenkriegszeit jedoch war Argentinien das mit Abstand interessanteste lateinamerikanische Beispiel für die Blüte des Anarchismus.

Bei aller Vorsicht gegenüber Superlativen dürfte Argentinien das Land gewesen sein, in dem der Anarchismus seinen bisher höchsten Grad an Popularität erreichte. In dieser sehr europäisch geprägten Republik hatte sich schon 1901 die anarcho­syndikalistische Federación Obrera Regional Argentina gegründet, die bis zur Ära des Peronismus* in den 40er Jahren stets die Mehrheitsgewerkschaft stellte. Vielen Neueinwanderern, die 1914 33 Prozent der insgesamt acht Millionen Einwohner ausmachten, wurde diese FORA zur politischen Heimat. In ihr organisierte sich der Industriearbeiter ebenso wie der Taxifahrer oder der Gaucho in der Pampa. Das riesige Land zwischen Chaco, Anden und Kap Hoorn wurde mit einem Netz von Syndikaten überzogen. Als 1904 Syndikalisten und Anarchisten zur Demonstration riefen, zogen 70.000 Menschen durch die Straßen der Hauptstadt, die noch keine Million Einwohner zählte. Argentinische Historiker schätzen, daß zur Zeit des Ersten Weltkrieges jeder zehnte Erwachsene organisierter Libertärer war oder anarchistischen Ideen anhing. Die Delegierten der FORA konnten unangemeldet beim Präsidenten der Republik erscheinen, um ihm die Meinung zu sagen – niemand hätte gewagt, sie zurückzuweisen.

Diese starke Bewegung baute auf einer langen und soliden Vorarbeit zahlreicher anarchistischer Gruppen auf, die seit Jahrzehnten im Lande wirkten. Bekannte Denker wie Enrico Malatesta, Pietro Gori und Luigi Fabbri hatten am Rio de la Plata gelebt und gelehrt und der libertären Kultur dort einen sehr lebendigen, sehr italienischen tauch gegeben. Spanier, Deutsche, Polen, Russen, Balten taten das ihrige dazu, daß der argentinische Anarchismus bunt blieb.

Diese Vielfalt schien indes einer einheitlichen Strategie im Wege zu stehen, denn der argentinische Anarchismus blieb von einer tiefen und unheilvollen Spaltung beherrscht. Man könnte meinen, der organisierte Syndikalismus sei in diesem Land zu früh losgeprescht

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bevor nämlich die Debatte um die richtige Strategie zu einem breiten Konsens geführt hatte. Während ein libertärer Flügel den gewerkschaftlichen Weg beschritt und programmatisch beschloß, daß "der Generalstreik die Basis des wirtschaftlichen Kampfes und der Streik eine Schulung zur Rebellion" zu sein habe, beharrte der andere auf anarchistischem Skeptizismus: Er hielt jede Gewerkschaft für zahm und kompromißlerisch. Der alte Streit darüber, ob das System an den staatlichen Organen oder der wirtschaftlichen Basis anzugreifen sei, brach nach dem ersten großen Generalstreik in aller Härte aus: Man konnte sich nicht darüber einigen, ob er nun ein Sieg oder eine Niederlage war. Fortan wurde polemisiert, und man ging zunehmend getrennte Wege. Während das FORA-Blatt La Protesta zu Kundgebungen, Streiks und Boykotten aufrief, sah sich die Leserschaft von La Antorcha ' eher zu Gefangenenbefreiung, Sabotageaktionen oder "revolutionären Enteignungen" animiert. Aus dieser Ecke kam übrigens auch der skurrile* Plan, den Kapitalismus durch den massenhaften Umlauf von Falschgeld in die Knie zu zwingen, wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, daß die allerbesten ›Blüten‹ heimlich in der Druckerei des Staatsgefängnisses von Punta Carreta hergestellt wurden. Trotz aller Härte, mit der diese ideologischen Grabenkämpfe ausgetragen wurden, taten sie der wachsenden Popularität des Anarchismus in Argentinien keinen Abbruch. Der anarchophile Durchschnittsporteño* interessierte sich nicht übermäßig für anarchistische Glaubensfragen; er schien selbst zu wissen, wann Friedfertigkeit angesagt war und wann es Zeit wurde, die Faust aus der Tasche zu ziehen.

Das war zum Beispiel zur Jahreswende 1918/19 der Fall gewesen, als es in Buenos Aires zu dem erwähnten bewaffneten Generalstreik kam, der sich vierzehn Tage lang mit schweren Kämpfen hinzog. Der für südamerikanische Verhältnisse geringfügige Anlaß – Polizisten hatten das Feuer auf einen anarchistischen Trauerzug eröffnet –, reichte diesmal zur Explosion des Zorns. Unter dem Eindruck der Russischen Revolution und meuternder Matrosen in Deutschland ging es den Industriearbeitern von Buenos Aires jetzt nicht mehr um irgendwelche Forderungen, sondern um den Besitz der Fabriken, um die soziale Revolution. Seit 1905 hatte die FORA bereits den freien Sonntag, das Streikrecht, Renten, Unfallkassen, Arbeits­losengeld und Arbeitszeitverkürzungen erstritten und fragte sich, ob sie damit ihrem eigentlichen Ziel näher gekommen sei. Diesmal wollten es die Syndikalisten wissen und riefen zum Umsturz. Das Echo war enorm, das Land wurde lahmgelegt und die Revolte griff um sich. Wichtige strategische Punkte und zahllose Fabriken wurden besetzt, unter ihnen der größte Schwerindustriekomplex des Landes, die Vasena-Werke. Aber gegen Armee, Polizei und die halbfaschistischen Banden der Liga Patriotica konnten sich die spärlich bewaffneten Arbeiter nicht lange halten. Dennoch gab die Regierung nach, bestrafte die Polizisten, ersetzte den Gewerkschaften ihre Schäden und erfüllte eine Reihe alter Forderungen - ein überaus kluger Akt der Staatskunst des populistischen Präsidenten Yrigoyen. Der hatte klar erkannt, daß andernfalls ein Putsch der Militärs oder die anarchistische Revolution auf der Tagesordnung gestanden hätte. Es erstaunt nicht, daß dieser Schachzug die Anarchisten entzweite.

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Noch einmal vereint waren sie, als die FORA 1921/22 im fernen Patagonien einen Landarbeiterstreik organisierte, der schnell in einen allgemeinen Aufstand umschlug. Hier, im dünn besiedelten kalten Süden, auf den Ländereien wallisischer Schafzüchter, arbeiteten überwiegend chilenische Wanderknechte und europäische Emigranten unter schauderhaften Bedingungen. Fast alle waren gewerkschaftlich organisiert. Die rebellierenden peones zogen nun von Estancia zu Estancia, proklamierten in jedem Dorf den comunismo libertario und vertrieben mit Leichtigkeit die ohnehin schwach vertretene staatliche Autorität. Aus einem Gebiet, halb so groß wie Deutschland, flohen die Besitzenden. Die Revolutionäre konnten ihr Glück kaum fassen! Während die einen eine permanente fiesta feierten, begannen andere, sich konstruktiveren Plänen zuzuwenden. Aber nach anfänglichem Zaudern kehrte die Staatlichkeit zurück: Auf Druck der einflußreichen Mitglieder des Country Club sandte die Regierung in Buenos Aires ein Expeditionskorps aus. Zwar hatten die Anarchisten neben Staat und Privatbesitz auch die Armee für abgeschafft erklärt, aber das 10. argentinische Regiment unter Coronel Varela störte sich nicht daran. Es machte kurzen Prozeß und hinterließ 1800 Tote.

Der Anarchismus in Argentinien aber ließ sich nicht so einfach erledigen wie der patagonische Aufstand; seine Wurzeln reichten zu tief und er überlebte bis heute. Daß er so viele, so langwierige und so grausame Diktaturen überstehen konnte, liegt gewiß auch an seiner einzigartigen Volkstümlichkeit. Jenseits aller politischen Tageskämpfe entstanden hier Werte, die steh tief ins Unterbewußtsein der nationalen Identität gruben. Anarchisten hatten Bibliotheken, Schulen, Kinderhorte und Volksküchen organisiert, Kooperativen aufgebaut, Theater übers Land geschickt. Sie hinterließen ihre Spuren in Poesie und Musik, und umstürzlerische Vokabeln mischten sich in Tangos und Zambas, die von den beliebten payadores* auf jedem Fest gesungen wurden. Ihre folkloristischste Kreation aber blieb der Typ des linyera: ein umherziehender Agitator mit wallendem Haar und langem Bart, zu gleichen Teilen Gaucho, Vagabund und Gelehrter. Mit Büchern, Gitarre und Pferd zog er durch die Pampa, um den Leuten Lesen, Schreiben und das ABC des Anarchismus beizubringen. Eine für die Zwischenkriegsepoche geradezu typische Figur, deren Pendant* wir damals auch in Thüringen oder der Extremadura hätten begegnen können.

1929 schlossen sich auf einem Kongreß in Buenos Aires vierzehn libertäre Gewerkschaftsverbände Mittel- und Südamerikas zur ACAT zusammen, der Kontinental-Amerikanischen Arbeiter-Assoziation, einer Untergruppierung der in Berlin ansässigen IAA. Noch stand der Anarchismus Lateinamerikas in kräftiger Blüte, noch schien es möglich, die sich abzeichnende Gefahr des Faschismus zu ersticken. Aber die entscheidenden Schlachten wurden anderswo geschlagen und verloren. Obwohl nur indirekt betroffen, überstand die libertäre Bewegung des Subkontinents die Jahre des Naziterrors auch nicht viel besser als die europäische. Die tiefe Krise, in der sich der Anarchismus nach dem zweiten Weltkrieg wiederfand, setzte mit einigen Jahren Verzögerung auch dort mit voller Wirkung ein. Die zeitweilige Belebung durch die Flüchtlinge der Spanischen Revolution war im Grunde nichts weiter als das Echo einer Niederlage. Es konnte nicht verhindern, daß der libertäre Diskurs in den Zeiten des kalten Krieges kein Thema mehr war.

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Die italienischen Fabrikräte

 

Generelles Alkoholverbot und strenge Selbstdisziplin hatten sich die Arbeiter auferlegt, die im Sommer 1920 in Norditalien die Metallbetriebe besetzten, um sie in eigene Regie zu übernehmen. Bewaffnete Patrouillen sicherten die großen Fabriken von Mailand und Turin, die man mit Laufgräben und Maschinengewehren in wahre Festungen verwandelt hatte. Da sich die meisten Ingenieure und Vorarbeiter der Selbstverwaltung verweigerten, organisierten sogenannte "Arbeiterkomitees für Technik und Verwaltung" den Produktionsablauf. Ab nun bestimmten die Fabrikräte den Kurs der Branche. Da das Experiment auch auf andere Wirtschaftszweige übergriff, konnten die selbstverwalteten Betriebe in eine direkte solidarwirtschaftliche Kooperation treten: Erz und Kohle wurde in Gemeineigentum überführt, und sogar die Banken spielten zunächst mit. Als diese sich später abwandten, gaben die Räte eigene Zahlungsmittel heraus.

Zu diesem Experiment kam es zweifellos unter dem Eindruck der Russischen Revolution, die vom italienischen Proletariat einschließlich der Anarchisten begeistert gefeiert wurde. Eine regelrechte Räte-Euphorie setzte ein. Schon im Februar 1919 hatte der italienische Metallarbeiterverband FIOM die Einrichtung betriebsinterner "Arbeiterkommissionen" erkämpft. Sie sollten sich, so hoffte man, durch Streiks, Besetzungen und direkte Aktionen schrittweise in Fabrikräte umwandeln, die in der Lage wären, die Produktionsmittel zu sozialisieren. Daraufhin sperrt im August 1920 das Patronat* die Arbeiter aus, die antworten mit der generellen Besetzung der Betriebe. Dieser Zustand währte einige Wochen und fand in Rom sein Ende in Verhandlungen, bei denen die Rückgabe der Fabriken mit dem Versprechen erkauft wurde, eine Arbeiterkontrolle einzuführen. Der reformistische Mehrheitsflügel der Gewerkschaft stellte das als großen Sieg hin, die radikalen Kräfte waren fassungslos. Der Triumph war in greifbare Nähe gerückt und wurde um nichts verspielt. Mit Recht bemerkte Malatesta, daß man sich kaum eine günstigere Gelegenheit zur sozialen Revolution hätte wünschen können: die Regierung schwach, die Bourgeoisie verunsichert, die Menschen radikalisiert durch Krieg und Hunger, die heimgekehrten Soldaten geschult im Umgang mit Waffen und die Schlüsselindustrie in den Händen der Arbeiter. Wie zutreffend diese Einschätzung war, bewies zwei Jahre später Mussolini, dem mit nur vier von diesen Druckmitteln der italienische Staat wie eine reife Pflaume in den Schoß fiel.

Nach Auflösung der Fabrikräte kam es zum endgültigen Bruch zwischen dem reformistischen italienischen Gewerkschaftsverband und den Anarchosyndikalisten, deren 1914 gegründete Unione Sindacale Italiana rund eine halbe Million Mitglieder zählte. Sie hatte die Besetzungen aktiv unterstützt, und nachdem sich die Wogen geglättet hatten, stellte der Staat über 80 Libertäre unter Anklage. Bis auf den USI-Vorsitzenden Armando Borghi und Errico Malatesta, der die anarchistische Tageszeitung Umanita Nova herausgab, wurden alle freigesprochen. Zwar konnte man auch diesen beiden nichts Strafbares anhängen, aber sie galten, wohl nicht ganz zu unrecht, als gefährliche Elemente; man behielt sie vorsichtshalber noch acht Monate hinter Gittern. 

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Tragischer verlief das Schicksal des jungen Turiner Intellektuellen Antonio Gramsci, dem eigentlichen geistigen Vater des italienischen Rätemodells. Dieser von anarchistischen Ideen stark beeinflußte Linkssozialist entwickelte in seinem Wochenblatt Ordine Nuovo eine eigenständige Rätetheorie. Obwohl Mitglied der Sozialistischen Partei, vertrat er die These, daß die direkte Arbeitermacht sowohl den Syndikalismus als auch Parteien und politische Gruppen überflüssig machen würde. Dabei glaubte er noch, daß sich derzeit in Rußland genau dies vollziehe. 

Die heißen Debatten, die sich Sozialisten, Syndikalisten, Räteanhänger und Anarchisten damals über den wahren und unwahren Charakter der Räte lieferten, mögen uns heute vielleicht etwas überspannt erscheinen. Entscheidend jedoch war, daß aus dieser Diskussion ein grober Konsens entstand, der zu einer gemeinsamen Plattform, zu einheitlichem Handeln und einem großen sozialen Experiment führte. Es entstand eine Art libertärer Einheitsfront, die bewies, daß antiautoritäre Ideen auch außerhalb des Anarchismus eine Basis fanden und – was entscheidend war – in der Arbeiterschaft lebhafte Resonanz hervorriefen. Der Staat machte Gramsci zum Sündenbock der Unruhen und ließ ihn büßen. Nach fast zehnjähriger Einzelhaft starb er im Gefängnis. Ihres kritischsten Kopfes beraubt, wurde die Sozialistische Partei schon im folgenden Jahr zur leichten Beute der moskauhörigen Kommunisten: Sie inszenierten eine Spaltung, aus der 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging.

Bezeichnend für die politische Wirrnis jener Tage ist der Versuch eines bolschewistischen Abgesandten, die Inhaftierung von Borghi und Malatesta zu nutzen, um die USI zu kaufen. Er bot 300.000 Lire an, falls die Anarchosyndikalisten ihren Vorsitzenden abwählten und sich dem reformistischen Dachverband anschlössen. Lenin glaubte, auf diese Weise das anarchistische Element eindämmen und gleichzeitig über eine starke oppositionelle Fraktion im Zentralverband verfügen zu können, die er auf Moskauer Kurs zu trimmen hoffte. Zuvor nämlich war in Rußland der Versuch gescheitert, die anarcho­syndikalistische Internationale zu umwerben und vor den eigenen Karren zu spannen. Sie sollte – angesichts des weltweiten Mangels an kommunistischen Gewerkschaften – zum Beitritt in die "Rote Gewerkschaftsinternationale" bewegt werden, einem Konstrukt, an dem man in Moskau seit Jahren laborierte, um es international zum Werkzeug der russischen Interessen zu machen. Die zahlreichen Anarchisten, die 1920 und 1921 als Delegierte in Rußland weilten, sahen sich jedoch kritisch um und brachten ernüchternde Berichte nach Hause, die am wahren Charakter der Bolschewiki keinen Zweifel ließen. Auch die USI ging nicht auf das Manöver ein.

 

Europa

Das Experiment der italienischen Fabrikräte steht hier stellvertretend für das politische Klima der Zwischenkriegszeit in Europa. Natürlich ist es nur ein Beispiel. Auch in anderen Ländern, ja sogar in Italien, kam es zu zahlreichen weiteren Gärungen, Experimenten, Erschütterungen. In allen zeigte sich die Hoffnung, mit der die Zwischenkriegszeit begann. In Deutschland und Ungarn entstanden Räterepubliken, Unruhen in Polen, Finnland und auf dem Balkan standen im Zeichen gesellschaftlicher Emanzipation, in Frankreich, Spanien

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und Portugal brachen soziale Konflikte auf und selbst in braven Gegenden wie Großbritannien und Skandinavien machte sich eine zunehmende Sympathie mit den Bewegungen:, bemerkbar, die eine freie soziale Ordnung anstrebten.

Was den Anarchismus angeht, so stehen diese Jahre jenseits aller spektakulären Experimente für ein stetiges Anwachsen und die innere Festigung der Bewegung. In vielen Ländern können die Libertären jetzt legal auftreten und ihre Ideen öffentlich verbreiten. Allenorts entstehen Gruppen, Zeitungen, Föderationen. In Bulgarien, Portugal, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei verschafft sich der Anarchismus zunehmend Gehör. Und überall das gleiche Bild: Die erste Euphorie über die Russische Revolution verfliegt, gefolgt von einem Prozeß der eigenen Konsolidierung, der schon bald an die Grenzen stößt, die ein neuer Gegner diktiert: der Faschismus. In einigen Ländern stramm national geprägt, in anderen eher rassistisch, sozialchauvinistisch, gewerkschaftlich oder religiös, breitet er sich in den zwanziger Jahren in ganz Europa aus. In einigen Ländern kommt er sehr früh an die Macht, in anderen verzögert sich seine Ausbreitung um viele Jahre. Das Gemeinsame aller faschistoiden Spielarten ist, daß sie erklärte Gegner der Freiheit sind und unversöhnliche Feinde einer selbstbewußten, kämpferischen Arbeiterschaft. Mithin wird der Faschismus in Europa zum Gegner Nummer eins der Anarchisten.

 

Einer, der diese Gefahr früh erkannte und schon 1920 auf eine Einheitsfront gegen Rechts hinzuwirken versuchte, war der unermüdliche Malatesta. Als die antifaschistische Allianz 1922 endlich zustande kam und einen Generalstreik proklamierte, waren Mussolinis Schwarzhemden bereits zu stark. Ihr "Marsch auf Rom" war nicht mehr aufzuhalten, und der Duce, auf den der Anarchist Anteo Zamboni 1926 ein erfolgloses Attentat verüben sollte, wurde zum ersten faschistischen Diktator. Dieser krankhafte Egomane, der sich bis 1914 als Sozialist verstand und gelegentlich auch versucht hatte, sich bei Anarchisten anzubiedern, war Malatesta übrigens 1913 persönlich begegnet. Das Urteil des alten Anarchisten über den damaligen Herausgeber des Sozialistenblattes Avanti war eindeutig: "Ich habe mit diesem Menschen nichts gemein."

Als Polizei und Faschisten 1922 den Generalstreik blutig unterdrückten, wurde auch das Bild Malatestas öffentlich verbrannt. Der populäre Anarchist war den neuen Machthabern ein rotes Tuch. Als er 1919 sechsundsechzigjährig nach Italien zurückgekehrt war, jubelte ihm die Volksmenge zu, und der liberale Corriere della Sera bezeichnete ihn als "eine der größten Persönlichkeiten des italienischen Lebens". Zusammen mit anderen Oppositionellen wurde er jetzt erneut verhaftet, aber ohne Gerichtsverhandlung wieder freigelassen. Mit siebzig Jahren nahm er seinen Beruf als Elektriker wieder auf und lehnte es ab, ins Exil zu gehen. Bis zu seinem Tode hielten ihn die Behörden unter Hausarrest, wo er noch einige für die Programmatik des Anarchismus bedeutende Aufsätze verfaßte. Als er 1932 starb, trauerte die halbe Nation um den unbeugsamen alten Mann. Der Hafen von Genua erstarb unter dem minutenlangen Heulen der Schiffs- und Fabriksirenen.

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Ähnlich wie Emma Goldman ist Errico Malatesta oft und gerne als exemplarischer Anarchist dargestellt worden. Auch wenn stets etwas Verklärung mit im Spiel ist, wenn abenteuerliche Lebensläufe den Hintergrund eines Menschen abgeben, so kann man diesem Kompliment kaum widersprechen. Malatesta zeichnete sich in der Tat durch eine hohe persönliche Integrität aus, die ihn zum Vorzeigeanarchisten geradezu prädestinierte. 

Obwohl er zu einer berühmten Figur wurde, hat er den Rummel um Personen zutiefst gehaßt. Als er einmal als "Bakunist" bezeichnet wurde, entgegnete er gereizt: "Wir folgen Ideen, nicht Männern." Im Gegensatz zu Bakunin oder Kropotkin, die im Grunde immer konvertierte Aristokraten blieben, lebte der Bauernsohn Malatesta, der "für die Revolution" sein Medizinstudium aufgab, ausschließlich von seiner Hände Arbeit. Diese Revolution schürte er nach Kräften in Italien, England, Frankreich, Argentinien, Kuba, in den USA, der Schweiz und sogar in Ägypten. Er floh in einer als Nähmaschine deklarierten Stückgutkiste nach Buenos Aires und entwich in einem Ruderboot von der Gefängnisinsel Lampedusa. Mehr als zehn Jahre verbrachte er in Unter­suchungshaft, ohne jemals rechtskräftig verurteilt zu werden. 

Seine klaren Analysen brachten komplizierte Sachverhalte auf den Punkt, und als Redner war er ebenso beliebt wie als Autor populär. Ganze Generationen einfacher Menschen fanden durch seine wohlfeilen und leichtverständlichen Broschüren, in denen die Arbeiter Carlo und Luigi oder die Bauern Giorgio und Pepino im Zwiegespräch soziale Fragen erörtern, Zugang zur Ideenwelt des Anarchismus. Sie erschienen in allen möglichen Sprachen, erreichten Massenauflagen und sind noch heute ungetrübt genießbar.

Große Sympathien heimste Malatesta auch durch seine politische Offenheit ein. Obgleich er sehr entschieden Stellung beziehen konnte, hatte er für ideologische Fraktionen nichts übrig. Wie wenige besaß er die Gabe, das Gemeinsame zu entdecken und vermittelnd zu wirken. Sein Anarchismus war ein "Anarchismus ohne Adjektive*"; statt Formeln zu folgen, zog er es vor, sich sein eigenes kritisches Urteil zu bilden und, wenn nötig, umzudenken. Angesichts starrköpfiger Dogmatiker, wie sie auch im Anarchismus nicht selten vorkommen, hielt er es mit seinem Freund Saverio Merlino, der geschrieben hatte: "Die Menschheit marschiert nicht auf einem einzigen Weg und nach der Schulrute ihrem Ziele zu. Erwarten wir viele Überraschungen und vertrauen wir nicht zu sehr unserer eigenen Phraseologie."

 

Exotica

Unweit von Seoul befindet sich das Museum der Nationalen Unabhängigkeit. In der großzügigen Anlage ist eine ganze Abteilung dem "heroischen Kampf der Anarchisten in Korea" gewidmet, an deren Eingang eine überlebensgroße Bronzestatue von Kim Jwa Jin steht, dem "koreanischen Machno". Dessen Bauernguerilla befreite in den zwanziger Jahren die Hälfte der mandschurischen Provinz Fu Kien, unter deren 15 Millionen Einwohnern sie den Aufbau eines dörflichen Gemeinwesens nach den Prinzipien der Koreanischen Anarchistischen Föderation vorantrieb. Der Befreier wurde 1930 von einem Agenten Stalins ermordet; die Volksarmee ging im Widerstand gegen die japanische Invasion unter und mit ihr das libertäre Experiment.

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Der koreanische Anarchismus führt seine Wurzeln tief in die Traditionen der eigenen Kultur zurück und datiert ihren Beginn auf das Ende der Lee-Dynastie, als der rationalistische Philosoph Yui Hyan Won Anfang des 18. Jahrhunderts das egalitäre Kyun-Jeon System zur Landreform entwickelte, um damit das Ende des Feudalismus einzuläuten. Solche libertären Traditionen entstanden völlig unabhängig vom abendländischen Denken oder den sozialen Kämpfen Europas. Erst nach der Öffnung der asiatischen Nationen kamen um die Jahrhundertwende die Ideen des westlichen Anarchismus nach Japan, China und Korea. Es handelte sich dabei meist um Exportware: Zahlreiche Intellektuelle, die in Paris, London, Rom oder Berlin studierten, wurden zu begeisterten Adepten der Lehre und versuchten nach ihrer Rückkehr eine - oftmals unkritische - Verpflanzung in ihre Heimat. So erlebte etwa Japan um 1905 einen regelrechten Kropotkin-Boom. Erst in der Auseinandersetzung mit eigenen freiheitlichen und rebellischen Traditionen kam es teilweise zu einer Synthese, die in manchen Ländern zum Ausgangspunkt einer eigenständigen anarchistischen Bewegung wurde. Auffallend aber blieb stets der Versuch, die nationale Variante in Analogie zur europäischen Entwicklung zu sehen. So wird beispielsweise der koreanische Philosoph Chung Dasan (1760 - 1833), der mit dem Yeo-Jeon System ein dörfliches Selbstverwaltungsmodell anarchokollektivistischen Zuschnitts entwickelte, gerne als der "koreanische Godwin" bezeichnet. Und die Bauernrevolten, die zwischen 1867 und 1894 dreiundfünfzig Landkreise befreiten, in denen die Hälfte der Getreideproduktion des Landes kollektivwirtschaftlich erbracht wurde, gilt unter koreanischen Libertären als Vorläufer der Spanischen Revolution.

Im Vergleich zum europäischen Anarchismus nehmen diese Bewegungen oft bizarre Formen an. Klare Grenzen zwischen nationaler Befreiung und konfuzianischem Hierarchiedenken lassen sich oftmals schwer erkennen. So findet sich im Shanghaier Exilkabinett des späteren koreanischen Premierministers Syngman Rhee 1919 ein anarchistischer Minister namens Yu Rim, und 1946 spaltet sich aus der libertären Bewegung gar eine "Anarchistische Partei" ab, die nach den Wahlen fünf Abgeordnete ins Parlament bringt. Solche Indizien lassen auf einen recht starken Rückhalt der koreanischen Anarchisten schließen, die seit der Jahrhundertwende mit zahllosen Gruppen, Zeitungen und auffallend vielen schwarzen Fahnen die gleiche plakative Propaganda betreiben, wie sie auch im Westen üblich ist. Das große Prestige aber, von dem der koreanische Anarchismus noch heute zehrt und der ihm den kuriosen Ehrenplatz im Nationalmuseum besehene, gründet sich auf der Rolle, die Anarchisten zwischen 1931 und 1945 im Kampf gegen die japanischen Besatzer spielten. Im Mutterland ebenso wie im Exil organisierten sie einen empfindlichen Widerstand, der von Guerillagruppen bis zu Attentaten auf japanische Generäle reichte.

Hierzulande ist der koreanische Anarchismus selbst unter belesenen Libertären eine unbekannte Größe. Und Korea steht hier nur als Beispiel für andere Länder, die ähnliche Entwicklungen vorweisen können. Im Allgemeinen ist Anarchismus in Asien für westliche Anarchos eher ein Stück Exotik als ein ernstzunehmendes Thema. Dabei könnte man über die Rolle der japanischen Meji-Sozialisten im Spannungsfeld zwischen Sozialdemokratie

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und Anarchismus vor dem Ersten Weltkrieg ebenso trefflich disputieren wie über die Auseinandersetzungen zwischen den Libertären und Marxisten Europas in der ersten oder zweiten Internationale. Unser eurozentrisches* Weltbild jedoch verfährt recht gnadenlos mit solchen ›Exotica‹. Das führt leicht dazu, den Einfluß zu übersehen, den die libertären Bewegungen Asiens in der Zwischenkriegszeit, besonders in den Wirren des chinesischen Bürgerkrieges und der japanischen Aggressionen, ausübten. In China beispielsweise erschöpfte sich dieser Einfluß nicht in dem philosophischen Disput, der die Kreise fortschrittlicher Intellektueller erfaßte, zu denen übrigens auch der junge Mao Tse-Tung zählte, der vor seiner Karriere als Parteikommunist einer sogenannten "weichen Linie" des chinesischen Anarchismus angehörte. Das Echo libertärer Ideen reichte weiter und hinterließ auch dauerhaftere Spuren. So wurden etliche Schriftsteller des Landes zu veritablen Libertären, etwa der große chinesische Literat Pa Chin. Die anarchistische Agitation erfaßte insbesondere die Arbeiterschaft in den Industriezentren; Schanghai wurde zeitweise zu einer Drehscheibe libertärer Aktivitäten. Aus Berichten von asiatischen Anarchistenkongressen jener Tage geht zum Beispiel hervor, daß die in libertären Kreisen weltweit propagierte Kunstsprache Esperanto damals unter den Delegierten als gängige Verkehrssprache benutzt wurde. Selbst im ultraautoritären Japan schien der Tennö-Staat die anarchistischen Umtriebe als Bedrohung empfunden zu haben. So nutzte die Militärpolizei das Chaos nach dem großen Erdbeben von 1923, um mit den militanten Libertärsozialisten abzurechnen, zu denen übrigens zahlreiche koreanische ›Gastarbeiter‹ zählten. Sie inszenierte ein Massaker, bei dem auch die bekannte japanische Anarchistin Ito Noe und ihr Lebensgefährte Ösugi Sakae den Tod fanden. Dennoch sah sich die japanische Bewegung Ende der zwanziger Jahre in der Lage, große Mobilisationen gegen den Militarismus oder für Sacco und Vanzetti zu organisieren.

Auch wenn der chinesische Mao-Kommunismus, der Imperialismus Japans und die folgende Amerikanisierung im pazifischen Raum den libertären Aufbruch Asiens stoppten, konnten sie doch die Bewegung nicht ausrotten. Nur ein Jahr nach der demokratischen Öffnung Koreas konnte die wiederauferstandene Anarchistische Föderation des Landes 1988 mit einem großen, internationalen Kongress demonstrieren, daß ihre Ideen auch vierzig Jahre Illegalität überstehen konnten.

 

Weniger exotisch aber ebenso unbekannt präsentiert sich die anarchistische Bewegung in Australien, die 1986 zu einer fast offiziösen internationalen Geburtstagsparty einlud. Hundert Jahre zuvor war es in Melbourne als Reaktion auf den Justizmord von Chicago zu Unruhen gekommen, in deren Folge sich die ersten "Anarchist Clubs" bildeten. Die Bewegung war der Nordamerikas sehr ähnlich, obwohl in Australien – infolge der Bindungen ans britische "Mutterland" – die Rolle der Gewerkschaften und der sozialistischen Partei eher von europäischem Zuschnitt war. Die meisten Anarchisten entstammten der Arbeiterbewegung und hatten einen soliden sozialistischen Hintergrund. Anarchosyndikalistische Praxis verfing hier weit mehr als die reine anarchistische Philosophie. 

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Während der ersten Jahrzehnte spielten die Libertären eine Art Oppositionsrolle in den australischen Gewerkschaften, später bereichert durch den Einfluß der IWW, der über die australischen Seehäfen auf den fünften Kontinent gelangte. Die Bewegung brachte einige populäre Gestalten hervor, wie William Lerne, der 1892 den vielgelesenen Roman "Workingman's Paradise" schrieb oder den talentierten und wortgewaltigen Organisator J. W. Fleming. Beim Kriegseintritt Australiens 1914 bildeten die Anarchisten die einzige ernstzunehmende antimilitaristische Opposition, wobei das große Engagement von Frauen besonders auffällig war.

Immer wieder gab es auch libertäre Intellektuelle, von denen sich einige anschickten, die freiheitlichen Wurzeln zu untersuchen, die die sanften Lebenszusammenhänge der australischen Ureinwohner auszeichnen, deren archaische Gesellschaft auf gegenseitiger Hilfe aufbaut und keine Herrscher kennt. Diese Aborigines rückten durch die Verfolgungen, denen sie durch die weißen Eindringlinge ausgesetzt waren, zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und bilden heute ein wichtiges Feld libertären Engagements. Auf der anderen Seite bildete auch der traditionell-australische Habitus des unabhängigen und obrigkeits­feindlichen Outback-Pioniers, der von jeher Elemente einer ebenso individualistischen wie rebellischen Dickköpfigkeit aufwies, einen guten Nährboden für libertäre Ideen und begünstigte die Entwicklung der Bewegung. Die Identität des weißen Australien entstand schließlich aus einer Strafkolonie! Das klassische Einwanderungsland wurde seit der Jahrhundertwende ungezählten Immigranten zur neuen Heimat, unter ihnen viele politisch Verfolgte, die sich eifrig in ihren jeweiligen Gruppen organisierten und zum Entstehen einer vielsprachigen libertären Presse beitrugen.

Der australische Anarchismus führte - bedingt durch die geografische Isolation - ein recht unspektakuläres Eigenleben, das naturgemäß schwache Bindungen an die Bewegung im Westen entwickelte. Eine der landestypischen Varianten, die ihn bis heute hervorhebt, ist sein reiches Repertoire an ländlichen Kommune- und Siedlungsexperimenten, was in einem solch großflächigen Land nicht erstaunt, in dem der Boden billig ist und die Regierung weit. Während anarchistische Gewerkschafter in den großen Städten Streiks organisierten, gab es in Australien schon immer auch Individualisten, die in Gruppen aufs Land zogen, um auf irgendeiner Farm des Hinterlandes zu versuchen, das anarchistische Ideal praktisch umzusetzen.

 

Projektanarchismus

Wir können unseren Querschnitt durch das politische Leben der Zwischenkriegszeit nicht beenden, ohne einen Blick auf eine wichtige, aber schwer definierbare libertäre Tendenz geworfen zu haben, deren Benennung schon deshalb schwerfällt, weil sie keinen eigenen Namen hat. Die Rede ist von den vielen kleinen sozialen Exponenten, die uns bisher schon des öfteren begegnet sind. Jenen Siedlungen und Kommunen, Selbsthilfegruppen und Kooperativen, Schulen, Farmen, Läden, Kneipen, Handwerks­betrieben und selbstverwalteten Kollektiven, die im libertären Sinne versuchen, als soziale Experimente schon hier und heute ein Stück vorweggenommener Utopie zu leben. 

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Projekte, die unspektakulär und weitgehend legal ohne die Begleitumstände von Revolten und Volkserhebungen geboren werden und vielleicht gerade deshalb die interessanteren Versuche sind. Es hat sie seit jeher gegeben, und sie haben den Mainstream-Anarchismus zu allen Zeiten begleitet. Da sie aber nie selber "Mainstream" waren, lange Zeit keine eigene Theorie und viel weniger eine geschlossene Strategie entwickelten, kamen sie auch zu keinem historischen Namen. Angesichts der holprigen Vokabel "Anarcho­syndikalismus" mag man darüber sogar erfreut sein... In Ermangelung einer besseren Alternative möchte ich den nicht weniger spröden Begriff "Projektanarchismus" verwenden, der sich in unseren Tagen einzubürgern beginnt.

Das Fehlen einer eigenen Theorie und Strategie ist zum einen daraus erklärbar, daß sich diese Strömung kaum je als Konkurrenz­modell zu anderen libertären Richtungen verstanden hat, sondern eher als deren Ergänzung oder Umsetzung. Zum anderen neigen praktisch veranlagte Menschen - und genau solche waren und sind die Promotoren* solcher Projekte - weniger zum Theoretisieren. Während manche Anarchisten ihr halbes Leben damit verbringen, die Frage zu erörtern, ob eine Revolution die Voraussetzung für ein anderes Leben ist oder anderes Leben die Voraussetzung der Revolution, pflegen die ›Pragmatiker‹ mit den Schultern zu zucken und mit der Veränderung zu beginnen. Sie sind gewöhnlich der Auffassung, daß Revolution und Beginnen etwas miteinander zu tun haben und sich wechselseitig bedingen.

"Beginnen" lautet auch der Titel eines Buches von Gustav Landauer, das dessen gesammelte Schriften zum Aufbau des "Sozialistischen Bundes" enthält. Der von der Sozialdemokratie zum Anarchismus gekommene Landauer, Philosoph, Übersetzer und auf der Suche nach einer Alternative zum Parteisozialismus einerseits und zur blinden Militanz andererseits. Platte Propaganda überzeugte den sanften Pazifisten ebensowenig wie dumpfe Massenbewegung. Er zählte auf die Initiative selbstbewußter, aktiver Individuen. Sein breit angelegtes Projekt, zwischen 1906 und 1915 konzipiert, sollte zu einer großen Siedlungsbewegung werden, in der eine organisierte Welle von ›Aussteigern‹ den Staat nicht zerschlägt, sondern ihm von innen her die Kräfte entzieht. Gleichzeitig sollte sie eine blühende Alternative entwickeln, die attraktiv genug wäre, immer mehr Menschen dazu zu bringen, der kapitalistischen Gesellschaft einfach den Rücken zu kehren. Je weiter ein solches Projekt gediehen sei, desto schwerer wäre es zu bekämpfen oder zu zerschlagen. Dem Titel seines Buches entsprechend, tat Landauer alles, um zu beginnen. Tatsächlich entstanden im Vorkriegsdeutschland einige vielversprechende Ansätze. Es bildeten sich Gruppen, und man begann Land zu kaufen, Höfe aufzubauen und Siedlungen zu gründen. Bis 1914 entstand eine Grundstruktur des Sozialistischen Bundes, von der einiges zu erwarten gewesen wäre. Der Krieg aber zerstörte das noch dünne Netz, und Landauer selbst, der sich in der Münchner Räterepublik als Volkskommissar für Bildung hervorgetan hatte, wurde 1918 beim Einmarsch der Regierungstruppen in einem Gefängnishof von johlenden Soldaten gelyncht.

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Kaum einer von denen, die sich in der weltweiten Aufbruchbewegung der sechziger Jahre auf die Suche nach alternativen Lebensformen begaben, die Landkommunen, Wagensiedlungen, Wohngemeinschaften, Alternativbetriebe und Stadtteilprojekte aufbauten, hatte jemals seinen Namen gehört. Als nach den Hippies und der Studentenrevolte die "Alternativbewegung" zu einem Trend wurde, wurden auch Landauers Schriften wieder aufgelegt – von "Alternativverlagen", wie sich versteht. Viele, die damals glaubten, das "Aussteigertum" sei ihre eigene Erfindung, stellten mit Erstaunen fest, daß die "Alternatives" einen frühen Vorläufer hatten, der zudem noch viel weiter voraus­gedacht hatte als sie selbst.

Nicht nur das. Die Zwischenkriegszeit erlebte auch schon eine erste Blüte solcher Projekte, die wir heute "alternativ" nennen würden, die aber mittlerweile so gut wie vergessen sind. Deutschland erlebte während der Weimarer Republik einen regelrechten Boom an sozialen, politischen, ökonomischen und lebensreformerischen Projekten und stand damit nicht allein. In vielen Ländern der Erde begannen mehr Menschen denn je, sozial zu experimentieren.

 

Ein Schüler und enger Freund Landauers, der libertär-religiöse Sozialphilosoph Martin Buber, emigriert 1938, von den Nationalsozialisten verfolgt, nach Palästina. Dort war im Schatten der großen Politik seit vielen Jahrzehnten ein soziales Projekt im Gange, das weltweite Aufmerksamkeit erregen sollte. 1882 kamen die ersten jüdischen Einwanderer ins Land, um gemäß der zionistischen Idee dem Volk Israels wieder eine Heimat zu schaffen. Die blutige Geschichte des israelischen Staates und der ethnisch*-nationale Konflikt mit dem palästinensischen Volk wäre den Menschen vermutlich erspart geblieben, wenn sich die libertäre Tradition der jüdischen Sozialbewegung behauptet hätte, zu deren Inspiratoren Landauer und Buber zählten.

Schon mit der ersten Einwanderungswelle von 1882 entstehen landwirtschaftliche Kolonien, die ab 1921 zunehmend durch einen neuen Typ, die Moschawim, abgelöst werden: genossenschaftliche Siedlungsdörfer mit Gemeinbesitz an Boden und kollektiver Vermarktung, frei von Lohnarbeit, aber mit der Pflicht zu gegenseitiger Hilfeleistung. Erste Kibbuzim folgen, Siedlungen, die neben der Landwirtschaft auch Handwerk, Verarbeitung und Industrie betreiben, und in denen alles allen gehört. Diese Kleindörfer erstreben eine weitgehende Autarkie: Der Kibbuz ist allen Bedürfnissen seiner Mitglieder verpflichtet, einschließlich Bildung, Gesundheit, Unterhaltung, Kinder- und Altenpflege. Jeder Kibbuz ist autonom und beruht auf freiwilliger Mitgliedschaft. Zur Überraschung zahlreicher Skeptiker erweist sich diese Lebensform nicht nur für gestandene Linke als attraktiv. Sie entstehen in bunter Vielfalt: sozialistisch, libertär, religiös, atheistisch, apolitisch. Auch wirtschaftlich sind sie ausgesprochen erfolgreich und bilden bald ein ebenso dichtes wie stabiles Netz. Das Entstehen dieser Bewegung ist auf den Einzug fortschrittlicher Ideen zurückzuführen, die mit der zweiten und dritten Einwanderungswelle ins Land kommen. Unter diesen überwiegend politisch motivierten Juden aus Rußland, Polen, Rumänien, Deutschland und der Ukraine gab es neben Sozialisten auch Libertäre aller Couleur. Sie bringen die Ideen von Kropotkin und Landauer mit und auch den Mythos der untergegangenen Machnotschina. Das bleibt nicht ohne Folgen. 

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Auch in den Arbeitervierteln der Städte, im Gewerkschaftsverband Histadrut, in der großen Kultur und im täglichen Leben, im Bildungswesen und in den Medien wird der libertäre Standpunkt zu einem festen Bestandteil der öffentlichen Meinung. Und der besagt mit fast prophetischer Weitsicht, daß die beabsichtigte Gründung eines Staates Israel ein verhängnisvoller Fehler wäre. Führende Intellektuelle wie Buber plädierten stattdessen für eine offene Föderation aller Volks- und Religionsgruppen auf der Basis kommunaler Selbstverwaltung. Eine solche sanft-libertäre Lösung aber scheint nach dem Holocaust und der politischen Polarisierung der Lage während der britischen Mandatsschaft in Palästina nicht mehr durchsetzbar. Mehrheitsfähig ist sie unter den zahlreichen Neueinwanderern auch nicht mehr. So bekommen die Juden schließlich ihren eigenen Nationalstaat, in dem sie am Ende ihr einziges Heil erblickten. Mit ihm bekamen sie auch eine endlose Kette von Tragödien.

Die Frage, wie die Entwicklung im Nahen Osten verlaufen wäre, wenn sich das libertäre Modell hätte durchsetzen können, ist eine verlockende Spekulation. Fesselnder noch wäre die Frage nach den Auswirkungen, die der Triumph eines solchen, sagen wir ruhig "projektanarchistischen Ansatzes", für das Schicksal politischer Utopien allgemein hätte haben können. Martin Buber, Autor des Buches "Pfade durch Utopia", hätte darauf gewiß eine Antwort gewußt.

 

Die Palette libertärer Projekte erschöpft sich nicht im Sozialistischen Bund oder den Kibbuzim in Palästina, und Gustav Landauer ist nur einer von vielen geistigen Paten. Die Eckwerte solcher Experimente finden sich in vielen praktischen Initiativen wieder, die in der Zwischenkriegszeit besonders stark sprossen: freies Leben, nachvollziehbare Beispielhaftigkeit, Einklang mit der Natur, gemeinsames Wirtschaften, selbstbestimmte Arbeit, kreatives Lernen, solidarisches Verhalten, individueller Freiraum, aktive Aktion, passiver Widerstand, vielfältige Kultur, Offenheit und Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen und natürlich auch der Eigenheit von Frauen und Kindern.

Die Größe solcher Unternehmungen war sehr unterschiedlich, ihre Qualitäten auch, genauso wie ihre Einbindung in die anarchistische Bewegung. Vor allem aber war sie stets offen für die unterschiedlichsten Impulse. Die britische Gartenstadtbewegung wirkte da ebenso inspirierend wie Leo Tolstois anarchopraktische Lebensweise, der experimentelle Landbau des Pioniers Bernhard Kampffmeyer, das ästhetisierende Kunsthandwerk eines William Morris oder das Erziehungswerk von Francisco Ferrer und Sébastien Faure. Die atheistischen Freidenker trugen zu diesem esprit libertaire bei, ebenso die Esperantisten, Nudisten*, Vegetarier, Freireligiöse oder Rohköstler. 

In der Tessiner Künstlerkolonie von Monte Veritá war dieser Geist zu Hause, geradeso wie in der frühökologischen "Naturwarte" von Paul Robien, den Marmor­kooperativen von Carrara oder jener genossenschaftlichen Glasfabrik, die CNT-Aktivisten 1926 im katalanischen Mataró gründeten. Und natürlich auch in der kleinen Münchner Mietwohnung, in der Erich Mühsam mit seinen Bohemefreunden einst versuchte, ein Projekt aufzuziehen, das sich mit der Reparatur und dem Verkauf gebrauchter Schuhe befaßte, um so genug Geld für das Freibier zu erwirtschaften, das man den Stadtstreichern auf anarchistischen Versammlungen spendierte. Mühsams Projekt scheiterte übrigens, während die Fabrik von Mataró bis heute existiert.

Die Blüte des Anarchismus in der Zwischenkriegszeit war im gleichen Maße eine Blüte des Projektanarchismus wie des Syndikalismus, die genau genommen auch nicht voneinander zu trennen sind. Schließlich ist die anarchistische Gewerkschaftsidee nichts weiter als ein auf die Arbeitswelt angewandter ›projektanarchistischer‹ Ansatz. Allerdings war der Projektanarchismus stets wenig spektakulär und daher kein Medienereignis.

Das gilt auch für das große anarchosyndikalistische Experiment der Zwischenkriegszeit und erklärt vielleicht, warum so viele Menschen immer wieder die Spanische Revolution mit dem Spanischen Bürgerkrieg verwechseln: Der Krieg wurde zum Spektakel, die libertäre Revolution wurde kaum wahrgenommen. Sie war ein Prozeß von dreißig Jahren, der zunächst auf leisen Sohlen daherkam, um dann in einem großen Knall zu kulminieren*. Nach ›projekt-anarchistischer‹ Auffassung macht indes nicht der Knall die Revolution aus, sondern all das zusammen: ›Projekte‹, soziale Bewegung, Krise, Revolte, Umsturz — volià, das einfachste Grundrezept für eine Revolution, die diesen Namen verdient.

1936 sollte die Welt Zeuge einer solchen Revolution werden.

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