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12.  Small is beautiful. Die Idee der Vernetzung  

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Zum anderen zeigt sich ein weiteres Phänomen in der Entstehung vielfältigster Organi­sationen, die den Menschen helfen, ihre Angelegen­heiten selbst in die Hand zu nehmen (...) Dieses Phänomen ist zwar gegenwärtig nur in bescheid­enen Ansätzen sichtbar, wird aber auf Dauer die Staats­macht untergraben.  Ja, ich denke, es gibt Grund zu hoffen!  (Noam Chomsky) deto

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Die meisten Menschen befällt die kalte Angst, wenn sie versuchen, sich Anarchie praktisch vorzustellen. Selbst, wenn sie anarchist­ische Ideen durchaus sympathisch finden, bleibt es schwer vorstellbar, wie an-archische Strukturen die vielfältigen Aufgaben einer Massengesellschaft bewältigen sollten. Die ängstliche Frage lautet meist: "Wie würden anarchistische Organisationsformen denn aussehen und können sie überhaupt funktionieren? Müßten wir dann nicht verhungern? Würde die Welt nicht im Chaos untergehen?"  Legitime Fragen, und Anarchisten täten gut daran, sie ernst zu nehmen. Oft neigen sie dazu, sich über die verängstigten Fragesteller lustig zu machen. Das hilft aber nicht.

    Eine andere Struktur  

Es wäre unfair, von heutigen Anarchisten genaue Pläne davon zu verlangen, wie alle Funktionen einer libertären Gesellschaft im Detail aussehen und funktionieren sollen. Ganz abgesehen davon, daß sie das aus guten Gründen auch gar nicht wollen würden,1) wäre dies ebenso grotesk, wie wenn man etwa von den Vorkämpfern der Französischen Revolution oder den Schöpfern der amerikanischen Verfassung im 18. Jahrhundert verlangt hätte vorauszusagen, wie in unseren republikanisch-demokratischem Gesellschaften heute das Postwesen, die Arbeitslosen­versicherung oder die Güterproduktion funktionieren solle.

Am Beginn einer jeden umwälzenden gesellschaftlichen Idee steht eine neue Struktur, die sich erst in der gesellschaftlichen Realität mit Inhalten füllt. Das ist beim Anarchismus nicht anders. Anders ist, daß sich libertäre Strukturen von den herkömmlichen grundlegend unterscheiden, und daß sie in einen Prozeß münden sollen, der niemals in einer neuen, starren Struktur sein Ende finden darf: Libertäre Gesellschaft ist wandelbar und vielfältig, der Weg ist gleichzeitig auch Ziel.

Die grundlegende Struktur des anarchistischen Gesellschaftsmodells ist eine Vernetzung von kleinen Einheiten.

 

Menschen identifizieren sich mit Dingen, die sie überschauen und verstehen. Je größer und unüberschaubarer gesellschaftliche Zusammenhänge sind, desto größer wird die Entfremdung zwischen Institution und Mensch. Unsere heutigen Systeme versuchen, solche Entfremdung zu neutralisieren, indem sie Eliten schaffen, deren Wirken in den meisten Ländern scheinbar legitimiert ist, weil die Delegation von Macht durch Wahlen erfolgt. Die Probleme, die aus der Entfremdung erwachsen, kriegen sie damit allerdings nicht in den Griff, sie verwalten sie nur.

Eliten binden Macht, bilden Hierarchien, genießen Privilegien und entscheiden letztlich über das Schicksal aller Menschen. Der Blick in eine beliebige Tageszeitung wird uns davon überzeugen, daß sie das nicht einmal sehr erfolgreich tun. Eine solche Gesellschaft widerspricht in wesentlichen Punkten der anarchistischen Vorstellung von Freiheit. Es ist eine Gesellschaft, an der die meisten Menschen nicht teilnehmen. Also muß eine anarchistische Gesellschaft Strukturen bieten, an der möglichst viele Menschen teilnehmen. Dies wäre gegeben, wenn die Teilnahme einfach ist und letztlich sogar Freude bereitete, denn aktives Mitmachen in gesellschaftlichen Gebilden funktioniert, solange sie Befriedigung bringt. Befriedigung stellt sich ein, wenn das Engagement der Beteiligten Resultate zeitigt, die diese sehen, verstehen und nachvollziehen können. In genau diesem Maße wächst oder schwindet auch die Identifizierung mit einem sozialen System. In unseren Systemen entwickelt sich diese Identifizierung derzeit gegen Null.

Daher haben alle anarchistischen Gesellschaftsentwürfe stets darauf abgezielt, auf überschaubaren, kleinen Einheiten aufzubauen — was nicht heißen soll, daß sie dabei stehenbleiben. Solche sozialen Gebilde stellen sozusagen die kleinsten Einheiten dar, aus denen sich an-archische Gesellschaften zusammensetzen

Ich habe schon darauf hingewiesen, daß diese ›kleinen Einheiten‹ sowohl aus geografischen, sachlichen, technischen, ideellen, ethischen oder ästhetischen Gründen entstehen können, ebenso wie aus gegenseitiger Sympathie oder reinen Gründen praktischer Vernunft; auch können zu gleicher Zeit auf gleichem Raum verschiedene Einheiten nebeneinander bzw. miteinander bestehen. Ich kann zum Beispiel gleichzeitig als Bewohner einem Rat meines Stadtviertels angehören, als Vater einer Gruppe, die eine freie Schule betreibt,

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als Genießer einer Vereinigung "Anarchie und Luxus", als Schriftsteller einem gewerkschaftsähnlichen Berufsgremium, als verantwortungsvoller Mitmensch einem ökologischen Ausschuß, als Ästhet einer künstlerischen Boheme, als Journalist einer Zeitschriftenredaktion, als Kosmopolit* einer weltweiten Vereinigung von Esperantisten*, als Vielreisender einer Föderation, die die Fahrpläne der Eisenbahn ausarbeitet und so weiter ...

"Aber, aber..." werden die Kritiker einwenden, "das können Sie doch hier und heute alles auch." Und: "Ist das nicht ein bißchen viel Arbeit und Verantwortung auf einmal?" Oder:

"Wieviele Menschen, glauben Sie, werden wohl so engagiert sein, und freiwillig Interesse für gemeinnützige Arbeiten aufbringen?!"

Versuchen wir, diese Einwände der Reihe nach zu beantworten.

 

   Würden die Menschen mitmachen? 

 

Gewiß kann ich mich zwar hier und heute durchaus auch in all diesen Bereichen engagieren (vorausgesetzt, ich lebe nicht in Staaten wie Birma, Kuba, China, Äquatorialguinea oder dem Sudan). Aber es gibt zwei entscheidende Unterschiede: Ich kann (sofern ich nicht zur Elite gehöre) bei all meinem Engagement nichts entscheiden und mein Engagement wird in der Regel auch nichts bewirken. Engagement ist bei uns ein Zeitvertreib, ein Ventil für Unmut, bestenfalls ein geduldetes Korrektiv für Arbeit, die sonst niemand machen oder bezahlen will. Die Entscheidungen aber fallen anderswo: im Machtapparat. 

In einer an-archischen Gesellschaft hingegen wären eben diese ›kleinen Einheiten‹ Träger der Meinungsbildung, der Lösungssuche, der Konsensfindung* und gleichzeitig der Entscheidung, Durchführung und Korrektur von Beschlüssen. Die an-archische Gesellschaft ist das Zusammen­spiel dieser ›kleinen Einheiten‹. Es gibt keinen Machtapparat, kein bürokratisches Eigenleben, keine Eliten über ihnen. Stattdessen gäbe es ein System von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstverwaltung, getragen von der Verbindung, Zusammenarbeit und Konsensfähigkeit vieler solcher ›kleinen Einheiten‹. Eine solche Verbindung nennen wir Netzwerk.

Ob die Menschen in einem solchen System nicht unter der Überlastung zusammenbrächen, oder ob das System nicht durch das Desinteresse der Menschen versagen müßte, ist eine interessante Frage.

Zunächst einmal möchte ich der beeindruckenden Liste von vorhin, in der ich einige Möglichkeiten meines Engagements in einer libertären Gesellschaft aufzählte, eine wichtige Variante hinzufügen: Selbstverständlich hätte ich als desinteressierter oder auch nur als fauler Mensch das Recht zu sagen: "Ich engagiere mich für gar nichts!" Anarchie beruht auf Freiwilligkeit; erzwungene Teilnahme wäre kein Engagement, sondern Knechtschaft und selbstverständlich gibt es auch ein "Recht auf Faulheit".

Die anarchistische Gesellschaftstheorie spekuliert nun aber darauf, daß, weil sich die Menschen in solchen kleinen Einheiten direkt einbringen können, die Entfremdung gering bleibt und die Identifikation wächst. Wenn sich aber viele Menschen an sozialen Prozessen beteiligen, sinkt in gleichem Maße die Belastung des Einzelnen.

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Machen genügend Menschen mit, wäre Selbstverwaltung keine zusätzliche Bürde mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit, die nicht irgendwann ›nach Feierabend‹ stattfände, sondern ständig und automatisch in allen Bereichen des Lebens. Sie wäre zu einem Bestandteil von Arbeit und Alltag geworden. So wie der Mensch es heute gewohnt ist, Anordnungen zu bekommen, könnte er es lernen und sich daran gewöhnen, selbst mitzuentscheiden.

Auf diese Weise bekäme die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben eine andere Qualität: sie würde nicht nur erträglich, sondern fast schon zu einer Art Befriedigung. Das setzt natürlich voraus, daß auch die Themen, Formen und Rahmenbedingungen anders aussähen als bisher üblich. Ich kann mir kaum vorstellen, daß ich auf Dauer unter den Bedingungen dieser Gesellschaft Lust hätte, mich etwa nach acht Stunden ermüdender Arbeit in einem geisttötenden Job während meiner Freizeit noch um die Belange meines Stadtteils zu kümmern. Da wäre ich wohl eher froh, wenn sich da ›ein Amt‹ drum kümmerte. Aber diese Rahmen­bedingungen sollen ja in einer libertären Gesellschaft ebenfalls spürbar andere sein1.

Wenn wir uns heute soziales Engagement vorstellen, denken wir automatisch an Vereine, Parteien, Interessenverbände, Bürgerinitiativen und ähnliches. Dort besteht das frustrierende Tagesgeschäft in Bürokratie, Auseinandersetzung mit Behörden, Vereinsklüngelei und eng gesteckten Grenzen von ›Zuständigkeit‹. Unser gesamtes Leben ist säuberlich portioniert und in dutzende ›Bereiche‹ zerlegt, und über jeden Bereich wacht zu guter Letzt irgendein Amt. Der Anarchismus hingegen zielt auf eine globale Organisation des Lebens, in der der Mensch und seine gesellschaftliche Wirklichkeit als etwas Ganzes gesehen wird. Leben, Arbeit, Spaß und Freizeit sollen nicht länger künstlich getrennt bleiben. 

Das hätte zur Folge, daß Menschen, die sich in einer dieser ›kleinen Einheiten‹ mit irgendetwas beschäftigten, sich nicht für ein abstraktes Ziel abrackerten, das mit ihnen direkt wenig zu tun hat. Sie kümmerten sich vielmehr um Dinge, die ihr eigenes Leben ganz direkt, ganz konkret und ganz im Sinne ihrer Wünsche und Vorstellungen beeinflußten. Sie täten das am Arbeitsplatz und zu Hause, in der Nachbarschaft und in spezifischen Gruppen. In vielen Fällen brauchte es dazu nicht einmal eine feste Struktur oder ein besonderes Treffen — es würde zu einer Handlungs­routine im Alltag. Dem Menschen wäre der direkte Zugriff auf alle Bereiche seines Lebens zurückgegeben. Die Bereiche, in denen ich mich als "aktiver Menschheitsbürgen in einem solchen System engagieren könnte, beträfen demnach meine Arbeitswelt ebenso wie mein Vergnügen, meine Wohnsituation wie meine Gefühle, meine Ernährung wie mein persönliches Glück oder meine soziale Sicherheit. Das hätte etwas mit meiner Lebensqualität zu tun und mit der anderer Menschen.

Triebkraft menschlichen Engagements in einer libertären Gesellschaft wäre also in gewissem Sinne ein sozialer Egoismus*. Diese Art von "Egoismus" jedoch scheint mir der ehrlichste und gesündeste Impuls, den ich mir denken kann.

1)  Siehe Kapitel  14 !

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Natürlich glauben auch Anarchisten nicht, daß sich in ihrer Gesellschaft alle Menschen engagieren. Das wäre auch nicht nötig. Wichtig ist zweierlei: Daß alle Menschen sich einbringen können, und daß genug sich einbringen würden. Man kann Desinteresse nicht ›verbieten‹, höchstens Interesse wecken! 

Diese Betrachtungsweise ist zwar pragmatisch, aber in dem Moment, wo der Anarchismus den Elfenbeinturm der reinen Theorie verläßt, muß er selbstverständlich pragmatisch denken, was ihm gewiß nicht schadet. Daß alle Menschen gleichermaßen überzeugt, begeistert und engagiert sein müssen, damit eine libertäre Gesellschaft funktioniere, ist übrigens ein frommes anarchistisches Märchen; schlimmer noch: es ist unanarchistisch. Ganz einfach deshalb, weil eine solche Vorstellung dem Wesen des Menschen und seiner Verschiedenheit nicht Rechnung trüge, sondern ihm eine Ideologie überstülpen würde. Jedes System aber, das auf hochmotivierte ›Heilige‹ setzt und ›Mitläufer‹ verachtet, muß scheitern. 

Im übrigen ist auch der einzelne Mensch kein statisches* Wesen. Jeder durchlebt Phasen von Aktivität und Rückzug, Begeisterung und Resignation. Das würde einem an-archischen System auch nicht schaden, da es auf einen ständigen Wechsel von Menschen bestens eingestellt ist, denn es brauchte immer weniger den Typ der lebenslänglichen Fachleuten Daß auf diese Weise immer mehr Menschen sich Fähigkeiten, Wissen und Praktiken in allen möglichen Bereichen aneignen würden, liegt in einer solchen Gesellschaft auf der Hand. Und das ist nach Ansicht der Anarchisten auf Dauer das wirksamste Gegengift gegen Eliten, Bürokratie und Herrschaft.

 

   Kann Vernetzung funktionieren?  

 

Niemand weiß, ob sich dieses soziale Engagement in hinreichendem Maße einstellen würde. Alle sozialen Utopien sind Spekulation. Der springende Punkt dabei ist natürlich die Funktionsweise der Vernetzung. Wie soll das auf große Entfernungen geschehen? Wie in Gebilden, die eben nicht mehr klein und überschaubar sind, etwa der Stadt New York? Und was ist, wenn sich Anschauungen so widersprechen, daß kein Konsens möglich ist?

Dieser letzten Frage werden wir in den Kapiteln 17 und 19 nachgehen — die Antworten auf die anderen Fragen liegen zum Teil schon in der Struktur der Vernetzungssysteme selbst. In der anarchistischen Theorie funktionieren sie nach demselben Prinzip wie die "kleine Grundeinheit", nur, daß sie sich mit Fragen überregionaler Bedeutung befassen: Sie verbinden fremde Menschen miteinander oder organisieren den Austausch von Wissen, Waren und Werten, die zu einem menschenwürdigen Leben nötig sind.

Aber auch in ihnen entscheiden keine Eliten, auch in ihnen gilt nicht das Prinzip der Hierarchie, auch ihre Handlungen entstehen in einem horizontalen Prozeß. Dabei sollen — und müssen — sie durchaus effektiv arbeiten und zuverlässig funktionieren. Überregional wichtige Aufgaben werden dabei selbstverständlich zentral gesteuert, nicht jedoch zentralistisch entschieden — keinem Anarchisten würde es einfallen, etwa die Flugsicherung spontan und dezentral zu ›organisieren‹. Daß es dabei dann eine Delegierung geben kann — etwa auf die Ebene von Ausschüssen und Räten — und durchaus auch kompetente und verantwortliche Fachleute, ist nur scheinbar ein Widerspruch: Entscheidungsfreiheit ist in erster Linie eine Frage der Inhalte, nicht der Techniken. Ob diese Ebenen bei der reinen Vernunftkompetenz bleiben oder wiederum neue Herrschaft hervorbringen, hängt entscheidend von drei Voraussetzungen ab:

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Erstens, daß in der Praxis eine Transparenz* dieser vernetzten Struktur bewahrt wird: Sie muß durchschaubar bleiben, damit sie von allen Interessierten verstanden werden kann. Zweitens, daß es Systeme gibt, die gewährleisten, daß sie jederzeit kontrollierbar, kritisierbar und veränderbar sind. Drittens, daß die Vernetzungsstrukturen so aufgebaut sind, daß sie nicht als Entscheidungsebene, sondern als Koordinationsebene' funktionieren. Sie sollen letztlich die von den Menschen an der Basis gefundene Richtung lediglich abstimmen, umsetzen und ausführen — notfalls auch zurückverweisen, wenn sich Ausführung oder Abstimmung als unmöglich erweisen. Auch diese Frage werden wir im 17. Kapitel noch einmal aufgreifen.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, könnte Anarchie überregional funktionieren — zumindest in der Theorie. Dabei böten dann Entfernungen keine größeren Hindernisse als heute auch. Anarchisten wollen ja nicht grundsätzlich auf moderne Kommunikations­mittel verzichten, und prinzipiell reisefeindlich sind sie auch nicht. Zwar gehen sie kritischer und bewußter an elektronische Kommunikation heran, und ein wucherndes Reise- und Transportwesen würde sich in ihrem Modell schon aus dem Grunde reduzieren, weil eine dezentrale, libertäre Wirtschaft viele Dinge, die heute unnütze Transportwege erfordern, in der Region erledigen könnte. Andererseits sehen viele Anarchisten in moderner Kommunikationstechnik durchaus auch interessante Möglichkeiten für eine ›direkte, kommunikative Demokratie‹ libertären Zuschnitts, in der immer mehr Informationen zugänglich und immer weniger Zentren, Wissenshierarchien und Schaltzentralen nötig wären. Obwohl hierbei auch die Gefahr eines Informationsüberflusses gesehen wird, verkennt man nicht Möglichkeiten, die die Elektronik zur technischen Lösung von Kommunikations­problemen der libertären Utopie beitragen könnte, die noch vor wenigen Jahrzehnten schier unlösbar schienen.

Auch die Größe eines sozialen Gebildes scheint grundsätzlich kein Hindernis für das Funktionieren libertärer Vernetzungsstrukturen zu sein. Zwar ist das ganze Schema anarchistischer Organisation absichtlich dafür ausgelegt, die kleine Einheit zu fördern und das Entstehen großer Einheiten zu erschweren, aber das heißt nicht, daß sie nicht auch mit großen Gebilden zurechtkommen würde. Schließlich lassen sich in manchen Fällen größere Zusammenhänge nicht vermeiden, und manchmal sind sie einfach schon da. Wie zum Beispiel die Stadt New York.

Nun mag es ja verschiedene Ansichten darüber geben, ob ein derartig monströses Gebilde überhaupt wünschenswert wäre. In der Tat gibt es die Meinung, Megastädte wie Sao Paulo, Kalkutta, Mexico-City oder New York überstiegen jedes menschliche Maß und gehörten als in jeder Hinsicht inhuman eigentlich abgeschafft. Die Kritiker beziehen sich dabei wohlgemerkt nicht etwa auf das großstadttypische Flair* oder die unnachahmliche metropolitane* Kultur, sondern auf die Auswirkungen eines urbanen* Molochs, der an seinen eigenen sozialen Wucherungen erstickt. Lassen wir diese Frage offen und überlassen wir ihre ›Lösung‹ getrost den Leuten, die in ihnen zu leben verstehen oder ihnen den Rücken kehren werden.

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Die Antwort auf unsere erste Frage aber finden wir überraschenderweise in solchen Megastädten selbst. Gerade hier hat sich die Überlebensfähigkeit und das Funktionieren von Strukturen erwiesen, die glatt als ›anarchisch‹ bezeichnet werden könnten, auch wenn kaum jemand das tut. Kalkutta beispielsweise ist eine x-Millionen-Stadt, die vom System faktisch aufgegeben wurde. Sie gilt als nicht reformierbar, unregierbar, die Behörden haben aufgehört irgendetwas Kohärentes zu tun. Das Stadtplanungsamt ist seit langem verwaist, die sozialen Einrichtungen haben praktisch kapituliert. Theoretisch müßte diese Stadt schon längst zusammengebrochen sein, aber die Menschen in ihr leben weiter. Es gibt soziale Gebilde, Nachbarschaften, gegenseitige Hilfe, soziale Initiativen. Sie stemmen sich gegen Chaos, Kriminalität, Willkür, Spekulanten, Elend, Schmutz, Hunger und Krankheit. Und das Leben geht weiter. Aber keine dieser sozialen Zusammenhänge hat den Anspruch oder den Ehrgeiz, die ganze Stadt zu vertreten, zu managen oder gar zu regieren. Ähnliches gibt es aus Sao Paulo zu berichten und aus Mexiko City. Und daß es in den Schwarzenghettos von Chicago oder New York trotz Elend, Kriminalität und Hoffnungslosigkeit eine starke soziale Solidarität gibt, die besser funktioniert als das staatliche Sozialprogramm, ist allgemein bekannt. All diese Strukturen funktionieren genau darum, weil sich hier Menschen selbst und direkt um ihre Probleme kümmern, in kleinen, überschaubaren Gruppen, inspiriert von einem positiv verstandenen ›sozialen Egoismus‹.

 

Bitte, Anarchisten behaupten nicht etwa, daß Kalkutta, Chicago oder New York ihren Wunschvorstellungen einer libertären Gesellschaft entsprächen! Das ziemliche Gegenteil dürfte der Fall sein. Was diese Beispiele zeigen sollen, ist, daß es gerade ›an-archische Strukturen‹ sind, die den betroffenen Menschen dabei helfen, in absurd großen Gebilden tatsächlich zu überleben. Sie erweisen sich dabei den staatlichen Strategien* überlegen, die — nicht nur in den Großstädten — mehr und mehr versagen.

Es gibt also eine generelle Methode, wie mit Hilfe an-archischer Strukturen die Probleme großer Gebilde angegangen werden können, und die lautet, einfach ausgedrückt: das große Ding muß wieder in kleine Dinge ›zerlegt‹ werden, damit es übersichtlich wird, ein menschliches Maß bekommt, und die betroffenen Menschen wieder damit umgehen können. Erst dann engagieren sie sich wie selbstverständlich in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Keiner black community* in der Bronx aber würde es einfallen, etwa für alle Schwarzen New Yorks ›zuständig‹ zu sein oder für sie zu sprechen.

Viele solcher communities können jedoch zusammenarbeiten und gemeinsam gesellschaftliche Tatsachen schaffen, die der Situation aller Schwarzen New Yorks gerecht würden. Das ist nur ein Beispiel eines sozialen Bereiches einer einzelnen Stadt. Und die sterbenden Metropolen sind nur ein einziges Beispiel für viele andere groteske Großgebilde, die Zentralismus, Konzentration, und Machtdenken hervorbringen. Mit Leichtigkeit ließen sich Analogien* etwa in dem zusammengebrochenen Kunstgebilde der ›Supermacht Sowjetunion finden. Oder, uns besser vertraut, in dem Beispiel, wie siebzehn Millionen Deutsche in der DDR vierzig Jahre zentralistischer Planwirtschaft überlebten: indem sie nämlich völlig ungelekt, planlos und intuitiv* eine mächtige Nebenrealität mit eigener Gegenökonomie schufen.

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Diese ›Subkultur‹, von der offiziellen Gesellschaft ignoriert, gründete sich auf kleine Gruppen nachbarschaftlicher Zusammenhänge: Schwarzarbeit, Improvisation, gegenseitige Hilfe, Materialklau, Solidarität, Sabotage, Tauschwirtschaft, Schwänzen, Gegenkultur und den dezentralen Aufbau von Widerstand und Opposition. All das half nicht nur beim Überleben in einem nicht-menschengerechten System, sondern führte einen der bestorganisiertesten und — geschützten Zentralstaaten der Welt sang- und klanglos in den Zusammenbruch. Das macht Mut! Die Tatsache, daß diese ›Kultur an-archischer Sekundärtugenden‹ ihrerseits so sang- und klanglos von unserer westlichen Videoclip-Gesellschaft geschluckt werden konnte, sagt wenig über die Qualität jener alten DDR-Anti-Gesellschaft aus — dafür umso mehr über den Mangel an Kraft und Alternativen, etwa seitens der westdeutschen Libertären.

Wir erleben heute weltweit den schleichenden Bankrott aller Organisations- und Steuersysteme, die auf Zentralismus, Hierarchie, Machtkonzentration und Wachstum aufgebaut sind. Solche Strukturen stoßen überall an ihre Grenzen und scheitern immer häufiger. Die unerwartete Krise des ›Modells Supermacht‹ in West und Ost ist hierfür ein Indiz, und die Tatsache, daß Europa in einer kleinkarierten Nachahmungstat versucht, sich an diesen Geisterzug anzuhängen, beweist lediglich einen Mangel an Weitblick und Weltblick.

 

   Ist Vernetzung leistungsfähig? 

Spätestens hier stellt sich aber die Frage nach der Leistungsfähigkeit der anarchistischen Alternative. Ich bin dieser Frage bisher aus dem Blickwinkel der Anarchisten nachgegangen. Beenden möchte ich die Betrachtung dazu mit der Perspektive von Leuten, die eher zu den Gegnern der Anarchie zu rechnen sind.  

Multinationale Konzerne wie etwa VW oder die IBM sind seit geraumer Zeit damit beschäftigt, ihre großen sozialökonomischen Gebilde in kleine, überschaubare Bereiche zu zergliedern. Hierarchische Strukturen werden abgebaut, gleichberechtigte Gruppen von Menschen sollen im Konsens Problemlösungen finden und dürfen auch mit entscheiden. Von größerer Transparenz und direkter Beteiligung der Mitarbeiter erhoffen sich die Unternehmen verstärkte Identifikation und erhöhtes Engagement. Kommt uns das nicht bekannt vor? IBM nennt das natürlich nicht Selbstverwaltung oder Anarchie, sondern verkauft das als Teil seiner neuen corporate identity. Bei der UNESCO laufen Forschungsvorhaben, bei denen es um ›Modelle weltweiter Vernetzung kleiner, dezentraler Einheiten‹ geht. Mit Ähnlichem beschäftigt sich der Club of Rome. Evangelische Akademien und Managerschulen, querdenkende Jesuiten und ein leibhaftiger Berliner Innensenator stoßen bei ihrer verzweifelten Suche nach leistungsfähigeren Strukturen immer häufiger auf Modelle, wie sie Anarchisten seit Generationen nicht müde werden zu vertreten. Ja, sogar das Österreichische Bundesheer denkt laut darüber nach, wie es seine Effektivität mit einem Abbau von Hierarchie, Zentralismus und Autorität fördern könnte.

Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen: libertäre Strukturen zur Leistungssteigerung einer Armee!

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Was will ich damit sagen? Nicht, daß all diese Herren mitsamt ihren Institutionen den Weg zur Anarchie eingeschlagen hätten. In den meisten Fällen haben sie gar keine Ahnung von dem an-archischen Hintergrund dessen, was sie da zu entdecken beginnen. Sie haben allenfalls die Hälfte der Lösung gefunden, und diese kaum richtig verstanden. Ein lebender Beweis hierfür ist zweifellos Hans A. Pestalozzi, ehemaliger Leiter des Schweizer "Duttweiler-Instituts", einer renommierten europäischen ›Denkfabrik für Führungskräfte‹: In dem Moment, als er bei seiner Suche nach Alternativen mit erkennbarer Freude auf den Anarchismus stieß, wurde er gefeuert.

Nein, meine Schlußfolgerung ist indirekt. Wir waren der Frage nachgegangen, ob libertäre Strukturen als leistungsfähig einzuschätzen sind. Nun, hier haben wir prominenteste Vertreter des kausalen* Denkens, Jünger des technokratischen* Managements, Führungskräfte, die nur an greifbaren und handfesten Resultaten interessiert sind. Und ausgerechnet die kommen auf der Suche nach Modellen, mit denen sie glauben, Menschen zu motivieren, um das Funktionieren ihrer globalen Maschinerie zu retten, auf libertäre Strukturen. Wenn das kein Argument ist!

Ich teile von diesem Glauben übrigens nur den ersten Teil: daß solche Strukturen die Menschen — zumindest zeitweise — zu mehr Engagement bringen können. Aber mit Sicherheit werden andere Strukturen allein dieses System nicht retten können. Es ist nicht zu retten. Das war gemeint, als ich gerade sagte: Sie haben nur die Hälfte verstanden.

Wenn ein Konzern wie IBM Autorität reduziert und Zentralismus abbaut, so tut er das mit einer ganz anderen Absicht als Anarchisten, die gleiches fordern. IBM will die Effektivität seines Konzerns steigern, seinen Profit maximieren. Der Rest der Welt ist dabei ziemlich egal. Die zentralen Fragen von Herrschaft, Ausbeutung oder etwa Ökologie stehen nicht zur Debatte. Anarchisten hingegen erhoffen sich von den gleichen Strukturen ein Mittel zur Erreichung eines herrschaftsfreien Zustandes, ein Instrumentarium für das Funktionieren der Anarchie.

Wir haben uns in diesem Kapitel mit Strukturen befaßt. Strukturen aber sind nur Formen. Es kommt jedoch ganz erheblich auf die Inhalte an, auf die Ethik, die mit den Strukturen verbunden wird. Gewisse Strukturen können für eine bestimmte Ethik besonders geeignet sein. Die Vernetzung dezentraler, kleiner Einheiten ist mit Sicherheit eine sehr geeignete Struktur für die anarchistische Ethik (und es ist sehr zweifelhaft, ob sie zur Rettung der Profitwelt auch nur annähernd so gut taugt wie die erwähnten Herren sich das erhoffen) — aber von selbst und an sich besagt eine Struktur noch gar nichts über die Qualität dessen, was dabei herauskommt. Zynischstes Beispiel dafür dürfte wohl die Tatsache sein, daß die Nazis es selbst in ihren Konzentrationslagern verstanden, gewisse Formen der ›Selbstverwaltung‹ von Gefangenen in den Dienst ihrer Massenvernichtung zu stellen...

Allerdings darf man nicht in den Irrtum verfallen, eine gute Struktur schon deshalb als schlecht oder verwerflich anzusehen, weil ein Gegner sie für die falschen Ziele einzusetzen versucht. Das ist genauso dumm wie der Glaube daran, daß sich eine ›richtige Struktur‹ ohne die passende Ethik in befreiende Aktion und befreite Alternativen umwandeln müsse.

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Eines jedoch läßt sich aus all diesen Überlegungen ableiten: Anarchisten haben keineswegs ein Monopol auf gute Ideen, und wenn andere Menschen zu ähnlichen Erkenntnissen kommen, zeigt es im Grunde nur, daß libertäre Ideen so abwegig nicht sein können. Darüber sollten Anarchisten sich eigentlich freuen. Stattdessen erregen sie sich oft und gerne in rechthaberischer Eifersüchtelei und mokieren sich mit Vorliebe über fremden Stallgeruch: Kommen die Ideen nicht aus dem eigenen politischen Lager, bleiben sie in aller Regel verdächtig.

Ich denke hierbei weniger an IBM, sondern mehr an Menschen wie Leopold Kohr, den österreichischen Publizisten, der das modisch gewordene Schlagwort small is beautiful prägte. Er war beileibe kein Anarchist, hatte im Gegenteil eher einen konservativ-katholischen Hintergrund, was ihn aber offenbar nicht daran hinderte, in Fragen der Gesellschaftsstruktur einen scharfen, analytischen Blick zu beweisen. Oder an die Diskussion in der modernen Naturwissenschaft, die heute mit Hilfe der ›Chaos-Theorie‹ das Paradox erforscht, daß es offenbar keine praktischen Regeln oder überall gleich anwendbaren Naturgesetze von Ursache und Wirkung gibt, mit denen die natürlichen Phänomene berechnet werden könnten, obwohl doch ›die Natur‹ in diesem Chaos erstaunlich vital und erfolgreich ihr Leben organisiert. Oder an die Zigtausende von Menschen, die seit über 20 Jahren den Organisationsformen von Vereinen und Parteien den Rücken kehren, um ihre Anliegen in Bürgerinitiativen und Basisinitiativen zu vertreten, sich munter miteinander vernetzen und auf diese Weise die politisch-soziale Wirklichkeit unseres Landes spürbar beeinflußt haben.  

 

   Ein Blick in die Praxis  

Es hat den Anschein, daß sich die meisten Anarchisten mit der einfachen Erkenntnis schwer tun, daß an-archische Strukturen, Formen und Ideen nicht an anarchistische Theorie und Ideologie gebunden sind. Dabei ließen sich für diese Annahme noch viele weitere Beispiele finden, und im Grunde müßten sie jeden Anarchisten ermutigen, zeigen sie doch, daß ihre Ideen im Grunde so naheliegend sind, daß sie quasi überall ›in der Luft liegen‹. Aber Anarchisten pflegen ihre Berührungsängste mit großer Hingabe und überwinden sie meist nur dann, wenn prominente Denker wie Pestalozzi oder der Linguist und Strukturalist Noam Chomsky von sich aus zum Anarchismus finden. Dabei würde es ihren Überzeugungen keineswegs widersprechen, ein wenig mutiger querbeet und interdisziplinär* zu denken und zu handeln. Denn beides: intuitiv-anarchisches Spontanhandeln und bewußt anarchistisches Vorgehen könnten sich ohne Frage gegenseitig bereichern.

Dabei gibt es sie eigentlich schon, diese gegenseitige Verbindung, und die Grenze zwischen bewußtem und intuitivem Handeln ist in vielen Fällen fließend. In zahllosen Bereichen der Gesellschaft beginnt das Denken in hierarchischen Strukturen zu bröckeln, um einem Denken in an-archischen Strukturen Platz zu machen. Es ist dabei nicht immer genau auszumachen, ob dieser Prozeß nun ein bewußter Rückgriff auf den Anarchismus ist oder eine ›Eigenentdeckung‹. Im Grunde ist das auch keine wichtige Frage. Wichtig ist, wie sich der Anarchismus hierzu verhält.1

1)  Siehe Kapitel 38!

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Nach soviel Struktur, Theorie und Spekulation noch ein abschließender Blick in die Praxis. Alles, was in diesem Kapitel ausgebreitet wurde, ist vom Prinzip her nichts Neues im Anarchismus. Die Theorien von Dezentralität, kleinen Einheiten, Selbstorganisation und Vernetzung sind zwar in den letzten Jahrzehnten sehr viel klarer und schärfer entwickelt worden, im Grunde aber ein alter Hut. Früher nannte man Vernetzung eben Föderation — ein Wort, das im heutigen politischen Sprachgebrauch eine eher harmlose Bedeutung bekommen hat, weshalb ich den moderneren Begriff vorgezogen habe.

In der Tat haben sich solche Strukturen bereits in etlichen anarchistischen oder anarchoiden* Beispielen praktisch bewährt. Alle kann ich hier nicht aufzählen, manche werden wir noch näher kennenlernen. Erinnern will ich nur daran, daß Anarchisten auf diese Weise zum Beispiel sehr effektiv die Millionenstadt Barcelona verwaltet haben1) und darüberhinaus das soziale Leben ganzer Provinzen. Die jüdischen Kibbuzim sind ein sehr lehrreiches Beispiel dezentraler Vernetzung, anarchistisch inspiriert und viel älter als der Staat Israel2). Zur Blütezeit des Anarchosyndikalismus haben sich Millionen von Mitgliedern anarchistischer Gewerkschaften weltweit vernetzt und ohne Zentralismus und Hierarchie erfolgreich organisiert.3) Und die chaotisch-dezentrale Massenbewegung‹ eines Mahatma Gandhi zwang in Indien das britische Weltreich in die Knie — ohne Gewalt und ohne Machtapparat.4)

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1)-4):  Siehe zu (1) Kapitel 44, zu (2) Kapitel 35, zu (3) Kapitel 32 und zu (4) Kapitel 36

Literatur:

Colin Ward: Anarchismus als Organisationstheorie (Siegen 1983, Winddruck, 43 S.)

ders.: Harmonie durch Vielfalt in: Unter dem Pflaster liegt der Strand Bd. 3, Berlin 1976, Karin Kramer, 192 S.

Paul Feyerabend: Experten in einer freien Gesellschaft ebda,

George Woodcock: Das dezentrale Potential in: ders.: Traditionen der Freiheit Mülheim/ Ruhr 1988, Trafik, 144 S.

Karl Hahn: Föderalismus, die demokratische Alternative München 1975, E.A.Vögel, 357 S.

N.N.: Die Organisation der autonomen Zellen Osnabrück o.J. (1971?), 24 S.

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  13.  Chaos, oder was ...?   

"Was wissen wir, ob Weltenschöpfungen nicht
die Folgen von stürzenden Sandkörnchen sind?"
Victor Hugo

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GANZ GEWISS HABEN SIE SICH schon einmal über die Wettervorhersage geärgert. Ob sie stimmt oder nicht, gleicht einem Lotteriespiel. Das reinste Chaos! Weshalb aber ist, bei all den technischen Möglichkeiten, bei unzähligen Meßdaten und Computersimulation* keine genaue Prognose* möglich?

Diese Frage stellte sich auch der verzweifelte Meteorologe Edward Lorenz, der eben dies 1963 im Massachusetts Institute of Technology versuchte. Bei nur minimalen Abweichungen seiner Ausgangsdaten kam es jedoch stets zu ungeheuer großen Abweichungen bei den Resultaten. Lorenz stand vor dem Chaos, versuchte es zu ergründen und kam ihm auf die Spur.

Als Zwischenergebnis wurde die inzwischen oft kolportierte* Erkenntnis formuliert, daß theoretisch der Flügelschlag eines Schmetterlings in China genügt, um zwei Wochen später in Amerika einen Wirbelsturm auszulösen.

Hinter diesem scheinbaren Unsinn verbirgt sich die einfache Erkenntnis, daß die Natur nicht berechenbar ist, denn sie ist ein ›komplexes System‹, dessen Eigenschaften ›nicht linear*‹ sind. Die klassische Wissenschaft hingegen war stets von linearen Bedingungen ausgegangen, auf denen sie ihre Naturgesetze aufbaute. Diese Naturgesetze ›stimmen‹ zwar, aber eben nur unter künstlich vereinfachten Bedingungen. Die zahlreichen ›Wechselwirkungen‹ im wichtlinearen Systemen Natur‹ aber führen zu dem, was wir alle aus eigener Lebensanschauung kennen: daß nämlich die meisten Naturphänomene nicht durchschaubar, nicht vorhersehbar und nicht berechenbar sind — mit einem Wort: chaotisch. Wie in Wirklichkeit (und nicht im Labor unter linearen, also vereinfachten Bedingungen) ein Pendel schlägt, wohin eine Roulettekugel rollt, welche Gestalt eine Wolke annimmt, wie die Milch im Kaffee strudelt, wie ein Gletscher oder ein Baum wächst oder wie sich eben das ›komplexe Phänomen Wette‹ entwickelt, kann gerade nicht vorhergesagt und berechnet werden. 

Außerhalb des Labors und der theoretischen Versuchsanordnungen, die alles Störende eliminieren*, bestimmt eben nicht die gedanklich-abstrakte Vereinfachung, sondern die tatsächlich-natürliche Komplexität. Und dabei sind nichtlineare ›Aufbaumechanismen‹ am Werk, die dazu führen, daß sich scheinbar belanglos-minimale Schwankungen der Anfangsbedingungen eines Zustandes durch ›Rückkopplungen‹ derart aufschaukeln, daß ihr Endzustand nicht mehr berechenbar ist. Wie eben jene Sache mit dem Schmetterling und dem Wirbelsturm.

Minimale Unterschiede wurden von der klassischen Wissenschaft bisher vernachlässigt. Da die Wirklichkeit ›Natur‹ dies aber nicht tut, und da diese Kleinigkeiten enorme Auswirkungen haben, erweist sich die Vereinfachung der ›linearen Wissenschaft als untauglich, die Natur völlig zu verstehen, geschweige denn, sie zu beherrschen, was ja seit jeher der Traum aller angewandten Wissenschaft war. Chaos ist, weil unberechenbar, auch unbeherrschbar.

Edward Lorenz war unversehens auf atemberaubend spannende Zusammenhänge gestoßen, die ihn nicht mehr losließen. Es war klar, daß sich Klima nicht prognostizieren* läßt, und es ließ sich auch sagen, warum. Statt sich weiter der Wettervorhersage zu widmen, ging er den Fragen nach, die sich aus dieser Tatsache ergaben und wurde so zu einem der Begründer dessen, was wir heute salopp* die Chaostheorie nennen, von Wissenschaftlern aber lieber als Nichtlinearität, Strukturwissenschaft oder Theorie komplexer Systeme bezeichnet wird. Aber das war erst der Anfang.

Etwa zur gleichen Zeit plagte sich der polnischstämmige Physiker Benoit Mandelbrot in einem Forschungszentrum der IBM bei New York mit Fehlern herum, die bei der Datenübertragung durch Telefonleitungen immer wieder auftraten. Diese Fehler schienen völlig chaotisch, hatten aber die merkwürdige Eigenschaft, stets gehäuft aufzutreten, unterbrochen von längeren fehlerfreien Perioden. Solche fehlerfreien Abschnitte wiederholten sich jedoch auch in jeder Fehlerhäufung wiederum in der selben Struktur. Je weiter er ins Detail ging, desto kleiner erschien wieder dasselbe Muster. Hinter dieser ›Selbstähnlichkeit‹ vermutete Mandelbrot mit Recht mehr als nur Zufall.

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Mit Hilfe der experimentellen Mathematik versuchte er, das Chaos in Formeln zu fassen. Inzwischen standen leistungsfähige Computer zur Verfügung, die als fleißige Rechenknechte nicht nur unzählige Rechenvorgänge schnell erledigten, sondern diese auch noch als Grafik auf dem Bildschirm abbilden konnten. Mandelbrot unterzog Zahlen der mathematischen Rückkopplung einer nichtlinearen Gleichung, aufgrund deren Ergebnis entschieden wurde, ob der ›Punkt‹ abgebildet werden soll oder nicht. Hinter dem Begriff ›Rückkopplung‹ verbirgt sich der Trick, daß das Ergebnis wieder in die Stanformel ›eingefüttert‹ wird. 

Mit Hilfe einer relativ einfachen quadratischen Funktion wurde Mandelbrot 1980 zum Vater des ›Apfelmännchens‹, einer inzwischen berühmt gewordenen Computerfigur, die ihren Spitznamen einer eigenartigen Symmetrie verdankt, die auf den ersten Blick an mehrere aufeinandergesetzte Äpfel verschiedener Größe erinnert. Sie ist nicht nur ästhetisch schön, sondern auch in der Lage, optisch die ›Selbstähnlichkeit‹ beeindruckend zu demonstrieren: In den Konturen wiederholen sich ständig und scheinbar wirr bizarre, verästelte Formen, die, je mehr man die Grafik rechnerisch vergrößert, immer wieder in verwirrender Vielfalt auftauchen. Sie sind sich alle irgendwie ähnlich aber nicht identisch und erinnern verblüffend an Formen, wie wir sie auch aus der Natur kennen.

Solche Figuren zu ›berechnen‹ oder zu ›vermessen‹, erwies sich als unmöglich. Weder ihrer Fläche noch ihrem Umfang war mit den geometrischen Grundelementen wie Linie, Fläche oder Würfel beizukommen. Idealisiert-erdachte Objekte wie Pyramide, Würfel oder Kugel haben eine ganzzahlige Dimension, aber solche Körper gibt es in der Natur nicht, wie jedes genaue Hinsehen beweist. Bei einem kugelförmigen Wollknäuel überzeugt der bloße Anblick, beim Kopf der Blick durch die Lupe und bei einer Kugel aus Elfenbein der durch ein leistungsstarkes Mikroskop. Natürliche — also ›chaotische‹ — Objekte haben im Gegensatz dazu keine ganzzahlige Dimension, also nicht eins, zwei oder drei, sondern einen Wert dazwischen — im Fall der Küstenlinie Englands etwa 1,5.

Mandelbrot gab solchen Zwischendimensionen den Namen ›Fraktale‹. Ihre Zahl ist ein brauchbares Maß dafür, wie ›zerklüftet‹ das fraktale Gebilde ist.

Die Wissenschaft hatte also entdeckt, daß sie etwa die Aufgabe "Berechnen Sie die Oberfläche einer Katze samt Haaren" nie würde lösen können, und fahndete erfolgreich nach der Struktur dieses Problems. Fraktale sind demnach nicht mehr recht Linie, aber auch noch nicht richtig Fläche; etwas, was es in der Trigonometrie eigentlich nicht gibt. In der Natur aber sehr wohl: Die meisten natürlichen Formen wie Pflanzen, Wolken oder Gebirge haben ›fraktale Eigenschaften‹. Daher erstaunt es auch nicht, daß alle möglichen Computerbilder, die aus verschiedensten fraktalen Formeln entstehen, natürlichen Formen verblüffend ähneln. Ebenso sind viele natürliche Gebilde selbstähnlich. Wir kennen das vom Rand des Farns ebenso wie von den Verzweigungen und Verästelungen bei Baum und Blatt, bei Küstenlinien, Gebirgsformen, Gletscheroberflächen, Eiskristallen oder Molekülstrukturen. Künstliche Selbstähnlichkeiten schafft der Mensch als kreative Schöpfung etwa in Ornamentmustern oder Arabesken, die kleine Formen in großen wiederholen und die wir vielleicht deshalb so reizvoll finden, weil sie uns — genau wie die fraktalen Computergrafiken — an Formen erinnern, die wir aus der Natur kennen. Eben — chaotische Formen.

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    Revolution des Denkens  

Mit den Begriffen ›nichtlinearer, komplexer Systeme‹ und dem Handwerkszeug der ›fraktalen Dimension‹ war der Startschuß zu der wild wuchernden, untereinander zerstrittenen und keineswegs abgeschlossenen neuen Denkrichtung Chaostheorie gefallen. Es gibt einen guten Grund, diese Entwicklung hier relativ ausführlich darzustellen: Die Chaostheorie steht für den Beginn eines wissenschaftlichen Paradigmenwechsels. Es geht also um eine Neufassung der methodischen und philosophischen Heran­gehensweise der Wissenschaft an Natur und Mensch, mithin um eine Revolution des Denkens. Und Revolutionen des Denkens ziehen auch Veränderungen im sozialen Leben nach sich.

Vor Newton galt die Bibel und nach Newton der Determinismus*. Niemand wird behaupten, daß diese wissenschaftstheoretischen Hintergründe nicht nachhaltig das reale Leben beeinflußt hätten. Nicht umsonst spricht man vom wissenschaftlichen ›Weltbild‹. Vor der Aufklärung wurden Menschen, die bestritten, daß die Sonne um die Erde kreiste oder nicht an den göttlichen Schöpfungsplan glaubten, als Ketzer verbrannt. Eine zwar weniger blutige aber trotzdem folgenschwere intellektuelle Tyrannei* lastet seit der Aufklärung auf denjenigen, die den Kern des Determinismus anzweifeln, alles sei durch Ursache und Wirkung erklärbar, also vorhersehbar und berechenbar, wobei der menschliche Wille keine Bedeutung habe. Wie so oft bei der Anwendung von Theorien nahm übrigens Newton selbst die Schlußfolgerungen aus seinen mechanischen Gesetzen bei weitem nicht so ernst wie seine späteren Anhänger.

Seit Laplace unter Berufung auf Newton behauptete, die Welt sei im Grunde nichts als eine Summe von Maschinen und daher mit Hilfe der Mechanik im Prinzip berechenbar, behauptete die Philosophie der Aufklärung Ähnliches über das Wesen des Menschen und die soziale Entwicklung. Der starre Determinismus von Marx' ›historischem Materialismus‹ ist davon nur ein legitimes Kind.

Deshalb kann es uns nicht egal sein, wenn sich durch die Einsichten der Chaostheorie plötzlich die Grenzen zwischen Physik und Ökologie, Chemie und Soziologie, Mathematik und Philosophie verwischen, und wenn die Wissenschaft beginnt, sich von theoretischen Modellen abstrakter Gleichmacherei abzuwenden, um in die chaotischen Strukturen der natürlichen Phänomene einzudringen.

Uns interessiert hier nicht die höhere Mathematik, sondern das neue Weltbild, das sich hinter der Chaostheorie versteckt und hier und da zaghaft hervorschaut.

Bruchstücke davon werden deutlich, wenn etwa der Physiker Bernd-Olaf Küppers vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen davon spricht, daß "die kreative, bunte, vielgestaltige Welt nun wieder ins Zentrum akademischer Neugier rückt".

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Nach seiner Interpretation der Chaostheorie führen beispielsweise die erstmals untersuchten Rückkopplungs-Phänomene dazu, daß der Endzustand eines Systems nicht ein für allemal fixiert ist, sondern zum Ausgangs­punkt einer neuen Entwicklung wird. Sein Statement gipfelt in der Aussage, daß sich die Welt selbst organisiert: "Treten natürliche Auslese- und Optimierungsprozesse hinzu, kann eine ›Selbstorganisation‹ der Materie in Gang kommen. (...) Dieselben Wechselwirkungen, die ein System nichtberechenbar machen, sind also letztendlich auch die Quelle für dessen Komplexität." Küppers spricht hier nicht von Politik oder sozialen Strukturen, sondern von "Materie", fügt aber selbst hinzu: "Dies wird Rückwirkungen auf unser wissenschaftliches Weltbild haben und damit auch auf das Selbstverständnis der Menschheit, denn wissenschaftliche Erkenntnisse haben seit eh und je Weltanschauungen beeinflußt. (...) Sie [die Wissenschaft] macht auch das Unberechenbare wieder ›berechenbar‹, indem sie uns die Augen öffnet für Chaos und für Nichtlinearität als Quelle der bunten Vielfalt unserer Welt."

Nun gut, die Wissenschaft hat also die Komplexität der realen Natur entdeckt und beginnt, sie zu erforschen. Alles, was sie dabei nicht berechnen kann, nennt sie ›Chaos‹. Dabei ist ihr aufgegangen, daß ein Kopf keine Kugel ist, ein Penis kein Zylinder und ein Busen kein Kegel, worüber sie sich sehr gewunden hat — Sie und ich wissen das aber schon lange.

Was hat das aber alles mit Anarchie zu tun?
Direkt nichts, aber indirekt eine ganze Menge.

 

     Das brutale und das sanfte Chaos   

 

Bisher wurde in diesem Buch das Wort ›Chaos‹ widersprüchlich verwendet. Einmal wurde behauptet, Anarchie sei kein Chaos, dann wieder wurde Chaos im Leben geradezu gefordert. Wie ist das zu erklären — sind Anarchos nun ›Chaoten‹ oder nicht?

Nun, ich habe das Wort ganz einfach im landläufigen Sinne benutzt, als Unordnung. Was aber heißt Unordnung eigentlich? Da gibt es zwei Sichtweisen:

Zum einen, wenn etwas so chaotisch ist, daß nichts funktioniert. Dann bringt die Unordnung Katastrophen für das System hervor. Dies ist die negative Definition, und angewandt auf die menschliche Gesellschaft möchte ich sie das ›brutale Chaos‹ nennen. Diese Wortbedeutung von Chaos ist gemeint, wenn der Anarchismus etwa die verheerende Unordnung des staatlichen Systems und seiner Wirtschaft kritisiert und von sich selbst behauptet, "Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft".

Zum anderen, wenn etwas so kompliziert ist, daß wir es nicht verstehen. Das bedeutet keineswegs, daß dieses ›Chaos-System‹ etwa nicht funktionieren würde — im Gegenteil! Etwas so komplex-chaotisches wie die Natur funktioniert hervorragend, nur, wir begreifen sie kaum, und deshalb nennen wir sie ›chaotisch‹. Diese positive Bedeutung des Wortes ›Chaos‹ war angesprochen, wenn es beispielsweise im Kapitel über Lebensart hieß, das Leben solle "bunt, vielfältig, kreativ und chaotisch" sein. Im sozialen Bereich würde ich dies das ›sanfte Chaos‹ nennen.

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Was die wissenschaftliche Chaostheorie betrifft, so bezieht sie sich ganz eindeutig auf diese zweite Form. Sie beschreibt keine Systeme, die nicht funktionieren, sondern Systeme, die funktionieren, ohne daß sie vorhersagbar wären. Küppers schreibt: "Chaos ist also hier im Grunde genommen nur ein anderes Wort für das Unberechenbare".

Im ›brutalen Chaos‹ gibt es kein System, es regiert der zerstörerische Zufall. Im ›sanften Chaos‹ ist System, aber es ist schwer zu begreifen. Alles das, was die Chaostheorie beschreibt, ist Chaos mit System.

 

Menschen und Moleküle sind nicht dasselbe

 

Das scheint nun alles wunderschön auf den Anarchismus zu passen. Wir brauchen nur Molekülgitter mit Menschen gleichzusetzen, und schon erkennen wir, daß auch der Anarchismus als soziale Theorie "bunt, vielfältig und komplex" ist, sich "selbstverwaltet" organisiert und ein System ist, dessen "Endzustand Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung" ist. Auch der Anarchismus schlägt eine Struktur vor, die uns ›chaotisch‹ erscheint, weil wir sie nicht ohne weiteres verstehen, die aber — so behaupten wenigstens die Anarchisten — hervorragend funktioniert. Wunderbar.

Aber Vorsicht! Anarchismus ist nicht Natur und Natur ist nicht anarchistisch. Möglicherweise haben sie vergleichbare Strukturen, und Anarchisten vermuten, daß ihr horizontal-›chaotisches‹ Sozialsystem sich besser mit der Natur verträgt, als das vertikal-hierarchische. Das mag stimmen, aber dennoch ist es nicht dasselbe. Verfallen wir nicht in den Fehler der Aufklärung, die innere Logik von Newtons mechanischen Gesetzen einfach auf die Menschheit zu übertragen!

Naturwissenschaften versuchen, die real existierende Natur zu beschreiben, zu begreifen und zu interpretieren. Soziale Systeme aber kommen vom Menschen und sind für den Menschen gedacht, sie sind subjektiv und in ihnen spiegeln sich neben Erkenntnissen auch Wünsche. Die Naturwissenschaft darf nicht sagen, wie sie's gerne hätte, sondern, wie's ist. Der Mensch aber darf das wohl (und der Anarchismus tut dies sehr heftig).

Nun scheinen zwar Chaosforscher wie der Chemie-Nobelpreisträger Ilya Prigogine oder der Stuttgarter Physikprofessor Hermann Haken auch die menschliche Gesellschaft als ein "nichtlineares, dynamisches System" zu betrachten, was man ja als sprachliche Analogie durchaus noch akzeptieren kann. Sobald aber die Naturwissenschaft beginnt, ihre Computersimulationen von Schneeflocken und Molekülketten auf die sozialen Zusammenhänge lebendiger Menschen zu projizieren, vergißt sie ganz einfach das, was den Menschen ausmacht: den subjektiven Faktor, oder, anders ausgedrückt, den Willen. Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend, der durch seine "anarchistische Erkenntnistheorie" bekannt wurde, meint hierzu:

"Was aber den Prigogine selbst betrifft, so erfüllen mich seine Ideen keineswegs mit Freude. Was dahintersteckt, ist der Versuch, eine anfassende und einheitliche Theorie aller wichtigen Erscheinungen in der Welt zu finden, das heißt, (...) eine neue intellektuelle Tyrannei, die selbst die Humanoria* auf die Monotonie* eines einzigen Schemas reduzieren will."

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Diese Befürchtung ist nicht so weit hergeholt. Heute werden mit der Chaostheorie in einem Aufwasch die Bildung von Eiskristallen und die französischen Jugendrevolten, der Umfang des Apfelmännchens und die Geldzirkulation ›erklärt‹, und vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis das Pentagon* an Microsoft den Auftrag vergibt, die soziale Revolution zu simulieren und als fraktales Diagramm* auszudrucken.

 

Im Moment ist die Chaostheorie eine Modeerscheinung — ein Steinbruch, in dem sich jeder bedient. Während der Göttinger Nobelpreisträger Manfred Eigen hier (durchaus seriös) die biochemischen Bausteine findet, um die Lücken der Darwinschen Evolutionstheorie zu schließen, suchen sich zur gleichen Zeit (bedeutend weniger seriös) sogenannte ›Kreationisten‹ die Brocken heraus, mit denen sie glauben, die Idee eines ›göttlichen Schöpfungsplans‹ retten zu können, und es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Chaostheorie auf der Titelseite des "Wachturm" zum Beweis von Jehovas Allmacht herangezogen wird. Das alles ist nicht die Schuld der Chaosforschung, sondern nur die übliche Begleiterscheinung eines jeden wissenschaftlichen Paradigmenwechsels, an die sich die Anarchisten (wie seriös auch immer) nicht anhängen müssen.

Darum geht es auch gar nicht.
Worauf es ankommt, ist meiner Meinung nach die Chance, die in einem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild liegen kann:

Wissenschaftliche Theorien sind Krücken, mit deren Hilfe wir uns einen Weg durch die Realität bahnen. Sie sind nicht die Realität, sondern Hilfsmittel zu ihrem Verständnis. Wenn heute gesagt wird, die Chaostheorie "löst die Newtonsche Physik ab", so ist das ausgemachter Unsinn. Nach wie vor ›stimmt‹ jeder Versuch der ›linearen‹ Mechanik im Labor, so wie er vorgestern gestimmt hat. Und offenkundig kommen wir im Maschinenbau mit den mechanischen Gesetzen besser zurecht als mit der Chaostheorie. Was neue Theorien verändern, ist das Weltbild, denn sie verschieben den Blickwinkel, unter dem Phänomene erforscht werden.

 

    Bedeutung für den Anarchismus  

Diese Verschiebung des Blickwinkels ist für den Anarchismus als soziale Theorie interessant. Bisher war die Wissenschaft auf Vereinfachung eingestellt, nun wendet sie sich der Komplexität zu. Die verhängnisvolle Einseitigkeit des Determinismus kommt eindeutig aus der Physik, jenem "terrible simplificateur"*, von dem kein geringerer als Albert Einstein sagte, daß seine "Klarheit und Einfachheit nur auf Kosten der Vollständigkeit der Erkenntnis" möglich ist. In der realen Welt aber ist, wie der Wissenschaftsautor Rudolf von Woldeck sagt, "Einfachheit eine sehr seltene Sache".

Wenn aber die Wissenschaft — endlich! — Komplexität, Vielfalt, Gegensätzlichkeit, Buntheit und Steuerungssysteme der Selbst­organisation in den Phänomenen der Natur ernst nimmt und erforscht, so kann das für die soziale Theorie des Anarchismus indirekt einen positiven ›Klimawechsel‹ bedeuten.

Es wird die Bereitschaft erhöhen, auch im Politischen und Sozialen von solch schrecklich simplen Vereinfachungen Abstand zu nehmen wie der Idee des Staates, der Hierarchie und der sozialen Steuerung durch Befehl und Gehorsam. Und es könnte dazu beitragen, unkonventionelle Vorschläge zur sozialen Organisation nicht gleich deshalb als ›chaotisch‹ abzulehnen, weil wir sie nicht ohne weiteres durchschauen und ihnen darum die Fähigkeit absprechen, daß sie tatsächlich funktionieren.

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Literatur

Bernd Olaf Küppers: Wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile in: Chaos und Kreativität (Geo-Spezial) Hamburg 1990, Gruner+Jahr, 192 S., ill.

Rudolf von Woldeck: Formeln für das Tohuwabohu in: Das Chaos Berlin 1989, Kursbuch, 180 S., ill.

Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Dialog mit der Notar München 1981, Piper, 347 S.

Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen Stuttgart 1989, DVA, 320 S.

 

 

 

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