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 Der Ton in des Töpfers Hand

 

22. Dezember 1939

»Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß.«

Thesen über Feuerbach von Karl Marx  -  wikipedia  Thesen_über_Feuerbach

 

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Die Sphinx soll sich in den Abgrund gestürzt haben, weil ein Mensch ihre kindische Frage richtig beantwortet hatte. Das ist niedrige Mythologie. In Wahrheit begannen die Götter und die ihnen wohlgefälligen Ordnungen erst zu erbeben, wenn der Mensch seinerseits zu fragen begann. So war auch die — zeitgemäß zu sprechen — »Liquidierung« des Sokrates kein Justizmord. Er lehrte zwar keine neuen Götter, aber etwas viel Gefährlicheres: fragen.

Damit begann die abendländische Erziehung, damit fängt sie auch heute immer wieder an. Denn damit der Mensch mündig werde, muß er den Mund zu gar vielen Fragen geöffnet haben. Deshalb war und ist es die Kunst aller Herrschenden, ihm mehr Antworten zu geben, als er Fragen stellen kann. So amüsierte man ihn, wie der Franzose sagt, wenn er ausdrücken will: so betrog man ihn ausdauernd. Die Tyrannen waren die größten Amuseure der Menschheit.

»Was weiß ich?« — fragt der Erzieher Montaigne zwei Jahrtausende nach Sokrates. Hitler, Stalin und ihresgleichen wissen alles. Der Menschheit bleibt ihre ungelöste Frage sozusagen im Halse stecken. Ihr wird verkündet, sie hat sich zu verantworten.

Doch war jeder Schritt der Menschheit, der ein Fortschritt war, erst durch Fragen und Zweifel ermöglicht. So allein übte sie Gericht über unerträglich gewordene Krisen: sie kritisierte sie in der Tat zu Ende.

Die Ära der Tyrannien war fast immer die Ära überreifer Krisen, die Zeit von Übergängen, die, weil sie zu lange dauerten, manchmal zu Untergängen wurden. Darum fürchteten die Tyrannen die Kritik wie ihr eigenes Ende. Sich gegen sie zu schützen, erhoben sie sich zu Göttern. Sie mußten fürchterlich werden, so sehr hatten sie zu fürchten.

Seit wann gibt es eine öffentliche Meinung in Europa? — Seit der Zeit, da die Menschen begannen, sich von der Kirche zu emanzipieren, antworten Historiker. — Sie haben sich aber nie wirklich von der Kirche emanzipiert, sie haben nur eine Kirche gegen die andere ausgetauscht- und durchaus nicht immer gegen eine bessere. — Also gibt es keine öffentliche Meinung? — Es gibt die Meinung der Verweser der Öffentlichkeit, die herrschende Meinung der Herrschenden. Meinen ist: wahrnehmen, erkennen, urteilen. All dessen braucht das Glauben nicht. Dem ist Absurdität nicht geringerer Beweisgrund als der Augenschein. Als Idee, als Meinung beginnt es, handfest wird es als Glauben, organisiert ist es eine Kirche, in der die toten Götter fröhliche Urständ' feiern.

Die Menschen sind, was die Umstände aus ihnen machen, doch werden sie, was sie aus den Umständen machen. Man sehe sich an, was sie aus den Umständen seit 1914 gemacht haben! Was Wunder, daß es keine Erziehung gibt, sondern nur eine Propaganda, von der ein Hitler glaubt, sie könnte Kriege entscheiden. So tödlich muß sie sein!

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Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus lehrten, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur deren eigenes Werk sein könnte. Sie appellierten an das Bewußtsein. Die Propaganda, die sie meinten, sollte Erziehung, Bewußtmachung sein, die Vollendung der Aufklärung. Darum sahen sie auch in der deutschen Arbeiterklasse die alleinige Erbin der klassischen deutschen Philosophie. Sie wandten sich an die Massen und suchten in ihnen nicht die ewigen Zöglinge, sondern die Erzieher, die erzogen werden mußten. Sie wollten den Arbeiter denken lehren und so davor bewahren, daß er gläubig würde. Damit er kein höheres Wesen, ihn zu erretten, suchen sollte, nannten sie das höchste Wesen: das menschliche. Und dieses galt es, positiv zu kritisieren, zu befreien.

Diese erste, nichtkirchliche Propaganda, die je an die Massen ohne Magie und ohne die hinterlistige Spekulation auf die Glaubensneigung appellierte, machte aus Millionen Arbeitstieren kritisch-denkende Menschen. So war sie der Beginn der erstaunlichsten geistigen Revolution.

Doch als sie erprobt werden sollte, im August 1914, erwies sie sich als zu schwach. Und fünfundzwanzig Jahre später kam der Moskauer August gerade zurecht, um ein Ende zu kennzeichnen, in dem die kleinbürgerliche Tragödie von damals sich nicht als Farce wiederholte, sondern als Trauerspiel der Wirrungen, in dem der Parteivorsitzende zum göttlichen, weisen, großen Führer, kurz: zur Sonne seiner Völker geworden war.

»Glaubt! Glaubt!« brüllt die Propaganda dieses neuen Gottes einer Kirche, die sich als Sozialismus falschmeldet und in der die Bilder von Marx, Engels und Lenin wie Ikonenbilder hängen. Hängen!

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Somit ist das von Marx und Engels begonnene Erziehungswerk im Kapitulantentum der Reformisten zusammengebrochen, es ist von den Stalinisten und den National-<sozialisten> durch eine Propaganda ersetzt worden, die das Vorbild der Gegenerziehung und der Hirnvernebelung abgibt.

Ihre Maxime lautet: Achtet nicht auf die Mittel, die wir anwenden, sie dienen dem Ziele, stehen sie auch im Widerspruch zu ihm. Wir, die Führer, sorgen schon dafür, daß man auf verkehrtem Wege richtig ankommt. Versucht nicht zu kritisieren, habt Vertrauen, glaubt! Seid Ton in unseren Händen!

Es geht hier nicht um moralische Fragen, nicht darum, ob ein Mittel deshalb schlecht ist, weil es unmoralisch ist, sondern darum, daß diese Mittel im Widerspruch zu den angeblichen Zielen sich selbst als Ziel konstituieren, darum, daß die Diktatur — zum Beispiel — aus dem Mittel zum Ziele, zum alles rechtfertigenden Zwecke wird. Solcher Vorgang ist gewiß nicht neu, doch kann eine Revolution nicht siegen, es sei denn, die Revolutionäre wüßten schärfer noch als ihre Zeitgenossen, zwischen Mittel und Ziel zu unterscheiden; es sei denn, die Revolutionäre behielten sich durchaus das Recht vor, über die anzuwendenden Mittel selbst zu entscheiden.

Diese Propaganda kennt einen Feind, das Denken. Die Erziehung kennt ein Ziel, das Denken. Die Propaganda der Tyrannen von heute lehrt:

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Ihr seid nicht in der Lage, alle Vorgänge zu übersehen, wir müssen Geheimdiplomatie machen, wir müssen sehr schlau sein. Unter euch gibt es viele Verräter, sie könnten unsere schlauen Schliche verraten, also dürft ihr nicht alles wissen, also müßt ihr Wendungen mitmachen, die wir für gut befunden haben und die ihr für genial halten müßt, gleitet nicht in der scharfen Kurve aus.

Es ist klar, nicht so erzieht man Menschen, denen es aufgegeben ist, die Krise eines Zeitalters zu überwinden. Sollen nun jene, die diese Erziehung wollen, in Konkurrenz zur Propaganda der Hitler und Stalin eintreten, oder sollen sie zur alten Propaganda zurückfinden? Ihr sagt, diese sei so wirkungslos geblieben? Ihr irrt euch. Ihr vergeßt die großen Siege, die sie errungen hat und von deren Mißbrauch die heutigen Herren noch leben.

Nein, unsere Sache ist es nicht, die Schreier zu überschreien. Könnten wir es auch, von einer bestimmten Lautstärke ab hört der Ton auf, faßbar zu sein. So haben wir nicht zu verkünden, wir haben wieder fragen und denken zu lehren. Ist das sehr wenig? Wartet ab, das kann sehr viel sein.

 

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Wir sind wieder auf die mühsamen Anfänge zurückgeworfen. Viele sind daher muttes geworden. Wir teilen diese Mutlosigkeit nicht. Wir sind gewiß, daß nach diesem Kriege gleichsam eine Konjunktur des Zweifels und der Nachdenklichkeit heraufkommen wird. Wir sind gewiß, daß die Millionen deutscher Jugendlicher im Schützengraben, und wenn ihnen das Blut und der Dreck bis an den Hals stehen, in allen ihren falschen Gewißheiten erschüttert sein werden, daß sie sich zum ersten Mal nach etwas umsehen werden, was ihnen so erfolgreich bis dahin verleidet worden ist:

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nach dem einfachen, durchdachten Satz. Sie werden lernen wollen, die Wirklichkeit zu erkennen, wie sie wirklich ist, sie werden den zu lauten Ton, an den sie gewöhnt waren, nicht mehr ertragen, sie werden mit der Frage anfangen: Was weiß ich?

Und von dieser Jugend, das ist gewiß, wird fast alles abhängen. Sie wird nicht eine alte Ordnung wiederherstellen wollen, sie wird auch davor gefeit sein, Erlöser zu suchen. Sie wird vor die schwerste Krise gestellt sein und, wenn sie dann richtig erzogen wird, den entscheidenden Beitrag zu ihrer Lösung leisten.

Wir wissen, daß wir erst darum kämpfen müssen, gehört zu werden. Werden wir es erreichen, wenn wir den Feind nachahmen? Kaum. Vielleicht muß man mitten in solchem Gebrüll leiser sprechen, um durchzudringen. Einen anderen Ton finden, als den, den diese Menschheit bald erbrechen wird.

Wofür werden wir sprechen? Es gibt keine Macht, für die wir eintreten, doch gibt es die Mächte, gegen die wir kämpfen müssen. Was in den letzten Jahren geschehen ist, war die Erkrankung von Idealen. Sozialismus, Nationalismus, das alles ist entwertet worden wie noch nie vorher. Es gibt keine sozialistische Wirklichkeit, für die wir eintreten können, wir sind wieder so arm wie vor dem Oktober, doch können wir allen jenen, die suchen werden, schon heute eine Richtung zeigen: nicht um sie dort hinzuführen, sondern um sie selbst zu Führern zu machen.

Im Augenblick sieht es aus, als ob es zwar gäbe, wogegen, doch nicht wofür zu sterben. Wir müssen aufzeigen, wie man das Ideal wieder erkennt, für das es auch zu sterben lohnen könnte.

Bewegen wir uns im Niemandsland? Es wird von unserer Erziehung abhängen, daß es die entscheidende Front, die Front unserer wirklichen Siege wird.

»Das Glück ist eine neue Idee in Europa!« Das wurde vor hundertfünfzig Jahren gesprochen. Niemals war die Menschheit so unglücklich wie heute. Niemals standen ihr solche Mittel, glücklich zu sein, zur Verfügung. Um die Menschen nachdenklich zu stimmen, um sie von der Herrschaft der verlogenen Phrasen zu befreien, muß man sie immer wieder mit der Wirklichkeit konfrontieren, daß sie fragen: Sind wir glücklich, ist dieser Zustand die Erfüllung unserer berechtigten Wünsche? Ist Sozialismus dort, wo die Menschen nicht einmal den Mut haben, sich nach ihrem Glücke zu fragen, nicht den Mut zu ihren Gedanken?

Die Sehnsucht nach einem Glücke, das geänderte Umstände möglich machen könnten, könnte von heute auf morgen die revolutionierendste Frage werden. Ein geistiges Dynamit, mit dem die Tyrannien und manch anderes noch dazu in die Luft gesprengt werden könnten.

Wir sagen dem schöpferischen Zweifel, der die Massen ergreifen wird, eine nahe und große Zukunft voraus. Der Boden wird umgegraben, und nur die Saat wird aufgehen, deren Frucht das große Gegengift, die Hirne zu entgiften, sein wird.

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