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Die Verachtung der Masse

(17.02.1939)

 

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Zwei Arten von Abgründen: gute und schlechte Abgründe gäbe es, sagte Victor Hugo in seiner berühmten Voltaire-Rede. Ähnlich gibt es zwei Arten von Niederlagen. Es gibt solche, die als Sieg, als Beginn einer neuen Epoche in die Geschichte eingehen. Die sie erleiden, haben die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gegen sich gehabt. Diese Niederlagen sind gleichsam Ratifikationen eines Untergangs, der lange schon vor der Schlacht begonnen hat. Wie im Handumdrehen lösen solche Niederlagen Fragen, die zu lange ungelöst geblieben waren, sie schaffen neue Gewißheiten. Die zweite Art Niederlage, Siege der Vergangenheit über die Kräfte der Zukunft, leiten leidvolle Episoden ein. Sie beantworten keine einzige Frage, sie fügen im Gegenteil zu den alten neue Fragen hinzu, sie machen gesicherte Antworten fraglich.

Die Niederlagen, die das Volk im Kampfe gegen den Faschismus erlitten hat — in Deutschland und vorher in Italien —, sind dazu angetan, vieles, was dem fortschrittlichen Teil der Menschheit gewiß erschien, fraglich zu machen. Der Prozeß, der da dem Faschismus gemacht werden muß, wird zeitweise die Richter als — zumindest unbewußte — Komplizen ihrer eigenen Niederlage erweisen. Wer sich solchem Prozeß entzieht, ist wert, für immer besiegt zu sein.

Einer besonderen Prüfung scheint die Rolle der Masse bedürftig zu sein. Sie war, schien es, stets fortschrittlich, auf sie berief sich der Fortschritt im Kampfe gegen die Reaktion.

Und tatsächlich ging diese stets darauf aus, die Masse zu unterdrücken und sie in jeder Weise unmündig zu machen. Der Faschismus nun ist eine neue Art von Reaktion, die sich auf Massen stützt und lauter, als es sonst wer getan hat, auf sie und ihre verschiedentlich dokumentierte Zustimmung beruft. Zwar kannte man solche Massenbasis auch in früheren Zeiten, man stieß auf sie auch bei Beginn von Kriegen - siehe 1914; doch stellt die Mobilisierung der Massen, wie sie dem Faschismus besonders in Deutschland gelungen ist, ein neues geschichtliches Phänomen dar, unähnlich dem Massenanhang des Louis Bonaparte wie dem übrigens sehr schütteren Anhang des feudalen Sozialismus.

Angesichts dieses Phänomens bilden sich Meinungen, werden Vorwürfe geäußert. Etwa: »Wir sind besiegt worden, weil wir die Massen von Grund auf verkannt, weil wir sie, ihr Gedächtnis, ihre Urteilsfähigkeit maßlos überschätzt haben.« Oder: »Es gilt. Massenpsychologie zu treiben. Schon Gustave Le Bon hat nachgewiesen, daß die Masse dem folgt, der ihre unbegrenzte Suggestibilität und ihre Dummheit auszunutzen versteht. Die Faschisten, die eine gesunde Verachtung für die Masse haben (siehe Hitlers entsprechende Äußerungen in >Mein Kampf<), konnten sich die Schwächen, die der Masse wesensmäßig eignen, zunutze machen. Sie haben gesiegt. Die Marxisten aber vergöttern die Masse; deshalb läßt sie sie im Stich. Man darf der Masse nicht mit Vernunftargumenten kommen, denn die sprechen sie überhaupt nicht an, allein das Irrationale wirkt. Das Mystische ergreift die Massen, das allein begreifen sie!«

Daß diese gehässige Verachtung Ausfluß einer schwer enttäuschten Liebe ist, ist deutlich. Ebenso ist es klar, daß man mit Gefühlen keine Wissenschaft macht. Und nicht immer ist die Enttäuschung eine Ent-Täuschung. Die die Niederlage klagen lehrt, lernen nichts aus ihr. Wir aber wollen verstehen, um zu ändern, worüber jene nur klagen.

 

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Ist die Psychologie schon im allgemeinen eine sehr junge Wissenschaft, deren gesicherte Aussagen an den zehn Fingern aufzuzählen sind, so ist die Massenpsychologie gar ihr fraglichster Zweig.

Ihr Begründer, der Franzose Le Bon, hatte revolutionäre Massen vor Augen, die er haßte und fürchtete. In seiner Massenpsychologie schuf er sich gleichsam eine Revanche. Die ihm folgten, Sighele, Bechterjew, Freud, kamen auf verschiedenen Wegen zu ähnlichen Folgerungen wie er. Man kann diese wie folgt zusammenfassen:

  1. Es sind ausschließlich Emotionen und Affekte, welche die Individuen zu einer Masse zusammenschließen (»massieren«).

  2. In der Masse verliert das Individuum mit seinen gewöhnlichen Hemmungen auch sein gewöhnliches intellektuelles Niveau, vielleicht sogar seine ganze Persönlichkeit. Es ist keine Person mehr, sondern ein Neues: ein Massen-Teil.

  3. Die Intelligenz der Masse hat nicht etwa das Durchschnittsniveau der sie bildenden Individuen, sondern das Niveau des intellektuell Minderwertigsten.

  4. Die Masse ist in ihren Handlungen hemmungslos, in ihren Gefühlen maßlos und bar jeder vernünftigen Selbstkontrolle. Ihre Suggestibilität ist unbegrenzt.

In diesen vier Sätzen ist die Verächtlichkeit der Masse behauptet. Die oben erwähnten Autoren schrieben zu einer Zeit, als es noch nicht das faschistische Massenaufgebot gab.

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In einem vor kurzem erschienenen Werke versucht nun ein Schüler Le Bons zu differenzieren. Er findet, daß die oben zitierten Sätze auf die revolutionären, aber nicht auf die faschistischen Massen Anwendung finden. Sie verehrt er.

Le Bon sprach von der Masse, als gäbe es gar keine Möglichkeit, sie zu differenzieren. Der große Neurologe Bechterjew interessierte sich für die psychotische Masse: die Masse im Panikzustand etwa. Sigmund Freud fing erst nach dem Kriege und unter seiner Einwirkung an, sich für das Problem der Masse zu interessieren. Er suchte und fand, richtiger: er suchte, was er längst gefunden zu haben glaubte: die Bestätigung seiner Neurosentheorie. Er interessierte sich für die neurotische Masse. Und ging er auf Le Bon zurück, so nur deshalb, weil er in Le Bons Schilderung der Masse eben die neurotische wiederzufinden meinte. In allen diesen Fällen blieb die Masse soziologisch anonym. Es handelte sich stets um die Masse, um die Masse schlechthin.

Den Menschen gibt es nur abstrakt. In seiner tätigen Wirklichkeit - und hier allein ist er faßbar - ist der Mensch das Ensemble seiner gesellschaftlichen Bedingungen, deren Produkt und Produzent er in einem ist. Genauso gibt es die Masse nur abstrakt. Sie kann erst Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein, wenn sie vorher politisch-ökonomisch gefaßt worden, also ihrer Anonymität entkleidet worden ist. Die Vernachlässigung dieser wichtigsten Voraussetzung gestattete es den genannten Psychologen, sehr schnell zu allgemeinen Aussagen zu gelangen.

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Mehrere Personen versammeln sich an einem Orte. Sie warten alle auf den Autobus. Sie bilden eine Menge.

Der Autobus verspätet sich allzusehr, die Verspätung löst in ihnen die gleiche Empörung aus, später die Neigung, etwas gemeinsam zu unternehmen. Die gleiche, gemeinsame Intention verwandelt die Menge in eine Masse. Erst das Gefühl des gemeinsamen Interesses »massiert« die Individuen. Ohne dieses Gefühl keine Massenbildung. Langsam bildet sich das Massenbewußtsein heraus. Es entsteht keineswegs als eine direkte und exakte Widerspiegelung wirklicher Interessen, sondern nähert sich nur langsam, in emotionalen Stößen, durch ungezählte Verzerrungen hindurch der richtigen Erkenntnis der wahren Interessen an.

Den Massenpsychologen, die wir zitiert haben, fiel der emotionale Wesenszug der Massen auf. Mit Recht! Emotionen, gefühlsmäßige Erschütterungen, stehen regelmäßig am Beginn jeder Massenbildung. (Hierbei spielt gewöhnlich das Unrechtserlebnis die größte Rolle.) Die volle Einsicht in die gemeinsamen Interessen, das Selbstbewußtsein der Masse bildet sich erst im Prozesse, in dem sie sich organisiert. Und dieser Prozeß schließt Kämpfe, Siege und Niederlagen ein. Beobachtet man also nur ephemere Massenbildungen — und das hat die bisherige Massenpsychologie nur getan —, so ist man leicht geneigt, den emotionalen Wesenszug für das Wesen der Masse schlechthin zu nehmen.

Das Massenbewußtsein ist durchschnittlich nicht sehr klar — wird man uns einwenden. Gewiß; doch ist bisher alles gesellschaftliche Bewußtsein trübe gewesen. Die Welt sexuell aufzuklären — wovon sich die Psychoanalytiker so viel versprechen — ist weiß Gott ein Kinderspiel im Vergleich mit der Aufgabe, die Menschen ihrer sozialen Rolle, ihrer wirklichen Situation bewußt zu machen. Es haben sich fast alle großen Männer über ihre Rolle in der Geschichte getäuscht — wir wissen es von den größten. Muß die Masse unter jedem individuellen Niveau sein, damit sie der gleichen Täuschung verfalle?

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Was die Suggestibilität der Masse betrifft, so ist sie durchaus ungleichmäßig. Sie steht in indirekter Proportion zum Selbstbewußtsein der Masse und in direkter Proportion zu ihrem Affekthunger. Der übermäßige Affekthunger kennzeichnet den Massenanhang der Tyrannis. Von da aus ist auch zu erklären, warum diese Masse so leicht in Apathie verfällt, aus der sie immer wieder mit besonderen Affektreizen heraus- und hochgerissen werden muß. Solche Art Masse ist auch am ehesten führergläubig; denn allein im Glauben an den Führer findet sie ihr — falsches — Selbstbewußtsein, d.i. das Bewußtsein der Gemeinschaft.

 

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Die Massenverächter leugnen, daß die Masse den Ideen rationaler Art zugänglich sein könnte. Sie halten für gewiß, daß die Masse sich auf dem primitiv-magischen Denkniveau befinde, also nur magischen, irrationalen Beweggründen gehorche.

Daß das magische Denken allgemein verbreitet ist, kann nicht geleugnet werden. Weder die Religion noch die Philosophie, noch die Wissenschaft haben es vermocht, das magische Denken auszurotten. Doch kennzeichnet es die Massen, soweit es und weil es die Individuen kennzeichnet. Die individualistischen Massenverächter glauben gerne, daß das Individuum in der Masse untergeht. Es geht in ihr aber nur auf, es findet in ihr nur eine andere Form der Äußerung: die der Selbstentäußerung. So ist die Schwäche der Masse die Schwäche der sie bildenden Individuen. So bestand alle bisherige Kunst der Massenführung darin, von der Schwäche der Individuen, der einzelnen auszugehen.

Und es bestand der Fehler der Linken darin, diese Schwächen zu verkennen, den einzelnen als den vollendet sachlichen, affektfreien Homo politicus zu nehmen und seine Gefühle zu vernachlässigen. Die um die Zukunft kämpfen, verkennen häufig die Macht, die die Vergangenheit über die Gegenwart ausübt.

Die Masse ist einer neuen Idee so wenig zugänglich, wie es gewöhnlich das Individuum ist. Um den Zugang neuer Ideen zu ermöglichen, müssen Automatismen gesprengt, muß das Apperzeptionsschema- durchstoßen werden. Das gelingt nur, wenn große gefühlsmäßige Erschütterungen erfolgt sind. Die Linke blieb mit ihren Ideen vor geschlossenen Automatismen, sie durchstieß nicht das konservative Apperzeptionsschema, weil sie selbst gefühlstaub geworden war und darin noch gar in lauter Verblendung einen Fortschritt sah. Ihre Dichter dichteten Leitartikel in Versen, aus denen mit großem Bedacht alles Emotionelle ausgeschaltet worden war. In den Versammlungen bot man den Massen zweistündige Referate über die Weltwirtschaft an: Man sprach an der Masse vorbei, weil man an den einzelnen, die diese Masse bildeten, vorbeisprach.

Nicht unseren Ideen, sondern der Art, wie wir sie der Masse nahezubringen versuchten, mangelte der »Mass-Appeal«.

Verachten wir nicht die Masse, lernen wir, sie zu verstehen. Und das heißt nicht zuletzt: lernen wir den einzelnen verstehen, wie er wirklich ist und wie er wohl noch lange bleiben wird.

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