Alexander Solschenizyn

 

Russlands Weg aus der Krise

 

 

Ein Manifest auf 70 Seiten

Kak nam abustroit Rossiju

Wie wir Russland einrichten

/ umgestalten / aufbauen / organisieren

 

 

Russlands Weg aus der Krise (1990) Solschenizyn, Alexander

1990   70 Seiten

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»Soll man denn in unserer ausweglosen Situation
nicht manchmal auch eine Utopie versuchen?«
(Solschenizyn an Sacharow)

Gustaw Herling 1990 über Solschenizyn

243

Solschenizyns <Offener Brief> an die sowjetische Führung vom 5. September 1973 (er erschien in den größten europäischen und amerikanischen Zeitschriften) wurde im Westen mit einem leisen Lächeln gelesen.

Aber warum? Es ist mir nie gelungen, eindeutig festzustellen, warum. Wahr­scheinlich war es ein Lächeln, in dem sich Sympathie (manchmal auch Bewunderung) mit Ironie und einer Prise Mitleid verbanden.

Obwohl schon damals offensichtlich war, welches Format Solschenizyn als Mensch und Schriftsteller hat, erschienen die von ihm dem Kreml erteilten Ratschläge vielen als größenwahnsinnig: als ob ein moderner David, ein wehrloser Prophet, einen mächtigen, in eine schwere Rüstung gesteckten Goliath zu überzeugen suchte.

Schnell wurde Solschenizyn nach Veröffentlichung seines <Briefes>, vor allem in den Kreisen auch der gemäßigten Linken, das Etikett eines altväterlichen Reaktionärs, russischen Nationalisten und Kirchenpredigers ange­hängt. Die große römische Wochenschrift <L'Espresso> lud mich damals zur Teilnahme an einer Diskussion, oder vielmehr an einem Dialog über den <Brief> ein.

Mein Gesprächspartner war Lucio Colletti, Professor für Philosophie an der Universität Rom, Hegel-Spezialist, intelligenter Kenner des Marxismus und der kommunist­ischen Problematik, ein brillanter Kopf. Auch bei ihm bemerkte ich dieses sonderbare Lächeln. Bei aller Hochachtung für Solschenizyn und einem äußerst kritischen Verhältnis zur Sowjetunion und zum Kommunismus schien er in dem <Brief> eine Donquichotterie zu sehen, »inadäquat« im Vergleich zu der Macht des angegriffenen Systems.

17 Jahre sind vergangen, seit der Brief geschrieben und veröffentlicht wurde. Die Reaktion im Westen machte mir bewußt, wie wenig man hier über die Sowjetunion wußte, über die dort schwelende Krise, wie sehr man (unabhängig von eigenen politischen Ansichten) an die Stabilität des Sowjetsystems glaubte, an die endgültige Gestaltung des Sowjetmenschen, des homo-sovieticus.

Sacharow polemisierte zwar - meiner Meinung nach großenteils zutreffend - gegen den <Brief> aber er hatte keine Zweifel daran, daß Solschenizyn gut Bescheid weiß über das Krebsgeschwür, das den Staat Lenins und Stalins zerfrißt.

Sacharow warf Solschenizyn vor, die Rolle der Ideologie in der Sowjetunion zu überschätzen (er schrieb, daß »die gegenwärtige sowjetische Gesellschaft von ideologischer Indifferenz und einer pragmatischen Ausnutzung der Ideologie als bequemer Fassade beherrscht wird«) und der unaufhaltsamen Industrialisierung und Urbanisierung allzu starken Widerstand zu leisten.

Er unterstrich das »Utopische« in Solschenizyns Plan zur Krebsbehandlung. In seiner Antwort darauf konnte sich Solschenizyn des Ausrufs nicht erwehren:

»Soll man denn in unserer ausweglosen Situation nicht manchmal auch eine Utopie versuchen?«

 

Die im Juli 1990 geschriebene und dieser Tage herausgegebenen Broschüre Solschenizyns, die ebenfalls sogleich in viele Sprachen übersetzt wurde und den Titel <Kak nam obustroit Rossiju?> (Wie sollen wir Russland umgestalten?) trägt, ist ein aktuelles Gegenstück zu jenem Brief vor 17 Jahren, wenngleich sie sich nicht an die gegenwärtigen Machthaber in der Sowjetunion wendet.

Solschenizyns Aufgabe ist heute einfacher: Er spricht zu Menschen, die überzeugt sind — das leicht ironische Lächeln in den Gesichtern seiner westlichen Zuhörer ist einem Ausdruck des Grauens gewichen; endlich sieht jeder, wie der Gaul beschaffen ist (d.h. die Sowjetunion); was wird (eine besonders häufig im Westen gestellte Frage), wenn das letzte Imperium entweder in einem Prozeß allmählicher Auflösung zusammenbricht oder aber noch in Todeszuckungen mit Hilfe eines Militärputsches eine aggressive, waghalsige Diktatur hervorbringt?

Es ist paradox, daß der russische David jetzt den wankenden, sich kaum auf den Beinen haltenden sowjetischen Goliath stützen möchte. Aus Angst vor Anarchie, vor einer Wiederholung des Jahres 1917, »sollte man im Augenblick ein wenig vom gegenwärtigen Staatssystem beibehalten, ganz einfach deshalb, weil es schon besteht«. Aber selbstverständlich muß mehr über Bord geworfen als »beibehalten« werden.

Solschenizyn empfiehlt im Rahmen seiner Forderung nach »Selbstbeschränkung« das Abstoßen von elf Sowjetrepubliken; er appelliert, aber er appelliert nur, an die Ukraine und Weißrußland, in einer Union mit Rußland zu bleiben. Er meidet keine politische Einflußnahme, tritt aber vor allem als Moralist auf.

»Das politische Leben ist bei weitem nicht die wichtigste Lebensäußerung des Menschen. Politik ist für die meisten Menschen durch­aus keine ersehnte Beschäftigung. Je mehr das politische Leben in einem Land ausgebaut ist, desto größere Verluste verzeichnet das geistige Leben. Die Politik sollte die geistigen Kräfte und den schöpferischen Atem eines Volkes nicht ersticken.«

Wahrscheinlich werden Berufspolitiker an dieser Stelle mit den Achseln zucken und die Hände ringen wegen Solschenizyns »Naivität«.

Meiner Meinung nach sind in der Broschüre Solschenizyns moralische Erwägungen am wertvollsten.

Möglicherweise ist es in der modernen industriellen Massengesellschaft bereits zu spät für diese Art von Empfindsamkeit und Weisheit, aber wir sollen wenigstens wissen, wohin wir gehen und was uns droht, um zu versuchen, die Würde des Gemeinschaftslebens zu retten.

Solschenizyn spricht überaus treffend das Lob einer »Demokratie der kleinen Räume« aus, mißt den Provinzen und Selbstverwaltungen der untersten Stufe richtigerweise sehr großes Gewicht bei und versteht den erzieherischen Wert einer unmittelbaren Beteiligung des Menschen in der Entwicklung kleinerer, gesellschaftlich und moralisch geschlossener Gemeinschaften.

Er beruft sich dabei auf alte russische Muster, verbirgt aber gleichzeitig nicht, wieviel ihm der Aufenthalt in der Schweiz, im Kanton Appenzell, gegeben hat.

Bezeichnend ist, daß sich bei Silone der Widerwille (um nicht mehr zu sagen) gegenüber maßlos aufgeblasenen, von Anonymität gekennzeichneten gesell­schaft­lichen Organismen und Parteiapparaten eben während des Exils in der Schweiz verfestigt hatte, und zwar zugunsten einer wirklichen Teilnahme des Bürgers an lebendiger, authentischer, nicht nur auf die Fahnen geschriebener, auf eine parlamentarische (oft nur formale) Vertretung reduzierter Demokratie.

243-246

25. September 1990,
Gustav Herling 

 

 


 

 

Lesebericht bei Amazon von Hanniel, 2016:

 

 

Wie das Buch entstand

1990 schrieb der Literaturnobelpreisträger und Langzeitverbannte Alexander Solschenizyn ein Manifest über sein Vaterland, das in einer Auflage von 20 Mio. Exemplaren erschien. Zur Erinnerung: Die Russische Förderation entstand auf den 1.1.1992. Solschenizyn erhielt 1990 seine sowjetische Staatsbürgerschaft zurück und kehrte am 27. Mai 1994 mit dem Zug von Osten her in sein Heimatland zurück.

Die Ausgangslage: Russland am Abgrund

"Siebzig Jahre lang folgten wir der blindgeborenen, missratenen marxistisch-leninistischen Utopie, verloren ein Drittel unserer Bevölkerung, sei es im Schlund eines stümperhaft und selbstzerstörerisch geführten 'Vaterländischen Krieges', sei es auf dem Richtblock. 

Wir verschleuderten unseren einstigen Überfluss, vernichteten die Bauernklasse und ihre Dörfer. Wir wussten nicht mehr, was es heisst, Brot zu geben, gewöhnten der Erde ab, Frucht hervorzubringen, verwandelten sie in künstliche Meere und Sümpfe. Wir verpesteten die Flüsse, Seen und Fisch mit Industrieabfällen. Wir verdarben das letzte Wasser, die Luft, den Boden mit den Dreingaben des Atomtodes, denn wir übernahmen zur Lagerung Atommüll aus dem Westen. Während wir uns für die künftigen gigantischen Eroberungen einer wahnsinnigen Führung zugrunde richteten, holzten wir räuberisch unsere Wälder ab, zerstörten ihre unvergleichlichen Schätze – das nicht wiederherzustellende Erbe unserer Enkel. Gnadenlos haben wir alles ins Ausland verkauft. Wir haben unsere Frauen durch körperliche Schwerstarbeit erschöpft, haben sie ihren Kindern entrissen, die Kinder der Barbarei, der Krankheit und einer falschen Erziehung ausgesetzt. Unsere Gesundheit ist vollständig zerrüttet, und es gibt keine Arzneien. Wir haben schon längst vergessen, wie man sich gesund ernährt. Millionen Menschen sind obdachlos, eine völige Rechtlosigkeit hat das Land ganz und gar überflutet, und wir klammern uns nur an eins: Man soll uns nicht auch noch die ständige Besäufnis nehmen.“( Seite 7)

 

Es lohnt sich, einige konkrete Vorschläge aus dem Manifest aufzuführen.

Das Naheliegende tun (erster Teil)

• Diejenigen Völker, die sich zu einem eigenstaatlichen Leben lösen wollen, sollen dies auch tun (9). Denn: „Das eigentliche Russland besitzt keine Reserven an kulturellen und moralischen Kräften zur Assimilierung seiner sämtlichen Randgebiete.“ (11, zit. Kryshanowskij) • „Wir dürfen keinesfalls nach Machterweiterung, wir müssen nach Geistesklarheit streben.“ (12) • Den Menschen muss der Sinn der Arbeit wieder deutlich werden (21). • Dem Boden ist die wunderbare Eigenschaft der Fruchtbarkeit gegeben. Diese soll genutzt werden (23). Gesunder Privatinitiative muss deshalb Raum gegeben werden (27). • Erholung aus eigener Kraft, sich nicht durch ausländische Investitionen zur Kolonie machen • Selbstverwaltung, initialisiert durch 40 neu gebildete Stadtzentren mit jeweils eigener Kultur und Bildung (30) • Erholung der Familie: „Die Erkrankung der Familie führt zur Erkrankung des Staates.“ (31) • Mehr als alles braucht der Mensch Selbstbescheidung für sein inneres Gleichgewicht und für die Klarheit seiner Seele (39).

Über die gegenwärtige Not hinausblicken (zweiter Teil)

• Übergang mit zeitweiliger Beibehaltung der Zentralmacht und Errichtung freiheitlicher Institutionen von unten (44) • Vorsicht mit dem vorschnellen Schlagwort der „Demokratie“. Die Mehrheit kann auch zum Tyrannen der Minderheit werden. • Solschenizyn rät von der Listenwahl von Kandidaten ab, die der Bevölkerung auf diese Weise gar nicht bekannt sind. • Vorsicht vor der Juristokratie, dem Überhang der Juristen; das moralische Prinzip sollte über dem juristischen stehen. • Vorsicht vor pressure groups und Lobbyisten • Der Mensch hat Meinungen, Parteien haben Ideologien. • Solschenizyn plädiert für Demokratie in kleinen Territorien und von dort aus die schrittweise Wahl von geeigneten Kandidaten für die Region und die Nation. • Für das passive Wahlrecht soll eine Alterslimite verfügt und ein Zensus der Sesshaftigkeit eingeführt werden. • Die zentrale Bürokratie muss mit gesellschaftlichen Kräften kombiniert werden (lokale Selbstverwaltung). • Bildung von fachlichen, arbeitsbezogenen Gruppen zur Beratung.

Fazit

Solschenizyn sagt deutlich, dass ihm das ökonomische Spezialwissen fehlt. Trotzdem sind seine Vorschläge erstaunlich konkret. Der Schriftsteller hat viele Goldnuggets in sein Manifest eingestreut, zum Beispiel: „Wir brauchen auch gar kein Imperium! Man soll es uns endlich von den Schultern nehmen: Es zermalmt uns, es saugt uns aus, beschleunigt unseren Untergang.“ (11)

„Jedes, auch das kleinste Volk, ist eine unwiederholbare Facette des göttlichen Plans.“ (18)

Durch die betäubende Kette neuer Modelle verschwindet der gesunde Begriff der Reparatur (28).

Es kann weder Freiheit der Person noch Freiheit des Staates geben ohne Disziplin und Redlichkeit (57). 

Lesen und überdenken, was dies für das eigene Land bedeutet!

 

 

 


 

 

 

 

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wikipedia  Jegor_Timurowitsch_Gaidar  1956-2009 (Enkel von Arkadi Gajdar) 

Jegor Gajdar  Der Untergang eines Imperiums (2016)

 


 

 

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