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Persönliches Nachwort 

 

 

 

Die in dieser Arbeit vorgestellte Patchwork-Methodik enthält mit dem sog. Postulat der Selbstreflexion ein Element, das Ausdruck eines Verständnisses von Wissenschaft ist, wie es im Mainstream sehr ungewöhnlich anmutet. Haben wir nicht stets gelernt, unsere eigenen Empfindungen zu verbergen?

Die Bremer Psychotherapeutin Sigrun Preuss hat am Ende ihrer Dissertation "Umweltkatastrophe Mensch. Über unsere Grenzen und Möglichkeiten, ökologisch bewußt zu handeln" (1991) den Versuch unternommen, sich zu fragen, welche Rolle sie als Mensch bei der Erstellung ihrer Arbeit gespielt hat. 

Verständlich, daß ein solcher Weg ein schwieriges Unterfangen ist, denn die Reflexion des eigenen wissenschaftlichen Handelns offenbart das Persönliche: "Seine öffentliche Preisgabe geht einher mit einer deutlichen Bedrohung. Die Gefahr, im Verstoß gegen die gültige Wissenschaftsnorm verurteilt zu werden, ist groß" (Preuss 1991, S.189). Das Empfinden eigenen Betroffenseins ist nach traditioneller Auffassung in den privaten Bereich zu verweisen. Wieviel Überwindung der Entschluß eines derartigen "Seelen-Striptease" kostet, wird deutlich, wenn die Autorin von ihrem Impuls spricht, den Versuch der Selbstreflexion fallenzulassen. Wer würde ihn vermissen? 

Eine Möglichkeit der Selbstreflexion während des Forschungsprozesses ist das Schreiben eines Tagebuchs. Ich habe mich für diese Form entschieden, weil sie mir etwa seit zehn Jahren gut vertraut ist und ich mit ihr bisher positive Erfahrungen machen konnte. Mehr noch als wissenschaftliches Schreiben ist das Tagebuchschreiben von einer gewissen Vorläufigkeit gekennzeichnet. Nach dem Motto eines amerikanischen Schriftstellers - "listen to your life, all moments are key-moments" - versuche ich alles aufzuschreiben, was mich beschäftigt. Auf diese Weise wird mir immer wieder bewußt, wie reich das Leben ist.

Vor allem aber erlebe ich mein Journal als wertvolle Hilfe zur Selbsterkenntnis. Nachfolgend werden überblicksartig einige Fragmente der vergangenen drei Jahre dokumentiert, die meine Arbeit begleitet haben. Rückblickend setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Jahre ein Spiegel meines bisherigen fast 30jährigen Lebens waren.

1 Frühling 1994

Nach einer langen Zeit des Wartens erhalte ich im März die Nachricht, daß mir vom Stiftungsverband "Regenbogen e.V." ein Promotions-Stipendium gewährt wird. Ich bin überglücklich und notiere: "Vor mir liegt eine Zeit voller Chancen und Möglichkeiten" (5.3.). Ich freue mich auf die Arbeit. Am Karfreitag erscheint tatsächlich ein Regenbogen am Himmel. Im April folgen die ersten Schreibversuche (7.4.). Mir wird bewußt, daß das Thema viel mit mir zu tun hat. Das Erscheinen meines ersten wissenschaftlichen Zeitschriftenartikels ermutigt mich. Die Vorbereitungen für die Erhebungen laufen auf Hochtouren.

Anfang Mai folgt ein politisch bedeutsames Ereignis: Nelson Mandela wird Staatspräsident von Südafrika (10.5.). In den Pfingstferien findet das erste Greenpeace-Kinder-Umwelt-Camp statt, das wir etwa ein halbes Jahr lang vorbereitet haben. Die intensiven Begegnungen mit den Kindern hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck bei mir, ich spüre eine tiefe Affinität zu ihnen. Gleichzeitig konnten auch Kontakte für die im Juni beginnende Erhebung geknüpft werden. Das erste offizielle Interview ist mit Herzklopfen verbunden, es verläuft dank einer aufgeschlossenen Partnerin sehr erfolgreich und wird so zu einem Schlüsselerlebnis (6.6.). 

Ende Juni besuche ich ein Weiterbildungs- bzw. Selbsterfahrungsseminar der Stiftung mit dem interessanten Titel: "Neue Männer braucht das Land! Was brauchen neue Männer?" Eine gute Frage. Ich bin mit Abstand der jüngste Teilnehmer und fühle mich ein wenig verloren unter lauter alten Achtundsechszigern.

2 Sommer 1994

Im Juli bringt ein Poststreik meine Befragung fast zum Scheitern. Täglich warte ich auf Rückmeldungen, um Interview-Termine zu vereinbaren. Mitte des Monats habe ich jedoch etwa drei Dutzend Interviews auf Band. Alle drei Sekunden stirbt dieser Tage ein Kind in Ruanda, unfaßbar. Am 15.7. stirbt Robert Jungk, den ich immer bewundert habe. Am 17.7. endet die Fußball-Weltmeisterschaft, auch ein wichtiges Datum, von nun an habe ich wieder Zeit, mich meiner Arbeit zu widmen. Die Transkriptionen beginnen am 24.7. und gestalten sich sehr mühsam, ein heißer und einsamer Sommer. Ende August erhole ich mich drei Wochen in Spanien. Der September ist ein politisch aktiver Monat. Anläßlich des "Jugend-Künstler-Klima-Vorgipfels" habe ich eine junge Greenteam-Betreuerin aus Kiew zu Besuch. Wir können viel voneinander lernen. Es besteht die Chance, eine internationale Erhebung einzuleiten, zusammen mit Umweltschützern aus Asien, Afrika und aus Südamerika. Schließlich mache ich in diesem Sommer die aufregende Erfahrung meiner ersten "richtigen" Greenpeace-Aktion, generalstabsmäßig geplant, ganz wie im Fernsehen.

3 Herbst 1994

Nach dem anstrengenden September erfülle ich mir Anfang Oktober einen besonderen Wunsch: Ein acht Quadratmeter großes Photo der im Weltall schwebenden Erde hängt jetzt direkt hinter meinem Computer-Arbeitstisch und begleitet mich zukünftig. Am 16.10. findet die Bundestagswahl statt. Auch eine Entscheidung ohne Veränderungen hat Konsequenzen. Einen Tag später kommt mir aus heiterem Himmel die Idee eines Titels für die Arbeit: "Ökologisches Gewissen". Ende Oktober erlebe ich, wie die Greenteams, die ich betreue, sich spontan entschließen, gegen die Autoausstellung in Berlin zu demonstrieren. Ein heikles Unterfangen, das von der Polizei am zweiten Tag unterbunden wird. Im November strukturieren die Interview-Termine der zweiten Befragungswelle meinen Arbeitsalltag. Technische Probleme mit der Bandaufnahme bereiten mir Kopfzerbrechen. Es gibt nichts Frustrierenderes, als nach stundenlangen Ausflügen quer durch die Stadt auf der Heimfahrt festzustellen, daß das Tonbandgerät gestreikt hat. Das Jahr endet für mich mit einigen Auftritten als Weihnachtsmann, die nicht nur nicht zur dringend notwendigen Aufbesserung des Taschengeldes beitragen, sondern auch sehr amüsant verlaufen: Aus Neugier reißt mir eine alte Frau meinen Bart herunter. Radikalität scheint ein Privileg der Jugend und des Alters zu sein, vielleicht auch in ökologischer Hinsicht.

4 Winter 1994/95

Das neue Jahr beginnt mit einem Blues-Konzert des schwarzes Musikers Luther Allison. Für mich sind solche Erlebnisse immer eine große Quelle der Inspiration. Ein Schock ist die Entdeckung eines Aufklebers mit den Worten "Auschwitz ist eine Lüge!" in unserem Hausflur. Der Besuch eines seit zwei Jahren im Koma liegenden Freundes macht die Vergänglichkeit des Lebens bewußt. Beruflich recherchiere ich für einen Artikel zum 50. Jahrestag von Hiroshima, der mich ebenfalls bewegt, und führe einige Interviews mit Vor- und Grundschulkindern durch, die sich kurzfristig ergeben und mir sehr aufschlußreich erscheinen. Im Februar gehen zwei Lehrveranstaltungen zuende, die einen intensiven Kontakt mit den Studenten mit sich brachten. Im März gebe ich endlich meine philosophische Magisterarbeit über Hans Jonas und Günther Anders ab. Freuen kann ich mich auch darüber, daß ein Berliner Basketballteam sensationell den Europapokal gewinnt - Motto des Trainers: "Ein gewisses Talent vorausgesetzt, kannst Du mit harter Arbeit, Begeisterung, Konzentration, Fleiß und Willensstärke alles erreichen!" Unser inneres, durch nichts zu ersetzendes Kapital kann Berge versetzen.

Ende März kommen treffen sich Umweltexperten aus aller Welt in der Stadt, um über die Verhinderung einer möglichen Klimakatastrophe nachzudenken. Gemäß einer Meldung des liberal-konservativen "Tagesspiegel" sind wir nur noch 25 Jahre davon entfernt! Zur Begrüßung der Gäste am 28.3. schneit es.

5 Frühling 1995

Anfang April erreicht mein persönlicher Streß seinen Höhepunkt. Anläßlich der Weltklimakonferenz tanze ich auf drei Hochzeiten gleichzeitig. In allen Fällen handelt sich um Organisationsaufgaben: Die Kinder- und Jugenddemonstration von Greenpeace (incl. der Vorbereitung eines Theaterstücks), der internationale "Jugend-Klima-Künstler-Gipfel" und das von den Berliner Stipendiaten veranstaltete Bundestreffen der Stiftung. Das Hin- und Herpendeln ist unbefriedigend. Unter dem Strich ergibt sich neben vielen bleibenden Erinnerungen (positiver Höhepunkt war eine Fahradsternfahrt über die Autobahnen, bei der über 100.000 Menschen mitgefahren sind) ein beachtlicher Output für meine Studie. Die letzte Befragungswelle findet unmittelbar nach der Klimakonferenz statt. Zu hören, was andere Menschen darüber denken, hilft mir auch bei meiner eigenen Verarbeitung. Nichtsdestotrotz bin ich dennoch froh, als die letzten Interviews vorbei sind. Wer sich ins Feld begibt, erfährt von vielen Schicksalen. Sie führen stets zu einer Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz. Am 21.6. ruft mein Vater an, um mir zu "Shell" zu gratulieren. Warum eigentlich? Respekt habe ich vor den Greenpeace-Kindern, die Autofahrer an Tankstellen "aufgeklärt" haben. 

Probleme habe ich mit dem Vorsitzenden von Greenpeace, der aus beruflichen Gründen jeden Tag von Hamburg nach Amsterdam fliegt und privat einen Diesel fährt. 

Am 22.6. komme ich in ein stürmisches Gewitter, ein Baumstamm schlägt neben meinem Fahrrad auf. Das Leben kann so schnell vorbei sein. Am 28.6. vollende ich mein Philosophie-Studium.

6 Sommer 1995

Zur "Belohnung" genieße ich eine Woche Urlaub, das Kinder-Jugend-Umwelt-Camp steht an. Diesmal in Brodowin, einem Brandenburgischen Biosphärenreservat. Die Schönheit der Natur nur etwa 100 Kilometer von Berlin entfernt ist tief beeindruckend und stellt unser Alltagsleben in Frage. Als Betreuer mache ich mich bei meinen Kollegen unbeliebt, weil ich den ganzen Tag mehr mit den Kindern zusammen bin als mit den Erwachsenen.

Wieder zuhause fällt mir auf, daß die Lärche vor meinem Fenster stirbt. Auch in diesem Jahr können wir einen "Jahrhundert­sommer" erleben, die Terminologie scheint nicht zu hoch gegriffen. Statt statistisch "normalen" 27 Sommer- (über 25°C) und 5 heißen Tagen (über 30°C), gab es letztes Jahr 43 (16) und jetzt sogar 54 (16) dieser Tage. Ende Juli schließe ich endlich die Transkriptionen ab, die Rating-Arbeiten können beginnen. Doch was mache ich mit den Hunderten von Fragebogen?

Am 6.8., anläßlich des 50. Jahrestages von Hiroshima findet eine große Fahrraddemonstration statt, auf der gegen die geplanten französischen Atomversuche protestiert wird. Am Abend läuft der Film "The Day After" im Fernsehen, die Werbepausen machen es mir jedoch unerträglich, ihn zuende zu sehen. Ende August kann ich meine Idee verwirklichen, die sog. Hyper-Aktivisten der Untersuchung noch einmal einzeln und vertieft zu interviewen. Im September werden die Mururoa-Inseln tatsächlich bombardiert. Wir hatten große Angst vor einer Gefährdung der deutsch-französischen Beziehungen. History will teach us nothing.

7 Herbst 1995

Nach einer Meldung der WMO hat sich das Ozonloch binnen eines Jahres verdoppelt, es hat jetzt die Größe Europas. Die Zeitungen berichten darüber unter "ferner liefen". Von Joschka Fischer erhalte ich einen persönlichen Brief mit der Rücknahme seiner ursprünglichen Zusage, mit uns "grünen" Stipendiaten über die Stiftungsreform zu diskutieren - Begründung: " wegen immenser Arbeitsüberlastung". Journal-Reflexionen über das Thema der Disziplin: "Sind Sie diszipliniert? Stehen Sie jeden Morgen auf und gehen Sie zur Arbeit?" Antwort von Jimi Hendrix: "Ich versuche jeden Tag aufzustehen". Günther Netzer meint dagegen: "Es kann keinen Erfolg geben ohne Disziplin". Glücklicherweise erhalte ich Unterstützung bei der Dateneingabe, die mich schlichtweg überfordert, wofür ich auch eine Erhöhung meiner Schulden in Kauf nehme. 

Weiterhin wird mir eine "wissenschaftliche Karriere" in einer anderen Stadt angeboten, doch ich bin nicht käuflich. Im Dezember bricht mein Organismus nach drei Dienstreisen zusammen, Weihnachten kommt wieder einmal zur richtigen Zeit. Hoffnung herrscht in Ex-Jugoslawien, geht der Krieg dort zuende? Chirac zündet seine fünfte Atombombe in diesem Jahr - an Sylvester.

8 Winter 1995/96

Medienabstinenz als "guter" Vorsatz für das neue Jahr: Nachdem ich bereits im letzten Jahr meinen Fernseher verschenkt habe, kündige ich nun meine Tageszeitung, teils aus Ärger über die schlechte politische und kulturelle Berichterstattung, teils auch, um mich voll und ganz auf mein Thema zu konzentrieren. Am 2.1. beginne ich mit der Niederschrift der Arbeit. Während ich mich mit von Hösle auf vertrautem Terrain befinde, bereitet mir Roszak mit seinem Hauch von Esoterik etwas Kopfzerbrechen. Als nächstes wird Luhmann zu einer intellektuellen Herausforderung. Mit der intensiven Lektüre kommen auch wieder Fragen nach dem Sinn des Ganzen.

Ein Kollege, der fast fertig ist mit seiner Arbeit, beschreibt die Zeit der Dissertation als absoluten Ausnahmezustand, als ein künstliches Leben. Stellt sich die Frage, wie lange mein Ausnahmezustand noch anhalten soll? Nachdenklich macht mich auch ein Hyperaktivisten-Interview dieser Tage, das die Burnout-Gefährdung engagierter Menschen eindrucksvoll offenbart. Ich versuche, eine sehr positive Beziehung zu meiner Arbeit zu entwickeln. Im Februar deprimieren mich inhaltlich die Ansätze von Preuss und Petri, die ich gerade wegen ihrer deutlichen Sprache so schätze. Warum habe ich mir eigentlich kein schöneres Thema gesucht? Es ist wie eine Bestimmung. 

Ein Hoch erlebe ich angesichts einer Kongreßannahme, für die mir meine Mentoren kaum Chancen eingeräumt haben. Anläßlich des 60. Geburtstages meiner Mutter komme ich Anfang März in den Genuß eines entspannenden Familienurlaubes in südlichen Gefilden. Ende März hält mich ein PC-Virus in Atem, der beinahe alle Files total zerstört hätte, wenn nicht ein selbstloser Kollege in letzter Minute zu Hilfe gekommen wäre.

9 Frühling 1996

Die "Englischen Wochen" um diese Jahreszeit haben schon Tradition. Wochenlang erstelle ich individuelle Fragebogen-Profile meiner Stichproben und verschicke allen Befragungsteilnehmern mit dieser Auswertung eine persönliche Einladung zum Nachgespräch ein Jahr nach Ende der Erhebung. Diese Analysen helfen mir gleichzeitig, meine Daten besser kennenzulernen. Leider ist die Resonanz enttäuschend, dafür sind die wenigen Wiedersehens-Begegnungen besonders ergiebig. Beklemmend ist es, wenn Jugendliche mit dem Gedanken spielen, sich das Leben nehmen zu wollen. Manchmal ist Wissen Ohnmacht. Ich fühle mich dann eher in der Rolle eines Therapeuten.

Im Mai stellt sich ein Umweltprojekt, in das ich seit einem halben Jahr sehr viel Zeit und Kraft investiert habe, als absolut bodenlos heraus. Ansonsten gibt es noch ein paar kleine Aufregungen, z.B. ein Schulbesuch am Jahrestag von Tschernobyl in einem Berliner Gymnasium oder die Erfahrung, wegen der chaotischen Situation an der FU Berlin auf einem Parkplatz Unterricht abhalten zu müssen. Zu den schönen Erinnerungen gehört ein internationales Sportfest zusammen mit einigen afrikanischen Freunden aus der Stiftung, mit denen ich mich teilweise wie blind verstehe. Es ist wichtig, immer wieder einen Ausgleich zur wissenschaftlichen Tätigkeit zu finden. Allerdings fällt die Netto-Arbeitszeit im Vergleich zum ersten Quartal des Jahres wesentlich geringer aus.

10 Sommer 1996

Anfang Juli habe ich drei Gutachter gefunden, die bereit sind, meine Arbeit zu lesen, ein echter Meilenstein. Ebenfalls sehr erfreulich ist die Zusage einer halbjährigen Verlängerung des Stipendiums von der Stiftung. Im Juli setze ich mich intensiv mit Kuhn und Feyerabend auseinander und versuche, die Prinzipien des ökologischen Gewissens in den Griff zu bekommen. Das Kapitel über die "Jugend von heute" findet seine Vollendung mit Hilfe der sog. Love-Parade, an der in diesem Jahr 750.000 Menschen teilnehmen.

Ein besseres Bild kein keine Studie bieten. Viel Spaß habe ich mit meinem Patchwork-Kapitel, hier läßt sich besonders kreativ arbeiten. Die Sonne bleibt in diesem Sommer fast aus, was die Menschen allgemein depressiv stimmt. Mir macht eine wochenlange Halsentzündung zu schaffen, so daß ich das diesjährige Umwelt-Camp unterbrechen muß, was mir sehr schwer fällt. Am 7.8. notiere ich: "Dutzende von Artikeln durchgearbeitet, um schließlich festzustellen, daß ich davon einen einzigen gebrauchen kann, aus dem ich dann einen Satz zitiere - kein verlorener Abend, oder?" Mir ist bewußt, daß noch einige solcher Abende auf mich zukommen werden. 

Sehr erbaulich ist dagegen die Biographie von Albert Schweitzer, die mich wieder inspiriert. Ebenfalls nachhaltig beeindruckt mich ein Nachruf auf Rudi Dutschke, der als 20jähriger schrieb: "In der absoluten Hingabe an die Wahrheit liegt mehr oder weniger der einzige Grund unseres Lebens!" Im August liegen ca. 1000 Arbeitsstunden in diesem Jahr hinter mir. Im Spätsommer tanke ich noch einmal auf. Ein Wochenendausflug an die Ostsee führt mich nicht nur zu einem alten Freund, sondern auch zu Deutschlands ältestem Greenpeace-Aktivisten, der meine Studie mit einem Interview bereichert.

11 Herbst 1996

Die beiden Kollegen, mit denen ich am besten zusammenarbeiten kann, sind im Oktober im Ausland und im Krankenhaus. So wird das wissen­schaft­liche Arbeiten in diesen Wochen zu einer besonders einsamen Angelegenheit. Arbeitstechnisch finde ich meinen Rhythmus am besten, wenn ich mich morgens vorzugsweise auf Analysen, am Abend auf Synthesen konzentriere. Ein kleines Intermezzo bietet die diesjährige Autoausstellung, zu der sich die Jugendlichen in diesem Jahr einiges einfallen haben lassen. Ich nutze die Gelegenheit noch einmal zu intensiven Aktionsforschungs-Beobachtungen. Meine Briefträgerin überrascht mich mit den Worten: "Sie sind doch einer von den Grünen, oder? Solche Leute hat man gerne, ich meine von Herzen!" Im November wird Bill Clinton zum Präsidenten wiedergewählt, Al Gore bleibt der zweite Mann im Hintergrund. Die letzten Wochen des Jahres vergrabe ich mich in die Arbeit. Zwar befinde ich mich im letzten Drittel, doch der schiere Umfang scheint mich zu erschlagen. Ich komme mir wie ein einsamer Kapitän auf einem Ozeandampfer vor, der nach dem Indischen und dem Atlantischen nun noch den Pazifischen Ozean überqueren muß. Notiz am 30.12.: "Der Reservetank ist leer..."

12 Winter 1996/97

Ein Neujahrsspaziergang auf einem der vielen zugefrorenen Seen bei -10°C und strahlend blauem Himmel ist eine wohltuende Katharsis. Zu sehen, wie die Sonne im Eis verschwindet, und die Natur so intensiv zu erleben, hinterläßt bei mir ein Energie­reservoir, von dem ich bis zur Abgabe der Arbeit zehren kann. Die letzten Wochen strecken sich, doch der ersehnte Schluß-"Flow" stellt sich ein. Das Aufgehen in der wissenschaftlichen Tätigkeit birgt die Gefahr, existentielle Dinge des Lebens, wie z.B. Schlafen und Essen, zu vergessen.

Höhepunkt des Eremiten-Daseins ist das zeitweise Abstellen des Telephons, eine Maßnahme, die verständlicherweise zu einigen sozialen Spannungen führt. Persönliche Beziehungen sind in dieser wohl wichtigsten Phase so wertvoll wie zu keinem anderen Zeitpunkt. Wieviel leichter ist es, auf einer Wolke zu schweben, als durch die Wüste zu gehen. 

Am Ende des Weges bist du allein. Am 5.3. ist es schließlich soweit: Genau drei Jahre nach der Bewilligungs­mitteilung des Stipendiums kann ich die Arbeit abschließen. Hinter mir liegt eine lange Reise, die ich weder missen noch wiederholen möchte. Vor mir liegt der Blick in eine ungewisse Zukunft. In mir bleibt vor allem Selbstrespekt und tiefe Dankbarkeit zurück.

 

 

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Ökologisches Gewissen Die Zukunft der Erde aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und anderen Experten #  von Sven Sohr

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