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2.7  Der umwelt-philosophische Ansatz von Hösle  

2.8. Drewermann 

 

 

Was kann uns die Philosophie (griech. "Liebe zur Weisheit") - ehemals die Königsdisziplin der Wissenschaften, heute dagegen meist nur am Rande der Universitäten wahrgenommen, oft sogar als "weltfremde" Geisteswissenschaft verspottet - über Ursachen und Auswege der ökologischen Krise mitteilen?

In der Tat hat auch die Philosophie lange Zeit zu diesem Thema geschwiegen. Dabei lassen sich schon in der Antike bei Platon richtungsweisende Denkmuster entdecken, wie der Berliner Philosoph Maurer (1989) aufgezeigt hat. Die Tatsache, daß inzwischen der Philosophie zur ökologischen Frage wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist vor allem Hans Jonas zu verdanken, der mit seinem Werk "Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation" (1979) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels sowie zahlreiche Ehrendoktorwürden in aller Welt erhielt.

Auch für viele Nichtphilosophen wurde Jonas zu einer Art Pflichtlektüre (unter ihnen Verantwortungsträger aus Wirtschaft und Politik, wie z.B. Altbundes­kanzler Helmut Schmidt). In diesem Kapitel interessieren vor allem Jonas' Antworten auf die Frage, warum Philosophie und Ethik heutzutage stärker als in früheren Zeiten gefordert seien (zum Begriff der Verantwortung ausführlicher in Kap. 6.4). Im Zentrum unserer Suche nach philosophischen Beiträgen zu Ursachen und Auswegen der ökologischen Krise stehen in diesem Kapitel die sog. Moskauer Vorträge des italienischen Philosophen Vittorio von Hösle, die in einem Buch mit dem Titel "Philosophie der ökologischen Krise" (1991) zusammengefaßt vorliegen.

Wenn man mit Whitehead davon ausgeht, daß alle Philosophie nur als Fußnoten zu Platon zu interpretieren sei, dann liegt es nahe, auch in Zeiten der ökologischen Krise nach Platon zu fragen.

Einerseits wurde in der Antike und speziell bei Platon mit einem Leib-Seele-Dualismus sehr früh ein Grundstein für die Entfremdung des Menschen von der Natur gelegt (im Gegensatz zum Beispiel zu den früheren mythischen Naturphilosophien), der zu Beginn der Neuzeit sich schließlich vollends "entfaltete". Andererseits finden sich aber auch bei Platon Ansatzpunkte zur Lösung der heutigen ökologischen Krise.

Einen Versuch, Platon daraufhin analysieren, unternimmt Maurer (1989) mit seinen Thesen über das moderne Interesse an Platons 'Staat'. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, daß Platon mit der Kritik der Polis seiner Zeit zugleich Grundzüge unserer Zeit trifft. Platon diagnostizierte so etwas wie die 'Athener Krankheit'. Sie zeige sich in einer bestimmten Lebenshaltung, nach der es das Beste für den Menschen und für sein Glück förderlich sei, die eigenen Bedürfnisse und Begierden so groß wie möglich werden zu lassen. 

Dagegen werde nach Platon bzw. Sokrates durch ein solches Immer-mehr-haben-Wollen ("Pleonexia"), durch einen unendlichen Progreß der Begierden, ein kosmisches, göttlich garantiertes Maß verletzt. Dabei sei Pleonexie ein doppeltes Streben, sowohl kompetitiv nach dem Mehr als andere, als auch absolut nach dem Immer-mehr. Aus moderner Sicht sei es naheliegend, bei Platon im Zusammenhang mit seiner Diagnose der Athener Krankheit auch eine Einsicht in deren Umweltfolgen zu vermuten. Im Vergleich zu der Begrenzungskrise der altgriechischen Poliskultur mutet die heutige Begrenzungskrise der Menschheitspolis gewaltig an.

Die Platonische Lösung einer ethisch-politischen Vernunftaristokratie, bei der die innere und die äußere Verfassung in Beziehung gesetzt werden, sei zwar problematisch, zumal aus liberalistisch-demokratischer Sicht (vgl. Popper 1980). Aber für mindestens ebenso problematisch hält Maurer angesichts der Begrenzungskrise unserer erdumfassend gewordenen technologischen Zivilisation die moderne Lösung einer vor allem äußerlichen Ordnung. So stelle die Platonische, ethisch-politische Psychologie eine interessante Theorie über die Ursachen der ökologischen Krise der technologischen Zivilisation dar. Mit seiner engen Verbindung zwischen äußerer, politisch-gesellschaftlicher und innerer, ethischer Verfassung enthalte Platons Staat eine ernstzunehmende Alternative zum modernen Lösungsweg in dem Sinne, den unendlichen Fortschritt der Konsumbegierden des 'american way of life' unter Kontrolle zu bringen.

Auch Jonas (1979) ist diesen Gedanken, die modern gesprochen in Richtung einer totalitären Ökodiktatur gehen, nicht völlig abgeneigt. Er zieht sie zumindest in Erwägung und gesteht einen Zustand der Ratlosigkeit angesichts der heutigen politischen Situation ein. Im "Prinzip Verantwortung" spekuliert Jonas mit der "Macht der Weisen" (S.56) im politischen Körper. In einer temperierten Fassung ließe sich die platonische Idee wohl auch in ein demokratisches System einbauen. Allerdings äußert Jonas auch den Verdacht, daß die Demokratie auf Dauer nicht die zur Lösung der globalen Probleme geeignetste Regierungsform sei, in einer 'Rettungsbootsituation' gäbe es zur Tyrannis wahrscheinlich keine Alternative.

Ausgangspunkt der Analysen bilden die nach Jonas völlig neuartigen Dimensionen menschlichen Handelns, die zur größten Herausforderung führen, die dem menschlichen Sein je aus eigenem Tun erwachsen ist. Gesellschaftlich und philosophisch konstatiert Jonas ein "Vakuum des heutigen Wertrelativismus" (S.7). Da nicht nur das Menschenlos, sondern auch das Menschenbild gefährdet sei, erfordere eine neue Ethik über Furcht hinaus auch Ehrfurcht. 

Aufgrund der veränderten Dimensionen menschlichen Handelns betrete die ethische Theorie Neu- bzw. Niemandsland. Ein bedeutsames Merkmal traditioneller Ethik ist der Anthropozentrismus, wie er zum Beispiel in dem christlichen Gebot "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!" zum Ausdruck kommt. Diese ausschließliche Ausrichtung auf den Nahkreis des Handelns reiche heute nicht mehr aus (auch wenn sie natürlich weiterhin Bestand habe). Die Vorschriften der Nächsten-Ethik würden "überschattet von einem wachsenden Bereich kollektiven Tuns, in dem Täter, Tat und Wirkung nicht mehr dieselben sind wie in der Nahsphäre" (S.26). Als markantestes Beispiel der veränderten Dimensionen menschlichen Handelns wird die Gefahr der Ausbreitung radioaktiver Strahlung genannt. Weder räumlich noch zeitlich seien die Folgen einer Atomkatasrophe zu überblicken. Es handelt sich dabei um Reichweiten, die über Kontinente und Generationen weit hinausgehen.

Jonas postuliert eine nicht-anthropozentrische Ethik, die der Natur ein "sittliches Eigenrecht" (S.29) einräume. In früherer Zeit verband sich mit einer nicht-anthropozentrischen Sichtweise eine mythologische Perspektive, bei der Bäume, Flüsse und Berge den Menschen heilig waren. Damals war die nicht-anthropozentrische Sichtweise oft allerdings auch Ausdruck menschlicher Ohnmacht gegenüber einer übermächtigen Natur, die von den Griechen als Göttin ("Gaia") verehrt wurde. Jonas stellt die Frage in den Raum, ob ohne die Wiederherstellung der durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstörten "Kategorie des Heiligen" (S.57) überhaupt eine entsprechende ökologische Ethik möglich sei.

 

In Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ schlägt Jonas einen neuen Imperativ vor (S.36): "Handle so, daß die Wirkungen Deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens" bzw. "Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit". Während Kants Imperativ als Beispiel einer Gesinnungsethik nur an das Individuum gerichtet ist, wendet sich Jonas' neuer Imperativ auch an die öffentliche Politik und wird damit über ein moralisches Problem hinaus zu einer politischen Frage. 

Voraussetzung sei aber zunächst einmal die Akzeptanz des Imperativs. Die weitverbreitete, hedonistische 'Nach-uns-die Sintflut-Haltung' ist nach Jonas nur schwer zu widerlegen. So könnten wir sowohl individuell als auch kollektiv für die Menschheit "ein kurzes Feuerwerk äußerster Selbsterfüllung der Langeweile endloser Fortsetzung im Mittelmaß vorziehen" (S.36). Den Gedanken einer kollektiven Euthanasie greift Jonas an anderer Stelle noch einmal auf, als er das antizipierte Szenario einer Klimakatastrophe mit dem drastischen Anstieg des Ozeanspiegels als das Ende eines kurzlebigen Menschenfestes wie folgt kommentiert (S.334): "So würde das leichtsinnig-fröhliche Menschenfest einiger industrieller Jahrhunderte vielleicht mit Jahrtausenden veränderter Erdenwelt bezahlt werden - kosmisch nicht ungerecht, da in ihnen das Erbe vergangener Jahrmillionen verschleudert wurde".

 

Mit einer Widmung für Jonas ("dem weisen Menschen, dem besorgten Mahner, dem großen Denker, ohne den es immer noch keine praktisch verantwortliche Philosophie der ökologischen Krise gäbe") beginnt Hösle den Band seiner Moskauer Vorlesungen, die er 1990 am Institut der Akademie der Wissenschaften der damaligen UdSSR gehalten hat. Hösle wendet sich gegen die allgegenwärtige Verdrängung ökologischer Katastrophen, die mit der Philosophie nicht vereinbar seien: "Denn die Philosophie hat es mit der Wahrheit zu tun, und zwar nicht mit dieser oder jener Richtigkeit, sondern mit derjenigen Wahrheit, die das Ganze des Seins betrifft" (S.15). Hösle plädiert für eine Naturphilosophie, die die Autonomie der Vernunft mit einer eigenständigen Würde der Natur verbindet, und ruft für diese Aufgabe alle Disziplinen der Philosophie auf, u.a. die Metaphysik, die Anthropologie, die Ethik und die Politische Philosophie. So unerläßlich die ökotechnokratische Detailarbeit der Einzelwissenschaften auch sei, so sehr könne nur die Wiederherstellung eines ideellen Hauses langfristig das Überleben unseres irdischen Hauses sichern. Die Wiedergewinnung einer metaphysischen Heimat für die Menschen der technischen Zivilisation könnte daher eine der größten Herausforderungen für die Philosophie der Gegenwart sein.

 

"Die Ökologie als neues Paradigma der Politik" - so lautet das Postulat des Eingangsvortrags (20ff). Hösle hält eine Universalisierung des westlichen Lebensstandards ohne vollständigen ökologischen Kollaps der Erde nicht für möglich und leitet unter Berufung auf Kants kategorischen Imperativ die Auffassung ab, daß der Lebensstandard der westlichen Industrienationen nicht moralisch sei. An der Grundthese, nach der ökologische Katastrophen auf die Menschheit zukommen werden, gebe es laut Hösle - "trotz aller kollektiven Anstrengungen, dies zu verdrängen" - keinen Zweifel, strittig sei höchstens der Zeitpunkt dieser Katastrophen. 

Angesichts solcher Zukunftsbedrohungen scheine der seit 1989 in den osteuropäischen Ländern eingetretene Paradigmenwechsel nicht radikal genug gewesen zu sein. Bedenkt man, daß der Ost-West-Konflikt bei allen Gegensätzen mit dem Primat des Ökonomischen als gemeinsame Grundlage das Ziel verfolgte, durch die Entwicklung der Technik die wirtschaftlichen Bedürfnisse der eigenen Bürgerinnen und Bürger möglichst umfassend zu befriedigen, so könne man sich heute sie Frage stellen, ob jenes gemeinsame Ziel überhaupt sinnvoll sei. 

Hösle erinnert in seinem ersten Moskauer Vortrag daran, daß die Wirtschaft nicht immer das dominante Subsystem in der Geschichte war. Vielmehr weist er mit von Weizsäcker (1989) auf die Paradigmenwechsel der letzten Jahrhunderte hin, die sich von der Religion im 18. Jahrhundert, über die Nation im 19. Jahrhundert auf die Ökonomie im 20. Jahrhundert erstreckten. Gegenwärtig stünde die Menschheit an der Schwelle eines erneuten Paradigmenwechsels, bei dem das Paradigma der Wirtschaft dem Paradigma der Ökologie weichen müsse. 

So werde das 21. Jahrhundert als das "Jahrhundert der Umwelt" in die Geschichte eingehen. Die Konsequenzen, die sich aus diesem Paradigmenwechsel ergeben würden, seien nach Hösle durch ein völlig neuartges "Freund-Feind-Verhältnis" gekenzeichnet, bei der die ökologische Krise als der gemeinsame Feind der ganzen Menschheit erkannt werden müsse. So sei das alte "Rechts-Links-Denken" der westeuropäischen Intelligenz antiquiert. Für die Zukunft wird folgende Neudefinierung vorgeschlagen (S. 37): "Progressiv ist, wer auf das normativ ausgezeichnete Telos hinarbeiten möchte; reaktionär ist, wer zurück zu einem Zustand möchte, der vom Telos noch weiter entfernt ist als der gegenwärtige; konservativ ist, wer den Status quo bewahren möchte."

 

Der zweite Vortrag beschäftigt sich mit den "geistesgeschichtlichen Grundlagen der ökologischen Krise" (S. 43ff). Dieser Beitrag ist gleichzeitig der im engeren Sinn am meisten philosophische Vortrag der Moskauer Reihe. Gegenstand der Ausführungen ist die Beziehung des Menschen zur Natur. Sie ist nach Hösle - in Anlehnung an Jonas (1979) - charakterisiert durch ein "Mißverhältnis zwischen Macht und Weisheit" (S. 44). 

Unter dem Hinweis, daß Sinn- und Wertfragen kausalwissenschaftlich letztlich nicht beantwortbar seien, wird eine Verschiebung im Selbstverständnis des Menschen und in seiner Interpretation des Verhältnisses zwischen ihm und der Natur konstatiert, die zum Naturbegriff der modernen Naturwissenschaft und Technik geführt hätte. Als Grundlage der modernen Naturwissenschaft sieht Hösle den Naturbegriff von Descartes mit seiner dualistischen Entgegensetzung von res cogitans und res extensa, die auch als Cartesische Lehre von der Natur bezeichnet wird. Bei Descartes verläuft die Grenze zwischen res cogitans und res extensa durch den Menschen selbst, so daß die physische Natur des Menschen ebenfalls zur res extensa gerechnet wird. Mit seiner contraintuitiven Theorie, nach der die nichtmenschliche Natur vollständig subjektivitätslos aufgefaßt wird, leistete Descartes einen entscheidenen Beitrag zum Siegeszug der modernen Naturwissenschaft, die die Natur als ihren Gegenstand somit deontologisiert, also ihres eigenen Seins beraubt hat. Als ein weiteres Grundmerkmal moderner Wissenschaft nennt Hösle die Überordnung der Quantität über die Qualität, welche sich ebenfalls schon in der Idee der cartesischen Geometrie ankündigt (vgl. Katasonov 1989). Nichts zeige den Triumph des quantitativen über das qualitative Denken eher als der Begriff des "Overkills" - als ob es einen Unterschied machte, ob man einmal oder zweimal tot sei, als ob nicht der Tod eine absolute qualitative Grenze wäre.

 

Die Superstruktur moderner Industriegesellschaften geht nach Hösle auf die Triade von Wissenschaft, Technik und kapitalistischer Wirtschaft zurück und bildet den zunehmend schwerer zu kontrollierenden Motor der modernen Gesellschaft (vgl. Gehlen 1957). Angesichts der historischen Errungenschaften sei der Gedanke eines Ausstiegs aus der modernen Technik und dem modernen Kapitalismus aber zu verwerfen, denn ohne Technik und Wirtschaft lasse sich die Umwelt nicht retten. Auch die Idee der Wissenschaft als Versuch, das Seiende auf wenige Prinzipien zurückzuführen, dürfe laut Hösle nicht verabschiedet werden. Er müsse vielmehr in Richtung Ganzheitlichkeit umgewandelt werden. Aufgabe der Philosophie sei es im Sinne der Übernahme von Verantwortung, "erstens neue Werte zu erarbeiten und sie zweitens an die Gesellschaft und an die Führungskräfte der Wirtschaft weiterzugeben - und zwar so schnell wie möglich" (S.68).

 

Die letzten drei Vorträge sind den praktischen Aspekten der ökologischen Krise gewidmet, welcher der klassischen Dreiteilung der praktischen Philosophie in der Antike und im Mittelalter entsprechen: Individualethik, Ökonomie und Politik. So geht es in dem Vortrag über die "ethischen Konsequenzen aus der ökologischen Krise" (S.69ff) weniger um technische Fragen der Machbarkeit als vielmehr um die Frage, ob es sinnvoll sei, etwas zu machen. 

Mit dem Wachsen der menschlichen Macht ins Unermeßliche würden die natürlichen Ausgleichsmechanismen von Ökosystemen gefährdet, sofern sie sich nicht von einer Weisheit, die sich als Hüterin der Natur versteht, bewußt bewahren ließen. Zu den wichtigsten Aufgaben der Ethik im Jahrhundert der Umwelt gehöre es, dem "Infinitismus" abzusagen und zum Maß zurückzufinden, um auch die Existenz zukünftiger Generationen zu sichern. Hösle denkt dabei vor allem an asketische Ideale, welche Bedürfnislosigkeit als ein Kriterium von Freiheit proklamieren. 

Das eigentliche Problem der Ethik liege jedoch nicht in der Wiederbelebung traditioneller Werte oder der Begründung neuer Normen, sondern auf der Motivationsebene. Viel schwerer als die Einsicht in die Notwendigkeit eines Bewußtseinswandels sei die Durchsetzung eines entsprechenden Handelns. Eine der Ursachen der ökologischen Krise sieht Hösle darin, daß wir manchmal wirklich nicht wissen, was wir tun. 

Eine andere Ursache bestehe in unserem mangelndem Antriebssystem, das keine Veränderung unseres Handeln bewirkt, wenn uns die Folgen mitgeteilt werden. Als ein markantes Beispiel der "kollektiven Unmoral der Umweltzerstörung" (S.90) wird das sog. Gutachterdilemma angeführt: Es sei heute zu fast allen Fragen möglich, wissenschaftliche Gutachten zu erhalten, welche entgegengesetzte Folgen voraussagen - mit der nicht unwesentlichen Konsequenz, daß das Vertrauen in die Institution Wissenschaft erschüttert werde. Meist sorge der Interessenfaktor für die größere Glaubwürdigkeit der positiven gegenüber der negativen Prognose. Jonas (1979) postuliert dagegen den Vorrang der schlechten vor der guten Prognose ("in dubio pro malo"), sofern diese die Vernichtung des Seins beinhalte. Hösle setzt gewisse Hoffnungen auf die gesellschaftlichen Meinungsbildner, explizit auf die Hochschulen und Schulen, Medien und Kirchen, die an der Sammlung und Weitergabe der entsprechenden Informationen arbeiten. Motivationspsychologisch sei es wichtiger, die Menschen zu lehren, wieder die Schönheiten der Natur zu empfinden, als ihnen die moralischen Übel der Umweltzerstörung vorzuführen, wenn man langfristig etwas erreichen wolle.

 

Im Mittelpunkt der vierten Vorlesung mit dem Titel "Ökonomie und Ökologie" (S.96ff) steht die folgende Grundfrage: "Wie muß man mit dem Eigennutz - dem Motor der kapitalistischen Wirtschaft - umgehen, um eine moralisch akzeptable Gesellschaftsordnung zu erreichen?" (S.97). Mit Gorz (1985) ist Hösle der Auffassung, daß sich kapitalistische und sozialistische Wirtschaftssysteme unter dem umfassenderen Begriff des Industriealismus zusammenfassen lassen. 

Es scheine so, als wenn die Systemgegensätze zwischen Ost und West nicht primär auf einer Divergenz der Ziele wie Selbstbestimmung und Wohlstand für möglichst alle als universalistische Ideale der Aufklärung basierten. Die Differenzen bestünden vielmehr in den unterschiedlichen Vorstellungen über den besten Weg der Realisierung der Ideale. Hösle äußert an dieser Stelle Bedenken gegenüber Jonas, der im "Prinzip Verantwortung" (1979) bei einem Vergleich der beiden Wirtschaftssysteme zu dem Ergebnis kommt, daß ein sozialistisches System eher zu asketischen Idealen der Massen beitragen könne. Stattdessen argumentiert Hösle mit den klassischen Befürwortern des Kapitalismus wie folgt (S.100): "Wer den Egoismus ausschaltet, ohne die Energien, die ihn beseelen, auf einer höheren Ebene bewahren zu können, verdammt die Menschheit zu einer Apathie und Gleichgültigkeit, die noch schlimmer sein wird als der vorangegangene Zustand. Ohne die unheimliche Effizienz eines aus egoistischen Gründen rationalisierten wirtschaftlichen Handelns lassen sich große Aufgaben - wie etwa die Rettung der Umwelt - schwerlich bewältigen".  

Wenn man nach den Rahmenbedingungen frage, die notwendig seien, um die Zerstörung der Umwelt aufzuhalten, so könne bezweifelt werden, ob das Bruttosozialprodukt den besten Indikator für das Wohlergehen eines Gemeinwesens darstellt, bedenkt man, daß die Umweltzerstörung das Bruttosozialprodukt steigere, da sie jährliche Reparaturkosten in Milliardenhöhe bedinge (vgl. Wicke in Kap. 2.3). Die Bewahrung der ökologischen Grundlagen des menschlichen Lebens könnten wohl nur gewahrt werden, wenn die Rahmenbedingungen sich derart ändern, daß die Umweltzerstörung sich finanziell nicht mehr lohne. Hösle hält es für möglich, z.B. durch ein System von Umweltsteuern ein egoistisches Motiv zu schaffen, um so sparsam wie möglich mit den natürlichen Ressourcen hauszuhalten.

 

In seinem letzten Moskauer Vortrag befaßt sich Hösle mit den "politischen Konsequenzen aus der ökologischen Krise" (S.121ff). Die politische Philosophie beschäftigt sich vor allem mit zwei Fragen: Zum einen geht es um die Struktur eines idealen Staates, zum anderen geht es um die ungleich schwierigere Frage, wie eine Annäherung an den idealen Staat zu erreichen sei, der als regulative Idee seine Geltung auch dann behält, wenn gezeigt werden kann, daß er nie vollständig zu verwirklichen sein wird. Angesichts der ökologischen Krise stellt von Hösle insbesondere die Frage, wer die Rechte der kommenden Generationen schützen könnte. Jonas (1979) bemerkt dazu: "Die 'Zukunft' aber ist in keinem Gremium vertreten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine Lobby und die Ungeborenen sind machtlos. Somit hat die ihnen geschuldete Rechenschaft vorerst noch keine politische Realität im gegenwärtigen Entscheidungsprozeß hinter sich, und wenn sie sie einfordern können, sind wir, die Schuldigen, nicht mehr da" (S.55). 

Zur Veränderung der gegenwärtigen Situation diskutiert Hösle - für einen Philosophen ungewöhnlich - einige ganz konkrete, politische Maßnahmen. Innerhalb der Regierung müßte zum Beispiel das Umweltministerium zu einem Schlüsselministerium, dem Innen- oder Finanzministerium vergleichbar, entscheidend aufgewertet werden. Das Umweltbundesamt müßte in der öffentlichen Meinung einen ähnlichen Stellenwert wie die Bundesanstalt für Arbeit erhalten. Dem Übergang vom Sozialstaat zum ökologischen Staat entspräche es nach einem Vorschlag von Fischer (1989), wenn der Präsident des Umweltbundesamtes monatlich im Fernsehen über Erfolge und Niederlagen im Umweltschutz berichtete. 

Weiterhin müßten die politischen Eliten wie im antiken Rom wieder eine Vorbildfunktion für die ganze Bevölkerung wahrnehmen. So hatte beispielsweise das römische Zensoramt einen feinen Sinn für die moralischen Gefahren, die vom Luxus ausgehen, wie uns Cicero ("De legibus" III 30) verrät. Schließlich reichen nationale Alleingänge angesichts der Globalität der Gefahren nicht aus, so daß eine Umweltaußenpolitik in baldiger Zukunft zum Hauptbestandteil der Außenpolitik werden könnte. Hösle hält von daher einen "Marshallplan zur Rettung der Umwelt" (Wicke & Hucke 1989) für unerläßlich. Dieser Sofortmaßnahmenkatalog sei sofort einzuleiten, da der weltgeschichtliche Zeitfaktor kaum abzuschätzen sei. Vor allem bedarf es aber der Menschen, die sich dieser großen Aufgabe annehmen. 

Hösle setzt dabei seine Hoffnungen u.a. auf "Führungskräfte, die die Umweltfrage nicht nur abstrakt zur Kenntnis nehmen, sondern von ihr beseelt sind" (S.142/3). Die politische Elite bräuchte eine Vision, die sich nicht in der Wahnidee erschöpfe, das Glück auf Erden bestünde in der Befriedigung aller möglichen Bedürfnisse und der vollständigen Unterjochung der Natur durch den Menschen (vgl. Bloch in Kap. 6.4). Kernpunkt einer solchen Vision müßte vielmehr eine Versöhnung des Menschen mit der Natur sein. Nach Hösle sind die Chancen für die Bewältigung der Probleme auch davon abhängig, ob 'die Jugend' für diese Vision gewonnen werden kann. Die Aufgaben und Herausforderungen der augenblicklichen Weltkultur mögen uns möglicherweise überfordern, wie Hösle abschließend (S.146) eingesteht, sie würden uns Gegenwärtigen aber immerhin nicht das Gefühl geben, nicht gebraucht zu sein.

 

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2.8  Der umwelt-theologische Ansatz von DREWERMANN

 

 

Am Ende unserer interdisziplinären Auseinandersetzung steht die Frage, ob die menschliche Naturbeherrschung nicht quasi per Religion legitimiert wurde. Selbst wenn die Einstellungen, die das Verhältnis des Menschen zur Natur kennzeichnen, heute weitgehend säkularisiert und enttheologisiert sind, lassen sich auch christlich-religiöse Motive postulieren. So bemerkt z.B. der australische Philosoph John Passmore: 

"Ökologische Kritiker des Westens haben recht, wenn sie argumentieren, daß das Christentum den Menschen dazu ermutigt hat, sich selbst für metaphysisch einzigartig zu halten und als etwas zu betrachten, das übernatürlich über dem Auf und Ab der Prozesse steht. Das ökologisch Gefährliche am Christentum ist nämlich nicht, daß es die Heiligkeit der Natur ablehnt, sondern daß es die Menschen zu dem Glauben verleitet, sie seien 'Söhne Gottes' und deshalb sicher, weil ja ihre fortgesetzte Existenz auf der Erde durch Gott garantiert sei. In diesem Sinne führt es zu Hybris. Die Natur erscheint als etwas, das man straflos plündern kann" (1992, S.224). 

Ob solche Einstellungen im Sinne des Christentums sind, kann man zwar bezweifeln, dennoch läßt sich die Sonderrolle des Menschen aus der Theologie leicht ableiten. Verschärfend kommt in unserer heutigen Situation dazu, daß der moderne, über der Natur stehende Mensch im Gegensatz zu früheren Zeiten keinen Gott mehr als Korrektiv über sich glaubt. In der Tat lesen sich zentrale Bibelzitate wie z.B. der Satz "Seid fruchtbar und mehret euch (...) und macht euch die Erde untertan" (Genesis 1, Vers 28) wie frühe Gebrauchsanleitungen zur Herstellung der ökologischen Krise. Allerdings ist es nicht selbstverständlich, aus diesem göttlichen Auftrag einen Herrschaftsanspruch zu interpretieren. Die englische Rede von "steward-ship" weist mehr auf eine Treuhänder-Rolle hin, die den Menschen eher zu einem Verwalter und nicht zu einem Überwältiger macht (Passmore 1980, S.28).

Eine kritische Analyse des Christentums unternimmt Drewermann in seinem Buch "Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums" (1982). Für Drewermann ist in der vom Christentum so stark beeinflußten Geisteshaltung Europas die Hauptursache der ökologischen Krise zu suchen. Der europäische Geist habe ein Menschenbild entworfen, das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren habe. Dazu gehöre sowohl die Überzeugung, daß die Geschichte sich ausschließlich um den Menschen drehe und nur zu seinem Zwecke da sei, als auch die Überzeugung, daß die menschliche Geschichte ihren Sinn in einem ständigen Fortschritt verwirkliche. 

Ein weiteres Kennzeichen dieses Menschenbildes sei außerdem die einseitige Ausrichtung auf zweckrationale Kräfte, verbunden mit der Leugnung oder Pathologisierung unbewußter Antriebe. Drewermann beginnt seine Analyse unter der Überschrift "Fakten, die Symptome sind" mit einer für Theologen ungewöhnlich ausführlichen Darstellung der real existierenden Probleme (u.a. Bevölkerungsvermehrung, Zerstörung der Wälder, Ausrottung der Tiere usw.) und referiert im Anschluß daran zunächst die technischen Möglichkeiten ("Maßnahmen, die absolut notwendig und dennoch völlig unzureichend sind") und darauf die aus seiner Sicht geistigen Notwendigkeiten zur Bewältigung der Probleme. Auch der anläßlich der 6. Auflage (1992) ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung beigefügte Anhang beginnt mit einer über einhundertseitigen Aktualisierung der Krisensymptome und endet mit einigen "Anregungen zum Umdenken".

Interessant im Zusammenhang mit dieser Arbeit sind besonders die Beiträge, die sich als spezifisch theologische Antworten auf die Ursachen und Lösungen der ökologischen Krise herauskristallisieren lassen. Der Grund dafür, daß überhaupt ein Theologe einen solchen Beitrag schreibt, liegt nach einer einleitenden Aussage des Autors darin, "daß Theologen das bestehende Problem, wenngleich in einer schicksalhaften Verkehrung ihrer eigentlichen Absichten, wesentlich mitverursacht haben" (S.8). Wie bereits angedeutet, sieht Drewermann die Hauptursache der Krise in einem "rigorosen und schrankenlosen Anthropozentrismus" (S.62), der den Menschen als Mittelpunkt und Maß der Welt betrachte. Insofern sei statt nach "Umweltschutz" eigentlich nach einem neuen Menschenbild zu fragen.

Verfolgt man die geistesgeschichtliche Entwicklung des Anthropozentrismus, so ergeben sich nach Drewermann vor allem zwei Gründe, ein philosophischer und ein religiöser. Während für die Ägypter, Babylonier und Inder das Göttliche gerade auf der Einheit von Mensch und Tier beruhte, waren die Griechen die ersten, die ihren Göttern menschliche Züge verliehen und damit den Menschen in die Nähe der Götter rückten. Bereits in der ionischen Naturphilosophie beginne ein Denken, das für das Abendland von entscheidener Bedeutung werden sollte, indem es an die Stelle des Mythos den Logos, an die Stelle des Gefühls die Ratio und an die Stelle der Welt der Götter die Gesetzmäßigkeiten der Ursachen setzte. In diese Zeit fiel der Homo-Mensura-Satz von Protagoras ("Der Mensch ist das Maß aller Dinge").

Was diese Einstellung in der Praxis bedeutete, zeigten vor allem die Römer, die den griechischen Anthropozentrismus mit einem ungeheuren Herrscherwillen verbanden. So schrieb zum Beispiel Cicero: "Die Welt ist (...) in erster Linie der Götter und Menschen wegen geschaffen worden, aber all ihre Einrichtungen sind nur zum Nutzen der Menschen ersonnen und ausgeführt" ("De natura deorum", 2. Buch, Kap. LXII). Entsprechend stellt er z.B. die These auf, daß das Schwein sein Leben nur habe, um dem Menschen das Salz zum Einpökeln zu sparen, damit es nicht faule. Mit den Römern trat erstmals eine Geistesart auf den Plan, die die gesamte Natur zum bloßen Rohstoff für menschliche Zwecksetzungen erklärte. Die Wirkungen dieser Einstellungen hätten im gesamten Mittelmeerraum und weit darüber hinaus bis heute ihre sichtbaren Spuren u.a. in Form von verkarsteten Landschaften hinterlassen. Die praktische Skrupellosigkeit, mit der die Römer die Religion auf die Anbetung menschlicher Macht und die Natur auf eine bloße Vorratskammer zur menschlichen Ausbeutung reduzierten, mutet erschreckend an.

Das Christentum, das politisch und kulturell das Erbe der Römer antrat und damit das "Abendland" begründete, habe den Anthropozentrismus der römischen Grundeinstellung und die Fremdheit gegenüber der Natur keinesfalls gemildert, sondern eher noch gesteigert. Die Religion Israels, von der das Christentum wesentlich geprägt ist, besaß zur Natur von vorneherein ein problematisches Verhältnis. Im Mittelpunkt dieser Religion stand ganz und gar der Mensch bzw. die Geschichte eines einzigen Volkes. Anders als die Griechen, für deren Naturphilosophie das Göttliche ein unpersönliches Prinzip in oder hinter allen Dingen war, betrachteten die Hebräer den Gott der "Schöpfung" wie einen Patriarchen, der mit seinem Befehl und seiner Macht die Welt regiert. Während die Griechen das Geheimnis der Natur in eine Abstraktion der Rationalität auflösten, betrachteten die Hebräer die Welt als eine bloße Manifestation der Macht Gottes.

Nach Drewermann kommen hier zwei Gedanken zusammen: die Natur als Emsemble rationaler Gesetzmäßigkeiten bei den Griechen und die Natur als eine Art Feindin, die sich dem menschlichen und göttlichen Willen zu unterwerfen habe, bei den Hebräern. Beide Gedanken bildeten den Hintergrund der "christlichen" Einstellung zur Natur, und erst ihr Zusammenwirken begründete Jahrhunderte später die moderne Naturwissenschaft und Technik. Der christliche Anthropozentrismus ging schließlich so weit, die Naturordnung völlig auf den Kopf zu stellen und das gesamte Schicksal der Natur vom Menschen abhängig zu machen: wegen der Sünde Adams seien alle Geschöpfe bestraft worden und müßten durch den Menschen erlöst werden - "ganze Generationen von Theologen haben sich abgemüht, diese Anschauung als eine höhere Form der Gerechtigkeit und Weisheit Gottes darzustellen" (S.75), obwohl sich das Christentum gerade mit seinem naturphilosophischen Anthropozentrismus von Anfang an in Widerspruch zu den aufgeklärten griechischen Philosophen befand, die bereits erahnten, daß die Welt nicht einfach nur für den Menschen geschaffen sein konnte.

Der eklatante Mangel der biblischen Anthropozentrik wirkt sich nach Drewermann (S.100ff.) dahingehend aus, daß es kaum möglich sei, auf dem Boden der Bibel eine umfassende, nicht nur auf den Menschen bezogene Ethik zur Natur zu begründen. Die Bibel selbst enthalte außer einer einzigen Stelle, nach der der Gerechte sich seines Viehs erbarmt (Spr. 12,10) und dem Gebot, dem dreschenden Ochsen nicht das Maul zu verbinden (Dt. 25,4) nicht einen einzigen Satz, wo von einem Recht der Tiere auf Schutz vor der Rohheit und Gier des Menschen oder gar auf Mitleid und Schonung die Rede wäre. Dabei sei zu bedenken, daß die Schonung der Haustiere in anderen Kulturen schon viel früher zu einem zentralen Anliegen erhoben wurde. Auch im Neuen Testament gebe es kein einziges Wort darüber, daß oder wie man mit Tieren und Pflanzen gütig umgehen müsse oder könne. Im Gegensatz zur Begrenztheit der Bibel sieht Drewermann die Anteilnahme am Wohlergehen aller Lebewesen bei Albert Schweitzer (1960): "Ethik besteht darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. Gut ist, Leben erhalten und Leben fördern; böse ist, Leben vernichten und Leben hemmen" (S.331). Jemand, dem das Leben als solches heilig sei, reiße kein Blatt vom Baum, breche keine Blume und achte darauf, kein Insekt zu zertreten. Ethik ist für Schweizer (S.332) "ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt."

 

Drewermann hält es für eine Pflicht (S.109), auf eine Änderung des religiösen Bewußtseins in der Einstellung zur Natur zu wirken. Gefordert sei eine grundlegende religiöse Neubesinnung, die mit dem bisherigen jüdisch-christlichen Anthropozentrismus breche und zu einem Einheitsdenken und Erleben zurückführe, das in der abendländischen Geistesgeschichte stets als unchristlich, pantheistisch oder atheistisch bekämpft wurde. Es sei auch kein Zufall, daß von der Kirche im Menschen all diejenigen Kräfte verteufelt würden, denen die Mythen entstammen, wie die Kräfte des Gefühls, des Unbewußten oder des Traumhaft-Visionären. 

Die Leugnung des Unbewußten aufgrund der Vergeistigung des Gottesbildes sei ebenso ein Kurzschluß von Anthropologie und Metaphysik gewesen wie der christliche Anthropozentrismus auf einen naturphilosophischen Kurzschluß hinauslief. Die Konsequenzen dieser christlichen Lehre finden sich laut Drewermann (S.138) auf den Lehrstühlen der Psychologie in den Universitäten im Gewande der sog. tabula-rasa-Theorie wieder, wonach es im Menschen nichts anderes gebe, als das, was er von außen übernommen habe. Aus der Verstandeseinseitigkeit des Christentums erwachse heutzutage die Gefahr, daß der Mensch mit Vorliebe nach dem Modell des Computers gesehen werde und die Vernunft des Menschen sich auf den Gehorsam gegenüber der technischen Steuerung seitens der gesellschaftlichen Bürokratie reduziere (vgl. Weizenbaum 1976). So befürchtet Drewermann, daß die Verwüstung der äußeren Natur durch den Menschen sich durch eine gleichgeartete technische Ausbeutung und Kontrolle des Menschen durch den Menschen vollenden werde. Drewermann stellt die These auf, "daß in der Zerstörung der Natur durch die abendländische Technologie nur die innere Verwüstung des abendländischen, des christlichen Menschen nach außen verlegt wurde" (S.139).

Wenn diese Diagnose zutrifft, daß die ökologische Krise letztlich eine Krise des abendländischen Menschenbildes darstellt, kommt man an der Erkenntnis nicht vorbei, daß die eigentlich anstehenden Probleme letztlich religiöser Natur sind. So gesehen wäre die ökologische Krise "eine Krise der Religion und der menschlichen Psyche, dann erst eine Krise der Politik und der Wirtschaft" (S.154). 

In diesem Sinne könne es nicht genügen, die Schöpfungstheologie des Christentums mit einigen umweltfreundlichen ethischen und asketischen Ableitungen zu schmücken, wie es von Seiten kirchlicher Verantwortungsträger gerne getan werde. Vielmehr gehe es zunächst einmal darum, die Schuld des Christentums an der bestehenden Krise zu begreifen und zu verstehen. 

Kirchenkritisch konstatiert Drewermann schließlich (S.359ff), daß das Weltbild der christlichen Dogmatik inzwischen zwar rational die Erkenntnisse Galileis zu akzeptieren bereit sei, in Wahrheit aber die Kopernikanische Wende immer noch nicht vollzogen habe, geschweige denn, daß sie es durch Darwin oder Freud hätte verändern lassen. Die christliche Theologie sei von den Veränderungen des modernen Weltbildes absolut unbeeindruckt geblieben, was sich u.a. daran zeige, daß sie nach wie vor den Menschen für das Endziel aller göttlichen Heilsveranstaltungen im Alten und Neuen Testament erkläre. Die Nicht-Beachtung der wirklichen Parameter der Schöpfung in Raum und Zeit lasse die Wirklichkeit des Kosmos - gegen den heutigen Stand des Wissens, aber in Fortführung des statischen Weltbildes der mittelalterlichen Scholastik - als etwas an sich Fertiges, von Gott Gesetztes erscheinen, das vom Menschen beherrscht, benutzt, verwendet und verwaltet, jedoch nicht in seiner Eigenart verändert werden dürfe.

Zusammenfassend versucht Drewermann anhand von vier Merkmalen zu zeigen, daß die Problematik des gegenwärtigen Umgangs mit der Natur nicht so sehr darin bestehe, daß die Menschen mit der Technik in der Natur etwas verändern, sondern in der Art, wie diese Änderungen vorgenommen werden. Als Hauptmerkmale des menschlichen Umgangs mit der Natur werden das Prinzip der funktionalen Isolation, die Preisgestaltung der heutigen Wirtschaft, der Faktor des Gefühls (der Faktor der Angst zum Zwecke der Erhaltung der eigenen Existenz bzw. der Faktor des Mitleids zum Zwecke der Erhaltung des fremden Lebens) und der Faktor der unterschiedlichen Zeit, auch als "Diskrepanz der Geschwindigkeiten" bezeichnet, genannt. Insbesondere der letztgenannte Faktor verdient eine gesonderte Beachtung. 

Wie Ditfurth (1976) in Erinnerung ruft, begann der menschliche Geist vor ungefähr drei Millionen Jahren, seine Augen aufzuschlagen. Noch keine 3000 Jahre ist es her, daß die Menschen die Sterne für Götter hielten und erst seit 500 Jahren besteht eine klare Vorstellung von der geometrischen Form der Erde. Doch auch Millionen Jahre sind in geologischen Zeiträumen der Evolution nicht mehr als ein Bruchteil, gemessen an dem Parameter der Natur seien die Entwicklungsmöglichkeiten der menschlichen Art noch in den Kinderschuhen. Unter diesen Annahmen erscheine die Annahme vermessen, daß just zu dem Zeitpunkt menschlicher Existenz eine Gattung im Besitz der ganzen Wahrheit des Wissens um das Schicksal von Welt und Geschichte sein könne. Drewermann sieht darin eine Form eines archaischen Mittelpunktwahns, der darin bestehe, den eigenen zufälligen Standort als den einzigen und letztgültigen Beobachtungsort und Standpunkt der Weltanschauung zu interpretieren.

Um den "Krieg" gegen die Natur zu stoppen, sei dringend ein "Moratorium des Nachdenkens" (S.397) geboten. Der Mensch müsse im Umgang mit seinen beiden großen Trieben, der Aggression und der Sexualität, in den Themenschwerpunkten Krieg und Überbevölkerung in wenigen Jahrzehnten Verhaltensweisen ändern, die sich im Laufe von Jahrmillionen aufgebaut haben. Ein wichtiges Teilziel bestehe darin, zumindest die Reste einer noch intakten Natur vor jedem weiteren Zugriff des Menschen zu schützen. Die expansive Phase der menschlichen Geschichte sei an ihrem Ende angekommen, eine zweite, lebensintensive Phase werde es nur geben, wenn die Menschheit lerne, weise zu werden: 

"Erst eine Geschwisterlichkeit mit all unseren Mitgeschöpfen, eine Rückerinnerung an den Paradiesmorgen, wird eine Form von Religion heraufführen, in welcher Natur und Geschichte, Ökologie und Ökonomie, Welt und Mensch, Unbewußtes und Bewußtes, Gefühl und Verstand, Frau und Mann, Leib und Seele eine Einheit bilden können" (S.406). 

Im Gegensatz zur Natur habe der Mensch allerdings keine Zeit mehr, wie Drewermann in seinem Schlußwort mahnend feststellt (S.407): "Denn nur wenn wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, werden wir das Fieberthermometer heutiger Geschichte auf einen für uns und die Welt erträglichen Grad herunterschlagen können - und stille werden in dankbarem Staunen über die unverdiente Schönheit des Seins".

 

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Ökologisches Gewissen # Die Zukunft der Erde aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und anderen Experten #  2000 von Sven Sohr

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