Reinhard Merkel über Peter Sloterdijks  Kultbuch <Kritik der zynischen Vernunft>

 

Imperiale Gebärde, rasante Gedanken 

 

      Sloterdijk

1983  

Spiegel 24/83 (13.06.83) Seite 172 ff

Web:  wikipedia.Autor  

u1:  U.Holbein.1993 

Die "Kritik der zynischen Vernunft", ein beinahe 1000-Seiten-Opus des in München lebenden Philosophen Peter Sloterdijk, 35, ist zum Kultbuch des deutschen Feuilletons und studentischer Seminare geworden. Die "FAZ" hat den Autor mit Schopenhauer verglichen. Reinhard Merkel, 33, arbeitet am Institut für Rechtsphilosophie der Universität München. 

 

 

Ein großer bunter Luftballon steigt auf, und in der Atmosphäre beginnt es zu klingen. Eine philosophische Flaumfeder, leicht und schön, tanzt hoch über den ausgestorbenen Fluren aller Dagewesenheiten, und ein vielstimmiger Chorus hebt an: Gepriesen sei der Name des Herrn. 200 Jahre nach der "Kritik der reinen Vernunft" deutet einer im Pantheon der Kultur auf den leeren Platz neben Immanuel Kant und sagt, wenn auch mit feinem Lächeln: meiner!

Sloterdijk wird es mir nachsehen, wenn ich die Suggestion seiner imperialen Gebärde so ernst nehme wie andere seine Ironie. Ich glaube nicht, daß es nur ein Kompliment ist, wenn einer fast tausend Seiten "Kritik der zynischen Vernunft" vorlegt und aus allen Feuilletons das Echo dröhnt: Ecce poeta! 

Sloterdijks erstaunliche Phantasie vollzieht eine danteske geistige Fahrt durch die Geschichte der abendländischen Vernunft. 

Aber es ist eine umgekehrte Göttliche Komödie: der Weg führt aus dem Paradiso durch eine Art De-Purgatorio zum Inferno, an dessen historischem Rand im Jahre 1933 Sloterdijks Diabolische Komödie abbricht. 

Der Blick des Autors ermißt eine 2500jährige Distanz zwischen zwei Gelächtern: Jenem anekdotisch berühmten der thrakischen Magd, die dem beim Sternegucken in eine Grube gefallenen Thales von Milet zurief, wie er glauben könne, den Himmel zu erkennen, wenn er nicht einmal die Löcher in der Erde sehe; und jenem grausigen, mechanisch ausgelösten Schockgelächter des Anton Ferge in Thomas Manns "Zauberberg", das keinen menschlichen Ton mehr hat und über sein Opfer verhängt scheint wie die grelle, schmerzhafte Heiterkeit der Weimarer Jahre über die Physiognomie einer scheiternden Epoche.

Bunt wie ein Paradiesvogel entfaltet die Phantasie des Buches ihre Flügel, die sie in pulsierender Bewegung über einen weiten Horizont von Themen, Assoziationen und Symbolen tragen: zwei Begriffe, mobil genug für solche Dynamik — "Zynismus" und "Kynismus". "Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewußtsein — das unglückliche Bewußtsein in modernisierter Form", ein Bewußtsein, das seine Fähigkeiten mit dem Verlust seiner Moral bezahlt, seine herrische Verfügungsmacht über die Außenwelt mit dem Orientierungsverlust seiner Innenwelt.

"Kynismus" ist dagegen ein subversiv heiteres Prinzip gegen alle zynische "Vormacht": theorielos, aber klug; polemisch, aber als satirischer Widerstand von unten; gegen den Totentanz der Wissenssysteme auf dem "lebendigen Körper als Weltfühler" beharrend.

Der "zynisch-kynische Streit" treibt im Strom der Weltgeschichte die Metamorphose des menschlichen Lachens durch die Zeitalter. Am Ende sind die Konturen einer Grimasse sichtbar geworden: Physiognomie eines "universalen diffusen Zynismus", die Visage unserer Gegenwart, grinsend über den Ruinenfeldern verlorener Hoffnungen und Ideale. Sloterdijk ist mit großem Recht der Feind eines sich aufblasenden neuen Konservatismus, der die ausgebrannten Trümmer mit zynischem Schwindel zu neuer destruktiv-buchstäblicher Bomben-Stimmung animieren will.

Mit der Wunderkerze einer funkelnden, manchmal begeisternden Sprache leuchtet Sloterdijk diesen riesenhaften gedanklichen und geschichtlichen Horizont aus. Aus dem Zwielicht des diffusen Zynismus tauchen Gesichter auf. Philosophen und Henker, Dichter und Feldherren, auch Masken und Lemuren, Lügen und Kunstwerke. Im Sturmschritt seiner Diktion durchläuft Sloterdijk das Szenarium, erhellend, was seine Phantasie zu fassen bekommt: die Aufklärung, die Geschichte der "verlorenen Frechheit", die gesellschaftlichen Organisationsformen des Zynismus, ein "Kabinett der Zyniker" und schließlich in einem "Historischen Hauptstück": das Zynismussymptom der Weimarer Republik.

Genug! Das wär's gewesen! Wenn Sloterdijk sich mit diesem Portrait des Zynismus und seiner Zeitfratze nur begnügt hätte! Aber er hatte den Ehrgeiz, die Hypothek eines tönenden Buchtitels abzutragen. Für die "Kritik" des Zynismus brauchte er mehr als dessen Darstellung: einen Schuldigen, den Beweis der Schuld und ein Heilmittel. So schön, luzide und sympathisch sein kulturkritischer Essay ist, so falsch, anmaßend und, wie soll man sagen, zynisch ist der größte Teil seiner philosophischen Argumentation.

 

 

Russische Revolution*: 

Den liberalen Kulturkommissar Lunascharski mit Goebbels verglichen

* Sturm auf das Winterpalais 1917.  Nach einem Gemälde von W. Kuznezow.

 

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Philosoph Kant, Tischgenossen*: 
Der leere Platz ist meiner!

* Gemälde (Ausschnitt) von E. Doerstling.

 

 

Ein Herr Schütte, der sich auszukennen meint, hat Sloterdijks 1000-Seiten-Tat in der "Frankfurter Rundschau" als einen "Schlag ins verstaubte Kontor unseres zeitgenössischen Philosophierens" gefeiert. Tatsächlich hat Sloterdijks empfindliches Gemüt einen seit Jahren in der Kulturkulisse summenden Ton, ein schlechtes Geräusch aus vernunftfeindlicher An-sich-Klugheit, habitueller Ironie und neuer Weinerlichkeit aufgefangen und auf seinen blankpolierten Begriff gebracht. Ein epidemisch grassierender Gehirnzustand, oszillierend zwischen Orakel und Grille, also etwa zwischen Nouyeaux Philosophes und Bhagwan, dürfte hier die theoretische Platt-Form finden für jenen sanften Bewußtseinsimperialismus, der nicht "kynisch" ist, sondern ein Selbstmordmotiv.

Das Kulturschauspiel der öffentlichen Wirkung, welches das Buch angezettelt hat, ist seine dunkelste Seite. In einer Fernsehsendung von wahrhaft erlesener Peinlichkeit hat man es schlicht und niederschmetternd "ein Jahrhundertbuch" genannt. Mit Sätzen wie: "Die Animalitäten" (nämlich: "Furzen, Scheißen, Pissen, Masturbieren") "sind beim Kyniker ... auch eine Form des Argumentierens", und zwar innerhalb einer "pantomimischen Theorie", bläst Sloterdijk Wind in die ohnehin prallen Segel eines landläufigen Idiotismus, der schon immer mehr Scheiße als Argumente produziert hat und jetzt seine theoretische Weihe bejubelt.

Schon im Vorwort des Buches gerät man an eine listige salvatorische Klausel: nehmt bloß meine Argumentation nicht so ernst, ich bin schließlich Kyniker und liebe die Beliebigkeit. Das Buch ist nämlich eine "Erheiterungsarbeit, bei welcher von Anfang an feststeht, daß sie nicht so sehr Arbeit ist als Entspannung von ihr". Wenn's nur dabei geblieben wäre. Man würde selbst den Posaunenton des Titels milde belächeln und den Rest wirklich erheiternd finden. Aber über einige hundert Seiten zelebriert Sloterdijk mit dem bleichen Ernst des Großdenkers ein Theorieritual, das alle möglichen Rumpelkammern philosophischer Methodik rebellisch macht.

Jemand, der bei der Versicherung, nur nietzscheanisch tanzen zu wollen, sich ständig umschaut, ob auch keiner die Kraftakte bemerkt, muß sich schon fragen lassen, wen er eigentlich zum Narren halten will. Wenn er sich mit Erledigergebärde unter die Philosophen mischt, kann er nicht gut den Produktionsmodus einer Feuilletonschlamperei reklamieren. Man wird ihn wohl so wichtig nehmen dürfen, wie er sich selbst.

Im Flug der Sloterdijkschen Diktion vergeht dem Leser leicht Hören und Sehen — der Kleinigkeiten. So kriegen zum Beispiel schon ziemlich am Anfang zwei perspektivisch verzeichnete Witzfiguren, die da in der Geistesgeschichte herumstehen und die Sloterdijk als Plato und Sokrates ausgibt, beiläufig ein paar um die Ohren. Sie nämlich waren die Urväter der späteren zynischen "Großtheorien", anstatt wie Diogenes zu kapieren, daß es auf "bewußtes Nichtwissen" ankommt.

Daß die Formel "Ich weiß, daß ich nichts weiß" ausgerechnet von Sokrates stammt, daß dagegen Diogenes seinen Schülern die Wahrheit gelegentlich mittels Watschen plausibel gemacht hat — das ist uns schon alles recht, denn Sloterdijk versichert, er behandle diese Leute "nicht historisch-kritisch", sondern "aktualistisch". Das ist eine keusche Formulierung für das beliebte Schema "Pech für die Fakten" und "selber schuld".

So etwas funktioniert ganz diskret. Sloterdijk indentifiziert etwa den Rationalismus der Aufklärung als Triebkraft einer zunehmenden Distanz zwischen Wissen und Moral und damit als Ursache des wachsenden Zynismus. Schuld daran sei vor allem das Mißtrauen, der hemmungslose Zweifel der Wissenschaften. Woher kommt der? Da denken wir, meint Sloterdijk optimistisch, "natürlich sofort an Descartes". Der nämlich "geht in seinem Zweifelsbeweis bis zu der monströsen Erwägung, es möchte vielleicht die ganze Erscheinungswelt nur ein zu unserer Täuschung berechnetes Blendwerk sein".

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Gut gegeben. Aber eine Variante von Tonfallschwindel, die sich gewaschen hat. Wen geht das auch was an, daß Descartes seinen methodischen Zweifel mit keinem anderen Ziel einführt als dem, gerade den "monströsen" Zweifel an der Außenwelt abzuschaffen, den prinzipiellen Zweifel mittels seiner selbst zu erledigen. Sloterdijk, dem es nicht so drauf ankommt, will uns dagegen lehren, "die Produktivität des cartesischen Zweifels zu bezweifeln und den Maßlosigkeiten des aufklärerischen Mißtrauens zu mißtrauen".

Eine gewisse vornehme Unabhängigkeit im Umgang mit historischen Fakten gehört vielleicht zum Eleganzapriori einer stürmischen Diktion. Daß "kaum jemand sich mit Kant befaßt (hat), ohne an das Rätsel seiner Physiognomie zu rühren", würde uns nicht einmal irritieren, wenn es wahr wäre und nicht bloß eine papierene Redeblume.

Aber es geht hier um eine Art Produktionsprinzip der Sloterdijkschen Argumentation: schlechte Zeugen, falsche Zitate, echte Widersprüche — an die fünfzig habe ich wohl gezählt. Wenn schon kaum einer an Kant vorbeigekommen ist, ohne ihn an der Nase zu fassen, dann ist auch gegen eine "philosophische Physiognomik" nichts einzuwenden, die nach Sloterdijk "der Idee von einer zweiten sprachlosen Sprache" folgt, in ihrer eigenen aber beispielsweise so verführt: "Das Wissen des Herrenzynikers beruht auf einer schiefen Überlegenheit. Aus schiefer Überlegenheit entsteht leicht ein schiefes Lächeln."

Nun dürfte ja eine schiefere Analogie noch kaum je das Licht der philosophischen Sonne erblickt haben. Dennoch wäre sie keiner Erwähnung wert, wenn nicht die "Idee einer philosophischen Physiognomik", die Sloterdijk mit erhabenem Ernst zur Grundlage seiner "Verkörperungstheorie" der Weisheit macht, selbst eine zynische Seite hätte: soweit sie nämlich körperliche Eigenheiten anderer mit deren Charakter in einen Zusammenhang bringt.

Hätte Sloterdijk den großen Kyniker Georg Christoph Lichtenberg, der körperlich verwachsen war, nicht so souverän ignoriert, vielleicht hätte ihm dessen Aufsatz "Über Physiognomik, wider die Physiognomiker" ein Licht darüber aufgesteckt, daß sich, etwa unter schweren Schicksalsschlägen, auch das Gesicht eines Samariters so verzerren könnte, wie es selbst Sloterdijk keiner zynischen Herrenvisage zutrauen würde.

Wo so leicht beieinander die Wunderblumen der Gedanken wohnen, da stoßen sich die Sachen schon noch härter im historischen und logischen Raum: da nämlich, wo Sloterdijk falsche Tatsachenbehauptungen einschmuggelt, um seine theoretischen Bestimmungen zu stützen, bzw. wichtige Fakten verschweigt, die sein Klassifizierungsschema unbrauchbar machen würden.

 

   

Philosoph Heidegger
Dumpfe Sätze für die Nazis

 

 

Der Antisemitismus, sagt Sloterdijk beispielsweise mit Recht, ist einer der schauderhaftesten Zynismen — und entstehe daraus, daß das jüdische Volk "der Erfinder des ursprünglichen politischen Kynismus" sei, also "quasi schon von Natur aus ironisch gegen jede Übermacht" stehe. Daher habe es "durch sein bloßes Dasein" einen Spiegel "vor die faschistische Arroganz" gestellt, den die Nazis zur Rettung ihrer Aufgeblasenheit zerschlagen mußten.

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Das mag, wer will, für eine Erklärung halten. Was aber war Luther? Luther war das leuchtende kynische Vorbild schlechthin, "eine Personalunion kynischer Prototypen von Moses über David bis hin zu Eulenspiegel". Daß Luther außerdem ein rabiater Antisemit war, der "Wider die Sabbather" und "Von den Juden und ihren Lügen" geschrieben und die Juden mit eiferndem Haß zu den "höchsten Feinden" der Christen erklärt hat, diese lapidare Wahrheit verschweigt uns Peter Sloterdijk,

Wer bitte war Lunatscharski? Lunatscharski war, versichert Sloterdijk, Mitglied einer berühmten Viererbande: "Hitler und Goebbels, Stalin und Lunatscharski". Das ist allerdings eine schwere Störung der Totenruhe. Lunatscharski war die Verkörperung des glatten Gegensatzes zum Großzyniker Stalin, als erster "Kommissar für Volksaufklärung und Erziehung" im revolutionären Rußland geradezu eine Lichtgestalt der Liberalität, Kultur, Liebe zur Kunst; ein Mann, den Antonio Gramsci im Ton der Verbundenheit einen "äußerst feinfühligen Ästheten" genannt hat.

Sloterdijk macht aber nicht nur Fehler, er ruiniert vor allem seine Begriffe. Wenn ein buntes Kaleidoskop aller möglichen Widersprüchlichkeiten unter ein und demselben Etikett sich ganz kannibalisch wohl fühlt, dann stehen da am Schluß die Idealtypen "Zyniker" und "Kyniker" (und eine ganze Reihe anderer) wie ausgebrannte potemkinsche Ruinen, zwischen denen nach wie vor Sloterdijks vitale Phantasie irrlichtert und dem Leser die Wahl läßt, den Rausch entweder mitzumachen oder gelegentlich als Kopfschmerz zu erleiden.

Jürgen Busche von der "FAZ", der ja sozusagen ein Philosoph ist, hat Sloterdijk als Schriftsteller neben Schopenhauer und Spengler gestellt. Ich meine, daß man hier vor allem Schopenhauer in Ruhe lassen sollte. Denn ich glaube nicht, daß er französische Feuilletonblumen auch da noch geschätzt hätte, wo sie als Gedankensurrogate die Philosophie überfallen, und daß es ihm etwa in den Sinn gekommen wäre, seinem späteren Kollegen Carnap die sinnleere Phrase "Wüstenanachoret der Empirie" anzuheften. Auch wäre ihm das unsägliche, trostlos dumpfe Wort "verkopft" wohl nicht in die Feder geraten.

Im Ruin der Verständlichkeit seiner Begriffe zeigt Sloterdijk unfreiwillig schlagend, daß eine impressionistische Bilderoffensive in der Philosophie selten Schönheit, aber fast immer Verwüstung schafft. Der wahre "semantische Zynismus" der Gegenwart besteht in der schleimigen Verwischung sprachlicher Grenzen zwischen vollständig unterschiedlichen Sphären der Kommunikation. Wer im Wetterbericht einer Tageszeitung schreibt: "Wolken ziehn wie schwere Träume", ist weder lyrisch noch kynisch, sondern blöde, während in einem anderen Kontext dieselbe Zeile vielleicht zu einem Eichendorffschen Gedicht gehört, in dem wiederum die Wendung: "Luftdruck soundsoviel Millibar" ein Attentat auf die Lyrik wäre.

In diesem Sinn macht Sloterdijks feuilletonistische Artistik seinen gedanklichen Grenzgang zu einer ständigen sprachlichen und philosophischen Grenzverletzung. Was als assoziativer Essayismus schön sein kann, verkommt als Argumentationslogik zur schlechten kunstgewerblichen Ekstase. Der Strom seiner Bilder trägt Sloterdijk oft endlos über jenen geistigen Rand hinaus, an dem Gedanken und Logik abbrechen, um die Sprache als spukhaft entleerten Klangrausch weiterziehen zu lassen.

Ein solches Verfahren trifft natürlich in Deutschland den Nerv eines populären Publikumsbedürfnisses, dem noch die eigene Gedankenleere unter fremden Wortkaskaden zum kosmischen Erlebnis wird. Mit diesem furchtbaren Zeitsyndrom, das der Münchner Philosoph Stegmüller einmal auf den erhellenden Begriff "semantische Umweltverschmutzung" gebracht hat, hängt Sloterdijks riesenhafter Erfolg zusammen.

Sloterdijks gesamte philosophische Beweisführung steht auf dem Flugsand einer "Logik", die ein Zauberspiel mit sprachlichen Mehrdeutigkeiten und mit dem vollständig beliebigen Austausch der unterschiedlichen Kontexte ist, in denen gleiche Worte auftreten. Hinter der Deckung schillernder Begriffshülsen schlingt er Schluß-, Analogie- und Kausalketten um alles, was von Natur aus nichts miteinander zu tun haben will. Wie macht man das?

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Ein Beispiel aus dem "Logischen Hauptstück": Sloterdijk geht an den Beweis, daß die "rationalistischen" Wissenschaften "Feinde" der Welt sind, mehr noch: sein müssen, weil sie nämlich eine "transzendental-polemische" Haltung zur Welt einnehmen, also in kantischer Diktion: die Feindschaft zu ihren Gegenständen ist für die Wissenschaft eine Voraussetzung ihrer Existenz.

Obwohl man sich die Feindschaft etwa eines Historikers zu seinem Gegenstand nicht ganz leicht vorzustellen vermag: Wie das? So: "Kriegswissen" (Spionage) wird bekanntlich in feindseliger Haltung gesammelt. Warum? Weil die Staaten mißtrauisch sind. Aha, erster Punkt: die Wissenschaft ist auch mißtrauisch, und zwar "maßlos" (Descartesscher Zweifel). Also wird sie wohl erst recht feindselig sammeln! (Da muß man schon "logo" sagen.) Aber die Spionage ist doch einseitig parteiisch, an Interessen gebunden?  

Sic, sagt Sloterdijk, die Wissenschaft ist das auch. Ergo: "Von hier aus zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Erkennungsdienst: beide entwerfen Haltungen von .Objektivität' zum Erkenntnisgegenstand, die ohne den Einfluß der Feind-Stellung zum Objekt unverständlich blieben." Folglich: "Transzendentalpolemische Sicht erlaubt, den ,Krieg der Forscher* ... zu untersuchen."

Man staunt. Was Kant, der ja immerhin. eine Art Taufpate für Sloterdijks Buch war, wohl sagen würde? So also sieht heute transzendentale Logik aus. Ich erinnere mich noch gut, wie mir schon als Volksschüler alle Mysterien der Weisheit aufgingen, als dem Klassenprimus einmal in einer jähen Eingebung der deduktive Katzensprung von "Kuchenbacken" zu "Arschbacken" gelang.

Dieserart transzendentale Gedankenzöpfe werden unerbittlich weitergeflochten. Daß es "kein Begriffszufall ist", wenn sowohl Wissenschaft als auch Geheimdienst von "Erkenntnissen" sprechen, wissen wir jetzt. Klar liegt aber auch der Feindschaftsbeweis in der medizinischen Wissenschaft auf der Hand. Was nämlich tut der Arzt? Er "bekämpft die Krankheit". "Die Analogien", sagt Sloterdijk, "springen (bis in sprachliche Details) grell ins Auge." Das ist geradezu peinlich wahr. Vor dem letzten Abschnitt dieses Kapitels steht ein Motto und darunter mit Recht: "Gottfried Wilhelm Leibniz' Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben ..."

Die Philosophen, die Leibniz' Ermahnung wirklich ernst genommen haben, sind bei Sloterdijk begreiflicherweise unbeliebt und Ziel seiner aufgeregtesten Angriffe: die sogenannten "Positivisten", von ihm auch "semantische Zyniker" genannt und geheimnisvollerweise synonym verbunden mit den "Funktionalisten". Denn ihr Denken ist der expliziteste Ausdruck "rationalistischer", also feindseliger Vernunft. Daher sind vor allem sie, sagt Sloterdijk, schuld am verheerenden Zustand der Welt.

    

Philosoph Diogenes*: 
Den Schülern die Wahrheit mit Ohrfeigen vermittelt

* Neben seiner Wohnstatt, einer Tonne, beim Besuch Alexanders des Großen, 
von dem sich der Philosoph nur eines wünschte: "Geh mir aus der Sonne."

 

Nun ist das mit dem "Positivismus" natürlich so: Irgendeine Spielart der Gegenwartsphilosophie noch mit dieser suggestiven Narrenschelle zu behängen, das ist entweder der sichere Beweis für eine fast schon transzendentale Ahnungslosigkeit in diesen Dingen oder für eine lebendige Inspiration aus Germanistik­seminaren der frühen 70er Jahre — was auf eine intellektuelle Variante von "gehupft wie gesprungen" hinauslaufen dürfte.

Es ist ja weiß Gott zynisch genug, öffentlich eine diogenesische Animalität an etwas zu vollziehen, wovon man nicht den leisesten Schimmer hat. Und nach Sloterdijks Anmerkungen zu Carnap, Wittgenstein oder Luhmann (der in diese Reihe schon wirklich gar nicht gehört) tut man ihm mit der Annahme, er habe keine Zeile dieser Leute gelesen, einen größeren Gefallen als mit der, es sei ihm trotzdem nichts Besseres dazu eingefallen.

Aber in Sätzen von horizontaler Unsinnigkeit die "Positivisten" quasi als Kriegsphilosophen zu diffamieren, vom "Funktionalismus" (Luhmann) zu behaupten, er spreche "dem menschlichen Bewußtsein das Emanzipationsrecht ab", oder gar die Gleichung "Nationalsozialismus = Nationalfunktionalismus" vorzuschlagen — das alles sind Belästigungen nicht nur der Philosophie, sondern vor allem des einfachen Anstands.

Der Erzvater des modernen "Positivismus", Bertrand Russell, war eine der großen humanistischen Gestalten dieses Jahrhunderts; er saß wegen seiner pazifistischen Gesinnung im Gefängnis. Sloterdijks kynisches Vorbild, der Philosoph Martin Heidegger, dagegen (den er halsbrecherisch für die Linke reklamiert) hat 1933 Sätze von dumpfer, erdbrauner Scheußlichkeit für den Faschismus produziert.

Das alles kümmert den gefeierten Autor wenig. Nachdem er sein Tribunal beendet hat, schiebt er die Kulissen seiner geisterhaft entleerten Theoriebegriffe zu einer kynischen Alternative zusammen: Nicht transzendentalpolemisch soll die Wissenschaft sein, sondern wie? Transzendental-erotisch. Jetzt ist es heraus. Ob, sagen wir, die Krebsforschung etwa bessere Erfolge haben wird, wenn sie sich in Zukunft ihrem Gegenstand (dem Krebs!) nicht als Feind, sondern eher erotisch nähert, dieser Gedanke scheint mir noch sehr unvollkommen durchgespielt. Sloterdijk rettet ihn gleichwohl durch den ekstatischen Begriffstaumel seines Schlußkapitels in die Idee eines "gelungenen Lebens".

Der Leser bleibt erschöpft und mit unvermittelbar gemischten Gefühlen zurück. Man stelle sich noch einmal das Anfangsszenarium vor: den rauschenden Aufstieg eines merkwürdigen Buches, das einerseits so schön wie andererseits katastrophal ist; den Hymnus der Feuilletons, die aus dem kritischen Häuschen geraten, wenn's einer der verstaubten Philosophie besorgt, und die konvulsivische Begeisterung des Publikums, das sich endlich wieder an einem sogenannten "Kultbuch" wärmen kann.  

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