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3.

Skinner-1948

 

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»Wir haben viel zu sehen und viel miteinander zu reden«, sagte er, als wir uns draußen versammelt hatten. »Ich schlage vor, wir lassen uns Zeit. Wir haben fünfzig bis sechzig Stunden zur Verfügung. Was meinen Sie zu einem gemächlichen Start? Wollen wir zum Teich hinunterschlendern und dann zu einem Glas Tee zurückkommen?«

Das fanden wir ausgezeichnet, vor allem den Tee, der uns für die flüchtige Mahlzeit auf dem Busbahnhof entschädigen würde. Wir überquerten auf der Südseite ein Feld, wobei wir eine große Herde Schafe umgehen mußten. Die Schafe wurden durch einen langen Strick zusammengehalten, an dem in Abständen Stoffetzen hingen und der an Pfählen gehalten wurde und so ein Quadrat bildete. Rogers ließ sich über diese primitive Vorrichtung aus, worauf Frazier antwortete: »Wir brauchen vor der Vorderseite eine abgemähte Grasfläche, aber als richtige Schafweide liegt sie zu nah am Gebäude. Sie wird zum größten Teil von den Kindern benutzt. Außerdem benutzen wir sie alle als Rasen. Und übrigens« — er wandte sich dabei besonders an Castle und mich — »können Sie sich an Veblens Analyse des Rasens in <Theorie einer Muße-Klasse> erinnern?«

»Doch, sehr gut«, erwiderte Castle. »Es sollte ein Stück ausgesuchten, aber deutlich ungenützten Weidelandes gekennzeichnet werden.« Castles Ausdrucksweise war immer präzise, aber gelegentlich machte er sich — wie hier — mit zusätzlicher Geziertheit lächerlich.

»Richtig«, sagte Frazier mit leichtem Lächeln. »Nun, das ist also unser Rasen. Aber wir benutzen ihn. Indirekt natürlich, mittels unserer Schafe. Und der Vorteil dabei ist, daß er uns nicht auffrißt. Haben Sie je mit einem Rasenmäher gearbeitet? Die stupideste Maschine, die jemals erfunden wurde, und für einen der stupidesten Zwecke, die es gibt. Aber ich schweife ab. Wir haben unser Problem durch einen transportablen elektrisch geladenen Zaun gelöst, der dazu dient, eine Schafherde wie einen riesigen Rasenmäher über den Rasen zu treiben, dabei aber das größte Stück der Fläche immer frei zu lassen. Nachts werden die Schafe über den Bach in den Stall gebracht. 

Wir fanden aber bald heraus, daß die Schafe von selber in der Einfriedung bleiben, so daß wir diese nicht unter Strom zu setzen brauchen. Statt dessen haben wir dann einen Strick benutzt, den man leichter verlegen kann.«

»Und was geschieht mit den Lämmern?« erkundigte sich Barbara und sah Frazier schräg aus den Augenwinkeln an. »Sie laufen frei herum«, sagte Frazier, »machen aber keine Schwierigkeiten und gewöhnen sich rasch daran, bei der Herde zu bleiben. Das Merkwürdige ist — das wird Sie interessieren, Burris —, daß die meisten dieser Schafe noch nie von dem geladenen Draht einen Schlag bekommen haben. Die meisten sind erst geboren, als wir ihn schon entfernt hatten. Trotzdem ist es bei unseren Schafen Tradition geworden, niemals einem Strick zu nahe zu kommen. Die Lämmer übernehmen das von den Alten, deren Autorität nie in Frage gestellt wird.«

»Wie gut, daß Schafe nicht reden«, bemerkte Castle. »Eins von ihnen würde bestimmt fragen: Warum? Der philosophische Schafskopf.«

»Und eines Tages würde der skeptische Schafskopf seine Nase doch mal an den Strick halten, wobei dann nichts passiert«, fügte ich hinzu, »und die gesamte Schafsweisheit wäre bis auf die Grundfesten erschüttert.«

»Und dann«, sagte Castle, »kommt die Panik!« »Ich hätte Ihnen sagen sollen«, erklärte Frazier nüchtern, »daß kein geringer Teil der Tradition und ihrer Macht auf dem Wächter beruht, den Sie dort unten sehen.« Damit deutete er auf einen wunderschönen Schäferhund, der uns aus respektvoller Distanz beobachtete. »Wir nennen ihn den Bischof.«

Wir gingen schweigend weiter, aber Castle tat beunruhigt. Zögernd sagte er: »Also bleibt die Fragender relativen Verdienste der Elektrizität und des göttlichen Zornes.«

Frazier war belustigt, aber nur kurz. »Außer den Hügeln auf der anderen Flußseite«, sagte er, 

»gehört alles Land, das Sie von hier aus sehen, zu Futurum Zwei. Wir sind nicht ganz so wohlhabend, wie es den Anschein hat, denn unser Gebiet wird an drei Seiten von bewaldeten Hügeln begrenzt, die uns die Aussicht versperren. Wir haben es alles auf Schätzungen hin gekauft. Es standen sieben oder acht Farmen zur Verfügung, die alle schwer herunter­gewirt­schaftet — und drei sogar ganz aufgegeben waren. Die Straße durch die Schlucht verläuft über den Hügel zu ein paar Grundstücken auf der anderen Seite. Es ist eine öffentliche Landstraße, aber wir halten sie instand, und die anderen Straßen haben wir erst angelegt.« 

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Wir hatten uns anfangs um Frazier gruppiert und ihm so gut zugehört, wie es das Gehen erlaubte. Steve und die beiden Mädchen blieben bald etwas zurück; sie zogen offenbar den Anblick der Landschaft den etwas anstrengenden Reden Fraziers vor. Als wir an dem Teich anlangten, blieb Frazier stehen, um unsere Gruppe wieder zu sammeln.

»Der Teich hier ist unser eigenes Werk«, sagte er nach einer Weile. »Er absorbiert einiges Sumpfgebiet und speichert Wasser für Dürrezeiten auf. Wie Sie sehen, gibt es da auch ein paar Enten, mehr für die Kinder als für sonstwas, obgleich gelegentlich auch mal eine in den Kochtopf kommt.« Wir gingen auf einen kleinen Bootsteg am Wasserrand zu.

»Einer unserer Mediziner interessiert sich für den Teich. Er hat ihn ganz hübsch in Ordnung gebracht. Zuerst war das Wasser braun und schmierig, jetzt ist es, wie Sie sehen, ganz klar.« 

Frazier hob ein Ruder aus einem Flachboot, das am Steg vertäut war, und tauchte es tief ins Wasser. Es blieb in ganzer Länge sichtbar. Gleich darauf erlebten wir noch eine andere Vorführung, als eine Gruppe von sechs bis acht jungen Leuten, die uns gefolgt war, am Teiche anlangte. Sie zogen sich in einem Dickicht, das eigens dazu angelegt schien, aus, liefen auf den Steg und sprangen kopfüber ins Wasser, wobei ihre bunten Badesachen unterm Wasser leuchteten. Wir sahen ihnen zu, wie sie auf ein kleines Floß zuschwammen, und Frazier sprach weiter. Er zeigte uns die Nutzgärten jenseits des Dammes, ein Tannenwäldchen, das vor fünf Jahren gepflanzt war, um die Werkstätten von den Wohnvierteln zu trennen, und eine Reihe Birken, die die Nutzgärten von der Schafsweide absonderten und gutes Feuerholz abgaben. Er redete über belanglose Sachen, tat das aber offenbar ganz absichtlich. Jede seiner Bemerkungen schob er gleichzeitig als beiläufig beiseite. Dennoch war ein Ton von Begeisterung, ja, sogar Leidenschaft in seiner Stimme. Er liebte die simplen Tatsachen. Praktiken und Tricks mit der Natur faszinierten ihn. Nachdem wir den Damm und das Schleusentor besichtigt hatten,

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forderte Frazier uns auf, umzukehren. Wir wanderten am Rande des Teiches zurück und folgten dem sogenannten Oberbach in Richtung auf das letzte, östlich gelegene Gebäude. Dabei kamen wir an einem großen duftenden Minze-Beet vorbei, das nahe dem Wasser auf feuchtem Boden angelegt war. Ein ländlicher Zaun aus geflochtenen Zweigen trennte es von der Schafsweide. »Keine Minze für die Lämmer?« erkundigte sich Castle. »Die werden unter günstigeren Bedingungen im Eßsaal zusammengebracht«, versetzte Frazier trocken.

Alle Hauptgebäude kamen jetzt in Sicht. »Was ist das für ein Baumaterial?« fragte ich. »Beton?«

Frazier hatte seine eigene Erklärungsmethode. »Wir haben die alten Bauernhäuser als Wohnquartiere benutzt, bis wir das originelle Ding errichten konnten, das Sie da links sehen«, sagte er, als hätte ich gar keine Frage gestellt. »Einige waren noch nicht baufällig genug, um sie abzureißen. Da gibt es in der Nähe des Flusses ein nettes altes Steinhaus, das wir als Steinbruch benutzt haben. Die ursprünglichen Scheunen sind noch in Gebrauch, außer einer, die an der Stelle unseres modernen Meiereischuppens gestanden hat. Die Hauptgebäude haben wir natürlich selber errichtet. Das Material ist gepreßter Lehm, nur einige der Mauern sind aus Steinen, die aus dem alten Steinbruch da drüben stammen. Die Kosten waren phantastisch niedrig, wenn man nach Rauminhalt berechnet, wie es die Architekten machen, oder, was wichtiger ist, nach dem Leben, das sich drinnen abspielt. Unser Gemeinwesen hat zur Zeit fast tausend Mitglieder. Wenn wir nicht die Wohngebäude benutzten, die Sie da vor sich sehen, müßten wir in etwa hundertfünfzig Häusern wohnen und in hundert Büros, Läden, Werkstätten und Speichern arbeiten. Das hier bedeutet eine enorme Vereinfachung und Verbilligung an Zeit und Geld.

Wir waren bei einer Anzahl kleiner Tische und Bänke angelangt. Sie schienen für Mahlzeiten im Freien bestimmt, aber später entdeckten wir, daß sie bei Unterrichtsstunden benutzt wurden. Frazier setzte sich auf eine der Bänke mit dem Rücken zum Tisch, auf den er die Ellbogen stützte. Die Mädchen ließen sich neben ihm nieder, und wir übrigen setzten uns auf die Erde. »Ein Vorteil des Gemeinschaftswohnens«, sagte Frazier, »ist, daß wir es mit dem Wetter ^aufnehmen können. Wenn Sie sich erinnern, Edward Bellamy versuchte es: die Straßen seiner Zukunftsstadt sollten bei Regen überdacht werden*.«

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»War es nicht H.G. Wells*«, warf Castle ein, »der den Vorschlag machte, künftig Städte in riesigen Höhlungen anzulegen, wo man das Wetter je nach Bedarf selber machen könnte?« - »Das hatte ich vergessen«, sagte Frazier leicht indigniert. »Das technische Problem ist natürlich schwierig, wenn man sich ein Gemeinwesen vom Umfang einer ganzen Stadt vorstellt. Wie ich aber eben sagen wollte, Bellamy war mit der Erfindung überdachter Straßen seiner Zeit voraus, obwohl die Idee schon mit den Marquisen und Baldachinen reicher Leute vorweggenommen ist. Er scheint aber doch noch nicht ganz realisiert zu haben, was die Kontrolle über das Wetter bedeutet. Außer bei besonders günstigen klimatischen Bedingungen, die für uns alle hier ja nicht gegeben sind, ist es immer noch nötig, sich mit einer Regenhaut, einem oder mehreren Mänteln, einem Regenschirm, Gummischuhen, Handschuhen, Hüten, einem Schal, vielleicht Ohrenklappen auszurüsten, abgesehen von allem möglichen Unterzeug. Und trotz alledem werden wir immer noch naß und holen uns Erkältung und Grippe.«

»Gräßliche Aussicht!« rief Barbara.

»Aber eine richtige. Und bloß der Anfang. Nur wenn wir das Wetter überwinden oder in ein besseres Klima umziehen, wird uns klar, wie es uns tyrannisiert. Kein Wunder, daß der >Neue Mensch< begeistert ist! Er vollzieht eine neue Geburt der Freiheit. Wie oft hat er sich mit einer schrecklichen Nacht herumschlagen, auf seine Freunde, einen Theaterbesuch, eine Party verzichten müssen!« Ich fand, daß Frazier zu sehr dramatisierte, und sagte: »Gut, aber was tun Sie denn nun hier bei Regen, außer Sie lassen es eben regnen?«

»In einem Gemeinwesen dieses Umfangs«, fuhr er ungerührt fort, »empfahl es sich, alle Zimmer mit den Gemeinschaftsräumen, den Eßsälen, dem Theater, der Bibliothek zu verbinden. Sie können aus der Gesamtanlage ersehen, wie wir das gelöst haben. Unsere sämtlichen Zusammenkünfte und Veranstaltungen, unsere Mahlzeiten und persönlichen Vorhaben finden genauso statt, wie sie geplant sind, ohne daß wir ins Freie zu gehen brauchen.«

* siehe Fußnote S. 21, H.G. Wells, engl. Romanschriftsteller, 1866-1946: A Modern Utopia, 1905 erschienen 

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»Und was ist mit dem Weg zur Arbeit?« fragte Rogers. »Die Arbeit außer dem Haus bildet eine Ausnahme. Bei schlechtem Wetter fahren uns unsere Lastwagen zwischen den Wohnquartieren und den Werkstätten hinter dem Tannenwäldchen hin und zurück.«

»Aber ich«, warf Barbara ein, »bin gern bei schlechtem Wetter draußen und gehe im Regen spazieren.«

»Sicher!« sagte Frazier und stand auf. »Bei der richtigen Sorte Regen und zur richtigen Zeit! Ein schöner Regen ist etwas, das man als Würze und Genuß empfinden kann. Aber ich wette, daß Sie nicht jede Art schlechten Wetters genießen.« Er lehnte sich zurück, als wollte er seine Darlegungen wieder aufnehmen. Barbara sagte: »Ein klarer kalter Tag?« Offenbar wollte sie nur Fraziers Aufmerksamkeit fesseln; er reagierte verärgert. »Ich rede von rauhem Wetter. Wetter von der unangenehmen, widrigen Sorte«, sagte er kurz.

Sein Tonfall störte Barbara nicht. »Dieser lange Korridor mit den vielen Fenstern, ist es das, was Sie meinen?« fragte sie. Sie nahm eine Zigarette aus ihrer Dose, und Frazier tastete seine Tasche vergeblich nach einem Streichholz ab. Barbara hielt ihm ihre Schachtel hin, er zündete ein Streichholz an und bot ihr ungeschickt Feuer. »Dies hier nennen wir >die Leiten«, sagte er, wieder heiterer. »Sie verbindet die Kinderräume mit den Sälen. Sie hieß eigentlich die Jakobsleiter — auf der alle die kleinen Engel auf und nieder schweben, Sie wissen doch. 

Unsere Architekten haben rechtzeitig etwas mehr als einen einfachen Korridor daraus gemacht. Soviel Platz wollten sie einer einzelnen Funktion nicht einräumen, und teilten ihn daher in eine Reihe von Absätzen und Nischen für Tische, Stühle und Bänke auf. Glänzende Aussicht von hier. Zu dieser Tageszeit kommen hier Gruppen zum Tee zusammen, und morgens findet eine Art verlängerte Kaffeestunde statt. Manche bringen ihr ganzes Frühstück hierher. Immer herrscht hier Leben. Aber das kommt erst als nächstes dran«, unterbrach er sich und stand von seiner Bank auf, »wozu also soll ich Sie jetzt damit langweilen?« Ich meinte die Antwort darauf zu wissen, hielt aber den Mund. »Wer waren Ihre Architekten?« fragte Rogers, während wir über das Feld auf den Fuß der »Leiter« zuschritten. »Waren das Mitglieder Ihres Gemeinwesens?«

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