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3.  Einige Zeitgenössische Utopien  

 

 

   Ökotopia von Callenbach 

Der in den USA bereits 1975 erschienene utopische Roman <Ökotopia> von Ernest Callenbach ist von dieser literarischen Gattung. Diesmal ist es der Journalist William Weston, der aus der dystopischen Wirklichkeit USA in die Secessionsländer Washington-Oregon-Nordkalifornien geschickt wird, dort diese Gesellschafts­ordnung schätzen lernt und sich in eine Frau verliebt.3.1  Die Secession-Trennung hat sich 1980 vollzogen. 

Flugverkehr ist verboten; Bahnhofsgebäude sind aus Holz gebaut, verfügen dafür über Bibliotheken. Marihuana ist legalisiert. Die Eisenbahnzüge sind mit Grünpflanzen ausgestattet, sie funktionieren nach dem Magnetbahnprinzip. Die Mülltrennung (Metall, Glas, Papier, Plastik) und das Recycling sind der Stolz des Landes. Gebaut wird mit Bruchsteinen, Lehmziegeln, Brettern.

Autos sind durch elektronische Kleinbusse und Taxis ersetzt: Der öffentliche Personennahverkehr ist unentgeltlich. San Francisco ist aufgeforstet worden und die kleinen Flüsse wieder ans Tageslicht gebracht (ebenda). Auch stehen weißlackierte Provo-Fahrräder kostenlos zur Verfügung. Die Wolkenkratzer in der Innenstadt, früher Konzernbüros, sind in Wohnbauten verwandelt und durch Fußgängerbrücken verbunden worden (Schwindelfreiheit scheint in Ökotopia erforderlich zu sein). 

Unmittelbar am Stadtrand kann Rotwild gejagt werden. Die Kleidung enthält keine synthetischen Fasern, bzw. sie ist stabil, aus einheimischer Produktion, teuer und aus einem aus Baumwolle entwickelten Kunststoff. Der Nahrungsmittelkreislauf ist geschlossen, Abwässer und vergleichbarer Müll werden in organischen Dünger umgewandelt und dem Boden wieder zugeführt. Mikrowellenherde sind verboten. Auf Metalle, von Eisen abgesehen, wird verzichtet, ebenso auf synthetische Farben. Das Essen ist zuckerlos. 

Soweit es ging, sind die bestehenden Städte in Nachbarschaften oder Gemeinden aufgefächert worden. Viele Menschen leben in Wohngemeinschaften, welchen 10-15 Räume zur Verfügung stehen. Der Transport erfolgt mittels Container, Terminals und unterirdischen Förderbandsystemen. Bestimmte Bereiche sind automatisiert, die anderen Arbeitsgänge werden von Arbeitsgruppen durchgeführt. Auch hat das »do-it-yourself«-Prinzip, frei nach Ikea, die Sphäre des Fahrzeugbaus erreicht. 

»Ein Teil der ehemaligen Vorortwohnviertel zwischen den neuen Siedlungsringen ist bereits abwechselnd in Wald und Weideland umgewandelt worden. (...) Schmale Waldstücke säumen die gewundenen Flußläufe. Habichte ziehen träge ihre Kreise.« Inspirationen durch die indianischen Traditionen sind an der Tagesordnung.

Die Frauen in Ökotopia haben sich völlig aus ihrer abhängigen Rolle befreit; die Einwohner legen Wert auf eine Vielfalt von sozialen Beziehungen und brauchen vielfältige Kontakte; die Männer zeigen ihre Gefühle offener, auch solche der Schwäche. Skifahren (besonders Langlauf), Wandern, Angeln, Schwimmen, Segeln, Gymnastik, Tischtennis, Volleyball sind beliebt, alltägliche körperliche Betätigung gebräuchlich – ansonsten ist Sport nicht üblich. Die Schulen verfügen über einen lockeren Stundenplan, weshalb Kinder viele Ausflüge machen. Gejagt wird mit Pfeil und Bogen. Der Grundbesitz entlang der Küste ist enteignet und zu »Wasserparks« erklärt worden. 

Wie bei William Morris gibt es in den Flüssen wieder Lachse, Ökotopia ist keineswegs grundsätzlich technikfeindlich. Es gibt Videogeräte, Bildtelefone, Kabelfernsehen mit Übertragung politischer Willensbildungshandlungen. Als Utopie gilt denn in den USA auch, daß die Werbespots nicht eingeblendet, sondern als geschlossener Block zwischen zwei Sendungen geschoben werden. Mit der Fabrikation neuer Erfindungen kann nur begonnen werden, wenn zehn Bürger oder Bürgerinnen übereinstimmend feststellen, daß sie die zu erwartenden Defekte eigenhändig mit gewöhnlichem Werkzeug reparieren können. 

Die Landwirtschaft ist verstaatlicht. Die Kapitalflucht wurde forciert, um die freiwerdenden Betriebe übernehmen zu können; strenge Naturschutzgesetze wirkten unterstützend. Erwerbslose werden beim Aufbau des Eisenbahnnetzes sowie der Abwässer- und Recyclinganlagen eingesetzt. Wer große Mengen Bauholz kaufen will (z.B. für den Hausbau), ist verpflichtet, mehrere Monate lang in einem Waldcamp zu arbeiten. Aus Holz sind auch neue Kunststoffe entwickelt worden — was durch die Aufforstung ehemaliger Obstplantagen und Felder ermöglicht wurde. Rinderherden gehören zum gewohnten Landschaftsbild — der Beruf des Cowboys hat eine neue Bedeutung gewonnen. 

»Zahlenmäßig ist die ökotopianische Bevölkerung seit fast 15 Jahren in einem allmählichen Absinken begriffen«. Das ist offizielles Ziel der Nation, erreicht durch Aufklärung über Empfängnis­verhütungs­methoden und Abnahme von Bevölkerungskonzentration (mit lokaler Bevölkerungsverteilung — Optimum 40.000-50.000 / Stadt). 

 

Auch sind medizinische Versorgung, Schulen, Agrarbetriebe dezentralisiert. Radikale streben den Nulltarif für Bahnreisen an, um für weitere Teile der Bevölkerung das Landleben anziehender zu machen. Unter »Familien« werden in Ökotopia Wohngemeinschaften von 5-20 Mitgliedern verstanden (teils verwandt, teils nicht), die sich Versorgung, Haushalt, Kindererziehung sich teilen. In kinderlosen Wohngemeinschaften ist der Beruf entscheidend. Die sexuellen Bindungen sind stabil, nur an vier Feiertagen im Jahr ist Promiskuität weit verbreitet.

Genmanipulation und Walfang erregen Abscheu. Die Orientierung an Vorgängen in der Natur, gefolgt von der Annahme, daß Aggressivität zur »natürlichen« menschlichen Triebausstattung gehöre, führt zur Installierung ritueller Kriegsspiele, die mit Speeren durchgeführt werden — sehr ähnlich wie in P.M.'s »bolo'bolo«, nur noch ritualisierter. Diesen Kriegsspielen und ihren Folgen wird im Roman relativ viel Platz eingeräumt. 

Die Banknoten sind bunt (»fast tropisch«), die Geräte fast geräuschlos; der Klatsch auch über intime Beziehungen akzeptiert und weitverbreitet. Wie stets in den USA, gibt es zwei dominierende Parteien, die regierende Survivalist Party und die oppositionelle Progressive Party, ergänzt durch einige Contras. Die Survivalist Party wird, bis hin zur Präsidentin, von Frauen dominiert. Politische Treffen kennen keine Geschäftsordnung, wie auch keine feste Tagesordnung und machen Spaß. Gerichte und Rechtsanwälte sind gut beschäftigt. Das Wappentier Ökotopias ist der Silberreiher.

Das ökotopianische Wirtschaftssystem ist ein Mischsystem: Belegschaftsbetriebe in Selbstverwaltung, ökologische Investitions­lenkung, entschädigungslose Erbschaftssteuer auf produktives Eigentum, Körperschaftssteuer als einzige Quellensteuer, viele selbstständige Handwerker, Primat von Partnerschaftsbetrieben, Einschränkung von Gehaltsunterschieden, Verbot direkter Investitionen in andere Unternehmen, aber auch eine starke Nationalbank, Konkurrenz der Betriebe untereinander, Schutzzölle gegenüber Asien. 

Garantiertes Mindesteinkommen für Lebensmittel, Wohnung und ärztliche Versorgung — letzteres vor allem in den USA eine Utopie. Grundbedarfsläden mit weit entwickelter Standardisierung. Die nicht-weißen Bevölkerungsteile verfügen über ihr eigenes Territorium, welches den Status offizieller Stadtstaaten innehat: Stadt-Regierungen, Steuern, Gerichtsbarkeit, Polizei, Industrie, Farmen, Briefmarken, Währung und die Außenpolitik sind gemeinsam. Die Chinatowns und Soul Cities erwecken den Eindruck, daß hier Rüdiger Lutz' »Ökotopia« mit seinem »Chinatown« bereits eine Synthese eingegangen sei. In Soul City ist Suaheli erste Fremdsprache. 

 

Heroinhandel ist Regierungsmonopol und gedrosselt. Gewaltverbrechen werden hart bestraft. Allerdings sind auch die Justiz­vollzugsanstalten dezentralisiert und der Strafvollzug human (Teilnahme an Lohnarbeit tagsüber; Partner und Partnerinnen können sich nachts hinter Gitter begleiten). 

Das Militär ist ein Milizsystem. Alternative Energien aller Art sind selbst­verständlich. Die Medien sind entflochten; die Medienvielfalt ist angestiegen. Printmedien können selbst kopiert werden; den Diskettendruck hat Callenbach technisch vorweggenommen. Die Schulen erinnern an Farmen, wo der Unterricht im Freien oder in Holzbaracken stattfindet, die Unterrichtszeiten schwanken und meist gibt es Projektunterricht. Die Schüler sind in Stammesgruppen zusammengeschlossen und arbeiten zwei Stunden am Tag körperlich, wenn auch selbstbestimmt (incl. der Verfügung über die Erträge). 

Schulen sind Privatunternehmen und gehören dem Lehrerkollektiv: Schulgeld ist nach oben begrenzt, aber zu zahlen. Mit 12 oder mit 18 Jahren sind Prüfungen abzulegen, und zwar vor einem Komitee, dem Pädagogen, Politikern und Eltern angehören, ansonsten gibt es keine Schulaufsicht. Es besteht eine gestaffelte Beihilfe für die Finanzierung der Schulbildung. Forschung und Lehre sind voneinander getrennt: kleine Forschungsinstitute einerseits, basisdemokratische Hochschulen, in welchen die Professoren von den Studierenden direkt bezahlt werden andererseits (»... existiert in Ökotopia kein Beruf, für den ein Titel eine unabdingbare Voraussetzung wäre«). 

Ergänzt wird durch Erwachsenenbildung, Projektstudium und die Hinwendung zum hypothetischen Denken. Der künstlerische Wettbewerb ist hart. Das Gesundheitswesen ist schon wegen der Kriegsspiele erforderlich. Ansonsten wie zu erwarten: dezentralisiert, nicht elektronisch, »tender loving care«, Massage, Krankenversicherung »von der Wiege bis zur Bahre« (USA!), Milderung der Arbeitsteilung Ärzte — Techniker — Pflegepersonal, Hebammen, fatalistische Einstellung zum Tod, Psychosomatik.

Die Arbeit wird, fast wie bei Fourier, gelegentlich durch Parties unterbrochen. Studierende studieren und arbeiten jeweils im Turnus ein Jahr lang. Es gibt keine nennenswerte Zahl von unfreiwillig Erwerbslosen; wenn erforderlich, werden Überstunden gemacht, die die Parties ausgleichen. Marihuana, wie gesagt, ist legal, wird indes maßvoll konsumiert (211-215). 

Der Lebensstandard allerdings ist, auf ökologische Weise, gesunken. Davon versteht auch Ernest Callenbach etwas: 1972 hat er ein anderes Buch, »Living Poor with Styl« (in etwa: »Arm leben – aber mit Stil«), geschrieben.

  

 

   Bolobolo von Peter M.  

bolobolo bei detopia

Einen Idealtypus der zeitgenössischen dezentralistischen Utopie stellen die Arbeiten jenes Schweizers Peter M. dar, der in Zürich lebt und beim Paranoia-Verlag publiziert. 

Seine frühere Arbeit <Weltgeist Superstar> ist noch der Science-Fiction verpflichtet. Der Ich-Erzähler muß erst jede Menge Verfolgungsjagden, Mordanschläge, gedeutete Geheimschriften und Reisen um die halbe Welt überleben, bis er beim Startplatz seines ersten Raumschiffes landet. Die säkulare Pointe dieses Buches besteht darin, daß in jenem Raumschiff, erwartetermaßen, Karl Marx sitzt, welcher unter diesen interplanetarischen, von Zeitreisen gezeichneten Bedingungen überlebt hat. Heute, 1993, würden sich – bedauerlicherweise – nur wenige diese Pointe mehr trauen. Danach aber zeichnen, im unvermeidlichen Planetenhüpfen, jene inselhaften Sterne sich besonders aus, auf welchen dezentrale, genossenschaftliche, mehr oder weniger herrschafts­freie Strukturen sich entfaltet haben. 

Bemerkenswert erscheint im Rückblick auch, daß in jener merkwürdigen Strukturäquivalenz zwischen Erde und Genossen­schaftsplaneten — ich müßte lügen, würde ich behaupten, sie zur Gänze verstanden zu haben — eine als durchschnittlich skizzierte Schweizer Landkommune der verfolgten glücklichen Insel (wir erinnern uns, daß diese Lage jener zwischen Rendang und Pala in Aldous Huxleys »Eiland« entspricht) am ehesten ähnelt. So gibt es auch eine Art von »Kader«, gleichzeitig Erdbewohnende und Planetenhüpfende; auch spielen die Katzen eine nicht ganz durchschaubare, das Sonnensystem überschreitende Rolle. Der Weg zu »bolo'bolo« ist, wenn auch in Keimformen, vorgezeichnet. 

 

»bolo'bolo« ist nun eine strukturelle Utopie ohne erzählende Elemente, wie sie bereits nach der Jahrhundertwende einmal sehr beliebt war.3.2  Sie enthält einen Vorspann, ein Sprachenregister, und, diesem folgend, die einzelnen Elemente der Utopie aufgelistet. Hier beginne ich mit dem Sprachenregister, weil ich vorhabe, dieses ersatzlos zu streichen. Da P.M. seine Utopie als weltweite unterstellt, ganz im Gegensatz zu den eher herkömmlichen Planeten-Inseln in »Weltgeist Superstar«, muß es bei ihm ein Welt-Esperanto geben, und sei es eines, das aus 20 Grundworten besteht.3.3

Der Vorspann ist ein Mittelding von praxisleitender Exposition und Größenphantasien: Da die ökologische Krise wie die politische Verwirrung derartig vorangeschritten ist, ist praktisches Handeln bald notwendig. Entsprechend wird es erforderlich, nicht nur viele der vorgeschlagenen Gruppen zu gründen, sondern auch, sie in Dreierkombinationen zu vernetzen: je eine aus den kapitalistischen Metropolen, dem damals noch bestehenden Realsozialismus und der Dritten Welt. Dieser Prozeß wird sehr rasch vor sich gehen – schon 1985 wird die Welt schlagartig zum großen Teil aus Gruppen und ihrer Gemeinschaft bestehen.

Der Kernpunkt dieser Utopie besteht - meiner Wahrnehmung nach - aus folgenden Sachverhalten:

 

Diese Norm setzt P.M. hier ebenfalls — ohne diese Norm würde wohl auch eine Subistenz­gesellschaft nicht funktionieren —, und er hält sie auch mit eiserner Gründlichkeit durch. Diese Probleme löst P.M. durch eine weitere soziale Innovation: den elektronifizierten Naturaltausch. Nun ist, entgegen einem interessierten Klischee von der »Technik­feindlichkeit« alternativer Auffassungen, die elektronische Maschinerie mitsamt ihren Möglichkeiten immer schon gleichzeitig wenigstens am Rande der utopischen Ausformulierungen akzeptiert gewesen.

Im zeitgenössischen utopischen Schrifttum erinnere ich beispielsweise an die des niederländischen Provos, Kabouters und MEMO-Menschen Roel van Duyns »Bekenntnisse eines weisen Heinzelmännchens«3.4, an Murray Bookchins frühen »Post-scarcity-Anarchism« (auf deutsch: »Anarchismus nach der Knappheit«), an Helmut Krauchs »Computerdemokratie« auch meine eigene »Produktionseinheit Föhrenwald« (Kursbuch 43/76) weist Züge davon auf. In John Muirs »Velvet Monkey Wrench«, einem Anti-Staats-Entwurf made in USA, der strukturell, aber nur strukturell, Ähnlichkeiten mit dieser Arbeit P.M.s aufweist, nimmt die Computerbegeisterung des Autors Ausmaße an, die auch schon wieder autoritär wird, bis hin zu präapokalyptischen Dimensionen.3.5

P.M. zählt hier, angenehmerweise, zu den Gemäßigten, gleichwohl nicht Technikfeindlichen. Seine Computerisierung ist etwa mit dem Umgang eines Betriebs mit mehreren 100 Zuliefererbetrieben zu vergleichen, mit dem gravierenden Unterschied, daß die Hierarchie dieses Vorgangs in ein Ensemble von Gegenseitigkeiten sich auflöst.

Um sogleich jedes Bedenken zu zerstreuen, es handle sich bei dem Entwurf der »Gemeinschaft der Gemeinschaften« um eine asketische Veranstaltung — und dieser Eindruck ist es, mehr als alles andere, der den durchschnittlichen metropolitanen Bewohnenden die alternativen Einrichtungen und ihre Bürgerinitiativen zu verleiden pflegt —, beginnt P.M. seine exemplarische Liste gleich mit einem Handelsvertrag der Kommune Stauffacher in Zürich mit einer Kommune bei Astrachan an der Wolga, in welchem es um die regelmäßige Lieferungen von etlichen Kilogramm echten Stör-Kaviars geht. Da es sich hier um ein monopolistisches Gut handelt, nehme ich an, daß es sich bei den Kaviar-Subsistenzgruppen an der Wolga mit um die wohlhabendsten auf der Welt handeln wird: Sie werden es sich aussuchen können, mit welchen meistbietenden der anderen zehn Millionen Subsistenzgruppen sie jeweils in Naturaltausch treten wollen. 

Der angenehme Nebeneffekt dieses Verfahrens wäre, und dies würden Marxisten, Anhänger und Anhängerinnen Proudhons, Silvio Gesells, Rudolf Steiners, und vieler anderer gleichermaßen begeistern, daß eine Akkumulation von Kapital wie auch von Geld auf diese Weise unmöglich gemacht wäre. Kaviar schmeckt zwar gut, wirft aber keine Zinsen ab.

 

Aus dem bisher Geschilderten mag der Eindruck entstanden sein, als sei ich ein glühender Verehrer der Utopie »bolo'bolo« von P.M. In der Tat habe ich bis hier nichts anderes unternommen, als von dieser Utopie, in einer Zeit entstanden, als es angeblich schon keine Utopien mehr geben sollte, herauszufinden, welche dieser Momente mir für die weitergehende Diskussion von Utopien interessant zu sein scheinen. Bedauerlicherweise gibt es auch das genaue Gegenteil davon hierin, und auf dieses möchte ich nunmehr umgehend zu sprechen kommen:

 

Mit einem weiteren Kunstwort bezeichnet P.M. das zusätzliche weitere Menschenrecht jeder Person, eine Kapsel eines schnell wirkenden Giftes bei sich zu tragen, um jederzeit sich das Leben nehmen zu können. Nun mag es, wohlwollend betrachtet, ja sein, daß P.M., als Schweizer, eine relaxedere Wahrnehmung dieses Umstands sich angeeignet hat: aus deutscher, selbst aus österreichischer Perspektive ist die Erinnerung an eine mögliche Wiederkehr der Nazi-Euthanasie unabweisbar.3.6

Indes wird dieses »Menschenrecht« durch eine ständig präsente Kapsel gefährlich und dies gerade in P.M.s Kontext: Da von einem autonomen, von Gruppennormen unbeeinflußten Subjekt in P.M.s. Anthropologie ebenso wenig auszugehen ist wie in meiner eigenen, ist ein Scenario vorstellbar, in dem einer von Subsistenzgruppe zu Subsistenzgruppe wandernden behinderten, alten, psychiatrisierten, drogenabhängigen Person durch Mitglieder einer Subsistenzgruppe nach der anderen eingeredet wird, daß diese nur eine Belastung darstelle und gefälligst demnächst von der Kapsel Gebrauch machen möge.

Dies wäre von einem realutopischen Blickpunkte völlig unakzeptabel: da wäre ein erweiterter Sozialstaat mit der zentralen Norm des »independent living« bei weitem vorzuziehen. Nicht zufällig setzt auch an diesem Punkte die eher harsche Kritik des südwestdeutschen Utopisten Bernd Leßmann ein, welcher P.M. dem Verdacht aussetzt, seine Utopie im Auftrage des CIA oder eines vergleichbaren Geheimdienstes abgefaßt zu haben, als Handhabe, die je als überschüssig angesehene Population mittels Kapsel vom Acker zu schaffen. Wenn ich auch diese Kritik Bernd Leßmanns ebenso ernst nehme wie für maßlos übertrieben halte: Allein die reale Entwicklung der Subsistenzprojekte nach zehn Jahren »bolo'bolo« würden dem CIA allenfalls das Zeugnis überbordener Ineffizienz ausstellen. Auch ich war sehr erleichtert, die Kapselidee im Folgeband »Olten — alles aussteigen. Ideen für eine Welt ohne Schweiz« nicht mehr vorzufinden — sie somit nicht als im Zentrum der utopischen Intention P.M.s stehend (gnadenlos kritisch) anerkennen zu müssen.

Wie alle Utopien, die anstreben, ohne jedweden Staatsapparat auskommen zu können, muß auch P.M.s »bolo'bolo« sich der Frage stellen, wie mit aggressiv ausgetragenen Widersprüchen zwischen seinen Subsistenzgruppen umzugehen ist. Ein großer Teil der diesbezüglichen Utopien konstruiert die Prämisse, auf Grund der neuen gesellschaftlichen Situation seien die Grundlagen für aggressives Verhalten entfallen, folglich müßten auch keine Institutionen zur Bändigung gewaltförmigen Handelns vorgesehen werden. Diesen (erkenntnistheoretisch naiven) Weg wählt P.M. nicht. Ähnlich wie Ernest Callenbach sieht er selbst massenweise aggressive Konflikte vor, unterwirft diese allerdings Regelungen, um eine unerträgliche Verselbständigung dieser Konflikte zu vermeiden.3.7

Das sieht dann etwa wie folgt aus: Unter bestimmten Bedingungen, diese würden etwa feudalen Turnieren entsprechen, darf jede Gruppe gegen jede Gruppe kämpfen. Bei P.M. folgt eine mittellange austauschbare Aufzählung, wer gegen wen: Individuum-Individuum, Individuum-Gruppe, Gruppe-Gruppenverband. 

Große Aufmerksamkeit widmet der Autor hierbei den zur Anwendung gelangenden Waffen: Gestattet ist nur, was einen Face-to-Face-Kontakt der Gegner und Gegnerinnen erforderlich macht; Feuerwaffen sind ausnahmslos verboten; Hieb-, Stoß-, Stich- und Schlagwaffen ebenso ausnahmslos erlaubt. Was P.M. hier nicht ins Bewußtsein dringt, ist der Umstand, daß sein gesamter Bolo-Dezentralismus hinfällig wird, sobald Gruppen instande sind, mit bloßen Kampfdrohungen Regionen leerzufegen. 

Scenario 1 wäre: 500 Skinheads erklären, was sie nach P.M. dürfen, 400 Pazifisten den Krieg. Nicht nur diese werden naheliegenderweise flüchten, sondern wahrscheinlich auch alle jene, die wenig Lust haben, die nächsten zu sein. 

Scenario 2: Eine Vielzahl Personen aus verschiedenen Subsistenzgruppen schließt sich zusammen, um die Usurpatoren zu vertreiben. Dies kann effizent sein, aber der föderalistische Charakter ist verloren. In diesem Falle herrschen die Bürgerwehren, Ritter, Samurai, oder wie auch immer historisch die Personengruppen mit vergleichbarem Stellenwert geheißen haben mögen.

 

Hinsichtlich der übergeordneten stufenweisen Vernetzungen ist P.M. keineswegs sehr originell: Wie die kleineren Regionen jeweils die Delegierten für die größeren Regionen bestimmen, erinnert sehr an die Räteordnungen, deren Konstruktion in den Jahren 1910-1925 ja schon einmal sehr aktuell war. Wobei ich hier betone, daß dies P.M. nicht zum Vorwurf zu machen ist - aber es soll doch festgestellt werden. 

Meiner Wahrnehmung nach steht P.M.s <bolo'bolo> zu seinem späteren <Olten - alles aussteigen. Ideen für eine Welt ohne Schweiz> in einem strukturell ähnlichen Verhältnis wie Platons frühere Utopie »Politeia« zu seinem späteren »Nomoi«. Dem »besten« Gemeinwesen folgt das »zweitbeste«. Im konkreten Falle heißt dies: Die Dezentralität als Leitidee ist aufrechterhalten, doch ist die Haltung zum Staat oder zum Geld »hier und jetzt« gemäßigter. Entsprechend fallen denn auch die Horrormomente der ersten Utopie vom Typus Giftkapsel oder Waffenturnier weg.

<Olten – alles aussteigen> ist eher wie eine klassische Utopie, wie Morus' »Utopia« oder Morris' »Nirgendwo« konzipiert. Es gibt eine Rahmenhandlung, und es gibt mehrere Personen aus der Schweizer Subkultur, die Abschnitte mitverfaßt haben.3.8 Das »alles aussteigen« deutet bereits an, daß ein nicht unerheblicher Teil der Rahmenhandlung in der Bahn spielt. Das Schlußkapitel »Olten-Basra« stellt hierin noch ein hübsches Utopieverweisspiel dar: Schließlich ist es Basra, wo in H. G. Wells »Shape of Things to Come« die Weltkonferenzen zur Reorganisation der neuen Gesellschaftsordnung stattfinden. Nichtsdestoweniger spielt die Rahmenhandlung, auch darin der utopischen Tradition konform, keine andere Rolle, als die Vorzüge der utopischen Lebensweise ins rechte Licht zu rücken. 

Und letztere sieht, verkürzt gesprochen, ungefähr wie folgt aus:

»Die Welt danach« ist in 750 Regionen zerfallen. Die Auflösungsprozesse der Sowjetunion, Jugoslawiens, der Tschecho­slowakei, die regionalen Konflikte in Italien und Spanien sind für P.M. nur ein Vorschein der künftigen Weltentwicklung. In diesem Sinne ist auch »Olten« ein Auflösungsprodukt der Schweiz geworden, wie es auch in den USA Sezessions­bewegungen gegeben habe. Ob die Regionen »Staaten« sind oder nicht, hält P.M. offen: »Einige Regionen sehen noch wie Kleinstaaten aus, mit Fahnen, Hymnen, Präsidenten und dem Kram« – als ob es das wäre. Schiedsgerichte und Sicherheits­partnerschaften schützen vor regionalen »Schlägereien« (sic!) und mafiosen Strukturen. 

Die Natur erholt sich – der CO2-Gehalt bildet sich zurück, die Sonnentechnologien sind allgemein zugänglich, der Bevölkerungs­zuwachs nimmt ohne Kampagnen für Geburtenkontrolle ab. Hiermit habe ich mit der Schlußpointe des Buches begonnen. Denn die Großgruppe, die in »bolo'bolo« als Subsistenzgruppe aufgetaucht ist, erhält in »Olten« ihre Formbestimmung als »neues Nest«: »Wir brauchen ein >neues Nest<, ein realisierbares Projekt, das die heutigen Verhältnisse ablösen soll« — oder besser: »... wir brauchen vielmehr ein ganzes Bündel von Programmen, ein ganz neues Feld von Möglichkeiten, nicht nur eine Reform und ein paar Maßnahmen, sondern etwas wie eine neue Zivilisation«. 

Dies impliziert ein Zurückstufen aller großen Apparate »auf ein gesundes, allen WeltbewohnerInnen leicht zugängliches Maß«; einen Abschied von »großartigen, sozialen und technischen Pauschallösungen«; eine Vielfalt der Gesellschaftsordnungen: »Etwas Kapitalismus ist ganz praktisch für bestimmte Bereiche: Lastwagen, Elektromotoren, Gummistiefel, Rohre, Telephone. Was Lebensmittel, Energie, Wasser und Bodenverteilung betrifft, ist er jedoch ganz untauglich« – »vielleicht 15 % Kapitalismus, 20 % Sozialismus, 65 % Selbstversorgung«. In diesem Kontext stünden dann die »mittelgroßen Lebens­gemeinschaften von vielleicht 300 bis 600 Personen«, die »Großhaushalte« mit »Land/Stadt-Kombinationen« (90 ha Land, zwischen 5 und 20 km entfernt) und landwirtschaftlichen Fähigkeiten als allgemeine Sozialtechnik »wie heute lesen und schreiben«.

Die Antwortvielfalt durchsetzt in »Olten« auch den Zentralismus der Subsistenzgruppen, der in »bolo'bolo« noch allumfassend scheint: »Vielleicht genügt es, wenn 40%, 60% oder 70% der Menschen bei uns so zusammenleben.« 500? 300-600? Aber was: »In China sind das vielleicht 1.500 Menschen, in der Ukraine 700, in Graubünden 200, auf den Cook-Inseln 100.« Wie Großhaushalte auch »viele Namen« haben: P.M. zählt allein 17 weitere auf. Die Tauschverträge für Kaviar dürfen allerdings auch hier nicht fehlen. Auch gibt es alle Wohnformen nebeneinander, und die Schule ist durch »Lernketten« ersetzt oder auch durch »Akademien auf Gegenseitigkeit«. Die Selbstverwaltung kombiniert Wahlen, Los, Rotation nach dem Alphabet – auch Struktur­losigkeiten und Diktaturen auf Zeit sind möglich. 

Es gibt Geld — doch die Vielfalt der Währungen (Arbeitsstundenquoten inbegriffen) erinnert eher an mittelalterliche Usancen als an die Frankfurter Börse. Direkte Tauschabkommen stehen in positiver Idealkonkurrenz zu globalen Verrechungseinheiten. »Dieser Weltumbau muß irgendwo und irgendwann beginnen: hier und am Mittwoch«.3.9

Schließlich beerbt P.M. gegen Schluß von »Olten« auch noch die utopische Arbeitsstunden­berechungstradition, die um die Jahrhundertwende bei Kropotkin, Ballod, Pooper-Lynkeus soviel Furore machte: Landwirtschaft - verdoppeln, Gartenbau - verdoppeln, Forstwesen - verdoppeln, Bekleidung - schrumpfen, Chemie - auf ein absolutes Minimum reduzieren, Metall - vermindern, Maschinenbau - Verbrauch nimmt laufend ab, Uhren - verschwinden fast ganz (und das in der Ex-Schweiz!), Post - nimmt auf vielleicht 10% ab, Transport - Rückgang als Wirkung vieler anderer Schrumpfungsprozesse, Gesundheit - ambivalent. 

Und so weiter: Mit einem Drittel der notwendigen Arbeitszeit ließe es sich ganz bequem leben.

 

   Revonnah von Walter Neumann  

 wikipedia  Walter_G._Neumann *1947 in Hannover

Walter Neumanns utopische Erzählung <Revonnah> stammt aus dem Jahre 1986. Der exotisch klingende Name bedeutet nichts anderes als ein Anagramm auf »Hannover« (von hinten nach vorne gelesen) – jener Stadt, in welcher der Autor lebt. Ähnlich, wie der Besuch des Protagonisten in »Ökotopia« 1999 stattfindet, beschreibt Walter Neumann »Liebe und Gesellschaft im Jahre 2020«: Der ökologische Umbau Hannovers hat stattgefunden. Die utopische Gesellschaft ist gerade 16 Jahre alt. 

»Zu dieser Zeit gibt es keine Staaten, Grenzen, kein Geld, keine Pflichten, keine Moral, keinen Zwang zur Arbeit, keine sexuellen Hemmungen, keine Erziehung mehr...« Eifersucht ist bei jüngeren Menschen unbekannt. Langfristige erotische Verbindungen sind »ungewöhnlich«. Auf Grund neuer Forschungsergebnisse sind mechanische oder chemische Mittel der Empfängnisverhütung nicht mehr nötig. Die sexuelle Initiative geht von den Frauen aus. Weder Alte noch Junge, weder Behinderte noch Häßliche sind von der Erotik ausgeschlossen. 

Aus den ehemaligen Banken, Geschäftshäusern und Verwaltungen sind Veranstaltungsräume geworden, für Ausstellungen, Filmvorführungen, Vorträge, die in Selbstorganisation erfolgen. Anstelle der Schule wählen sich die Kinder und Jugendlichen Lehrstoff und Lernziele frei, begleitet von Rat und Tat älterer Freiwilliger (die keine Lehrer oder Lehrerinnen sind); eine selbstorganisierte Tätigkeit. Die Menschen leben in Kommune-Häusern, ohne Beton und Eisen, mit Anbauflächen für biologische Produkte. »Die neuen Häuser stehen meist auf Pfählen. Unter ihnen wird der Abfall verwertet.« Es gibt Windgeneratoren, Biogasanlagen, Mikroelektronik — diese für Küchen mit großem Eßsaal.

Der »Morgen« mit seinem Frühstück beginnt erst um 10 Uhr vormittags. Radio, Telefon und Fernsehen werden nur noch als Abrufinstrumente für Informationen, als Dienstleistungs­einrichtungen verwendet. Diese, eine Art Mail-Box, haben auch die Presse ersetzt. Haustiere sind häufig, etwa zur Milchversorgung. Die Häuser verfügen über Fußbodenheizungen, Gemeinschaftsräume, Bibliotheken, Musikzimmer und Ateliers. Sie sind nicht höher als 3 Stockwerke. Hochhäuser und Stahlbetonfertigbauten sind abgetragen worden. Die verbliebenen alten Häuser dienen als Gästezimmer, Versammlungsräume, Lebensmittel­lagerstätten.

Die ehemaligen Städte sind in bestimmte Einheiten von Einwohnern und Häusern dezentralisiert worden. Diese föderalisieren sich mittels Räten. Das Land wurde verstädtert, die Städte verländlicht. Die Räte fungieren vor allem als Kontrollinstanz für das ansonsten selbstorganisierte Bauen; mit Holz, Stein und Grün. Glas und Metall werden wiederverwertet. Autos gibt es zwar noch, aber sie sind selten geworden. Güterfernverkehr erfolgt durch Eisenbahnen. Die Kleider werden selbst genäht, Möbel in regionalen Werkstätten hergestellt. Die ehemaligen Autostraßen sind mit Gras überwachsen, hingegen befinden sich die Fahrradwege in guter Verfassung. Jedes Mitglied einer Region muß eine Woche im Jahr bei der Eisenbahn arbeiten. Ansonsten beträgt der durchschnittliche Normalarbeitstag zwei Stunden. Die Hausarbeit gilt, wie die Produktion lebensnotwendiger Güter, als notwendige Arbeit. Gefährliche Sportarten sind abgeschafft. Jedes Kommunehaus hat Gästeschlafplätze. Auch die Männer tragen im Sommer Kleider. Nacktheit erregt, ähnlich wie bei der FKK, keine Begierde mehr. Die Grammatik ist vereinfacht, die Kleinschreibung allgemein eingeführt (was Walter Neumann auch in diesem seinem Buch vorwegnimmt). Gelesen wird viel, die Bücherproduktion ist groß, wenn auch mit kleinen Auflagen. Wie auch bei Callenbach, spielen Yoga und Meditation eine große Rolle; wie auch bei H.G. Wells, Waschungen des Körpers mit kaltem Wasser. 

 

Nun kommt – was ja auch bei Thomas Morus den ganzen ersten Teil der Erzählung ausmacht – eine ausführliche, dialogisch zwischen zwei Hauptpersonen strukturierte Erzählung der »alten Zeit«, d.h. die Darstellung jenes schlechten Bestehenden, deren Negativfolie die Utopie ausmacht. Diese überspringe ich hier weitgehend, beschränke mich nur auf jene Passagen, die als Einschübe Aussagen über die »neue Zeit« treffen. Zeit ist nur noch vom natürlichen Rhythmus des Menschen abhängig. Das Jahr ist in 5 »Monate« eingeteilt, der Tag in 6 »Phasen«: Nachtzeit; Ausschlafen/Austräumen; Reflexion/Vernunft; Arbeit/warmes Essen (sic!); Entspannung /Studium /Musizieren; Kommunikation - »weil der Mensch am späten Abend an kommunikativsten ist«. 

 

Fraglos hellsichtig ist – 1986 – die Bemerkung: »Auch die Übergangs­gesellschaften zum Kapitalismus, die absolutistischen Staaten einfacher Warenproduktion des Ostens, waren eine weitere, zu Beginn der Neunziger­jahre profitable Einnahmequelle«. Dies denunziert auch die häufig anzutreffende Behauptung, niemand hätte die Tendenzen im Osten prognostiziert.

In Fortsetzung der Utopie unternehmen die beiden Hauptfiguren eine Radtour. Häuser werden nicht mehr abgesperrt. Fahrräder stehen leihweise unentgeltlich zur Verfügung (wie bei den Provos, wie bei Callenbach). Die Kanalisation ist überflüssig geworden: jedes Haus hat seine eigene Abwasser­bereinigungs­anlage. Eine alte Fabrik ist zum VW-Museum geworden. 

Sollte es einmal doch ein Verbrechen geben, entscheidet der Kommunalrat, der Stadtrat oder jener des Landes, aber alle fühlen sich mitverantwortlich. Allerdings gibt es keine Strafen. Nach 2004 hat es große Forschungen gegeben, deren Inhalt die Wiederherstellung des Weltklimas und die Reduzierung der Radioaktivität gewesen ist.

Da aus der »alten Welt« die meisten Geräte noch vorhanden sind, muß zumeist vieles (Neumann erwähnt Waschmaschinen) nur instandgehalten, repariert oder sporadisch nachgebaut werden. Die Erhaltung und Entwicklung von Mikroprozessoren bereitet unter den neuen Bedingungen noch Probleme. Viele Fertigkeiten werden durch Rotation angeeignet. Der Transport erfolgt durch Verbrauchergenossenschaften. Die Produktion ist klein und dezentralisiert; es bedarf keines »Plans«. 

Das Abenteuer eines anderen Denkens und einer eigenen selbstbestimmten Gesellschaft ersetzt Drogen, elektronische Medien, Fußballfans, Pop-Konzerte. Philosophie und Ökologie sind die Leitwissenschaften. In der Räteversammlung, die anschließend geschildert wird, gibt es wiederum eine Diskussion über Sexualität. Die Regeln für männliches und weibliches Verhalten bestimmen Frauenkommunikationsgruppen, den Räten gleichgestellt, »früher Hexentribunal genannt«. Ansonsten bringt, inhaltlich gesehen, die Räteversammlung wenig neues, abgesehen von einer hübschen Parodie auf politische Gruppen der Siebziger-/Achtzigerjahre.

Weiterhin gibt es keine Hierarchie in den Krankenhäusern mehr; Schwestern sind Ärzte und Ärzte Schwestern — und beide arbeiten (wenn es sich nicht gerade um Chirurgie nach Unfällen handelt) mit Naturheilkunde und Psychosomatik. Im Schlußkapitel schlägt der Autor eine Volte (wie sie zuweilen auch bei anderen utopischen Autoren vorkommt): In einer Bibliothek entdeckt die weibliche Hauptfigur unter anderen das Buch »Revonnah« und kritisiert es. Die Utopie beschließt ein Manifest, die die Vorstellungen ersterens noch einmal in gebundener Form auf knappen sechs Seiten wiederholt:

Häufig eingestreut sind philosophische Abhandlungen, die zumeist Hegel, Marx und Freud, gelegentlich auch Simone de Beauvoir und Luce Irigaray variieren, die dem Autor auch sehr wichtig sind, weil sie das von ihm als realutopisch beanspruchte »neue Denken« veranschaulichen. Diese Ideen können jedoch nicht ohne weiteres in Kurzfassung wiedergegeben werden. Ebenso ist das abschließende Manifest nur auszugsweise wiedergegeben.

 

   Metamorphose - von Bernd Leßmann  

https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=Bernd+Lessmann+metamorphose

Kurz will ich auch auf die in den Achtzigerjahren entstandene Utopie <Metamorphose> des baden-württembergischen Autors Bernd Leßmann eingehen. Stärker noch als Ernest Callenbach oder Walter Neumann präsentiert uns Bernd Leßmann ein schier unüberschaubares Geflecht vieler Personen, welche sich ökologistisch, etwa gegen den Bau von Atomkraftwerken, engagieren. Auch ist die Erzählung in eine Vielfalt von dramatischen Szenen aufgelöst, die auch eine Aufführung als Theaterstück denkbar sein ließe. 

Die ökologistische Dynamik und die dramaturgische Gestaltung sind es indes nicht, die die »Metamorphose« – obwohl ich kaum glaube, daß sehr viele Lesende schon den Namen Bernd Leßmann gehört haben – zu einer der herausragenden unter den neueren zentraleuropäischen Utopien machen. 

Das Bemerkenswerte an ihr ist der sorgfältig ausgearbeitete basisdemokratische Impetus, der in allen Details anschaulich gemacht wird: Die in diesem Buch auftretenden Bürgerinitiativen kommen schließlich zum Erfolg, weil sie in einer Serie von Urabstimmungen Mehrheiten bekommen. Diese Urabstimmungen werden nun ausnahmslos mit Hilfe der elektronischen Maschinerie durchgeführt, machen somit anschaulich, wie leicht es möglich wäre, die Entscheidungen politischer Willensbildung der direkten Demokratie zu übertragen – und Vertretungskörperschaften nur subsidiär weiterhin damit zu betrauen. 

Letztlich kombiniert Bernd Leßmann die Impulse der Aktion für direkte Demokratie, die mit dem Namen Joseph Beuys' auch nach dessen Tode verbunden bleibt, mit dem Plädoyer für Einsatzmöglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung zu basisdemokratischen Zielen (wie sie, beispielsweise, in Helmut Krauchs »Computer-Demokratie« zum Ausdruck kommen).

Daß das Ergebnis elektronifizierter Urabstimmungen dann auch noch geschichtsmächtig wird – vielleicht besteht eher darin die Utopie Bernd Leßmanns, als in den Hoffnung gebenden Methoden.

 

    Emilio Modena  

Daß es auch vom psychoanalytischen Gesichtspunkte aus möglich ist, utopisches Schrifttum abzufassen, hat der Züricher Psychoanalytiker Emilio Modena in seinem Beitrag »Psychoökologie« im Sammelband »Das schmutzige Paradies« (S. 259 ff) nachgewiesen. Zwar habe ich diesem Umstand bereits einmal dokumentiert, doch da ich davon ausgehe, daß vorliegender Band aller Voraussicht nach wiederum von ganz anderen Leuten gelesen wird, will ich dies hier, wenn auch verkürzt, wiederholen.3.10

Emilio Modenas Voraussetzungen:

Schließlich endet der Autor mit der »Notwendigkeit einer erotischen Utopie«, die in der Nachbarschaft der Forschungen Malinowskis und des frühen Wilhelm Reich steht. 

Da ihm eine »totalisierende Sicht eines neuen ... Gemeinwesen ... fehlt«, sind Identitätsschwäche und Motivationsschwund die Folge. Eine »erotische Utopie« könnte neue emanzipatorische Kräfte freisetzen:

 

»Von der ersten Klasse der Privatschule an gibt es in Utopia das Hauptfach "Lebenskunde", wo die Kinder nicht nur über Anatomie und Physiologie der Sexualorgane, sondern auch über die Psychologie der Liebe und über das Gesamtgebiet der Sexualität und der Erotik unterrichtet werden, denn Lieben ist dort ebenso wichtig und grundlegend wie Rechnen und Schreiben. 

Der Staat stellt Jugendlichen von der Pubertät an Jugendwohnhäuser zur Verfügung, wo man nach freier Wahl in kleinen Gruppen zusammenlebt. In diesen Gruppen herrscht ein freier sexueller Umgang, wobei andererseits jeder Zwang verpönt ist. Wenn Probleme auftauchen, stehen ein wirksamer psychologischer Beratungsdienst und Vermittlungsstellen für andere Wohngruppen zur Verfügung. Entsprechend der Jugendlichkeit der Leute wird ja von vornherein mit häufigen Wechseln gerechnet. Die Menschen bleiben in diesen Jugendwohngruppen so lange, bis sie ihre sexuellen Vorlieben und Abneigungen genau kennengelernt haben.

Da die Utopiker nicht zwischen Sex und Gefühl abspalten, sind die sexuellen Abenteuer zugleich Erkundungen in die Psychologie der anderen Menschen. So ist meistens mit 20 Jahren eine erste Reife erreicht. Nun wählen die Menschen frei, wie sie weiter leben möchten: allein, zu zweit, zu dritt oder wieder in größeren Gruppen. Eine effiziente staatliche Wohnungsvermittlung unterstützt sie dabei. Die Verhältnisse, die jetzt eingegangen werden, haben einen stabileren Charakter. Diejenigen, die zusammen wohnen, haben untereinander zärtliche Beziehungen, man/frau kann, muß jedoch nicht miteinander schlafen. 

Wichtiger ist das allgemeine Interesse aneinander und die solidarische Unterstützung der Wohnpartner. Da auch Zweier-Beziehungen durchaus möglich sind, sind weder homo- noch heterosexuelle Paare gegenüber den Alleinwohnenden oder den Wohngemeinschaften benachteiligt. Die ganze Stadt ist ferner von einem Netz von Begegnungs- oder Eroszentren überzogen, wo je nachdem Gelegenheiten zu kultureller, sportlicher oder einfach geselliger Betätigung geboten wird. Hier trifft man sich nach der Arbeit, ißt und trinkt, besucht Sauna und Bad, spielt miteinander und kann sich jederzeit in Separatzimmer zurückziehen, wo sich zwei oder mehr Leute lieben können. In diesen Zentren sorgen speziell ausgebildete Animatoren - Männer und Frauen - für eine freundliche und spielerische Atmosphäre. Sie helfen auch Schüchternen oder Gehandicapten (sic! R.S.) bei der Suche nach Partnern. Für aggressiv Gestimmte gibt es spezielle Aggressionsräume, wo man miteinander ringen oder gegeneinander boxen kann. 

Auch gibt es dort raffinierte Spielautomaten, wo sadistische Phantasien ausagiert werden können. Mindestens einmal monatlich werden in jeden Quartier Feste organisiert, damit sich die Leute kennen und lieben lernen können. Die Festkomitees werden von der Bevölkerung jährlich gewählt. Aus diesen Quartierfest-Komitees werden dann alle vier Jahre die Mitglieder der Gemeindeverwaltung und Regierung gewählt. Zwischen den einzelnen Fest-Komitees besteht natürlich eine große Rivalität, denn ein Fest in Utopia ist eine sehr ernste Sache. Das Ziel der Verbrüderung und Verschwesterung der Bevölkerung kann ja auf ganz verschiedene Arten erreicht werden, sei es unter vorwiegender Zuhilfenahme von künstlerischen Mitteln wie Gesang und Musik, Kunsthappenings, Theater, Dichtung, Tanzvorführungen oder aber durch die gemeinsame Einnahme von berauschenden Drogen wie Alkohol, Haschisch, Psilocybin etc. Über die Wirkung und Perfektionierung der einzelnen transzendentalen Techniken wird an der Universität geforscht, ein Forschungszweig, der großzügig vom "Ministerium für Feste und Ekstase" unterstützt wird, während ein anderes Ministerium, jenes für "Transkulturelle Erotik", im ständigen Erfahrungsaustausch mit den entsprechenden ausländischen Stellen steht...«

 

Was immer im einzelnen zu den Utopien Emilo Modenas gedacht werden kann (dies betrifft selbstredend auch alle anderen hier dargestellten Fragmente), es erscheint mir für unser Thema, doch mehreres bemerkenswert. Zum einen weist der Text durch seine Existenz nach, daß es grundsätzlich möglich ist, aus einer je spezifischen Fachorientierung Realutopien abzufassen. Zweitens wird anschaulich gemacht, daß es kein Naturgesetz ist, daß Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen über Sigmund Freuds Fund, Sexualität sei eines der bestimmenden Momente der Entstehung von Kultur, so erschrocken zu sein haben, daß dieser Fund umgehend durch ein besonders ausdrückliches Wohlverhalten wieder kanalisiert werden muß. Womit ich hier die Theoriearbeit meine, die, je nach Schule, vor Verdrängungen, Symbolisierungen oder Verwerfungen nur so strotzt — und sicher keine Aufforderung zum Ausagieren in der Realität selbst. Drittens beeindruckt der Text methodisch: Emilio Modena führt gleichsam eine Zukunftswerkstatt mit sich selbst durch.

Nur der vollständigkeitshalber sei erwähnt (es ist schon mehrere Jahrzehnte her), daß nicht nur Verhaltens­therapeuten (Skinner, Ardila) und Psychoanalytiker (Modena) Utopien geschrieben haben, sondern auch der Mitbegründer der Gestalttherapie, Paul Goodman. Dieser, ebenfalls in der dezentralistisch-autonomistisch-institutionskritischen Tendenz, hat vor allem Utopien zu einem anderen Bildungswesen und zu einer humaneren Architektur abgefaßt.

 

Abschließend sei ausdrücklich auf den bedeutenden Stellenwert hingewiesen, den unter den zeitgenössischen Utopien Frauenutopien und feministische Utopien einnehmen: In ihrem Aufsatz »Utopien der anderen Subjekte« hat Barbara Holland-Cunz zu Recht darauf hingewiesen, daß die Vielzahl der neu aufgetretenen Entwürfe weiblicher Utopistinnen so gut wie unbekannt geblieben ist:

»Daß das derzeit etwa in Anschluß an Joachim Fest (1991) postulierte Utopieverbot nicht ausdrücklich Utopistinnen trifft, liegt demnach weder in allgemeiner Vorliebe für feministische Visionen noch in galanter paternalistischer Höflichkeit begründet. Es ist Ausdruck schlichter Unkenntnis und Ignoranz und zementiert den strukturellen Ausschluß ''weiblicher'' Entwürfe aus androzentrischer, ideengeschichtlicher (Selbst-)Reflexion. Keine andere gesellschaftlichen Gruppe hat in den letzten zwanzig Jahren eine den feministischen Utopistinnen vergleichbare Fülle utopischer Entwürfe vorgelegt (sic)!«3.11 

Neben den bereits Genannten zählt Holland-Cunz » in der Chronologie ihrer Publikation seit 1969« auf: Monique Wittigs »Les Guerilleres«, Ursula Le Guins »The left Hand of Darkness«, Joanna Russ' »The Female Man«, Suzy McKee Charnas' »Motherlands«, Sally Gearharts »The Wanderground«, Doris Lessings »The Marriages Between Zone Three, Four, And Five«, Rochelle Singers »The Demeter Flower«.3.12  

Diese Aufzählung versteht sich als exemplarisch; eine Fülle weiterer wird von der Autorin in »Utopien der Neuen Frauen­bewegung, Gesellschaftsentwürfe im Kontext feministischer Theorie und Praxis« (Meitingen 1988) besprochen. Ausnahmslos beziehen die Normen der genannten Autorinnen sich auf die »Neukonstitution des Geschlechter­verhältnisses und, als damit untrennbar verbunden, den Entwurf eines nicht-herrschaftlichen gesellschaftlichen Naturverhältnisses«. 

Alle genannten Texte resultieren in einem »offenen, ungesicherten Ausgang der Visionen«. Sie sind »zugleich Utopien und Dystopien; dystopische Szenen und die ungewisse Zukunft des utopischen Gemeinwesens prägen durchgängig das literarische Bild«. Dies ist »ein prekärer Blick auf die patriarchale Welt in ihrer Zukunft ..., mit der Möglichkeit (gar Wahrscheinlichkeit) des Scheiterns von Freiheit durchsetzt«. »Die utopischen Gemeinwesen der Frauen (und Männer), die von den Utopistinnen der vergangenen zwei Jahrzehnte entworfen wurden, konstituieren sich als Kontrastbild zur lebensfeindlichen patriarchalen Realität und ihrer fiktionalen Abbildung.« 

Als Normen dieser utopischen Gemeinwesen arbeitet nun Barbara Holland-Cunz heraus: basisdemokratische politische Entscheidungsstruktur; radikale Dezentralisierung politischer Macht; die Kommune als wichtigster Ort gesellschaftlichen Handelns — in ihre Gleichzeitigkeit von öffentlichem politischen Terrain und Alltags-Raum —; private Vergesellschaftung der Hausarbeit (großfamilienähnliche Lebensformen, gemeinschaftliche soziale Mutterschaft); ökologische Selbstbeschränkung einer subsistenzorientierten Produktion (Beschränkung auf die Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse); notwendige Arbeit (nicht mehr geschlechtsspezifisch geteilt) wird als »unverzichtbarer Bestandteil von Leben(digkeit) erfahren und organisiert«. Die »Bindung an das menschliche und natürliche Gegenüber und die individuelle Verantwortlichkeit für das selbstgeschaffene Gemeinwesen werden zu Leitlinien utopischer Politik und Ökonomie. Daß dies nicht zu kollektivistischer Ent-Individualisierung, zu repressiver Vereinheitlichung und Vergemeinschaftung führen muß, ist eine aus weiblichem Sozialcharakter und weiblicher Erfahrung und Lebenspraxis gewonnene Erkenntnis.« 

Innovativ sind, Holland-Cunz zufolge, vor allem die Dialektik von materiellem Mangel und emotionaler Fülle, von persönlicher Freiheit und gemeinschaftlicher Bindung als wechselseitige Bedingungen ihrer Möglichkeit; ebenso die Rolle der »Produktion des Lebens selbst«, die radikale Auflösung der Kleinfamilie, die private Form der Vergesellschaftung der Hausarbeit; vor allem auch, daß hier Alltag und Freundschaft veröffentlicht und vergesellschaftet werden. Die gegründeten utopischen Gemeinwesen werden als Projekte des Überlebens deklariert. Wiederum sind die Texte »nichtteleologisch« (kein Ziel, nur ein möglicher Ausgang der Geschichte — nicht einmal der wahrscheinliche), »antitotalitär« (radikaldemokratisch und sozial innovativ) und »verzeitlicht« (prozessual; eher ein dringlicher Wandel — als ein programmatischer) »nicht deterministisch« (wer weiß, was kommen wird?...).

 

   Planet der Habenichtse  

Le Guin bei detopia

Ursula Le Guins »Planet der Habenichtse« wird von Frank Fahlke in prägnanter Kürze wie folgt beschrieben: 

Das Gesellschaftssystem des Planeten Anarres beansprucht Harmonie und Konfliktfreiheit, jedoch auf der Grundlage antiautoritärer, individualistischer Normen, folglich als stets prekäres Experiment. Der Planet ist wüstenähnlich, die Ressourcen sind knapp, das ökologische Gleichgewicht labil. Die Normen der gemeinschaftlichen Arbeit entsprächen einer »Assoziation freier Produzenten«: kein Privateigentum, kein Geld, keine hierarchischen Betriebsstrukturen, freiwillige Assoziationen in dezentralen Kommunen, die »durch Transport- und Kommunikationssysteme miteinander verbunden sind«, ergänzt durch zentrale Koordinationen ohne Befehlsgewalt. 

Infolge der labilen ökologischen Lage eine insgesamt »gebremste Ökonomie«, mit alternativen Technologien und einer kaum beschränkten Mobilität zur arbeitsteiligen körperlichen Arbeit. Dies ist nun auch zu einer Art »ersten Lebens­bedürfnisses« geworden: Die Planetenbewohnenden »empfinden die meisten Arbeiten als persönliche Herausforderung, deren Bewältigung ihnen individuelle Freude verschafft. Das solidarische Miteinander läßt die Arbeit zum Spiel werden.« 

Geistige und körperliche Arbeit, Arbeit und Muße sind nicht mehr abgegrenzt. Die Normen des Konsumverzichts werden durch »geselliges Kommunizieren, das Ausleben der völlig liberalisierten Sexualität und die Entwicklung der kreativen Fähigkeiten auf künstlerischem Gebiet« kompensiert. Gleichzeitig weist die Utopie Ursula Le Guins prozessualen Charakter auf: Bürokratisierungstendenzen, informelle Machtstrukturen, gegenseitige Hilfe als angepaßter Gehorsam, Experten und Stabilität als Weg zu raumübergreifenden autoritären Impulsen gefährden (ergänzt durch die Ausgrenzung jener, die die Normen bewahren wollen) das Gemeinwesen. 

Der Ausgang, wer sich wohl durchsetzen werde, ist offen: eine »open-ended utopia«. Der »Einbau dystopischer Elemente in das utopische Szenario bricht mit der Illusion eines geschichtsphilosophisch begründeten, linear gedachten sozialen und menschlichen Fortschritts, der in den Fortschrittsutopien von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte«. 

 

Im Marge Piercys »Woman on the Edge of Time« gewinnt, Hans Ullrich Seeber zufolge, die ökofeministische Perspektive programmatischen Charakter. Ihr ist »Herrschaft über die Natur und Herrschaft über Frauen ... Ausdruck einer männlichen Ingenieursmentalität, welche die Umwelt, seien es Frauen oder die Natur, zu Objekten des eigenen Herrschafts- und Spieltriebs degradiert.« 

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Die ökofeministische Zukunftsutopie Mattapoisetts hebt sich »vom metropolitanen Chaos der zerstörten Umwelt, der Zuhälter und der anonymen Wissenschaftler positiv« ab. An Normen Mattapoisetts — abgesehen von der ohnehin konsentierten Vision ländlich / dezentralisiert / gleichwohl hochtechnisiert / holistische Ganzheit / ökologisches Denken / Konsensfindung durch Gespräch /Abbau von Hierarchien — führt Hans Ulrich Seeber an: 

»... strikte Geburtenkontrolle, Ersetzung der Familie herkömmlicher Art durch Dreiergruppen von verschiedenen Erziehenden (»comothers«), Abschaffung der klassischen Vaterrolle durch künstliche Befruchtung, Wegfall der Blutsverwandtschaft und Auflösung der Familie, radikale Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft, Aufhebung des geschlechtsspezifischen Rollenverhaltens, hochautomatisierte Produktion, biologischer Landbau, ökologisch unschädliche Herstellungs- und Transportmethoden«. 

Einige der Normen, der Autor weist zuerst darauf hin, sind bereits in negativen Utopien (etwa in Huxleys »Schöne neue Welt«) parodiert worden und lassen H.U. Seeber »erschauern«. 

Indes: »Als Herausforderung des Denkens möchte man (sic!) solche Fiktionen dennoch nicht missen. Und da der Problemdruck ständig größer, nicht kleiner wird, ist weder wünschbar noch erwartbar, daß sie verschwinden. Der wirkliche Trend dürfte aber darauf hinauslaufen, die Leonardo-Welt der künstlichen Apparaturen zu vervollkommnen, also — beispielsweise mit Hilfe der Kernfusion und der Gentechnik — technische Lösungen zu suchen und es im wesentlichen bei den vorhandenen Sozialstrukturen zu belassen.« 

Die Ironie des Schlußsatzes besteht nun darin, daß genau dieser »wirkliche Trend« die utopische Spirale in Gang hält: Irgend­wann wird derselbe derart unerträglich werden, daß er als seine bestimmte Negation genau jene antitechnischen Wunschwelten hervorbringen wird, die noch mehr »erschauern« lassen werden.

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Anmerkungen

 

 

  detopia.de      ^^^^  

 Rolf Schwendter - Utopien