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Was ging meiner Armeezeit eigentlich voraus? An die Musterung habe ich kaum noch Erinnerungen. Nur das dies alles im Frühjahr 1977 für mich sehr schnell ging. In einem anderen System wäre ich als Unsportlicher (durch akutes Gelenkrheuma mit fünf Jahren) ausgemustert worden. Aber in der DDR wurde Frank Schütze eingezogen. Tauglich!

Hauptsache man konnte eine Waffe in die Hand nehmen und laufen. Sozusagen nur menschliches Kanonenfutter, nach typisch russischem Vorbild! Später im Panzerregiment begegnete mir mit Günter K. aus Greiffenberg ein Kamerad, der sogar als Herzkranker eingezogen wurde. Schon damals, als Zwanzigjähriger, bekam er regelmäßig Herzanfälle. So lag er eines Tages, wie aus heiterem Himmel, auf dem Boden und wand sich vor Schmerzen. Als Soldat war er nicht zu gebrauchen, deshalb wurde er zum Handlanger für die Offiziere. Häufig mußte er in der Offiziersküche servieren.

Dergleichen hat sich dann nach meinem Eindruck in den letzten Jahren der DDR noch verstärkt. In meinem letzten Reservisten­dienst (1988, Karow, Mecklenburg) ist mir ein Soldat mit einem künstlichen Hüftgelenk begegnet. Theoretisch war er zwar von vielem befreit, aber das galt dann bei der Ausbildung im Sanitätsbataillon nichts mehr. Er mußte immer alles mitmachen!

Den Ernst der Einberufung begriff ich erst, als mir meine zweiteilige Blechmarke (meine Soldatenidentität) übergeben wurde. Natürlich hoffte man, nicht an die vorderste Front in die Kampfregimenter, zu müssen. Das tat wohl im Innersten jeder. Es gab auch genügend Standorte, wo die Wehrpflichtigen (den Erzählungen nach) relativ ruhig lebten. Später habe ich solche auch selbst kennengelernt. Aber ein Doktorsöhnchen mit Abitur kommt da nicht hin, dafür haben die "Kommunisten" gesorgt. Ganz nach vorn mit dem. Damals konnte ich die Perversität dieser linken Machthaber überhaupt nicht ahnen. In diesem Alter fehlt dafür einfach die Lebenserfahrung.

So kam ich ins Panzerregiment nach Torgelow, echte Kampftruppe der NVA. Front! Irgendwann im Oktober 1977 findet sich in Schwedt der Anfang meiner Erinnerung. Vor einem Spiegel stehend, lasse ich mir von meinem Vater das Naßrasieren zeigen! Dann, Anfang November 1977, kommt der Abschied. Bestimmt hat Mutter aus dem Fenster gesehen und für den ersten Urlaub Ente versprochen. Das war mein Lieblingsgericht. 

Zusammen mit Dirk Stadie machten wir uns auf den Weg zum Einberufungs­treffpunkt der Schwedter Jugend. Die Flasche Schnaps, die wir gekauft hatten, mußten wir gleich im Wehrkreis­kommando abgeben. Noch heute sehe ich uns an diesem zweiten Novembertag im Wehrkreis­kommando Schwedt stehen. Hier geht nun die ganze "Scheiße" richtig los!

 

[Jugendfoto]

 

Es war ein düsterer und regnerischer Novembertag, ein ganz typischer deutscher Herbsttag. Bis zum Sammeltransport, der in Angermünde hielt, begleiteten uns Genossen des Wehrkreiskommandos. Mit einem D-Zug (mehrere Streifen-Kommandanten­dienst -KD) ging es dann bis auf ein Sondergleis in Torgelow-Spechtberg. Normalerweise war dies eine Verladestation für die dort stationierten zwei Panzerregimenter. Am späten Nachmittag kamen wir auf diesem umfunktionierten Verladegleis an.

Viele junge Männer aus der ganzen DDR, möglichst wenig aus der jeweiligen Region. Bedingt durch den harten Alltag, welchen die Soldaten und Unteroffiziere hier erfahren sollten, wollte man die eigenen Offiziere nicht unnötig in Gefahr bringen oder die Bevölkerung der Umgebung beunruhigen.

Mit einer lauten Sprechanlage wurden alle Namen aufgerufen. Jeder einzeln und seiner zukünftigen Einheit zugeteilt. Auf eine Art war das spannend, man wußte ja nicht wohin man kam.

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Auf die andere Art sehr gruselig – das zweite Panzerbataillon, dem ich zugeteilt wurde, lag in Zelten. Die dazugehörige Kaserne wurde gerade renoviert.

Viel Schlamm und Regen und reihenweise standen Landser (Armeejargon für Soldaten) hintereinander an den Zäunen und brüllten zu uns: "Hugos, Hugos, Hugos...!"An diesem ersten Tag konnten wir noch nicht wissen, daß der Hugo der Ladeschütze im Tiger (bester Panzer der Nationalsozialisten) war. In der Hierarchie der sozialistischen Volksarmee der Letzte, das erste Diensthalbjahr. Ladeschütze war derjenige, der die Granate in das Panzerrohr einlegen mußte. In den russischen Panzern (T55) wurde dies noch per Hand getan. Zur Besatzung des T55 gehörten 4 Mann; neben dem Ladeschützen, ein Richtschütze (der mußte zielen), ein Kommandant und ein Panzerfahrer.

Als Kommandant und Panzerfahrer wurden bis auf wenige Ausnahmen Unteroffiziere eingesetzt, die drei Jahre dienten. Davon das erste Diensthalbjahr auf einer Unteroffiziersschule als sogenannter Unteroffiziersschüler. U-Schüler waren in der Hierarchie der damaligen NVA die allerletzten und wurden gerade von den Landsern bei jeder Gelegenheit verarscht. Denen wurde von den Entlassungskandidaten (EK's) besonders gern das Bandmaß gezeigt. Über 1000 Tage hatten die Ärmsten bei der Volksarmee des Arbeiter- und Bauernstaates vor sich. Und das konnte eine sehr, sehr lange Zeit werden! 

Viel einfacher als die Soldaten hatten es die Unteroffiziere (im Armeejargon auch Kapo) dann später jedoch nicht. Die Kapos wurden im Bataillon mindestens genauso rangenommen wie die normalen Landser. Das waren echt arme Schweine. Zimmerweise haben sie geheult, das habe ich in der sechsten Panzerkompanie selbst gesehen, wenn die Soldaten ihres Einberufungsjahrganges endlich nach Hause gehen konnten, also ihre notwendigen achtzehn Monate hinter sich gebracht hatten. Sie mußten dann noch einmal so lange ausharren. Bei den Soldaten war der "Scheiß" nach 545 Tagen endgültig vorbei.

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Hugo und Richtschütze waren normale Grundwehrdienstler (18 Monate). Im ersten Diensthalbjahr war man Hugo, später im zweiten oder dritten Diensthalbjahr stieg man normalerweise zum Richtschützen auf. Der Hugo war die "Dienstmagd" der jeweiligen Panzerbesatzung und mußte alle niederen Arbeiten verrichten. Dementsprechend wurde er auch behandelt und schikaniert. Eine ganz besonders arme Sau!

Die ersten Eindrücke aus Spechtberg finden sich in einem Brief an meine Eltern (Torg., 02. November 1977):

"Angekommen sind wir einigermaßen gut. Bin dann doch bei den Panzern – als Ladeschütze. Schlimmer konnte es fast nicht kommen. ... in puncto Job habe ich einen Volltreffer gezogen – Ladeschütze; zumindest im ersten Halbjahr. Nach Dienstschluß Panzerputzen uswl"

Im Brief findet sich zufällig eine Liste, von dem was der Soldat Schütze sofort braucht:

1. Taschenlampe
2. Ohrstopfer
3. Schere
4. Büchse Bierschinken
5. Saft oder ähnliches
6. Obst und Gemüse immer
7. So viele Strümpfe wie möglich
8. Fußlappen

Auffällig an dieser ersten Wunschliste des Soldaten Schütze der Ruf nach Verpflegung. So besonders gut und abwechslungsreich war die Versorgung der Soldaten nicht. Tomaten, Käse oder überhaupt Suppen rührte ich vorher nicht an. Erst in Torgelow kam ich auf den Geschmack. Hier mußte man essen, was angeboten wurde. Immer hatte ich gute Zähne, erst die schlechte Ernährung während der NVA-Zeit brachte mir Karies ein. Es fehlte vor allem an Vitaminen.

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Nach den ersten abgeleisteten Tagen bei der NVA wird es dann schon genauer:

Torg., 08. November 1977

"... mir geht es einigermaßen. Dienst ist jetzt anstrengend geworden. Von 6.00 Uhr (Frühsport) bis 18.45 Uhr geht's rund. Dann Stuben und Schrank reinigen, so daß wir erst ab 20.00 Uhr Freizeit haben. Wir sind hier vom ersten Tag an im Zeltlager, die Kaserne unseres 2. PB (Panzerbataillon) wird renoviert. Zwei Öfen und vier Tische für zwanzig Mann.
Am Tage geht es, aber nachts wird's sehr schnell kalt. Trainingsanzug dürfen wir uns (nachts) nicht anziehen – Befehl vom Spieß (Hauptfeldwebel; "Mutter" der Kompanie), ... da klappert man sich früh morgens ganz schön einen ab.
Um 6.00 Uhr heißt es aufstehen und Frühsport machen. Es sieht so aus als ob ich die Grundausbildung durchhalte. Dann geht's als Ladeschütze bis Mai in den Panzer (141). Und dann wenn alles gut geht, werde ich Richtschütze – da wird es ruhiger. Wir sollen auch noch miterleben, daß der neue russische Panzer kommt (T72). ... die Verpflegung ist hier nicht gut. Jetzt müssen wir jeden Tag für die Vereidigung (in Schwedt/O.) üben, Gleichschritt und Exschritt, heute 2 Stunden im Regen. Das macht vielleicht Spaß ...! Hier merkt man echt wie schön ruhig es zu Hause war. Wie schön werden die Tage wieder zu Hause sein.
...Rechte haben wir hier überhaupt nicht, nur Pflichten!!!"

Torg./12. November 1977

"... jeden Abend Schrankkontrolle und Frühsport 10 Minuten. Es sind von 27 rund 10, die nicht über die Sturmbahn kommen. Bei den anderen Normen liege ich am Ende der Mitte. Marschieren habe ich im großen und ganzen auch gelernt.
... wie froh bin ich hier, einmal rauszukommen. Aber in achtzehn Monaten eben nur sechsmal ... Jeden früh darf ich mich im Med.-Punkt ein-

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finden, verbinden der Blasen. Sonst gibt's hier nur eines – exerzieren für Schwedt!
Wunschliste für 17. November 1977 (Vereidigung in Schwedt) fünf Koteletts gebraten, alles in brauner Tasche, die brauche ich für den Alarmfall, wird dann mit Sachen nach Hause geschickt. Eine Dauerwurst (hart) und eine Wurst (Zellophan) ..."

Natürlich freuten sich die "alten" Hugos, daß jetzt endlich die Neuen kamen. Für sie war nun die allerschlimmste Zeit der Fahne (das erste Diensthalbjahr) zu Ende. Deshalb diese jubelnden Soldatentrauben entlang des Maschendrahtes am Tage unserer Einberufung.

Zwei Bilder haben sich in meiner Erinnerung tief eingeprägt und fest verwurzelt; das Aussteigen aus dem Zug mit den vielen brutalen, abgenutzten und versoffenen Offiziersgesichtern in den "Fast-Wehrmachtsuniformen" und die damit verbundenen Lautsprecheransagen. Das zweite Bild – wie wir im Zeltlager meines zugewiesenen Bataillons im Schlamm und bei starkem Regen ankamen.

Ich sollte in den Panzer eines Zugführers der vierten Panzerkompanie, Leutnant Wegener, kommen. Ein echt slawisches Gesicht wie ein echter Russe, mit einer piepsigen Stimme (ähnlich einer Sirene!). Diese Stimme werde ich mein Leben lang nicht vergessen, so tief hat sie sich bei mir eingeprägt! Im Unterbewußtsein höre ich ihn heute noch, zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen, schreien. Sieben Monate später wird er Kompaniechef der sechsten Panzerkompanie (PK) sein und ich der Militärkraftfahrer dieser, rund vierzig Mann starken, Truppe. Hatte er morgens Chefdienst, schrie er pünktlich um sechs Uhr: "Kompanie Nachtruhe beenden. Fertigmachen zum Frühsport. Raustreten in fünf Minuten."

In diesem Moment war für mich regelmäßig der ganze Tag gelaufen. Wegener wird mich komischerweise von Anfang bis zum Ende meiner achtzehn Monate begleiten. Irgendwann im August oder September 1978 hasse ich ihn. Den einzigen Menschen, den ich bis heute mit dieser Form der Mißachtung strafte.

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Wir kamen alle in ein großes Zelt, mittenrein unter die Altgedienten. Sofort waren wir nun die Sprutze oder einfach nur der Sprutz. Alle Neuen kamen für die Grundausbildung in einen Lehrzug. Diesen leitete mein späterer "Freund" Wegener. Ein wenig Glück hatten wir trotzdem, da man unter den extremen Bedingungen (im Zelt) unsere Grundausbildung nicht übertreiben konnte. Päckchen bauen oder Gardinen plan ausrichten und alle möglichen anderen Spielchen fielen aus. Spinnereien, wie z.B. das abendliche Päckchenbauen (vor dem Bett), was die Dienstvorschrift forderte, waren nach der Grundausbildung (vier bis sechs Wochen) unter den harten Bedingungen des Kompaniealltages im Panzerregiment sowieso nicht durchzuhalten.

Eigentlich mußte jeder Offizier (ab Unteroffizier) gegrüßt werden, daß heißt, der Landser mußte zuerst grüßen. Gegrüßt wurde im Regiment aber erst ab Oberleutnant. Es gab auch alte Stabsfeldwebel oder Fähnriche, die den Gruß dennoch verlangten. Man mußte diese als Soldat kennen, ansonsten durfte man schleunigst zurückrennen und jetzt grüßend nochmals an dem Höhergestellten vorbeilaufen.

Wenn ein Offizier das Zimmer betrat, mußte der Stubenälteste ein lautes Achtung geben und alle Zimmerinsassen durften sofort Haltung annehmen. Aber auch dies wurde im Kompaniealltag nur bei bestimmten Offizieren, die darauf besonders Wert legten und sich durchsetzen konnten, praktiziert.

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Meiner Erinnerung zufolge gab es im Zelt recht schnell die ersten großen Saufereien. Panzerluden soffen einiges weg. Damals habe ich darüber nicht nachgedacht, aber das war wohl einfach der Härte des Armeealltages in diesem Panzerregiment geschuldet. Viele Menschen können ihre Probleme nur mit Alkohol beherrschen.

Ich habe dergleichen bereits in jungen Jahren nie gebraucht. Bei mir war im Sommer 1977 eine Oma gestorben und diese hatte einen riesigen und vollen Bücherschrank hinterlassen. Zwar hatte ein Onkel das Beste noch in den Westen geholt, trotzdem blieb einiges an bedeutender deutscher Literatur übrig, was ich ansonsten in der DDR nie zum Lesen bekommen hätte.

Die "Kommunisten" brauchten keine Bücherverbrennung, was ihnen nicht paßte, wurde einfach nicht gedruckt. Kam von vornherein auf die schwarze Liste. Wir haben (als Kinder der DDR) solche Bücher nie kennenlernen dürfen. Dazu gehörte natürlich alles, was den Nationalsozialismus betraf, aber auch Bismarck oder Freud. Für einen jungen Deutschen, der seinen Platz im Leben finden will, besonders wichtige Bücher. Dies wurde mit Absicht verhindert.

Mein Onkel hatte in der DDR Theologie studiert und wurde irgendwann in den Westen abgeschoben. Von daher standen in seiner Bibliothek intellektuell anspruchsvolle Bücher, die noch nicht mal unbedingt etwas für einen Achtzehnjährigen wie mich waren. Aber was man hat, das hat man. Das ist in unserem ganzen Leben so. Etliche davon habe ich auch erst als Student gelesen. Mit den Büchern ist es wie mit unseren Frauen; man dient sich langsam hoch!

Ich habe diese 18 Monate Armeezeit genutzt und unheimlich viel gelesen, so daß ich Alkohol zum Abschalten nicht gebraucht habe. Andere soffen sogar Rasierwasser, wegen seines alkoholischen Inhaltes. Die Liebe und den Alkohol darf man ungestraft eben nur genießen. Natürlich habe auch ich manchmal mitgetrunken. Richtig besoffen war ich in Torgelow wohl nur zwei oder dreimal.

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"Du warst eiskalt und cool!"
Günter Kloss, ehemaliger Armee-Zimmerkamerad, Angermünde, 03.10.1998

Aus heutiger Sicht war ich ein Idealist und Träumer und durch meine unheimliche Einbildungskraft nahm ich die absolute Härte dieses Alltages glücklicherweise überhaupt nicht wahr. Ich habe in diesen 18 Monaten, vielleicht zum ersten Mal, in meiner eigenen Welt gelebt. Das hat mich aber auch beschützt. Von der Armeezeit bin ich mit zwanzig seelisch ganz stabil heimgekehrt. Andere wurden bewußt kaputt gespielt oder haben sich kaputt spielen lassen. Für uns war die Jugend mit diesen Erlebnissen endgültig vorbei. Die meisten Wehrpflichtigen sind nach der Fahne ruhiger geworden. Man hatte seine ersten großen Lebens­erfahrungen machen müssen.

Mich haben vor allem Bücher bewahrt. Daß dies Familientradition ist, zeigt ein Gedicht meines Opas (väterlicherseits), Wolf Schütze, von 1935:

Das Buch

So lang ich denken kann, warst du bei mir,
du hast mir Mut und frische Kraft gegeben,
wenn dunkle Stunden drückten auf dem Leben
mit hämisch geisternder Zerstörungsgier.

Du treues Buch, wie dankbar bin ich Dir,
wenn deine Bilder traumhaft mich umschweben,
das Wollen rufen zu erstarktem Streben
und lächelnd weisen auf des Guten Zier.

Kein Ding der Erde nahm mich so gefangen,
hielt die Gedanken zwischen Sein und Bangen,
wie es ein Buch zu jeder Stunde tat.

Ihr Menschen hört auf mich, auf meinen Rat:
Wenn Not und Sorgen euern Geist umstürmen
greift nur zum Buch, es wird auch euch beschirmen!

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