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4.  Schriftsteller und Publikum 

Rolf Schneider 1992

 

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Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Schriftsteller und Publikum erzeugt bei mir jene entzündlichen Hautsymptome des Widerwillens, die ich auch hervorbringe, wenn jemand mit den Fingernägeln über Rauhputz gleitet oder ein Metallstift quietschend auf einer Fensterscheibe schabt. Dies macht, es hat für einen Autor, der in der einstigen DDR lebte, kaum ein Thema gegeben, mit dem man ihm derart häufig zuleibe rückte. 

Das Publikum war für ihn Adresse, Kontrollinstanz, Manipulations­material und Themenlieferant. Er selbst war für das Publikum Vorturner, Volkserzieher, Clown, Seelenarzt, Guru und Alibi-Moralist. 

Nicht alles in dieser Beziehung war so, wie es die herrschende autoritäre Ordnung wollte, aber alles geschah im Rahmen dessen, was die herrschende autoritäre Ordnung vorgab. Wer genau hinblickt, wird erkennen, daß die Hypertrophien der in der DDR kultivierten Autor-Publikum-Relation nur eine andere Darstellungsform waren für die in der DDR existierende Zensur.

Wo es Zensur gibt, wird die Wahrheit zugeteilt, namens einer Herrschaft, der die unzensierte und voll­ständige Wahrheit abträglich wäre. Zensur ist ein Instrument der Bevormundung und ein Symptom der gesellschaftlichen Not. Wir wollen hier nicht gänzlich übersehen, daß auch diese Not, der populären Spruchweisheit folgend, eine Tugend sein kann, da sie — noch so ein Gemeinplatz — durchaus erfinderisch zu machen versteht. Denn es ist ein Irrtum zu meinen, daß Kunst zu Zeiten der Unfreiheit besonders schlecht gedeihe. 

Selbst in Adolf Hitlers Deutschland, das diesen Fehlglauben noch am ehesten unterfüttern könnte, wurde von Gründgens und Fehling gutes Theater gemacht, drehten Engel und Käutner passable Filme, haben Strauss, Furtwängler, Knappertsbusch und Böhm glänzend musiziert, schrieben Gerhart Hauptmann, Ernst Jünger, Werner Bergengruen, Horst Lange und Peter Huchel Texte, die zum soliden Bestand unserer Literaturgeschichte gehören.

Es ist immer wieder darum gestritten worden, ob die bedeutenden ästhetischen Leistungen in den Zeiten und Staatsgrenzen der Hitler-Diktatur die Brutalitäten des Regimes nun vergoldet oder unterminiert haben, ob die Kunst damals ein Refugium der Humanität oder eine Schminkmaske der Inhumanität gewesen sei. 

Mit einiger Sicherheit trifft beides zu, und die hier benannte doppelte Funktion, die kontroverser nicht zu denken ist, fand sich oft genug in derselben Leistung und dem nämlichen Einzelkünstler, ohne daß dies letzteren auffällig beschädigt hätte.

In anderen autoritären Regimes, die hinsichtlich ihrer Unterdrückungsmaßnahmen schlampiger waren, konnte der Umgang mit Zensur und Zensoren eine geradezu virtuose Ästhetik erzeugen. 

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Als beliebiges Beispiel dafür fällt mir der österreichische Vormärz ein. Er war, was das System der Überwachung, Bespitzelung und geistigen Unterdrückung betrifft, von einer Perfektion, die schon das 20. Jahrhundert vorweg­nahm. 

Trotzdem gelang es dem Wiener Volkskomödianten Johann Nestroy, die Zensur immer wieder ins Leere laufen zu lassen und mit seiner Mischung aus Finte, Andeutung und gelegentlich offener Attacke den einverständigen Oppositionsgeist seines Publikums erfolgreich zu bedienen. Durch seine Stücke aus dem Vormärz wurde Nestroy zu einem österreichischen Moliere. Nach der Revolution von 1848, als eine sehr viel größere geistige Freiheit im Lande herrschte, brachte er nur noch matte Imitate seiner einstigen Glanzleistungen hervor.

Eine Satire, die der Zensor verstehe, werde zu Recht verboten, schrieb Karl Kraus, auch er ein Österreicher. Damit wird eine intellektuelle Meßlatte vorgelegt, die zu überspringen viel Gewandtheit erfordert. Die Techniken des Taktierens, Überlistens und Camouflierens machen, wenn alles gutgeht, eine hochmanieristische Kunst. 

Daß wir inzwischen allüberall in den hochzivilisierten Ländern unter alexandrinischen Zuständen leben, darf als ausgemacht gelten, und deswegen findet eine manieristische Kunst, die sich in totalitären Zuständen erfolgreich trainieren konnte, ihre ganz erklärliche Resonanz auch in Gegenden, wo der Pluralismus und die Freiheit zum Beliebigen vorherrschen

* detopia:  wikipedia  Johann_Nestroy  1801-1862       wiktionary  camouflieren  verbergen, verstecken, tarnen 

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Wir haben uns damit unmerklich der DDR genähert, wo es noch ein besonders stringentes Beispiel für unsere These gibt. 

Dort hatte die Geist- und Kultur­feindlichkeit der Herrschenden, die latent immer vorhanden war, gelegentlich die entsetzlichsten Höhepunkte erklommen. Einer davon fiel in die ausgehenden sechziger Jahre. Die intellektuelle Ödnis damals war gnadenlos. Zugleich wurden dies jene Jahre, da die DDR-Theaterkunst, ausweislich der Namen Besson, Heinz, Dresen, Solter, eine ästhetische Perfektion erreichte, daß man das politisch so unglückselige Ostberlin damals tatsächlich zur Welthauptstadt der Theaterpraxis ausrufen konnte.

Der Marxismus ist seiner geistesgeschichtlichen Tradition wie auch seinem immer wieder verkündeten Selbstverständnis zufolge eine Philosophie aus dem Umkreis von europäischer Aufklärung und deutscher Klassik. Er setzt auf die sittliche Erziehung des Menschengeschlechts und die pädagogische Funktion der Künste. Diese Überzeugung ist sehr vorkapitalistisch. Sie wurzelt in Zeiten, da die Arbeitsteiligkeit, zumal auf dem ideologischen Felde, noch relativ bescheiden ausfiel und die Kunst, voran die Literatur, auch deswegen ihre Konsumenten zu beeindrucken und zu formen verstand, da sie der wichtigste Überbringer von Nachrichten war. 

Es gab noch keine Presse in unserem Sinn. Was damals als Presse auftrat, wurde von Literaten gemacht. Die voll ausgebildete Arbeitsteilung zwischen Publizistik und Dichtung fällt erst ins 19. Jahrhundert. Dies war zwar die Lebenszeit von Karl Marx, der seinerseits, wie sein Kompagnon Friedrich Engels, sich als ein eifriger Zeitungsschreiber betätigte, der aber seinen klassischen Bildungsballast niemals abwarf und von den humanisierenden Wirkungen der Künste schwärmte noch zu Zeiten, da Friedrich Nietzsche dergleichen längst als einen altmodischen Selbstbetrug decouvriert hatte.

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Also hielt es sich.

Von der pädagogischen Wirksamkeit des Wahren, Guten, Schönen in der Kunst faselte die anschwellende Arbeiterbewegung nicht anders als das humanistische Gymnasium, und wenn man gelegentlich um Wahrheitsbeweise verlegen gewesen sein sollte, so wurden diese geliefert durch Befunde aus Ost- und Südost-Europa.

Dort gedieh die Rückbesinnung auf die eigene Folklore und auf Dichtung in der Muttersprache zu einem Politikum, denn es hatte eine beträchtliche emanzipatorische Wirkung. Daß Kunst hierbei eher als ein Substrat diente, es also vielmehr um die Sprache und deren trotzigen Gebrauch, nicht so sehr um Inhalte oder Ästhetik ging, erkannte man nicht. 

Der romantische Topos vom Dichter als politischem Volkstribun wurde keinesfalls als die ethnische und historische Spezialität gesehen, der er war, man akzeptierte ihn statt dessen als eine zeitlose Selbstverständlichkeit.

Dies geschah dann zumal durch die osteuropäischen Marxisten, die sich bald, wegen ihres berühmtesten Kopfes, den Zusatznamen Leninisten gaben. Lenins Kunstgeschmack und die darauf basierenden Ansichten sind ebenso konservativ wie jene von Karl Marx. Damit sind sie viel rückständiger, da sie zwei Generationen später kamen.

Die Herrschenden des Staates DDR waren durch die Schule des Marxismus-Leninismus gegangen.

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Ein Großteil von ihnen besaß Erfahrungen eines Exils in Osteuropa. Sie alle miteinander hatten, ihren verbalen Bekundungen zum Trotz, ein Unverhältnis zu Dingen der Ästhetik. Da sie nichts davon verstanden, reproduzierten sie blindlings die dies betreffend vorgegebenen Überzeugungen. In ihrer Haltung trafen sich Banausie und Furcht.

Die Kunst in der DDR bewegte sich in einem Raum, der bewacht wurde von überängstlichen Zensoren und mißtrauischen Herrschern. Der Kunst wurde dadurch eine Bedeutsamkeit suggeriert, die sie nicht hatte. Die Annahme, durch ein geeignetes Kunstwerk könne losgetreten werden, was im Verständnis der damaligen Herrschaft die Konterrevolution hieß, wurde so inständig wiederholt, bis auch die Künstler diesem Irrtum erlagen. Er widersprach allen Erkenntnissen von moderner Kunst- und Sozialwissenschaft, aber er hob ein durch ständige Schikanen der Staatsmacht geschundenes Selbstwertgefühl. Man meinte nun zu wissen, warum man es so schwer hatte. Man wurde förmlich stolz darauf. Zweifellos war es viel schmeichelhafter, wegen der eigenen Bedeutsamkeit beargwöhnt zu werden, als wegen der allgemeinen Dummheit einer Staatspartei leiden zu müssen.

Mit der Bereitschaft, sich auf diese Lebenslüge einzulassen, wurden die Künste in der DDR zu Komplizen der Diktatur. Die Komplizenschaft verstärkte sich, da auch das Publikum im Lande an der genannten Lüge teilhatte.

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Das Publikum delegierte an die Künste seine seelische Not. Die Künste bedienten das Publikum, indem sie diese Not mehr oder minder deutlich formulierten, also Artikulationshilfe leisteten. Solche Zweckgemeinschaft, die von außen her oft mit Bewunderung und Neid betrachtet worden ist, war, wir wiederholen es, unterm Zeichen von Not und Lüge entstanden und konnte schon deswegen nicht viel mehr sein als ein zweifelhaftes Provisorium. Die Künstler, verdorben durch Verinnerlichung der Anomalien, nahmen es als einen idealischen Zustand.

Dies wurde die Ursünde der Künste in der DDR, aus welcher alle anderen Sünden hervorgingen.

Ein wenig Nachdenklichkeit in eigener Sache hätte den Artisten nämlich sagen müssen, daß sie zu jener moralischen Instanz, als die sie sich stilisierten und stilisieren ließen, schon deswegen herzlich schlecht taugten, weil ihre Arbeitssituation sie der Normalität enthob.

In einer Welt der entfremdeten Arbeit kannte ihr Tun die durch Arbeitsteiligkeit bedingte Entfremdung nicht. In einer Welt kollektiver Beziehungen hatten sie das berufsbedingte Privileg der Individualität. Sie lebten von der fortwährenden Selbstentblößung und der professionellen Schamlosigkeit, die das Wesen der Kunst ausmachen und jedenfalls den Immoralismus begünstigen, weshalb zu ihren Berufskrankheiten die Eitelkeit und die potentielle Korrumpierbarkeit zählten. 

Woher also nahmen sie die Kühnheit, ihre Gedanken und ihre Existenz für maßstäblich zu halten? Wie auch immer: Sie taten es.

Damit bestätigten sie zunächst einmal den Herrschenden deren auf Ignoranz gegründetes Mißtrauen.

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Diese, wohl wissend, daß sie ein weithin ungeliebtes Regime vertraten, bedienten sich zum Zwecke des Machterhalts der bei allen Diktaturen üblichen Methode, daß sich der Drohung das Lockmittel verbindet. Man versuchte, eine mögliche Volksfront zwischen Geist und Publikum, die zwar völlig irreal war, was man aber nicht begriff, dadurch zu verhindern, daß man den Geist teils einschüchterte, teils ihm schmeichelte und ihn bestach.

Man lasse mich im folgenden und der Einfachheit halber aus einem Text zitieren, den ich zum Thema publizierte und der mir allerlei Protest eingetragen hat.

Ich sage da vom Künstler in der DDR:

»Er wurde Funktion in einem System der repressiven Toleranz, wobei er am Prinzip der Duldung übermäßig, an der Repression vergleichsweise wenig partizipierte.

Wer in der DDR zu den Künstlern zählte, hatte das bessere Modell des Daseins erwählt. Nicht nur seine Einkünfte lagen über dem Durchschnitt, auch seine Freizügigkeit war jene selbstverständliche, die der kommunistische Staat dem Rest seiner Untertanen vorenthielt. Sang der Künstler das Lob der Mächtigen, wurde er von ihnen mit monetären Wohltaten überhäuft. Suchte er den Konflikt mit ihnen, bescherte ihm dies angenehme Schlagzeilen jenseits der Grenzen, die ihn mit einer schützenden Aura umgaben und sich ihrerseits monetär ausbeuten ließen. 

Viele wählten einen irgendwie gearteten Mittelweg, und noch die Keckesten unter ihnen dienten der alten Staatsmacht als pseudoliberales Alibi, ob sie das nun wußten oder nicht. Die meisten wußten es.....

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Wie völlig verdorben unser Kontakt zur Wirklichkeit war, zeigen Ereignisse des vergangenen Herbstes, da sich einige Künstler, deren Ruhm ihr vorgeblicher Freimut war, für das Modell einer separaten DDR mit verbessertem Sozialismus ereiferten, während die Wirklichkeit, mit guten Gründen wie auch mit deutlichen Mehrheiten, sich längst anders entschieden hatte. Als sie ihrer Niederlage inne wurden, beklagten sie statt ihrer eigenen Blindheit den Sieg eines fremdbestimmten Intellektuellenhasses.«

 

Soweit das Selbstzitat. Zu meiner letzten Anmerkung sei hier noch etliches nachgetragen.

Ich glaube inzwischen nicht mehr, daß allein Erblindung und Verderbtheit die erwähnte Option für eine fortbestehende DDR erzeugten. Es handelte sich außerdem um ein nüchternes Kalkül. Daß die DDR nicht nur als Realität, sondern auch als Möglichkeit am Ende war, ließ sich für jeden intelligenten Beobachter schon Ende 1989 wahrnehmen. Wer es nicht sah, hatte Anlaß, es nicht sehen zu wollen. Dies war die Situation erwähnter Künstler.

Man wußte nämlich, es war allein dieser wackelige Separatstaat, der die eigene bisherige Existenz samt ihren materiellen und immateriellen Köstlichkeiten garantierte. Fiel er zusammen, fiel man mit, und das wollte man abwehren, indem man verzweifelt die alten Lebenslügen fortschrieb, als sei das Politbüro der SED keine Versammlung bankrotter Politiker gewesen, sondern lediglich die falsche Probierstube einer realistischen Utopie. Man mag solcher Haltung eine subjektive Verständlichkeit zubilligen, objektiv ist sie eher menschenverachtend und mies.

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Hiermit halten wir bei jener Diskussion, die jüngst einige Maler und Autoren aus der früheren DDR ergriffen hat. Ich übersehe nicht die Tartuffe-Motive mancher der Ankläger, die heute mit Gebärden des Abscheus verdammen, was sie gestern noch anpriesen, und mit solchem Tun, das sich auch als Selbstbestrafung begreifen läßt, die letzte Drapierung des postmodernen Zeitgeistes nachfalten.

Schwerer wiegt der Umstand, daß sie mit ihren Argumenten völlig recht haben. Der einzig substantielle Vorwurf, den man ihnen machen muß, besteht darin, daß sie ihre Attacke bloß gegen ein paar handverlesene Einzelfiguren vortragen, während doch ihre Schelte dem Prinzip und damit uns allen zu gelten hätte.

Wir haben nämlich samt und sonders versagt. Wir haben dies auch jetzt noch, da die Auseinandersetzung, die eigentlich aus unserer Mitte heraus hätte erfolgen müssen, von außen an uns herangetragen wurde. Als sie dann stattfand, reagierten die meisten von uns statt mit Nachdenklichkeit mit Empörung und Larmoyanz, und ein paar gute Geister von jenseits der Grenzen unterstützten uns noch bei unserem Selbstbetrug, indem sie aus falsch verstandener Solidarität die Partei unserer Lebenslügen nahmen.

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So greinen wir weiter um den Verlust unserer einstigen Vorzugsstellung. Wir preisen unsere politischen Verdienste, die in einer angeblichen Konditionierung des politischen Widerstands in der alten DDR bestehen sollen, und übersehen — wieder einmal — die Wirklichkeit, die darin bestand, daß der gesellschaftliche Wandel vom Herbst 1989 durch die Botschaftsbesetzer von Prag, Warschau, Budapest und Ostberlin angestoßen worden ist, die kein kritisches Gedicht, kein experimenteller Holzschnitt je erreichte. 

Um es auf eine Kurzform zu bringen: Der geistige Vater des Zusammenbruchs der alten DDR heißt nicht Stefan Heym, sondern Gyula Horn.

Die DDR vor dem Herbst 1989 galt als Leseland. 

Wie sehr auch dies bloß ein Ausdruck der allgemeinen Restriktionen war, erweist sich seither, da unser Publikum, seit es die Möglichkeit dazu hat, lieber zu BILD-Zeitung und Lore-Romanen greift statt nach unseren Büchern. Auch die Lesegewohnheiten im alten Honecker-Staat resultieren eben aus der Not, und die auf sie gegründete Gemeinschaft wurde gekündigt, sobald die Not fortfiel. Dies ist für unser Selbstwertgefühl gewiß schmerzlich, doch wollen wir so vermessen sein, der alten Kunstbräuche wegen etwa die Not wieder herbeizuwünschen? Schreckliche Vorstellung; aber genau dies ist, heimlich oder offen, in den Künstlerkreisen jener Region, die eben noch DDR hieß, die verbreitete Sitte.

Die Wirklichkeit indessen besteht darin, daß wir zurückgeworfen sind auf den Markt. Er ist gerechter als eine banausische Politbürokratie mitsamt ihren Zensoren, und selbst wo er ebenso ungerecht sein sollte wie diese, ist er es doch wenigstens aus ökonomischer Raison und nicht aus diktatorischer Beliebigkeit.

In einer Wochenzeitung lese ich diese 

»gute Nachricht: Die deutsche Wiedervereinigung wird nicht an der Kunst scheitern! Muß das nicht wundernehmen in einem Land, das die Kunst während der letzten hundert Jahre politisch überschätzte bis zur Maßlosigkeit? Hätte Wilhelm II. nicht ebenso wie Hitler oder Ulbricht die Kunst in einer historisch so bedeutsamen Situation zur erstrangigen Staatsaffäre gemacht, der Kaiser und der Führer sogar mit detaillierten Skizzen eigener Hand? Kohl tut es nicht und könnte es nicht einmal, wenn er wollte, denn mit der Kunst ist kein Staat mehr zu machen.«

Solche Sätze lese ich mit beträchtlicher Erleichterung. Der Markt, auf dem wir stehen, hat also den Vorzug, den Künstler von seinem aufgeblähten ideologisch-moralischen Überbau zu befreien und sein Verhältnis zum Publikum wieder in die archaischen Kategorien von Angebot und Nachfrage zu betten. Wir wären gut beraten, wenn wir dies nicht als Verarmung, sondern als Normalisierung begriffen. 

Der Markt ist eine uralte Einrichtung. Er war immer bunt, laut, öffentlich und multipel, was fast schon demokratisch bedeutet. Die Künstler hatten seit jeher auf ihm ihre Stände, als Kalligraphen und Märchenerzähler, als Flugblatt-Illuminatoren, als Bänkelsänger, Stadtpfeifer und Gaukler, die man für ihre Dienstleistungen angemessen bezahlte. Mehr waren wir nie. Mehr sollten wir auch nicht sein wollen, und es wäre gut, wenn wir uns endlich wieder offen dazu bekennen würden.

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 Rolf Schneider 1992