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 Die roten Diener der Massen 

 

 

 

Der antiautoritäre Gesell war allerdings nicht in dem Sinne massenfeindlich wie die Zyniker und Massen­verächter Lenin, Trotzki, Stalin, Hitler, Goebbels und Mussolini. Diese Vaterfiguren haben die Massen beschworen und vorgegeben, ihnen zu dienen (Mao: "Dem Volke dienen"), sie in Wirklichkeit aber manipuliert und verheizt und sie gegebenenfalls nach jenen Methoden massakriert, wie es der bolschewistische Volkskommissar für Justiz, Krylenko, seinen Henkersknechten empfahl:

"Wir dürfen nicht nur die Schuldigen hinrichten. 
Die Hinrichtung der Unschuldigen wird die Masse noch weit mehr beeindrucken" [25].

Da ist doch alles klar: mit "barbarischen Methoden ... gegen die Barbarei" (Lenin; siehe oben).

 

Ditfurth wirft Esoterikern, Tierschützern, Gesellianern und vielen anderen "menschenverachtende Positionen" (S. 75) und sogar "Menschenhass" (S. 11 u. 172) vor. Nicht Esoteriker, Tierschützer und Gesell, sondern Lenin und Trotzki haben jene Massen, deren Individuen gemeinsam in freier Übereinstimmung für ihre Emanzipation von Unterdrückung und Ausbeutung kämpften, die Arbeiter und Matrosen von Kronstadt [26] und die Bauern der Machno-Bewegung [26a], massakriert und noch die Toten diffamiert.

Sicherlich: nicht aus Menschenhass, aber aus Menschenverachtung und "nur" auf Grund "historischer Notwendigkeit". Gesell hat den "Massen" der Münchener Rätebewegung als Volksbeauftragter für Finanzen gedient, bis die Kommunisten den anarchistisch dominierten Rat der Volksbeauftragten wegputschten, damals noch mit (relativ) "friedlichen Mitteln" [27]. Ihre Genossen in der frühen Sowjetunion haben die dortige Massenbewegung der freiheitlichen Bauern- und Arbeiterräte im Blut ertränkt [27a]. Aber was soll´s, "entschlossene Menschenliebe ist niemals blutscheu" (Thomas Mann).

 

Von diesen roten Massenmördern, die sich anmaßen, über Leichen gehen zu dürfen, weil sie mit letzter "wissenschaftlicher" Sicherheit "wissen", damit der Menschheit und dem Weltgeist zu dienen wie jene Hexenverfolger, die glaubten, Frauen lebendig verbrennen zu dürfen, weil das gottgefällig sei und dem Seelenheil dieser "Hexen" diene, hebt sich jener Mensch, den Ditfurth und ihre Hexenjäger zu einem Wegbereiter in die Barbarein stempeln wollen, auf das Angenehmste ab.

Robert Anton Wilson zum Beispiel zeichnet eine anderes Bild von Gesell:

"Der einzige utopische Ökonom, den ich je mochte, war Silvio Gesell. Selbstverständlich war Gesell ein Geschäftsmann und kein Akademiker oder Ideologe, also hatte er gesunden Menschenverstand... / Ich weiss nicht, ob diese [freiwirtschaftliche] Utopie in der Praxis genauso reibungslos wie in der Theorie funktionieren würde, aber meine Bewunderung für Gesell hat einen anderen Grund. Er [der sich für eine zentrale Boden- und Währungsverwaltung einsetzte und von Kommunen nicht viel hielt] setzt auch voraus, dass die Regierung interne Kolonien oder utopische Gemeinschaften zulassen und unterstützen sollte, wo Menschen mit rivalisierenden wirtschaftlichen Vorstellungen sich zusammenschließen könnten, um die Tragfähigkeit ihrere eigenen Idealvorstellungen zu beweisen. / Er sagt sogar, dass wenn eine dieser Kolonien sich als besonders erfolgreich herausstellen sollte, deren Ideen anstelle seiner eigenen eingesetzt werden sollten. / Ich kann mir diese tollen Ideen nur dadurch erklären, dass Gesell sich nicht für unfehlbar hielt. Kein Wunder, dass so wenige Menschen je etwas von Gesell gehört haben. Er besass nicht den Fanatismus, der anscheinend erforderlich ist, um eine utopische Bewegung auf breiter Front in Bewegung zu setzen." [28]

 

Max Stirner

Richtig ist es - und auch sehr erfreulich -, dass sich Gesell gerne auf Max Stirner beruft [29], den Ditfurth für "Egokult" verantwortlich macht. Mag sein, dass manche Stirner-Fans in dieser Hinsicht Stirner ebenso missverstehen wie Ditfurth. Eine Behauptung zum ablachen ist es jedoch, Stirners "individualistisches Freiheitskonzept" als "offen für Mystik... bis hin zu faschistischen Konsequenzen" (S. 114) zu bezeichnen. Genau das Gegenteil ist der Fall (wieder einmal).

In Der Einzige und sein Eigentum bestätigt Stirner Gesells Skepsis gegenüber den Massen und Reichs Forderung nach psychologischer Stärkung des Individuums: seines Ichs. Wie Reich lehnt Stirner die Zwangsmoral ab. Stirner sagt: "Ich kenne kein ´Gebot der Liebe´." Während Reich jedoch das Es, den "biologischen Kern" der Psyche, von Moral und Selbstunterdrückung befreien und damit das Ich stärken will gegen religiöse, nationalistische und rassistische Ideologien, Wahnvorstellungen, Fanatismus etc., will Stirner den "Einzigen" auch von den Marionettenfäden der Natur, ihren zwanghaften Trieben und Instinkten, dem Es, freistellen. Dennoch weiss Stirner durchaus menschliche Emotionen zu schätzen. Im Einzigen schreibt er: "Sehe ich den Geliebten leiden, so leide ich mit, und es lässt mir keine Ruhe, bis ich alles versucht habe, um ihn zu trösten und aufzuheitern; sehe ich ihn froh, so werde auch ich über seine Freude froh. Daraus folgt nicht, dass mir dieselbe Sache Leiden oder Freude verursacht, die in ihm diese Wirkung hervorruft, wie schon jeder körperliche Schmerz beweist, den ich nicht wie er fühle: ihn schmerzt der Zahn; mich schmerzt sein Schmerz. / Weil ich aber die kummervollen Falten auf der geliebten Stirn nicht ertragen kann, darum, also um meinetwillen, küsse ich sie weg". [30]

Stirner liebt also nicht aus religiöser oder gesellschaftlicher Pflicht, sondern als "Egoist", auf Grund seiner eigenen Neigungen: "weil die Liebe mich glücklich macht, ich liebe, weil mir das Lieben natürlich ist, weil mir`s gefällt" [30a]. Und dafür entscheidet er sich als "Eigner" seiner selbst, frei von biologischen und vor allem gesellschaftlichen Zwängen.

Im Falle der der naturgegebenen Liebe fallen die Bedürfnisse und Interessen des Menschen als "Einziger" mit denen der von ihm geliebten Menschen zusammen: der Widerspruch Altruismus und Egoismus ist "aufgehoben", sie gehen ineinander auf. Mit anderen "Einzigen" oder "Freien" kann er sich in frei gewählten "Vereinigungen" zu bewusst eigennützigen (nicht selbstsüchtigen, wie Gesell vermerkt) Zwecken zusammentun, um seine "egoistischen" Bedürfnisse und Interessen und damit auch die der anderen "Egoisten" zu befriedigen. Diesen "Eigner" grenzt er ab von dem "Exemplar", das in der "Gemeinschaft" durch natürliche Blutsbande (Familie, Sippe, Horde, Stamm etc.) und dem "(Mit-)Glied", das in der "Gesellschaft" (einschliesslich Staat und Kirche) durch Ideologien etc. "gebunden" ist [30b]. Stirner betrachtet den natürlichen "Bund" skeptisch und verabscheut den gesellschaftlichen und staatlichen "Bund". Er nimmt Gesells und Reichs Kritik des faschistoiden Massenmenschens vorweg. Und er ist der radikalste Kritiker jeden Glaubens, jeder Ideologie, jeden Wahndenkens, jeden Mystizismus´, jeden "Sparrens" (Stirner) in den Köpfen der Menschen.

Das ist vielleicht der Grund, weswegen dieser Antifaschist par excellence so verhasst ist bei den Marx-Pfaffen und ihren Schäfchen. Sie wollen sich nicht mit rationaler Argumentation ihren atheistischen Glauben an Marxens teleologisches, wenn nicht gar chiliastisches Weltbild - die Geschichte sei zweckmässig und auf ein Ziel gerichtet: den Kommunismus, ein Endzeitreich der Gückseligen - madig machen lassen. Vielleicht noch nicht einmal den Glauben an Lenins und Stalins "roten Faschismus" (Genosse Rühle).

 

Eine "antisemitische Wirtschaftstheorie"

 

Frau Ditfurth behauptet, Gesells "Wirtschaftstheorie" sei eine "rechtsextreme, antisemitische, prokapitalistische" (S. 107). Vielleicht ein bisschen viel auf einmal. Vergessen wir mal das Rechtsextreme. Das Antisemitische reizt zwar das Zwerchfell, weckt aber auch Neugierde: Was soll an dieser und überhaupt an einer Wirtschaftstheorie "antisemitisch" sein? Die geniale Ditfurth weiss es! Den Antisemitismus leitet sie aus Gesells Zins-Kritik ab. Sie schreibt "Geden [der Gesell gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigt] fällt auf das eine oder andere philosemitische Zitat Gesells herein, wenn er ausblendet, dass eine zentrale Forderung, den Kapitalismus von der ´Zinsknechtschaft´ zu befreien, objektiv auf Zustimmung durch die mehrheitlich antisemitische deutsche Gesellschaft zielt. Um antisemitische Einstellungen für seine Theorie zu aktivieren, braucht Gesell selbst keine antisemitische Propaganda zu schreiben" (S. 83).

Aha. Doch woher weiß Frau Ditfurth eigentlich, dass die Forderung nach der Befreiung der Marktwirtschaft (nicht des "Kapitalismus", Frau Ditfurth!) vom Zins auf die Zustimmung der "mehrheitlich" antisemitischen Gesellschaft "zielt"? Woher weiss sie, dass die Gesellschaft "mehrheitlich" antisemitisch ist? Und was heißt hier, Gesell würde "objektiv" darauf zielen? Soll das heißen, das Zielen auf die Antisemiten sei von Gesell subjektiv nicht beabsichtigt?

So argumentiert ihr Genosse Robert Kurz. Er ist besonders schlau: er differenziert. Er wirft Gesell in seiner ausgewalzten Polemik Politische Ökonomie des Antisemitismus - Die Verkleinbürgerlichung der Postmoderne und die Wiederkehr der Geldutopie von Silvio Gesell in der Ost-Berliner Zeitschrift Sklaven zwar keinen "subjektiven", wohl aber einen "objektiven" Antisemitismus vor.

Er schreibt: "Keineswegs geht es darum, Silvio Gesell gegen jede historische Wahrheit zum Hitler-Anhänger und Nationalsozialisten zu stempeln. Das Problem lieg auf einer anderen Ebene. 'Politische Ökonomie des Antisemitismus' meint, dass es einen strukturellen und historischen Zusammenhang zwischen der verkürzten Kritik des zinstragenden Kapitals und dem Antisemitismus gibt. Ideologisch handelt es sich um die beiden Seiten derselben Medaille, wobei der offene Antisemitismus sozusagen die ´Kopfseite´ bildet. Das bedeutet, dass nicht jeder tausch- und verteilungsbornierte Ökonom und Zinskritiker immer offener Antisemit sein muss, dass aber umgekehrt jeder Antisemit stets die ideologisch verkürzte Kritik des zinstragenden Kapitals als ´ökonomisches´ Legitimationsmuster benutzt." [31] -

Na, bitte! Da kann man/frau mal sehen: es lässt sich aus einer Wirtschaftstheorie tatsächlich eine antisemitische machen!

Frau Ditfurth ist da weniger zimperlich, sie erspart sich intellektuelle Verrenkungen. Ist halt nicht ihre Art, feine Unterschiede zu machen. Nicht nur Gesells Theorie ist "antisemitisch", auch ihr Theoretiker selbst ist - obwohl er "keine antisemitische Propaganda" betreibt, wie sie (S. 83) kleinlaut zugeben muss - ein "Antisemit": "objektiv" wie "subjektiv". Denn was belegen ihre Formulierungen sonst: "dem antisemitischen Eugeniker Silvio Gesell" (S. 16), "dem "Antisemiten und prokapitalistischen mittelständischen Unternehmer Gesell" (S. 115) und "den Eugeniker und Antisemiten Gesell" (S. 124)?

 

Warum dieser Hass gegen Gesell? Weil seine Zinsanalyse - identisch mit denjenigen des Anarchisten P. J. Proudhon und des renommierten "bürgerlichen" Ökonomen J. M. Keynes - vielleicht richtig sein könnte und die Marx´sche Mehrwert- und Produktionstheorie dann aus den Angeln heben würde? Nach dieser Zinstheorie wäre, um Wirtschaftskrisen und die Ausbeutung durch den "Profit" zu überwinden, die Vergesellschaftung der (vermehrbaren) Produktionsmittel überflüssig und der Kommunismus zumindest zur Überwindung dieser Probleme nicht notwendig.

Da die Marxpfaffen, die alles Elend dieser Welt aus der "Warenproduktion" ableiten, wegen ihrer ideologischen Befangenheit nicht Willens und daher auch nicht in der Lage sind, Gesells Zinskritik zu verstehen und sachlich zu widerlegen, müssen sie nach anderen, unsachlichen Mitteln greifen, um diese Theorie von der politischen Bühne zu fegen. Was liegt da näherer, als die Forderung nach einer Senkung des Zinses auf durchschnittlich Null mit der Propagandaphrase der Nazis nach der "Brechung der Zinsknechtschaft" in Zusammenhang zu bringen, um bei naiven Gemütern den Eindruck zu erwecken, die Gesellianer seien Faschisten? Da die Nationalsozialisten zudem Antisemiten waren - dieses vor allem auch wegen des Vorwurfs, die Juden seien an den Problemen der kapitalistischen Zins- und Kreditwirtschaft schuld - fällt es ihnen leicht, unbedarfte Menschen ausserdem glauben zu lassen, Gesell und seine Anhänger seien Antisemiten.

 

Der Holocaust-Beitrag der
Demokraten und Kommunisten

Gesell ist — ebenso wie Proudhon und Keynes — nicht nur Zinstheoretiker, sondern auch Monetarist, aber besonderer Art: im Gegensatz zu den prokapitalistischen neoliberalen Monetaristen ein antikapitalistischer. Proudhon, Gesell und Keynes haben die These der klassischen Liberalen — die auch Marx vertritt — widerlegt, das Geld sei lediglich ein "Schleier" über der Produktion.

Gesell verlangte die Ablösung der Goldwährung durch eine Papier- und Festwährung und "Durchhaltekosten" (Keynes) für Geld, um die Probleme Inflation und Deflation überwinden zu können. Nicht nur die "Zinsknechtschaft" (das könnte heute, wegen der gigantischen Zinseszins-Akkumulation, auf uns zukommen!), vor allem die Währungspfuscherei ruinierte die Weimarer Republik. Am Ende der Geldentwertung 1923 mussten Arbeiter und Kleinbürger für 1 US-Dollar einen Koffer voll Papier zum Nennwert von 4,2 Billionen Mark hinblättern — eine Totalenteignung ihrer hart und teils lebenslang bei damals geringem Einkommen erarbeiteten Ersparnisse. Die nur sechs Jahre später folgende Deflationskriese brachte bis 1933 sechs Millionen Arbeitslose und stiess Millionen Arbeiter und Gewerbetreibende ins Elend, in den Ruin und in die Arme Hitlers oder in den Selbstmord. Das von allen Parteien von links bis rechts (ausser den Gesellianern, einigen Gewerkschaftlern und den Nazis) ignorierte Währungsproblem trug ganz wesentlich zur Machtübernahme Hitlers [31a] und damit zur Ausrottung der Juden in Europa bei.

Auch wenn Marx mit dem Zins-Problem nichts am Hut hatte, ist bei ihm der Geldzins als solcher dennoch ein Mehrwert-Anteil [32]. Doch nach der Logik von Kurz und Ditfurth darf die Ausbeutung der Menschen durch den Mehrwertanteil Zins nicht angetastet werde, denn das würde dem Antisemitismus Vorschub leistet. Also, Leute, lasst Euch weiterhin ausbeuten. Zahlt kräftig Mehrwert in Form von Zinsen an die Kapitalisten, wie das auch die Arbeiter im "realen Sozialismus" mussten, deren Betriebe von den Kommunisten bei den Banken im kapitalistischen Ausland hoch verschuldet worden waren.

Die unersättliche Kapitalistin Susanne Quandt, die bereits 1990 täglich 650.000 Mark an Zinsen kassierte (durch die Zinseszinsakkumulation dürften das heute über 1 Million sein), [32a] wird es Euch danken. Den Zins zu bekämpfen überlassen wir den Antisemiten. Wenn das ein libertärer Sozialist macht, fördert er ebenso den Antisemitismus wie ein Nationalsozialist und ist nach der Logik von Kurz ein "objektiver" Antisemit und nach der von Ditfurth ein "subjektiver" und ausserdem ein Faschist. Absurd? Aber, aber! Wer das nicht versteht, sollte bedenken, dass wir es bei marxistischer Argumentation nicht immer mit Logik, immer aber mit "Dialektik" zu tun haben. Bei der kann sich einer drehen und wenden wie er will, sein Arsch bleibt immer hinten.

Doch bei aller Skurrilität marxistischer Logik können wir getröstet sein, denn die Marxisten befinden sich, wie sie uns immer wieder beteuern, im Besitz der absoluten Wahrheit. Mit ihrer Produktionstheorie und Planwirtschafts-Ideologie lassen sich, wie wir wissen, alle Probleme lösen, da kann nichts schief gehen. Die Reformvorschläge Gesells kann man da getrost als "spiessbürgerliche Geldutopie" (Kurz) abhaken. Ihr fragt vielleicht, liebe Leserinnen und Leser: Was ist, wenn nun doch was dran ist an Gesells Zinstheorie? Wenn sie, vielleicht nicht die alleinige, aber auch eine, vielleicht sogar die gewichtigere Erklärung liefert für Krisen und Ausbeutung als Marxens Überproduktions- und Mehrwerttheorie? Wenn letztere vielleicht gar falsch sind? Muss dann doch auf eine "antisemitische" Theorie zurückgegriffen werden? Nur keine Panik: der Papst kann irren, nicht ein Marxist.

 

Eine "prokapitalistischen Wirtschaftstheorie"

Als gelernte Marxistin weiss die Genossin Ditfurth, dass Gesells Freiwirtschaftslehre nicht nur "antisemitisch", sondern auch "prokapitalistisch" (S. 17, 107 u. 115) ist. Als stramme Dogmatikerin fehlt ihr die Phantasie, sich vorstellen zu können, dass es noch andere Theorien geben könnte, die zumindest den Anspruch haben, antikapitalistisch zu sein. Und mehr als diesen Anspruch hat jene Lehre, an der unsere (laut Klappentext) "undogmatische Linke" klebt wie eine Fliege am Fliegenfänger, sowieso nicht. Um beweisen zu können, dass eine Wirtschaftstheorie "prokapitalistisch" ist, müsste erst einmal geklärt werden, was Linke, die viel vom Kapitalismus quatschen, meist jedoch nicht wissen: was Kapital eigentlich ist. Hier eine kleine Lektion aus der Sicht der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, wie auch speziell Proudhons, Gesells und Keynes´. (Wem Wirtschaftstheorie zuwider ist, kann dieses und das folgende Kapitel überschlagen, sollte aber nicht über seine Ohnmacht gegenüber Sozialabbau, Arbeits-losigkeit und Wirtschaftswachstum jammern, weil er von Ökonomie nichts versteht.)

Es wird unterschieden zwischen Geld und Sachkapital. Das Sach- oder Realkapital ist ein durch menschliche Arbeit geschaffenes und daher vermehrbares Wirtschaftsgut (Maschinen, Mietshäuser, Biertresen usw.), das eine Rente, ein arbeitsfreies Einkommen auf dem Markt abwirft. Diese Kapitalrente, auch Rendite oder Kapitalzins genannt, erhält der Eigentümer des Kapitals. Den nennen wir einen Kapitalisten.

Das Geld ist einerseits Tauschmittel und Wertmassstab und - wenn Inflation vermieden werden soll - ein nicht beliebig vermehrbares Gut. Das Problem ist, dass es andererseits auch Wertaufbewahrungsmittel ist und als solches die Zirkulation verlässt, wenn es nicht unverzüglich in Investitionen fliesst. Dann wird der Austausch von Gütern und Dienstleistungen unterbrochen und es entstehen Nachfragelücken und Arbeitslosigkeit.

Als Wertaufbewahrungsmittel (Ersparnis) ist es Geldkapital, wenn es dem Sparer eine Rente einbringt: den Geldzins, auch einfach Zins genannt. Den Geldzins zahlt der Kreditnehmer dem Geldbesitzer, wenn er dessen Ersparnis leiht. Der Kreditzins (Bruttozins) setzt sich zusammen aus dem ursprünglichen Zins: der Geldrente (Gesell: "Urzins"), und den Kreditverwaltungskosten, der Risikoprämie und gegebenenfalls dem Inflationsausgleich.

Der ursprüngliche (eigentliche) Zins resultiert nach Proudhon und Gesell aus der Vormachtstellung des Geldes vor den Waren: Vom Boden abgesehen, unterliegen alle Wirtschaftsgüter "Durchhaltekosten" (Keynes), einem "Schwund" (Gesell), das Geld einer festen Währung jedoch nicht. Dann kann es aus der Zirkulation herausgezogen und gehortet werden, ohne dass das Kosten, eben Durchaltekosten für Geldhortung verursacht. Ein wichtiges Motiv, Geld zu horten, ist laut Keynes, um damit zu spekulieren. Dazu eignet es sich deshalb besonders gut, weil man — anders als mit allen anderen Gütern — mit Geld überall und jederzeit alles kaufen kann, was günstig angeboten wird, also weltweit sein Schnäppchen machen kann.

Diesen Liquiditätsvorteil angesammelten Geldes lässt sich sein Eigentümer vergüten, wenn er die "Liquidität" dieser Ersparnis verleiht: mit einer "Liquiditäts(verzichts)prämie" (Keynes). Das ist der ursprüngliche Geldzins: die Geldrente. Dieser "Urzins" (Gesell) macht aus dem Tauschmittel Geld Kapital: Finanzkapital. Den Eigentümer von Finanzkapital nennen wir einen Finanzkapitalisten. Den Kreditzins (Bruttozins) finanziert der Unternehmer aus dem Kapital-Gewinn: dem Kapitalzins. (Marx sub-summiert den Geld- und Kapitalzins unreflektiert unter den Begriff "Profit".)

Im Unterschied zum Sachkapital, ist der Boden (Bodenflächen, Bodenschätze und Naturkräfte) ein nicht-vermehrbares, durch die Natur geschaffenes Wirtschaftsgut, das ebenfalls eine Rente abwirft, die ebenfalls dem Eigentümer, dem Grundrentner, zufliesst: die Grundrente oder der Bodenzins. Der Eigentümer eines schuldenfreien Grundstücks mit Gebäude ist sowohl Grundrentner als auch Kapitalist. Neben dem Geld- und Kapitalzines (Marx: "Profit"), ist die Grundrente (Marx: "Differenzialrente" [33]) der dritte Mehrwert-Anteil.

Der vierte Wirtschaftsfaktor ist die menschliche Arbeitskraft. Im Gegensatz zu den leistungs- und arbeitslosen Renten aus Geld, Kapital und Boden, ist der Lohn der Arbeit ein Arbeits-Ertrag, ein Ertrag aus Leistung. Der Lohn wird unterteilt in Lohn für unselbständige und selbständige Arbeiter. Zu den unselbständigen Arbeitern zählen alle angestellten Arbeiter, nicht nur die Arbeiter und Angestellten ("Lohnarbeiter") im üblichen Sinne, sondern auch die "lohnabhängigen" Unternehmer: die Manager. Die nicht angestellten, "selbständigen" Arbeiter werden "freie" Unternehmer genannt. Beide erhalten den Unternehmerlohn [33a].

Vom Profit (Geld- und Kapitalzins) und der Grundrente (Bodenzins) ist also der Unternehmerlohn, den der Unternehmer und Manager für geleistete Arbeit erhält, zu unterscheiden. Er wird — wie der Lohn seiner Angestellten — durch die Zinsen verkürzt, zum Teil im Produktionsbereich. Einen erheblicheren Teil des Geld-, Kapital- und Bodenzinses zahlen die selbständigen und unselbständigen Arbeiter, die "Produzenten" (Marx), jedoch im Konsumtionsbereicht, weil dort die Preise der Waren mit Zinsen belastet sind, die sie kaufen, etwa mit 30% im Durchschnitt. Im Mietpreis einer nicht preisgebundenen Wohnung macht der (Brutto-)Zinsanteil sogar bis zu 80% aus. Bei einem Mietpreis von 1.000 bis 2.000 Mark ist das ein erheblicher Anteil am Nettolohn, etwa 800 bis 1.600 Mark im Monat [33b].

Sind die Produzenten auch Eigentümer von Kapital, dann sind sie gleichzeitig Kapitalisten; sind sie Eigentümer von Boden, dann gleichzeitig Grundrentner. Sie besitzen dann das Privileg, einen Teil ihrer Lohnkürzungen durch die Zinsen aus den Zinsen ihres Eigentums zurückzuerhalten. Eine eindeutige Zuordnung der einzelnen Menschen zu einer Klasse ist in diesem Falle nicht möglich.

 

Im Unterschied zu Geld und Boden, lässt sich das Sachkapital beliebig produzieren und vermehren. Das heisst in der Theorie von Proudhon, Gesell und Keynes, dass die Zinsen des Sachkapitals über die Konkurrenz auf dem Markt auf Null fallen könnten, wenn entsprechend viel Kapital dem Markt zur Verfügung gestellt wird. Sie gehen dann in die Löhne der Produzenten (in die Arbeiter- und Unternehmerlöhne) ein beziehungsweise reduzieren die Preise der Produkte um den Kapitalzins. Dazu müssten allerdings die Kreditzinsen gegen Null fallen, damit die Unternehmer investieren können, bis der Zustand der "Vollinvestition" (Keynes) erreicht ist. Vollinvestition heisst, es besteht ein Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis nach Gütern und Dienstleistungen einerseits und Freizeit andererseits.

Der Kapitalzins kann jedoch nicht auf Null fallen, weil, wie Keynes sagt, der Geldzins unelastisch ist: er fällt nicht unter die 2,5- bis 3-Prozent-Marke. Das bedeutet, dass in einer Konjunkturphase durch die Vermehrung der Produktionsmittel die elastischen Kapitalzinsen zwar fallen, aber nicht weiterinvestiert wird, wenn der Kapitalzins unter diese unnachgiebige Geldzins-Marke zu fallen droht; das würde dem Unternehmer Verluste einbringen. Es kommt zu volkswirtschaftlicher Stagnation. Die Entwicklung zur Vollinvestition mit noch niedrigeren Renditen wird gestoppt. Das heisst, dass der Kapitalzins langfristig nicht auf Null fallen kann, der "Profit" wird gewissermassen "verewigt". Das ist sehr verkürzt die Theorie der Grenzleistungsfähigkeit des (vermehrbaren Sach-)Kapitals, der Konjunkturkrisen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wie sie überein-stimmend von Proudhon, Gesells und Keynes vertreten wird.

In der Zinswirtschaft besteht ausserdem das Problem, dass Zinsgewinne immer wieder gegen Zins angelegt werden. Das führt zu einem exponentiellen Anwachsen der grossen Vermögen und bei geringem oder Null-Wachstum der Volkswirtschaft - weil dann das volkswirtschaftliche Gesamteinkommen nicht mehr oder nicht mehr ausreichend wächst - zu einer Einkommensumverteilung zu Gunsten der Reichen und zu Ungunsten der Armen. Das zwingt zu Wirtschaftswachstum, wenn einerseits die Zinswirtschaft erhalten bleiben und es andererseits nicht zu einer allgemeinen Verelendung breiter Volksschichten kommt soll. Für dieses Doppelziel riskieren die Herrschenden die Ökokatastrophe [33c].

 

Vollbeschäftigung ohne Wachstum und Mehrwert

Was kann getan werden, damit bis zum Zustand der Vollinvestition, dann aber nicht weiter investiert wird und dennoch Vollbeschäftigung erhalten bleibt? Gesell fordert und Keynes empfiehlt, das Geld mit "Durchhaltekosten" [34] zu belasten: mit einen "Negativzins" für Bar- und gegebenenfalls Buchgeld, um den "positiven" Zins zu kompensieren und den Urzins langfristig und durchschnittlich auf Null zu drücken. Dann wäre - "sagen wir innerhalb von fünfundzwanzig Jahren oder weniger" [34a] - ein "quasistatischer" Zustand erreicht: es gibt kaum noch quantiaives, nur noch qualitatives Wirtschaftswachstum[34b]. Keynes ist also kein "Wachstumsfetischist", wie viele einschliesslich Kurz behaupten. Nichtsdestotrotz herrscht Vollbeschäftigung, und zwar auf niedrigem Arbeitsstundenniveau. Denn die Reallöhne sind hoch, weil der Kapitalzins in die Löhne eingegangen ist. Werfen die vermehrbaren Produktions- und Gebrauchsgüter keinen Kapitalzins mehr ab, dann sind sie entkapitalisiert: kein Kapital mehr, nur noch Ge- und Verbrauchsgüter der Produzenten und Konsumenten: der Arbeiter, Unternehmer, Mieter, Biertrinker und so weiter. Nicht nur der Geldrentner, auch der Kapitalrentner ist eines "sanften Todes" (Keynes[34c]) gestorben, der Kapitalismus überwunden - wenn denn diese Keynes´sche Theorie, die mit der Gesell´schen identisch ist, richtig ist. Für Leute, die Marktwirtschaft mit Kapitalismus verwechseln, ist diese Theorie allerdings schwer verständlich.

Und der Boden? Kapital ist vermehrbar, folglich steigt die Kapitalrente pro Kapitaleinheit nicht ins Unermessliche. Boden ist jedoch nicht vermehrbar, und da mit dem Wachsen der Bevölkerung und des gesellschaftlichen Reichtums die Nachfrage nach der gleichbleibenden Bodenfläche steigt, steigt auch die Grundrente pro Quadratmeter. Sie kann jedoch durch Vergesellschaftung und Verpachtung des Bodens oder mittels einer Bodenwertsteuer abgeschöpft werden [34d]. Gesell wollte den Boden einem "Mutterbund" zueignen, damit die Produzenten die Grundrente, "die wir heute an die Rentner verschenken, ... in unsere Hände [bekommen], um sie unter die Mütter und Kinder zu verteilen, so dass von da an keine Frau aus wirtschaftlichen Gründen den ihr widerwärtigen Mann bei sich noch dulden muss" [34e].

Dieses gewissermassen "proudhonistische" Konzept zur Überwindung des Kapitalismus passt weder der Marxistin Ditfuth noch dem Über-Marxisten Robert Kurz in den Kram, lässt es doch den teuflischen Markt und die "Warenproduktion" ungeschoren. In seinem Sklaven-Artikel schreibt Kurz: "Proudhon bleibt es unbegreiflich, dass diese besondere Macht des Geldes, seine Schlüsselstellung auf dem Markt, kein 'Fehler' und keine 'Anmaßung' ist ..., sondern vielmehr überhaupt aus der Notwendigkeit eines warenproduzierenden Systems herrührt, sich durch ein allgemeines équiavalent darzustellen und zu vermitteln" [35].

Eben! Das ist das Problem! Kurz´ Rechtfertigung des Geldzinses ist in seiner Schlichtheit genial und eine fabel-hafte Widerlegung der Proudhon´schen, Gesell´schen und Keynes´schen Zinstheorie. Was spricht jedoch dagegen, die Vormachtstellung des Geldes, wie sie sich "aus der Notwendigkeite eines warenproduzierenden Systems" ergibt, zu kompensieren, um die ausbeuterischen und Krisen verursachenden Zinsen zu senken? Das tut doch — ausser den Finanzkapitalisten — niemanden weh! Es geht um anderes. Es geht Kurz nicht darum, den Kapitalismus zu überwinden, sondern den Kommunismus zu verwirklichen. Dann wäre nämlich das verhasste "warenproduzierende System" und die "Anarchie des Marktes" erledigt. Allein darum ging es auch seinem Meister Marx. Wie andere "Meisterdenker", verurteilt Marx die Anarchie des kapitalistischen Marktes, aber "nicht weil sie kapitalistisch wäre", vermutet Andre´ Glucksmann, "sondern weil sie eine Anarchie ist" [35a].

Wenn Gesell die Befreiung der Marktwirtschaft vom Geld- und Kapitalzins - das heisst: vom "Profit" (Marx)! - fordert, ist er dann "prokapitalistisch", wie Ditfurth behauptet? Sein Unterschied zu Marxens vorgeblichem Antikapitalismus besteht in einer anderen Kapitalanalyse und daher auch in einer anderen Methode, den Kapitalismus zu überwinden. Es ist keine vom "wissenschaftlichen Sozialismus" geforderte wissenschaftliche Leistung Ditfurths, Gesell als prokapitalistisch zu definieren. Zumindest hat er den Anspruch, die Produktions- und Konsumtionsgüter (z.B. Wohnungen) zu entkapitalisieren, ist also zu mindest subjektiv ein Antikapitalist. Ob er jedoch objektiv kein Antikapitalist ist, seine Theorie also falsch, gar "prokapitalistisch" ist, muss Ditfurth erst beweisen. Und die Praxis, die - von einigen kleinen, aber gelungenen Schwundgeld-Experiment abgesehen [35b] - im grossen Rahmen noch aussteht.

Von Marx wissen wir es. Er ist lediglich subjektiv Antikapitalist. Seine Kapitalanalyse und sein produktions­theoretischer Ansatz zur Überwindung des Kapitalismus wurden nicht nur theoretisch, sie sind auch durch die Praxis seiner Anhänger objektiv widerlegt worden. Wie kann eine Theorie gründlicher widerlegt werden, als durch die Praxis?

 

Bereits in den 10er Jahren hatte der Marxist Hilferding in seinem Buch Das Finanzkapital aufgezeigt, dass Ausbeutung und Krisen auch durch das Geldkapital verursacht werden. Doch anders als Gesell, konzentrierte er seine Analyse auf die Banken und vernachlässigte die Probleme, die sich aus der Natur des Geldes selbst ergeben. Aber immerhin bemühte er sich um eine Weiterentwicklung der Marx´schen Wirtschaftstheorie durch die Einbeziehung des Kreditwesens und der Macht der Banken. Die vorgeblich aus der "undogmatischen Linken" der 70-er Jahre kommende Ditfurth hält jedoch an einem mehr als 100 Jahre alten Dogma der marxistischen Wirtschaftstheorie unverrückbar fest, das besagt, dass Ausbeutung und Krisen durch den Markt und die Produktionsverhältnisse verursacht werden, während das Geld nur wie ein "Schleier" über der Produktion liegt. Aus dieser konservativen Position heraus wirft sie auch Kurz vor, er sähe "gern riesige Mengen spekulativen Finanzkapitals um die Welt wandern" (S 81). Wie Frau Ditfurth, ignoriert jedoch auch Kurz das Zinsproblem [36], Frau Ditfurth ausserdem das in Banken organisierte Finanzkapital. Sie ist über die zwei Jahrhunderte alte Geldschleier-Ideologie der Klassiker nicht hinausgekommen.

 

Das "Knochengeld", die Neoliberalen,
Boockchin und Bloch

Weil Ditfurth nichts von Zins und Kapital versteht, kann sie auch behaupten, dass bei der Künstler­veranstaltung mit dem "Knochengeld" am Prenzlauer Berg in Berlin 1993 "weder Produktionsbedingungen noch Profit ... auch nur andeutungsweise in Frage gestellt" (S. 107) wurden. Genau dieser "Profit", der sich nach Marx aus dem Geld- und Kapitalzins zusammensetzt [32], wird mit Gesells "Knochengeld" - also letztendlich auch mit der Knochengeld-Aktion am Prenzberg - in Frage gestellt. Lediglich die unmenschlichen Produktionsverhältnisse bleiben bei Gesell unerwähnt, weil sie nach seiner Theorie im Wesentlichen eine Folgeerscheinung der Zinswirtschaft sind.

Frau Ditfurth behauptet desweiteren: "Das praktisch brauchbare an der Gesell´schen Lehre haben neoliberale Kapitalismustheoretiker längst abgeschrieben" (S. 115 f.). Das einzige, was sie "abgeschrieben" haben, ist Gesells Einsicht, dass das Geld eben kein "Schleier" ist, der über den Produktionsverhältnissen wabert, wie noch die Klassiker einschliesslich Marx glaubten. Desweiteren waren die Klassiker einschliesslich Marx der Ansicht, der Geldzins habe keine Bedeutung für die Konjunkturkrisen und die Entstehung des "Profits". Immerhin geben die Neoklassiker beziehungsweise Neoliberalen zu, dass - in Annäherung an die Lehren von Proudhon, Gesell und Keynes - der Geldzins von gewisser Bedeutung ist für Konjunktur und Beschäftigung; das ignorieren die Marxisten jedoch immer noch. Die Neoliberalen möchten allerdings lieber die Löhne kürzen, statt die Zinsen senken, während die Marxisten höhere Löhne fordern, aber ebenfalls, ohne den heiligen Zins anzutasten; beides funktioniert nicht. Wie die Marxisten ignorieren auch die Neoliberalen immer noch den Geldzins als Ausbeutungsfaktor. Und anders als ihre Altvorderen, die Klassiker, ignorieren die Neoliberalen ausserdem die Grundrente als parasitäres Einkommen. Das wirklich "brauchbare", worauf es den Nicht-Klassikern Proudhon, Gesell und Keynes ankommt und was noch zu tun übrigbleibt, ist die Überwindung des positiven Geldzinses und die Umverteilung der Grundrente. Als dogmatische Marxistin kann Ditfurth das nicht registrieren und auseinanderhalten. Daher kann sie auch nicht begreifen, wie eng die marxistische und die neoliberale Zinsideologie miteinander verkleister sind. Deshalb nennt Keynes Marx einen "Klassiker".

Ditfurth zitiert den US-amerikanischen Anarchisten Boockchin, dass "unsere ökologischen Probleme ihre Wurzel in der Gesellschaft und in sozialen Problemen haben" (S. 132). Auch hier werden wichtige Zusammenhänge nicht begriffen. Die Ökologieprobleme haben im Wesentlichen mit ökonomischen Problemen zu tun, insbesondere mit den Zinseszins bedingten Wachstumszwängen. Auch das haben nicht die Neoliberalen, die trotz Ökokrise immer noch Wirtschaftswachstum, oder die Marxisten, die trotz realsozialistischer Pleite immer noch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die "Planwirtschaft" fordern, aufgezeigt, sondern die liberalsozialen und libertären Gesellianer, insbesondere Helmut Creutz in Das Geldsyndrom.

Proudhon und Gesell versprachen nicht das Paradies auf Erden, schon gar nicht die Lösung unserer heutigen Umweltprobleme. Lediglich Vollbeschäftigung und den "vollen Arbeitsertrag" - zwei alte und heute wieder aktuelle sozialistische Forderungen. Ganz klar, dass das den anspruchsvollen Kommunisten nicht reicht. Für Ernst Bloch z. B. ist Gesells Freiwirtschaft ein "zwerghaft-komisches Gebilde", das sich zudem noch "an den bedenklichsten Utopisten anschliesst, an Proudhon" [37]. Der - natürlich unbedenkliche - Utopist Bloch hat vollkommen recht: Proudhon ist es wert, bedacht zu werden. Er ist nicht nur der Vorläufer der antikapitalistischen Lehren Gesells und Keynes´, sondern auch ein aktueller Theoretiker eines modernen libertären Föderalismus [21]. Und gemessen an der gigantischen Utopie des Propheten Marx, wirkt der bescheidene sozialökonomische Anspruch des "mittelständischen Unternehmers" Gesell (wenn wir einmal von seinem Traum vom "Neuen Menschen" absehen, den er mit dem "Mutterbund" erschaffen wollte) in der Tat mickrig, führt aber nicht in den ganz und gar nicht "zwerghaft-komischen" Gulag. Eine krisenfreie Wirtschaft ohne Ausbeutung und quantitatives Wachstum sind immerhin die Basis für die Entwicklung und Befriedigung höherer Bedürfnisse. Das hat die fast ununterbrochene Vollbeschäftigungsperiode der 50-er und 60-er Jahre gezeigt. Sie war die Voraussetzung für eine nicht zu verachtende "Kulturevolution" in den 60-er Jahren. Bleiben wir also auf dem Teppich, vielleicht erreichen wir dann mehr.

 

Eine famose Alternative zur Freiwirtschaft

Bis heute ist es Ditfurth, Kurz und anderen Schlaubergern nicht gelungen zu widerlegen, dass die Freiwirtschafts­lehre den bescheidenen tausch-sozialistischen Ansprüchen Proudhons, Gesells und Keynes´ nicht genügt. Aber das brauchen sie auch gar nicht, können sie dieser "spiessbürgerlichen Geldutopie" (Kurz) doch ihre famose Utopie des "Kommunismus" entgegenhalten. Sie glauben an den kommunistischen Traum wie andere an den amerikanischen, der ebenfalls immer einer bleiben wird.

Sie können nicht einmal genau bestimmen, wie ihr Traum mit der "Aufhebung" des Privateigentums an den Produktionsmitteln und des "warenproduzierenden Systems" (Kurz) Wirklichkeit werden soll [38], ohne im gehabten Fiasko zu verenden. Genosse Kurz, der Marx links überholen will, "peilt" (im 3. Teil seiner Sklaven-Arbeit) "über den Daumen" an, wo es langgehen "könnte": "es gilt, den etatistischen (staatsutopisch verkürzten) Marxismus mit der anarchistischen Radikalkritik des Staates anzureichern und umgekehrt den warenförmig-individualistischen (geldutopisch verkürzten) Anarchismus mit der Marxschen Radikalkritik der fetischistischen Warenform." Es sei jedoch "eine gesellschaftliche Transformation über das unhaltbar werdende Markt-Staat-Syndrom der totalen Warenform hinaus nur als eine Vielfalt von Ansätzen von ganz verschiedenen Ebenen denkbar: in der unmittelbaren Reichweite etwa neue nichtmarktvermittelte Formen genossenschaftlicher Produktion und selbstverwalteter Dienste; in der mittelbaren Reichweite der zentralen Industriesektoren die Entwicklung einer nichtetatistischen neuen Planungsdebatte (etwa mit Hilfe kybernetischer und ´chaostheoretischer´ Modelle) jenseits von Nationalstaat und Nationalökonomie. Wesentlich dabei wäre, das Vergesellschaftungs- und Produktionskraftniveau der Moderne nicht einfach fahrenzulassen, sondern vielmehr seine Potenz und Erscheinungsformen nach sinnlichen und ästhetischen nicht-warenförmigen Kriterien auszusortieren. All dies liegt freilich schon jenseits einer Auseinandersetzung mit der Gesellianischen schwachen Geldutopie." - Das war´s? Das war´s.

Dass dieser wie der Morgenschiss regelmässig wiederkehrende Traum von der "Aufhebung" der "Warenproduktion" (Kurz), der nichts anderes ist als der "schwache" Aufguss eines Alptraums, bemerkenswerterweise vor allem von West-Linken geträumt wird, hat wohl damit zu tun, dass diese Traumtänzer nie den Versuch seiner Realisierung am eigenen Leib verspürt haben. (Das Sein bestimmt halt das Bewustsein.) Da sie jedoch nichts anderes als die aufgewärmten marxistischen Phrasen, die kaum noch jemand ernst nimmt, gegen Gesells "Irrlehre" vorzubringen haben, bleibt diesen Marx-Apologeten, so lange ihnen Maos "Gewehrläufe" fehlen, nichts anderes übrig, als mit Verbalinjurien aus allen Rohren gegen die gut gepanzerten Reformvorschläge Gesells zu ballern. Noch gezielter als Ditfurths Stosstrupp feuert Kurz seine Dumdumgeschosse daneben. Er spricht von der "sozialbastlerischen Heimwerker-Mentalität" der "alternativen Ökonomieklempner" und einem "Patentrezept" (´ne kleine Steigerung: "famoses Patentrezept"), von einer "skurrilen Weltverbesserungs-Sekte" mit dem "Heiligtum der Gesellianischen Geldspiesser" und ihrem "Apostel" (gemeint ist wohl Gesell, der Arme), von einer "Spiessbürger-Utopie" mit dem "bornierten Gesichtspunkt" der "Arbeits-, Waren- und Geldspiesser", die "schnell noch ein paar ökologische Gesichtspunkte in ihre arbeits- und warenselige Spiesserutopie hineinjubeln wollen". So allein im 1. Teil seines Sklaven-Pamphlets. Das steigert sich dann im 2. Teil zu herzigen Sprüchen an die Adresse der "neomittelständischen Halsbabschneider" und des "geldgierigen Konsumidioten und marktschreierischen Rosstäuschers, der sich für einen ´tüchtigen Produzenten´ hält", diesen "behäbig grunzenden fetten Metzgermeister, der noch gemütlich samstags im Wurstkessel badet" und "sich an der ´ehrlichen Arbeit´ in seiner jämmerlichen Klitsche für eine ´ehrliche Mark´ und für ´gutes Geld´ festklammert" (wie Marxisten an Charly). Wie sagte doch ein vielzitierter Geheimrat? "Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt" (Goethe: Tasso [39]).

 

Die "inhaltliche" Diskussion der roten Kader

Die "undogmatische Linke" Ditfurth fordert von anderen, was sie und ihre Genossen selbst nicht leisten: "inhaltliche" (S. 113) Diskussion. Sie beschwert sich, dass im West-Berliner A-Kurier ein "tatsachenfreier" Beitrag aus dem telegraph 5 / 1993 (Ex-DDR-Untergrundblatt aus der Ost-Berliner Umweltbibliothek) zur "Gaspistolenaffäre" im El Locco anlässlich des Gesell-Vortrags von Bierl nachgedruckt worden sei, "in dem mit keinem einzigen Wort auf Peter Bierls inhaltliche Kritik an Gesell eingegangen worden ist" (S. 113). Wo zu auch, war dazu doch Gelegenheit anlässlich dieser Veranstaltung unter Beteiligung eines guten Gesell-Kenners. Zwei DIN-A-4-Seiten Notizen hatte ich mir zu Bierls unqualifizierten Absonderungen gemacht. Doch Bierl hat gekniffen. Er diskutiert nicht mit "Rassisten" und "Faschisten".

Frau Ditfurth meint, mit Gesell könne "mensch sich auch auseinandersetzen, ohne dass AnhängerInnen der Gesellschen Ideologie ein Forum geboten wird" (S. 105). Wie das, wenn - ausser einigen Gesellianern - niemand da ist, der fundierte Kenntnisse über Gesell und die Freiwirtschaftslehre hat, wie die vielen dümmlichen Hetzartikeln gegen Gesell und seine Lehre beweisen? Was ist sachlich gegen eine Selbstdarstellung der Gesellianer einzuwenden? Und wieso "Forum" für Gesellianer, wenn doch Ditfurth und ihre Paladine mit allem Recht haben und daher auf solchen Foren die beste Gelegenheit hätten, das vor vielen Menschen zu beweisen? Weil ihnen die Argumente fehlen? Weil im relativ liberalen Rechtsstaat keine Schauprozesse veranstaltet werden können? Wie kommen denn die von Marxisten beschworenen dialektischen Prozesse - These, Antithese, Synthese - anders zustande als durch Argumente und Gegenargumente? Erich Mühsam und Rudolf Rocker hatten jedenfalls keinen Schiss, sich 1930 in zwei öffentlichen Diskussionen in Berlin dem Nationalsozialisten Otto Strasser zu stellen. Und auch Strasser fürchtete sich nicht vor den sicherlich guten Argumenten dieser Anarchisten [40]. Bierl, Ditfurth und Genossen sind eben keine Dialektiker, sie sind Propagandisten, und das von der primitivsten Sorte.

Und sie sind geil auf Macht. Sie wollen alles unter ihre Fuchtel bringen. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht, wie die El-Locco-Veranstaltung in Berlin gezeigt hat. Bolschewistischer Tradition folgend, gestehen sie ihren Angeklagen noch nicht einmal das zu, was die "bürgerliche Klassenjustiz" gemeinhin zuzulassen gezwungen ist: dass sich auch der schlimmste Angeklagte selbst oder über seinen Verteidiger vor den Anklägern und in aller Öffentlichkeit zu den ihm vorgeworfenen "Schandtaten" äussern kann und nicht, wie es Bierl und seine Mannen diktierten und auch der NS-Richter Freisler und die Bolschewisten in ihren Schauprozessen praktiziert haben: vor einem ausgewählten Kreis.

Bierls Spezialität: nicht vor seinem Kreis und nicht vor ihm, dem Ankläger! Vielleicht befürchten Bierl und Ditfurth, dass sie unter freien und fairen Diskussionsbedingungen mangels Fakten und Argumenten ihre Klientel nicht mehr indoktrinieren können. Statt dessen zog Bierl im El Locco in der richtigen Einschätzung, durch ihre seit mehr als einem Jahrzehnt betriebenen Hetzkampagne gegen Gesellianer bereits genügend Linke eingefangen zu haben, eine "demokratische" Abstimmung durch. Sein Vorschlag: die Diskussionsteilnehmer teilen sich in eine Bierl- und eine Schmitt-Gruppe. So wurde die Zuhörerschaft gespalten und Bierls Jünger vor dem schlechten Einfluss des "Rassisten" und "Antisemiten" Klaus Schmitt geschützt. Doch Schmitt besass die Unverschämtheit darauf zu bestehen, allen von Bierl falsch informierten Teilnehmern Rede und Antwort zu stehen. Mit Gewalt daran gehindert, "zückte" er die Gaspistole! Schrecklich. Aber immerhin hat er das erreicht, was er dann wenigstens erreichen wollte: allgemeine Aufmerksamkeit und Diskussion in linken Kreisen über die Methoden dieser rot gefärbten Nazis.

Ähnliche Methoden wie Bierl hatten bereits die allein seligmachenden Marxisten-Leninisten in den Räten der jungen Sowjetunion mit Erfolg praktiziert: Gegner wurden per Abstimmung, zu der notfalls Mehrheiten herangekarrt wurden, "demokratisch" ausgeschaltet; wenn das nicht half, durch den Terror der Tscheka. Wir 68-er haben den volksherrschaftlichen Mehrheits-Quatsch verachtet, und Minderheiten konnten ungehindert reden - ihre Argumente zählten. Das war jedoch vorbei, als Anfang der 70-er Jahre, etwa zu der Zeit, als (laut Text auf dem Einband ihres Buches und S. 100) auch Ditfurth in der linken Szene auftauchte, die autoritären marxistisch-leninistischen, stalinistischen und maoistischen Parteisekten aus den Ritzen des "Schweinesystems" krochen [40a]. Damals ging´s los mit dem, was normalerweise im Abfalleimer verschwindet: mit jener Nachgeburt der Studenten- und Jugendrevolte der 60-er Jahre, zu der offenbar auch Jutta Ditfurth gehört. Ist schon was drann, wenn Wau Holland vom Chaos Computer Club in Hamburg meint: "Platthirne wie Jutta & Co. sind das stinkende Aas der linken Geschichte" [41].

Mit geradezu rührender Naivität und bezeichnendem Vokabular versucht die besorgte Mamma Platthirn ihren Junggenossen ein Diskussionsverbot mit Gesellianern zu erteilen: Klaus Schmitt habe "im Infoladen Bambule ungestört Propaganda ... machen dürfen" (S. 75). Er hat "dürfen"! Die Anarchos, die mich einladen wollen, müssen wohl erst im Politbüro der Kommisarin Ditfurth um Genehmigung ersuchen. Zumindest hätte doch "gestört" werden müssen, Gewalt nicht ausgeschlossen, wie von ihrem Knappen Manfred Zieran 1997 auf dem Benno-Ohnesorg-Kongress in der TU Berlin praktiziert [41a]. Alles nach dem Motto: Wer reden darf, bestimme ich. Da können sich die GenossInnen doch ein Beispiel nehmen an den Rollkommandos der SA. Und "Propaganda"! Ein anderer Begriff für Vermittlung von Informationen und Theorien fällt dieser Miniaturbolschewikin wohl nicht ein.

 

Die radikale antiautoritäre Linke, obwohl auch eine "hedonistische", hat in den 60-er Jahren grossen Wert auf Rationalität und Wahrhaftigkeit gelegt und alles "hinterfragt" und "durchdiskutiert", ohne Berührungsängste gegenüber Inhalten und Personen. Doch offenbar sind Linksextremisten — vielleicht, weil sie eben nicht radikal sind: keine Menschen, die den Problemen an die Wurzel gehen — ebenso unfähig, sich inhaltlich mit ihren Gegnern auseinanderzusetzen wie Rechtsextremisten. Diese Taktik der Rede- und Diskussionsverbote ist (um es mal im Stalinistenjargon zu sagen) "schädlich". Wir 68er haben mit Vergnügen unsere Gegner vorgeführt! Und das ist nützlich, wie der linksliberale Journalist Erich Kuby gezeigt hat. Mitte der 60-er Jahre zog er — ohne Berührungsängste gegenüber "Faschisten" — gemeinsam mit dem damaligen NPD-Häuptling Adolf v. Thadden durch die westdeutschen Universitäten. In Streitgesprächen versuchten die Beiden ihre studentischen Hörer von ihrer jeweiligen Position zu überzeugen. Ich habe mit Erstaunen erlebt, wie im gut besetzten Audimax der Technischen Universität in Berlin anfänglich v. Thadden sehr viel Beifall erhielt, dass sich das Blatt jedoch bald wendete. Am Schluss der Veranstaltung galt der Beifall nur noch Kuby. Dank der besseren Argumente und nicht des Gebrülls einer rot-braunen Primatenhorde.

 

Sicherlich, es gibt Menschen, die haben kein Interesse an Diskussionen, Privilegierte wie z.B. Grossgrund­besitzer in Asien und Lateinamerika. Sie verstehen in der Tat nur die Sprache, die sie selber sprechen: die der Gewalt. Das ist jedoch auch die Sprache linker Extremisten, wenn sie nichts zu sagen haben. So z.B., wenn Ditfurths Spezi Bierl, in Ermangelung von Fakten und Argumenten, seinen Genossen eine Diskussion mit der Faust empfiehlt. Er beklagt sich in der von seiner Genossin Ditfurth herausgegebenen ÖkoLinX (Jan./Febr. 1994), dass "niemand ihm [Klaus Schmitt] für seine rassistischen Positionen aufs Maul haut". Ja, warum eigentlich nicht? Vielleicht, weil er keine rassistischen Positionen hat?

"Aufs Maul hauen"! So grölen sie, wenn die Argumente fehlen, die Fanatiker der SA, des Islams, der Inquisition und die Kohorten Ditfurths. "Vergast sie, es sind Artfremde!", "Steinigt sie, es sind Gottlose!", "Verbrennt sie, es sind Hexen!", "Erschiesst sie, es sind Faschisten, Rassisten, Konterrevolutionäre und Volksfeinde!" Wo und wann haben diese Herrschaften von mir auch nur einen einzigen rassistischen oder antisemitsichen Spruch gelesen oder auch nur gehört [41b]? Wie den Rassisten und Antisemiten fehlen auch Ditfurth, Bierl und Konsorten die Beweise für ihre Vorwürfe. Aber die brauchen sie auch nicht, geht es doch um Grösseres als um intellektuelle Redlichkeit: es geht um die "Befreiung" der Menschheit durch den Kommunismus. Da ist jedes Mittel recht, auch Lüge, Verleumdung, Zensur und Meinungsterror, gege-benenfalls auch physische Gewalt. Das muss man/frau doch einsehen! Auch Rosa Luxemburg, von wegen: "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden."

Im letzten Satz seiner Verratenen Revolution heisst es bei Leo Trotzki: "Trieb-feder des Fortschritts ist die Wahrheit, nicht die Lüge." Und was ist die "Wahrheit"? Der Marxismus! Alles andere ist "Lüge", und die darf bekämpft werden. Um des "Fortschritts" Willen mit allen Mitteln. Auch mit den Mitteln der Lüge und Gewalt. Das ist die Dialektik "roter Faschisten".

 

Die Gutmenschen und die Bösewichtel

Frau Ditfurth sammelt Rassisten und Faschisten wie andere Briefmarken oder Bierdeckel. Im 5. Kapital ihres genialen Werkes führt Sauberfrau eine kleine Auswahl dieser und ähnlich ruchloser Kreaturen vor: "Ob Franz Alt, Günter Bartsch, Max Otto Bruker, Peter Caddy, Fritjof Capra, Bill Davall, Dave Foreman, Margrit Kennedey [Geld ohne Zinsen und Inflation], Gottfried Müller, Silvio Gesell, Jan Ringenwald, Barbara Rütting, Peter Singer, Klaus Schmitt [ich fühle mich geschmeichelt!], David Spanger, George Sessions, George Trevelyan oder der Dalai Lama [Mann! zu diesem illustren Kreis gehöre ich?]: darin sind sie sich alle einig, in der einen oder anderen Form sind Menschen oder ein Teil von ihnen) das Krebsgeschwür der lebendigen ´Gaia´" (S. 123). (Etwa nicht die grössten Kahlfresser auf diesem kleinen Planeten?)

In ihrem letzten Kapitel kommen noch einige verstockte Frevler am Heiligen Geist des Marxismus-Leninismus hinzu: Bernd Kramer, Bernhard Heldt, Georg Otto und wieder einmal (welch ein Kreuz!) Helmut Creutz (S. 179). Als der erfolgreichste Autor und Referent (Creutz: "mehr als 500 Vortragsveranstaltungen") zur Zinsproblematik wird Creutz als "einer der penetrantesten Gesell-Jubler" (S. 100) besonders intensiv gehasst.

In seinem bereits mehrfach wiederaufgelegten 463-Seiten-Buch Das Geldsyndrom taucht der Name Gesell allerdings nur viermal auf, genausooft wie der von Marx und nur halb so oft wie der von Keynes. Da sich zudem aus keinem einzigen Satz seiner vielen Bücher, Aufsätze und Vorträge ein "rechter" Strick drehen lässt, wird das dazu notwendige Material aus dem Nichts gezaubert, toleriert doch die liberale "Klassenjustiz" den Schöpfungsakt dieser Seilerhandwerker als "freie Mei-nungsäusserung". So kann Ditfurth unbehelligt behauptet, Creutz sei "Mitglied der [in Hamburg einst tatsächlich ziemlich] rechtsextremen FSU" (S. 100) gewesen. Ein gewisser Robert Nappert behauptet, er hätte dort seine "politische Karriere" gemacht. Ein Johannes Weigel befördert ihn sogar zu einem Funktionäre der Freisozialen Union. Und wie sie "recherchieren", diese "Antifaschisten"! Einer schreibt vom anderen ab, Nappert z. B. von Bierl und Ditfurth [41c]. Tatsache ist, dass Helmut Creutz allenfalls vorgeworfen werden kann, dass er Mitbegründer der Alternativen Liste und der GRÜNEN in Nordrhein-Westfalen war.

Weigel kann sogar hellsehen! Obwohl er nach eigenen Aussagen nie einen Vortrag von Creutz gehört hat, weiss er in einem Flugblatt - unter Missbrauch des Asta-Namens der Uni Hannover - zu berichten, dass von Creutz Inhalte "voller Sozialdarwinismus, Eugenik, Biologismus und patriarchalischer Herrschaftssicherung verkauft" werden. Jeder, der seine Schriften kennt, weiss, dass er fast ausschliesslich über die sozialökonomische Nachkriegsentwicklung berichtet. Lediglich seine Bücher Gehen oder kaputtgehen. Ein Betriebstagebuch, herausgegeben vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt und von der IG-Metall an ihre Betriebsobleute verteilt, und Haken krümmt man beizeiten. Schultagebuch eines Vaters, mit einem Vorwort von Hans A. Pestalozzi, behandeln andere Themen, letzteres kritisch die repressive Erziehung in Familie und Schule.

Mit Creutz etc. ist die Liste der Gulag-Anwärter keineswegs vollständig. Neben Ernest Bornemann (Das Patriarchat) und vielen weiteren Bösewichtern ist auch mehrfach Otto Strasser (der von Glück sagen kann, dass er nicht mehr lebt) registriert. Verweilen wir eine Augenblick bei bei diesem Dissidenten der NSDAP (oder soll ich sagen: Renegaten des Hitlerschen National-Sozialismus?). Ditfurth schreibt, ich hätte aus den bereits erwähnten gemeinsamen Veranstaltungen der Anarchisten Rudolf Rocker und Erich Mühsam mit dem Ex-NSDAP-Mitglied Otto Strasser [40] eine "inhaltliche Übereinstimmung" (S. 109) der Anarchisten mit Strasser behauptet.

Oh Mann, oh Mann, hier verdreht Frau Ditfurth schon wieder den Tatbestand! Was Rocker und Mühsam von diesem Nationalrevolutionär trennt, habe ich in der Contraste vom Mai ´93 so formuliert: "Die Anarchos sind Kosmopoliten, die ´nationalen Sozialisten´ Nationalisten; die einen gegen, die anderen für den Staat; die einen antiautoritär und föderalistisch, die anderen autoritär und zentralistisch." Das Autoritäre, Zentralistische und Staatsbejahende haben nicht die Anarchisten, sondern die Marxis-ten mit den Nationalsozialisten gemeinsam. Haben das die "Antifas" (übrigens ein stalinistischer Begriff!) um Ditfurth nun endlich kapiert? Wohl kaum.

Und sie werden auch kaum kapieren, dass ich auch wirtschaftstheoretisch nichts mit den Gebrüdern Strasser gemein habe, wie mir anderswo unterstellt wird, wohl aber die Marxisten. Oder ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel kein klassisch linkes Ziel und die Verstaatlichung der Produktionsmittel keine typisch marxistische Praxis? Sollen wir die Forderung nach der "Nationalisierung" des gesamten Bodens als antimarxistisch bezeichnen? Und wo ist die Forderung einzuordnen, sämtliche "Erwerbsgesellschaften" mit 20 und mehr "Arbeitnehmern" in Aktiengesellschaften umzwandeln und 49% der Aktien der "nicht lebenswichtigen" und 51% der "lebenswichtigen Gesellschaften" dem "Reich" (30%), der "Belegschaft" (10%), den "Landschaften" (5 bzw. 6%) und den "Gemeinden" (4 bzw. 5%) zuzueignen [42]? Diese 1925 von den Gebrüdern Strasser aufgestellten Programmpunkte hätten gravierende Eingriffsmöglichkeiten des Staates, aber auch Mitbestimmung der Arbeiter (mehr, als im "realen Sozialismus" realisiert war), und Länder und Gemeinden in den Unternehmen und eine Beteiligung an den Kapitalrenditen (die im "realen Sozialismus" gar nicht erst erwirtschaftet worden sind) bedeutet. Kein linkes Programm?

Dieses von dem antisozialistischen Hitler verworfene Strasser-Programm ist jedoch kein freiwirtschaftliches. Bei den Strassers wird die Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens gefordert, bei Gesell hingegen die Zueignung des Bodens an einen "Mutterbund". Die Gesellianer lehnen eine Verstaatlichung der Produktionsmittel ab; sie bevorzugen privates Eigentum an den Wirtschaftsgütern und akzeptieren dezentrales genossenschaftliches und kommunistisches Gemeineigentum auf der Basis freier Vereinbarungen - ihnen geht es vorrangig um die Entkapitalisierung allen Kapitals.

Nur der Markt soll bei Otto und Gregor Strasser - wie auch bei den Gesellianern - ungeschoren blieben. Das verleiht ihrem zwar wenig realistischen, auf die Produktionssphäre fixierten Programm - aber anders als dem "realsozialistischen" - immerhin eine gewisse Realitätsbezogenheit, da der Wettbewerb erhalten bleibt. Doch wie bei den Marxisten, wird auch bei den Gebrüdern Strasser das Geldproblem übergangen. Damit hat sich der von Hitler bevorzugte Nazi Gottfried Feder beschäftigt, wenn auch höchst unzureichend, wie der Gesellianer Uhlemayr bereits 1923 aufgezeigt hatte [43]. Auch die unzureichende Geldanalyse von Marx [44] hebt sich nicht sehr viel positiver von dem primitiven Geldverständnis Feders ab (den Hitler, an die Macht gekommen, flugs zu Gunsten Hjalmar Schachts fallen liess). Gerade die Geldtheorie trennt die freiwirtschaftliche ebenso von der marxistischen wie von der nationalsozialistischen. Wenn es nach der verqueren Gleichsetzungslogik Ditfurths geht, müsste auf Grund gewisser ökonomischer Gemeinsamkeiten zwischen Marx und den Gebrüdern Strasser nicht Gesell, sondern Marx ein Faschist sein.

Über eines, das Otto Strasser von Marx und vielen marxistischen Intellektuellen trennt, berichtet Wilhelm Reich: dass Strasser (den er einen "klugen, ehrlich gesinnten ... Revolutionär" nennt) in Diskussionen mit Marxisten diese wegen ihrer Unkenntnis der menschlichen Psyche kritisierte. Sie würden den Menschen lediglich als ein rationales Wesen betrachten, das man nüchtern und sachlich aufklären könne, und "Seele und Geist" leugnen. Sie versäumten es daher, in ihre politische Praxis die "soziale Wirkung des Mystizismus" auf die Massen mit einzubeziehen [45].

Dieses Versäumnis kann man Frau Ditfurth kaum vorwerfen. Obwohl sie andere des Mystizismus und Irrationalismus bezichtigt (S. 131 f.), spielt sie selbst auf der Klaviatur menschlicher Irrationalität, wenn sie - was bei jungen, unerfahrenen Menschen emotional gut ankommt - mit ihrer vorgeblichen Autorität als gestandene Antifaschistin ihre politischen Gegner als Faschisten und Rassisten verteufelt. Sie geht damit über das hinaus, was Strasser an Irrationalität fordert: sie bewegt sich auf der Ebene von Goebbels und Streicher: sie verhält sich im Sinne Reichs wie eine "faschistoide" Demagogin. Psychologisch bemerkenswert aber auch, wen und wie viele Menschen Ditfurth als "Faschisten", "Öko-Faschisten", "Rassisten" und "Antisemiten" bezeichnet. In der Psychoanalyse kennt man die Begriffe Projektion und Paranoia. Der erste Begriff bedeutet das Hinausverlegen psychischer Innenvorgänge - zum Beispiel faschistoider im eigenen Kopf - in die Aussenwelt und andere Menschen; der zweite bedeutet das Vorhandensein von querolatorischen Neigungen, Sektierertum, fixen Ideen und Wahnvorstellungen, die in Verfolgungswahn ausarten können. - Frau Ditfurth paranoid?

Wer sind nun die Guten? Die finden wir in Ditfurths 4. Kapitel: die "linken Grünen, MarxistInnen, MarxistInnen-LeninistInnen, AnarchistInnen, Antiautoritäre usw." (S. 100). Ein feiner Haufen. Hier liegt der Hund begraben, der linke! Mal abgesehen davon, dass manche intelligente Marxisten behaupten, dass schon Marx und Lenin nicht viel miteinander gemein haben, wie passen dann eigentlich LeninistInnen und AnarchistInnen zusammen? Wie Feuer und Wasser. War es doch Lenin, der die ukra-inische Bauern-Rätebewegung des Anarchististen Machno zusammenschiessen liess; ebenso die von den Bolschewiken als Anarchisten diffamierte Rätekommune der Arbeiter und Matrosen in Kronstadt 1921 von dem linken Trotzki. Und wie finden Figuren wie Stalin und Pol Pot mit Landauer und Mühsam gemeinsam Platz in einer linken Kiste? Oder Schublade? Die würde reichen für die traurigen Reste der heutigen Linken.

 

Wer ist "links"?

Das ist die Schwäche der antiautoritären Linken einschließlich der Junganarchos: sich als "Linke" zu verstehen. Auch Gesell bezeichnete sich als "linken Flügelmann der politischen Parteien" [46]. Vor einigen Jahren habe ich diesen Begriff noch inhaltlich definiert und damit zu verteidigen versucht, links sein bedeute die Verteidigung der in dem Arbeiterlied Die Internationale besungenen Menschenrechte [46a] und — bei Beachtung dieser Menschenrechte — den Kapitalismus und das Bodenunrecht zu überwinden.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird links jedoch als ein historischer Begriff verstanden, und die Geschichte der Linken — zumindestens die der roten Linken — ist ebenso mit Leichen gepflastert wie die der Rechten — mit unschuldigen, wohl bemerkt![37a] Und das Versprechen, Kapitalismus und Entfremdung zu überwinden, haben die roten Linken nie eingelöst. Die Selbstbezeichnung als Linker, der zudem noch hinter jeder roten Fahne (auch Hitlers Fahne war rot!) und sogar hinter Stalin-Transparenten herlatscht, führt nicht nur dazu, dass die Linken von jenen "Massen", die sie für sich gewinnen wollen, immer wieder mit den roten Killern, die selbst in Castros Kuba Anarchisten einknasten und hinrichten, in einen Topf geworfen werden. Für Konkret-Herausgeber Röhl sind Anarchisten sowieso "Faschisten" [46b].

Sich als Linke zu verstehen, verleitet Anarchisten und libertäre Sozialisten ausserdem dazu, ihre potentiellen Scharfrichter für "Genossen" zu halten und an einer linken Ideologie zu kleben, die kaum etwas gemein hat mit der Anarchie und einem libertären Sozialismus, aber viel mit Staat, Zentralismus, Totalitarismus und Gulag. Die einzigen Roten, die ich mag, sind die Indianer..., Pardon, Indigenas.[46c]

Diese guten Menschen, deren Herzen so sehr an dem Titel Linker und an der roten Fahne hängen (ging mir auch mal so), sollten vielleicht einmal die richtigen Texte von Marx lesen und ihren Kopf dort ebenso kritisch gebrauchen, wie sie das angeblich bei Gesell tun. Schliesslich ist der Kopf - wie manche Bauchmenschen zu glauben scheinen - nicht allein dazu da, damit es nicht in den Hals reinregnet. 

In Marxens Kommunistischen Manifest - gewiss keine belanglose Schrift - steht geschrieben: "Das Proletariat wird ... alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats .. zentralisieren...", "Zentralisation des Kredits in den Händen des Staates durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschliesslichem Monopol", "Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staates", "Vermehrung der Nationalfabriken ... nach einem gemeinschaftlichen Plan", "Gleicher Arbeitszwang für alle, Einrichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau" [47]. Und natürlich sind Markt und Konkurrenz abzuschaffen, bewirken sie doch die "Anarchie" der kapitalistischen Produktionsverhältnisse [48]. Wie ein "proletarischer" Staat im Sinne des Manifests der kommunistischen Partei und mit einem verkümmerten und um den Wettbewerb amputierten Markt in der Praxis aussieht, konnte 70 Jahre in der sog. Sowjetunion beobachtet werden. Mit Anarchie hatte dieser Staat - weniger als jeder andere - nichts gemein. Oder?

Ditfurth beschwert sich darüber, dass Gesellianer Marx mit Stalin verwechseln (S. 124). Gibt es dafür keinen Anlass? Wenn Ditfurth Gesell einen Antisemiten schimpft, weil er sich von den Antisemiten distanziert, muss sie Marx allerdings für einen Antistalinisten halten, war Marx doch für den "Arbeitszwang", den Stalin im "Archipel Gulag" [37a.] realisiert hatte. Marx ging in der Forderung nach einer "industriellen Armee, besonders für den Ackerbau", noch über die "Errungenschaften" Stalins hinaus. Das so ziemlich einzige, wovon sich Marx von Stalin, Lenin und Trotzki - letzterer ein Propagandist der "Militarisierung der Arbeit" - unterscheidet, ist, dass er von der Übernahme des Staatsapparats durch das Proletariat träumte. Doch diese Utopie ist voll in die Hose gegangen. Was Alt-Anarchisten vorausgesehen haben.

In einem Manuskript (vermutlich aus den 80er Jahren) mit dem Titel Konstruktiver Anarchismus und Ökosozialismus schreibt Rolf Cantzen (S. 11), wegen der "unbekümmerten Denkmethoden" sei "der Anarchismus im herkömmlichen Links-Rechts-Schema nicht unterzubringen". Stimmt. Dessen sollten sich die Junganarchos bewusst werden: zur Linken im Sinne der Geschichte und der Umgangssprache gehören die Anarchisten nicht. Diese Erkenntnis könnte dazu beitragen, sich endlich von falschen Freunden zu trennen und mehr Erfolg bei den "Massen" zu haben.

 

 

 

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