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3.   Der beschränkte Planet

 

 

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Dass sich das historische Projekt »Globale Hochzivilisation« gegenwärtig immer tiefer in eine gefährliche Sackgasse hineinmanövriert, hat mit den galoppierenden Veränderungen der Umweltbedingungen zu tun, die der Mensch selbst zu verantworten hat – nicht so sehr mit der Endlichkeit der natürlichen Vorräte. Wer in einer Quecksilbermine arbeitet, läuft Gefahr, nach wenigen Jahren durch Vergiftung zugrunde zu gehen, lange bevor er möglicherweise durch die Erschöpfung der Erzvorkommen seinen Job verlöre und sich aus Verzweiflung darüber erschießen oder gar Hungers sterben würde. Oder anders gesagt: Gerade wenn der Brennstoffnachschub gesichert ist, kann die Betriebstemperatur im Maschinenraum eines schlecht konstruierten Schiffes unerträglich hoch und die Lage schließlich explosiv werden.

Nun, die Betriebstemperatur unseres Planeten steigt tatsächlich, und zwar aufgrund der ungeheuren Mengen an fossilen Energieträgern (vornehmlich Erdöl, Erdgas, Braun- und Steinkohle), welche die Industrie­gesellschaft seit Mitte des 18. Jahrhunderts verfeuert. Aktuell dürften allein aufgrund von energie­wirtschaftlichen Aktivitäten weltweit circa 10 Milliarden Tonnen reiner Kohlenstoff pro Jahr in die Atmosphäre gelangen (Le Quéré u. a. 2015) – überwiegend chemisch gebunden in Treibhausgasen wie Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4) und Lachgas (N2O). Das ist »jede Menge Kohle« – ich möchte darauf verzichten, den Lesern mit einem der beliebten volksdidaktischen Vergleiche vom Typus »Als Briketts aneinandergereiht würde diese Menge einer Riesenschlange von der Erde bis zum Saturn entsprechen« auf die Nerven zu gehen.

Leider haben Gase wie CO2 eine lange »Halbwertszeit« in der Lufthülle unseres Planeten: Sie werden durch natürliche Prozesse teilweise erst nach Hunderten Jahren wieder entsorgt. Bei ständigem Nachschub aus industriellen Quellen reichern sich diese Substanzen deshalb rapide in der Atmosphäre an und sorgen für eine immer stärkere Rückstreuung der vom Erdboden ins Weltall hinausgesandten Infrarotstrahlung. Resultat: Der Energiegehalt der Lufthülle wächst unaufhörlich, die globale Mitteltemperatur steigt. Es geht der Erde wie einem Menschen, dem man immer mehr wärmeisolierende Kleidungsschichten aufzwingt, bis er an seiner eigenen Hitze zu leiden beginnt.

Die genaue Erläuterung der Ursachen, Folgen und Gestaltungsmöglichkeiten des Klimawandels – also der zivilisatorischen Störung des Klimasystems durch einen künstlichen Treibhauseffekt – wird der leitende Anspruch dieses Buches sein.

Aber das planetarische Verhältnis von Natur und Kultur (»Ökosphäre« und »Anthroposphäre«, wenn man sich gelehrt ausdrücken will) ist zu Beginn des 3. Jahr­tausends keineswegs allein von der Klimakrise geprägt: Die Menschheit wächst als Spezies und Bedürfnismaschinerie in einer Weise, die den durch die Erde bereitgestellten Umweltrahmen bereits an verschiedenen Stellen zu sprengen droht.

Im Herbst 2009 erschien in Nature, einer der weltweit führenden Wissenschafts­zeitschriften, ein vielbeachteter Artikel, verfasst von einem illustren Team aus 29 Autoren der unterschiedlichsten Fachrichtungen (Rockström u. a. 2009a). Der englische Titel »A Safe Operating Space for Humanity« lässt sich frei als »Ein sicherer Spielraum für die Entwicklung der Menschheit« ins Deutsche übersetzen. Der Leitautor des Beitrags, Johan Rockström, heute Direktor des Stockholm Resilience Centre (SRC), hatte mich um Mitwirkung an dieser Unternehmung gebeten, da ich schon in den 1990er-Jahren einige Ideen zur Identifizierung eines akzeptablen Umweltraums für unsere globale Zivilisation in die Debatte geworfen hatte (davon später mehr).

Der Artikel machte den so tollkühnen wie produktiven Versuch, für neun Schlüsselelemente des planetarischen Getriebes Grenzwerte (Planetary Boundaries) zu bestimmen, welche gewissermaßen nachhaltiges von nicht nachhaltigem Terrain scheiden. Der bewusste Anspruch der Verfasser war es, dadurch eine wissenschaftliche Debatte anzustoßen, welche helfen könnte, menschliche Eingriffe in die Umwelt mit nicht mehr beherrschbaren Folgen zu vermeiden. Diese Debatte ist nach wie vor in vollem Gange: Der Nature-Artikel wurde bislang über 1200-mal zitiert, und mehr als 60 wissenschaftliche Studien haben mittlerweile Verfeinerungen des Konzepts hervorgebracht, darunter eine umfassende Aktualisierung (Steffen u. a. 2015), die ich unten kurz zusammenfasse. Zudem findet das Konzept allmählich Eingang in umweltpolitische Prozesse (Gerten und Schellnhuber, 2015).

Unser Autorenteam hatte sich in besagte neun Dimensionen des immer prekärer werdenden Wechselspiels zwischen der zivilisatorischen Entwicklung und ihren natürlichen Grundlagen vertieft: Klimawandel, Verlust an biologischer Vielfalt, (zusammen betrachtete) Veränderungen der globalen Kreisläufe von Stickstoff und Phosphor, Ozonloch, Ozeanversauerung, weltweite Süßwassernutzung, Beanspruchung der globalen Landressourcen, Belastung der Atmosphäre mit Schwebstoffen (»Aerosolen«) und chemische Umweltverschmutzung.

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Dass diese Prozesse allesamt von großer Bedeutung sind für die Zukunft der Menschheit und ein funktionierendes Erdsystem (dessen ziemlich stabiler Allgemeinzustand in den letzten 12.000 Jahren überhaupt erst die Entwicklung einer mehrere Milliarden Menschen zählenden Zivilisation ermöglicht hat), steht außer Frage. Möglicherweise könnte man noch zusätzliche Aspekte (etwa den rasch anschwellenden Berg an radioaktivem Müll aus Atomkraftwerken) in die Top-Liste aufnehmen, und in zehn Jahren werden sich vermutlich weitere Kandidaten vorstellen, die jetzt noch niemand auf der Rechnung hat. Hier genügen aber erst einmal einige Anmerkungen zu den sieben Dimensionen neben Klimawandel und Ozeanversauerung (die beiden letztgenannten Phänomene stehen in einem engen ursächlichen Zusammenhang und werden weiter unten in eigenen Kapiteln ausführlich behandelt).

Das Schlagwort »Biodiversität« bezeichnet die fantastische Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten, Ökosystemen und Landschaften, welche die Evolution hervorgebracht hat – während der jüngsten Erdgeschichte durchaus im Zusammenwirken mit menschlichen Kulturen. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen allerdings die einzelnen Arten, weil sie allesamt mehr oder weniger das Prinzip Leben in geeigneten ökologischen Nischen verwirklichen. Seit dem Anbruch der Neuzeit sind jedoch die meisten dieser Erfindungen der Natur durch die Superinnovation Homo sapiens sapiens bedroht, die zur alles dominierenden biologischen Kraft der Erde herangewachsen ist.

Die Wiederauslöschung von Arten ist an sich ein völlig natürlicher Vorgang, welcher der evolutionären Erneuerung dient. Menschliche Aktivitäten (von der Umgestaltung von Landschaften bis zur gezielten Ausrottung von Tieren oder Pflanzen) haben jedoch die natürliche Artensterberate um den Faktor 100 bis 1000 beschleunigt, was einem planetarischen Gemetzel gleichkommt. Das Bestürzendste an dieser Entwicklung ist die wohlbegründete Vermutung, dass wir die meisten Arten ausradieren, bevor sie überhaupt wissenschaftlich registriert werden konnten. Mit anderen Worten: Unsere »Zivilisation« verbrennt das Buch des Lebens mit seinen Millionen von Originaleinträgen, ehe wir richtig begonnen haben, in diesem Buch zu lesen! Dies ist der vielleicht tragischste Aspekt der industriellen Erfolgsgeschichte.

Um den Vernichtungsfeldzug gegen unsere Mitgeschöpfe im Namen des Fortschritts zu stoppen, muss ein Bündel von Bremsmaßnahmen ergriffen werden, die den Rahmen der bisherigen Naturschutzfolklore in jeder Hinsicht sprengen. Im Nature-Artikel argumentieren wir insbesondere dafür, dass die künstliche Auslöschungsrate auf den (höchstens) zehnfachen Wert des natürlichen Artensterbens gedrückt werden sollte (Rockström u. a. 2009a, 2009b).

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Stickstoff in molekularer Form (chemische Formel: N2) bildet mit circa 78 Prozent den dominierenden Volumenanteil der Lufthülle. Stickstoff ist zugleich ein unverzichtbares Element bei der Bildung von Proteinen (Eiweißstoffen). Diese wiederum bilden – nicht zuletzt über die Verschlüsselung des Erbguts in der DNS – eine essenzielle Grundlage der gesamten Lebenspyramide. Dennoch ist das atmosphärische N2 nicht direkt von Organismen verwertbar. Außerordentliche indirekte oder zufällige Naturprozesse (etwa wurzelbakterielle Vorgänge oder Gewitter) machen es überhaupt erst für Pflanzen zugänglich.

Der Mensch hat diese uralten Beschränkungen weggefegt: Das in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert entwickelte Haber-Bosch-Verfahren zur Umwandlung von Luftstickstoff in Ammoniak erschloss der Landwirtschaft eine praktisch unbegrenzte Nährstoffquelle und war entscheidende Voraussetzung für die sogenannte »Grüne Revolution« nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese führte zum explosiven Anstieg der Agrarproduktion vor allem, aber nicht nur in Entwicklungs­ländern (siehe Kapitel 1) und damit zum rasanten Anwachsen der Weltbevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte.

Phosphor kommt im Gegensatz zu Stickstoff ausschließlich in der Erdkruste vor, insbesondere in Phosphaten, die heutzutage vorwiegend in Marokko, China, Jordanien und Südafrika günstig abgebaut werden können. Der griechische Name des Elements – er bedeutet so viel wie »Lichtträger« – hat mit seinen spektakulären physikalisch-chemischen Eigenschaften zu tun. Wie dem »Phosphoreszieren« in Kontakt mit Sauerstoff, aber auch der verheerenden Hautzerstörungswirkung in Brandbomben. Ebenso wie Stickstoff ist Phosphor ein Grundbaustein des Lebens, der für die Kodierung des Erbguts von Bedeutung ist, aber auch bei der zellulären Energieversorgung eine entscheidende Rolle spielt. Genauso trägt die Substanz wesentlich zum Funktionieren der industriellen Landwirtschaft bei: Bis zu 170 Millionen Tonnen Rohphosphate werden mittlerweile jährlich bei der Herstellung von Düngemitteln weltweit verarbeitet. Bei dieser Nutzungsrate dürften nach vorsichtigen Schätzungen die heute bekannten kontinentalen Vorräte des nicht ersetzbaren Stoffes im Laufe des kommenden Jahrhunderts erschöpft sein (Van Vuuren u. a. 2010). Allerdings könnte man – zu hohen Kosten – riesige Vorkommen unter Wasser erschließen.

Insgesamt dominieren heute menschliche Aktivitäten bereits die natürlichen Prozesse bei den globalen Stickstoff- und Phosphorflüssen: Insbesondere im Zusammen­hang mit der Düngemittelproduktion werden jährlich rund 120 Millionen Tonnen N2 aus der Atmosphäre entnommen und in »verwertbare« Stickstoff­verbindungen überführt.

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Ungefähr 20 Millionen Tonnen Phosphor (Steffen u. a. 2015) werden – unter anderem für die Herstellung von Zahnpasta – jährlich abgebaut, wovon fast 10 Millionen Tonnen in den Ozeanen enden. Damit übertrifft diese künstliche Phosphorspülung ihr natürliches Gegenstück bei Weitem! Solche supergeologischen Störungen der planetarischen Stoffkreisläufe bleiben nicht wirkungslos. Insbesondere die Ökosysteme von Seen und Küstengewässern können durch diese unbeabsichtigte und beispiellose »Überdüngung« massiv geschädigt werden beziehungsweise »umkippen«. Erdgeschichtliche Studien deuten sogar darauf hin, dass in den Ozeanen regelrechte »Sauerstoffwüsten« entstehen können, wenn der Phosphorzustrom vom Land kritische Werte überschreitet. Solche Vorgänge dürften für frühere Episoden des großräumigen Artensterbens in der marinen Lebenswelt mitverantwortlich gewesen sein.

Auch wenn unser Verständnis der geochemischen Stoffkreisläufe und ihrer biologischen Funktionen noch bruchstückhaft ist, haben wir im Nature-Artikel die folgenden planetarischen Grenzwerte empfohlen: Nicht mehr als 35 Millionen Tonnen reaktionsfähigen Stickstoffs aus industriell-landwirtschaftlichen Quellen sollten jährlich in die Umwelt gelangen – das ist etwa ein Viertel der gegenwärtigen Rate. Nicht mehr als 11 Millionen Tonnen Phosphor aus menschlichen Aktivitäten sollten jährlich ins Meer fließen – diese Rate ist glücklicherweise noch nicht ganz erreicht. Aktualisierte Berechnungen und Grenzwertziehungen geben aber noch mehr Grund zur Besorgnis, siehe unten.

Abbildung 2 fasst die vorläufige Kartierung des sicheren Umweltraums für die Menschheit anschaulich zusammen. Entlang dreier Achsen – Klimawandel, Artensterben und Stickstoffüberdüngung – hat unsere Zivilisation die grüne Nachhaltigkeitszone schon durchstoßen, am drastischsten und schöpfungs­vergessensten bei der biologischen Vielfalt. Diese Grenzüberschreitungen machen sich in der Graphik als rote Warnscheinwerfer bemerkbar.

Wie schon erwähnt, ist die Situation bei der Phosphorkontaminierung der globalen Umwelt im besten Falle grenzwertig. In den restlichen Dimensionen ist die Lage entweder noch unterkritisch oder schlicht unbestimmt, also noch nicht reif für eine quantitative wissenschaftliche Bewertung. Beim Ozongehalt der Stratosphäre (des stabil geschichteten Teils der Lufthülle in 15 bis 50 Kilometer Höhe) hat sich die Entwicklung sogar umgekehrt. Diesbezüglich war die Menschheit bereits auf höchst gefährlichem Kurs, hat inzwischen jedoch ein Wendemanöver zur Nachhaltigkeit vollzogen: Die Maßnahmen unter dem 1989 in Kraft getretenen Montreal-Protokoll zum Schutze der Ozonschicht zeigen allmählich Wirkung, sodass wir uns auf diesem Feld langsam, aber sicher wieder tiefer in den grünen Bereich zurückbewegen.

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Das Aufreißen des Ozonlochs über der Antarktis Ende der 1970er-Jahre kam ja völlig überraschend. Dieses Ereignis lieferte ein Lehrstück darüber, wie sich völlig harmlos erscheinende Eingriffe in die Umwelt mittels geradezu fantastisch anmutender physikalisch-chemischer Vorgänge zu einer zivilisations­bedrohenden Lawine aufsummieren können. Paul Crutzen, der für die Aufklärung des galoppierenden Ozonschwundes in der Stratosphäre zusammen mit Sherwood Rowland und Mario Molina 1993 den Chemie-Nobelpreis verliehen bekam, zeigt gern eine wirre Graphik, auf der alle dabei wesentlichen Reaktionen aller relevanten Stoffe in ihrer Wechselwirkung dargestellt sind. Dann deutet er mit dem Finger auf den Haupttäter – einen einzigen nichtlinearen Prozess, durch den sich der Ozonfraß gewissermaßen in den Schwanz beißt und zu einer explosiven Kettenreaktion führt. Niemand konnte sich vorstellen, dass sich dieser fatale Prozess in der biblischen Einsamkeit der antarktischen Salpeterwolken, mehr als 20 Kilometer über dem Erdboden, abspielen könnte – unter anderem angetrieben durch Haarspray zur Fixierung von Millionen von Betonfrisuren zum Schmucke der »westlichen Zivilisation«. Insofern ist das Ozonloch über dem Südpol die Mutter aller global relevanten kritischen Phänomene im System Erde.

Wie viel Süßwasser sollte jährlich vom globalen Wasserkreislauf abgezweigt, wie viel Land insgesamt für die zivilisatorische Nutzung der Natur entrissen werden?

Diese Debatte hat erst begonnen, und vorerst ist ungewiss, ob die Wissenschaft hier jemals sinnvolle globale Grenzwerte wird benennen können. Andererseits ist augenfällig, dass der zivilisatorische Zugriff auf Wasser und Boden schwerste Störungen des Naturhaushaltes bewirkt und sich nicht schrankenlos und für immer fortsetzen lässt. Schon heute erreichen viele der großen Flüsse ihre historischen Ozeanmündungen nicht mehr, weil sie unterwegs durch die unterschiedlichsten Nutzungsformen regelrecht dehydriert werden, Schädigungen der Fluss- und Auenökosysteme eingeschlossen. Und während der letzten fünf Dekaden ist jährlich im Durchschnitt fast 1 Prozent der Wald- und Ökosystemflächen der Erde in Agrarland umgewandelt worden. Wenn dieser Trend ungebrochen bliebe, würden die Kontinente bis zum Ende des 21. Jahr­hunderts nahezu komplett in landwirtschaftliche Produktionsstätten umgewandelt – natürlich mit Ausnahme der unwirtlichen Eis-, Sand- und Geröllwüsten, welche man großzügig unter Naturschutz stellen könnte.

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Um überhaupt erst einmal die Beschränkungsvorstellung bei der globalen Wasser-Land-Nutzung ins Gedankenspiel zu bringen, hat unser Autorenteam folgende, allererste und sicherlich revisionsbedürftige Empfehlungen ausgesprochen: Von den im Prinzip verfügbaren, das heißt zugänglichen Frisch­wasser­ressourcen – das sind, optimistisch gerechnet, 15.000 Kubikkilometer pro Jahr – sollten nicht mehr als 4000 Kubikkilometer pro Jahr für menschliche Aktivitäten entnommen, abgezweigt, umgeleitet und schließlich aufgebraucht werden. Das wäre immerhin das Zehnfache des geschätzten vorindustriellen Wertes, der nicht null war: Wasser wurde schließlich auch von früheren Kulturen bereits extensiv bis exzessiv genutzt. Von der eisfreien globalen Landoberfläche sollten dagegen maximal 15 Prozent in Ackerland verwandelt werden, um die wichtigen Erdsystemfunktionen der Wälder aufrechtzuerhalten.

Die Menschheit dürfte bei Business as usual beide Grenzlinien in wenigen Jahrzehnten durchbrochen haben: Der globale Wasserverbrauch bewegt sich heute womöglich bereits in einer Größenordnung von über 2000 Kubikkilometern pro Jahr (Gerten u. a. 2015) – aber das ist nur ein grober Indikator, denn die lokalen Toleranzgrenzen sind in vielen Gebieten längst überschritten. 12 Prozent der eisfreien Fläche sind bereits in Ackerland umgewandelt – bezüglich der planetarischen Grenze für die Landnutzung ist es somit bereits fünf vor zwölf (beziehungsweise fünf nach zwölf auf der Grundlage neuer Betrachtungen, siehe unten).

Und schließlich wären da noch zwei besonders hässliche Eisberge, deren schmutzige Spitzen bereits sichtbar sind, deren wahre Ausmaße und Bedeutungen sich zurzeit jedoch noch nicht einmal erahnen lassen. Sowohl bei den Luftschwebstoffen aus zivilisatorischen Quellen als auch bei der rapide zunehmenden chemischen Hintergrund­verschmutzung geht es um die Ausscheidungen der Weltgesellschaft, die wie ein Überorganismus beständig Umweltressourcen in unvorstellbaren Mengen ansaugt, verdaut und in weitgehend entwerteter Form wieder ausscheidet. Die Palette der industriellen Exkremente reicht von harmlosem Altpapier bis zum Plutonium aus Atomkraftwerksbetrieben, das eine radioaktive Halbwertszeit von über 24.000 Jahren hat.

Wenn eine Nomadensippe, die durch die Steppe zieht, ihre Abfälle beim jeweiligen Zeltlager zurücklässt, kann wegen Menge, Verteilung und Art der Hinter­lassenschaft kein globales Umweltproblem entstehen. Ganz anders sieht das bei über sieben Milliarden praktisch sesshaften Erdenbürgern aus. Dies erinnert mich an eine Anzeige eines cleveren Unternehmens, die mir vor Jahren in einer britischen Tageszeitung auffiel: »Don’t throw anything away – there is no away!« Dieser witzig-tiefsinnige Satz lässt sich nicht elegant ins Deutsche übersetzen, macht aber auf alle Fälle deutlich, dass sich auf einem kleinen Planeten letztlich nichts »weg«-werfen lässt – das »weg« verwandelt sich unweigerlich, irgendwie und irgendwann, ins »her«.

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Insofern müllt sich die Menschheit möglicherweise um ihre Zukunft, wobei das eigentliche Problem die Abfälle und Rückstände sind, die nur scheinbar vom weiten Himmel aufgelöst oder vom tiefen Meer verschluckt werden.

Allein über die Partikel, die aus den unterschiedlichsten anthropogenen Quellen in die Lufthülle entweichen und dort jahrelang verweilen können, ließe sich ein eigenes Buch schreiben. Die Umweltwirkungen reichen von massiven Gesundheitsschädigungen (weltweit circa 1,6 Millionen Todesfälle jährlich durch Raumluft­belastung aus offenen Feuerstellen) über regionale Niederschlagsveränderungen (Störungen der asiatischen Monsunsysteme durch Ruß und Staub aus Haushalten, Industrie und Landwirtschaft) bis hin zu globalen Effekten (Maskierung der treibhausgasbestimmten Erderwärmung durch Schwefeldioxidtröpfchen aus ineffizienten Kohlekraftwerken). Wer glaubt, diese Thematik sei von zweitrangiger Bedeutung, möge einfach ausgedehnte Spaziergänge durch das Zentrum von Beijing im Frühjahr oder Herbst unternehmen. Es scheint, als ob der Wunsch nach einem klaren Himmel und das Streben nach Wohlstand einen unversöhnlichen Gegensatz bildeten. Die gesamte Aerosolproblematik entwickelt sich rasant weiter, ist aber so komplex, dass sich spezifische planetarische Grenzwerte bisher nicht wissenschaftlich begründen lassen.

Die vielleicht beklemmendste – weil am schwersten fassbare – Umweltbelastung ist jedoch die Durchdringung der Lebenswelt mit Abertausenden von chemischen Substanzen, insbesondere radioaktiven Verbindungen, Schwermetallen und einer ganzen Schar von organischen Stoffen als Neben- und Abfallprodukte kommerzieller Aktivitäten. Nach neuesten Schätzungen sind etwa 10.000 bis 100.000 verschiedene chemische Produkte auf dem Weltmarkt verfügbar, wovon sicher mehrere Hunderte als Nervengifte für Menschen eingestuft werden können.

Teilmengen vieler dieser Stoffe reichern sich unbeabsichtigt und auf verschlungenen Pfaden im Grundwasser an, in den Böden und Freizeitarealen, in den Nahrungsketten – und schließlich auch in unseren Körpern (United Nations Environment Programme, 2011). Niemand kann heute sagen, ob diese umfassende und schleichende Transformation unseres chemischen Naturmilieus lediglich eine kleine Irritation auf der dicken Haut der Menschheit hervorrufen oder sich wie ein zivilisatorisches Karzinom zur globalen Bedrohung entwickeln wird. Auf alle Fälle ist es heute noch nicht möglich, summarische planetarische Grenzwerte für diesen Umweltfrevel anzugeben.

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In Teilen hat sich der Kenntnisstand zu den planetarischen Grenzen inzwischen verbessert, oder die Originalberechnungen sind schlicht von der Realität überholt worden. Deshalb wartete Anfang 2015 ein etwas anders zusammengesetztes Autorenteam – einschließlich Mitarbeitern des PIK unter Leitung des Geographen Dieter Gerten – mit einer Gesamtrevision auf (Steffen u. a. 2015). Die wichtigsten Änderungen beinhalten die räumlich besser aufgelöste Berechnung der planetarischen Grenzen beziehungsweise die Einführung regionaler Grenzwerte (etwa für die Wassernutzung) und die umfassendere Berücksichtigung des Artenverlusts und der Verschmutzung durch Chemikalien. Das unbequeme Resultat dieser neuen Bilanz ist, dass sich mittlerweile bereits vier der neun fundamentalen Erdsystemprozesse in der Unsicherheitszone oder sogar schon in der Hochrisikozone befinden (Abbildung 3).

Zum Schluss dieses Kapitels über die beschränkte Fähigkeit der Erde, die menschliche Zivilisation zu (er)tragen, dürfen die scheußlichsten Blumen der Moderne nicht unerwähnt bleiben. Gemeint sind die sogenannten »Müllstrudel«, also jene gigantischen Teppiche aus Plastikabfällen, welche unter dem natürlichen Antrieb von Winden und Strömungen in den Weltmeeren rotieren. Das gewaltigste dieser Ekelpakete – »The Great Pacific Garbage Patch« – dreht sich im nördlichen Stillen Ozean und ist größer als das gewiss nicht kleine Texas. Der Strudel bewegt gegenwärtig rund 100 Millionen Tonnen Kunststoffmüll! Tatsächlich verbleibt nur der kleinere Teil (circa 30 Prozent) der aus Flüssen, Häfen und Schiffen stammenden Plastikteile in der Deckschicht des Ozeans. Der große Rest sinkt in einem gigantischen Müllregen nieder und bedeckt den Meeresgrund mit steigender Dichte. Nach wissenschaftlichen Hochrechnungen liegen heute auf jedem Quadratmeter Meeresboden im Durchschnitt 110 Plastikteile, aber das ist längst nicht alles: Den Löwenanteil unseres ins Meer geschwemmten Mülls hat man erst kürzlich in den Sedimenten der Tiefsee ausgemacht. Es sind dies auf meist 2 bis 3 Millimeter Länge und weniger als 1 Zehntelmillimeter Breite zerkleinerte Partikel, darunter Kunstfasern wie Viskose und Polyester – nach vorsichtiger Schätzung haben wir es mit mindestens vier Milliarden solcher Plastikfasern pro Quadratmeter Tiefseesediment zu tun (Woodall u. a. 2014).

Die physikalischen, chemischen und biologischen Folgen dieses Mülls sind verheerend (United Nations Environment Programme, 2011), und das Problem lässt sich auch nicht mehr so leicht aus der Welt schaffen, wie es in nur wenigen Jahrzehnten über die Umwelt gekommen ist: Die Lebensdauer von Plastik beträgt Jahrhunderte bis Jahrtausende, in den Tiefen des Meeres sogar noch beträchtlich länger (Barnes u. a. 2009). In der Reibung von Wind und Wellen wird insbesondere der treibende Kunststoffmüll immer weiter zerrieben und schließlich an die Strände geschwemmt, wo die Plastikpartikel in Sandproben bereits bis zu einem Viertel des Gesamtgewichts ausmachen: Wer der Zivilisation an den Traumstränden der Südsee entfliehen will, bettet seinen Körper auf – Kunststoff. Ein bizarreres Sinnbild für die Verschmutzung der Welt ist schwer vorstellbar.

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