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7. Vera Wollenberger: Eine zweite Vergewaltigung

 

 

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Nie hätte ich gedacht, daß ich zu den ersten gehören würde, die ihre Akten einsehen. Natürlich hätte ich es irgendwann tun wollen, aber eher später als früher. Bis dahin hätte ich das gern Jürgen Fuchs, Roland Jahn und Peter Wensierski überlassen.

Vor der Wende hatte ich wie andere Freunde auch die Stasi zum Papiertiger erklärt. Ich wollte nicht in einer Atmosphäre ständigen Mißtrauens gegen fast alle leben müssen. Auf den Veranstaltungen unseres Friedens­kreises hatten wir gelernt, unsere Meinung frei und öffentlich zu äußern. Anfangs mit Stottern und Herzklopfen, später ohne. Es war eine intellektuelle Befreiung aus den Zwängen, mit denen wir aufgewachsen waren und die uns noch als Erwachsene einengten und verbogen.

Ich wollte mir diese Freiheit nicht durch einen neuen Zwang, die Stasi-Angst, wieder nehmen lassen. Was ich zu sagen hatte, konnte jeder hören, also auch mitschreiben und weiterberichten. Schließlich gehörte ich keiner Untergrund­organisation an, sondern einer Bewegung, die um Öffentlichkeit und Offenheit bemüht war.

Einen erschreckenden Mangel an Mißtrauen nannte das später der Chefporträtist eines bekannten politischen Magazins. Ich bekenne mich zu diesem Mangel und halte ihn nach wie vor für ein wirksames Gegenmittel in einem System, zu dessen Herrschaftsgrundlagen systematisch geschürtes Mißtrauen gehört. Ich wollte der Stasi diese Macht nicht über mich einräumen. Ich würde wieder so handeln.

Ich habe auch dem zitierten Chefporträtisten nicht mißtraut, obwohl ich kurz zuvor mit einem seiner Kollegen sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Er hat das keineswegs honoriert, was mich nicht davon abhalten wird, dem nächsten Journalisten wiederum ohne Mißtrauen zu begegnen.

Das heißt nicht, daß ich heute das Gefühl habe, wir hätten nichts anders machen können. Im Gegenteil. Warum war unsere Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit so defensiv? Ich kann mich an keine einzige Friedensveranstaltung erinnern, in der die Stasi Hauptthema der Auseinandersetzung gewesen wäre. Dabei war uns doch klar, daß sie ein beherrschender Faktor unseres Lebens war. Wir wußten doch, daß der Staat, in dem wir lebten, obwohl er sich durchaus als Apotheose der politischen Moral sah, private und rein menschliche Verhältnisse wie die zwischen Freunden, Ehepartnern, Eltern und Kindern für seine Zwecke mißbrauchte, dadurch ihre moralische Basis entwertete und zerstörte. 

Das entschuldigt nicht die Menschen, die sich in diesem Sinne mit dem Staat eingelassen haben und faktisch als seine Agenten noch in der intimsten Privatsphäre agierten und damit — ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht — den moralischen Kern menschlichen und sozialen Zusammenlebens untergruben und ihnen nahestehende Menschen verletzten.

Ich glaube nicht, daß es Angst war, die uns die Stasi in unserer sonst ziemlich offensiven Auseinander­setzung mit der Politik des Honeckersystems aussparen ließ. Ich hatte keine Angst vor der Stasi. Damit hatte ich unrecht, aber das habe ich erst nach der Wende erfahren. Nein, es war ein Rest jenes Denkens, das den eigentlichen Feind hinter der Demarkationslinie sah und vor dem man sich keine Blöße geben wollte, jedenfalls nicht mehr als unbedingt nötig. 

Zum Nötigen gehörte die Entlarvung der Friedensheuchelei der Politbürokraten und ihrer Gefolgschaft, denn die Atomwaffen empfand ich als lebensbedrohlich. Die Stasi nicht. Auch damit hatte ich unrecht. Denn die Stasi war nicht nur ärgerlich und eklig, wie ich vor der Wende dachte, sondern eben auch lebensbedrohlich durch ihre Praxis der systematischen Entwertung und Zerstörung elementarer Strukturen und Gefühle des menschlichen Zusammenlebens.

Zu den gefährlichsten Legenden, die auch heute noch das geistige Fortwirken der Stasi sichern sollen, gehört jene von der DDR-Perestroika, an der Führungsoffiziere und Observierte jeweils auf ihre Weise und mit ihren Mitteln gearbeitet hätten, dazwischen die IMs als Bindeglieder, manche sogar in Doppelfunktion als IM der Stasi in der Friedensbewegung und als IM der Friedensbewegung in der Stasi.

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Die Krönung ist die Mär, es sei letztlich dem jahrelangen Wirken der bienenfleißigen IM und der von ihnen beeinflußten Führungsoffiziere zu verdanken gewesen, daß es im Herbst 89 nicht zu einem Blutbad gekommen ist.

 

Bei Lenz gibt es eine Szene, wo sich zwei Ostpreußen, ein Hitleraktivist und ein von ihm denunzierter ehemaliger KZ-Häftling, bei ihrer Wiederbegegnung im Westen nach dem Untergang ihrer Heimat weinend in die Arme fallen.

Ein ähnliches Rührstück war mir zugedacht, als der Führungsoffizier meines Mannes Knud Wollenberger (IM «Donald»), der gleichzeitig der Bearbeiter meiner Akten war, am Vorabend der Akteneinsicht bei mir auftauchte, um mir zu erklären, was er selbst für ein eifriger Reformer, wie moralisch hochstehend mein Mann, wie geradezu sympathisch ich ihm immer gewesen sei, wie sehr er meine Politik nach der Wende schätze und wie froh er sei, daß nun endlich die störenden Schranken zwischen uns beseitigt seien. Er sei schon vor der Wende der Meinung gewesen, daß er lieber mit als gegen uns arbeiten wolle.

Läßt man die dürftigen Erklärungen und Stellungnahmen ehemaliger IM und Führungsoffiziere im Geiste Revue passieren, kommt man ganz schnell zu dem Ergebnis, daß das Verhalten dieses Führungsoffiziers keineswegs extrem, sondern eher durchschnittlich ist.

Wie groß die Neigung ist, solche Erklärungen glaubwürdig zu finden, kann ich nicht abschätzen. Eines ist jedoch sicher: Sie werden durch die Akten ad absurdum geführt. Diese sind nicht nur voll von detailgetreuen Spitzelberichten der geheimen <Perestroikakämpfer> an der unsichtbaren Front, sondern auch von sogenannten Operativen Maßnahmeplänen ihrer Führungsoffiziere gegen die Observierten. Diese Operativen Maßnahmepläne waren bisher viel zu wenig in der Diskussion. Dabei enthüllen sie mehr noch als die IM-Tätigkeit die kriminelle Energie und Destruktivität der Staatssicherheit. 

In den Maßnahmeplänen wird festgelegt, wie Ehen zu zerstören, Kinder ihren Eltern zu entfremden, der Ruf eines Menschen zu ruinieren und Freundschaften zu zerbrechen seien. Für jeden dieser Maßnahmepläne gibt es einen namentlich benannten Verantwortlichen, und es ist der Zeitraum festgelegt, in dem der Plan auszuführen sei.

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Die IM-Berichte spiegeln Erfolg oder Mißerfolg der eingeleiteten Maßnahmen wider, zum Schluß gibt es eine Vollzugsmeldung, manchmal triumphierend im Ton: «Das ist der Erfolg unserer Maßnahme!»

In den Akten können wir finden, in welchen Fragen unsere Streitereien, Zerwürfnisse und gegenseitigen Mißverständnisse stasigemacht und wann sie selbstverschuldet waren. Die Akteneinsicht bietet die Chance zu einer politischen Schulung par excellence. Wer hatte je diese Gelegenheit wie wir, die Vergangenheit zu durchforsten, aus Fehlern, Schwächen, Fehlentscheidungen zu lernen und neue Einsichten zu gewinnen? Was war das für ein System, an dessen Reformierbarkeit viele — auch ich — geglaubt haben, das viele, vor allem Intellektuelle, fasziniert hat und von dem sogar noch nach seinem Zusammenbruch manche meinen, es wäre nur an einer tragischen Verkettung ungünstiger Umstände und Fehlentscheidungen unfähiger Politiker zugrunde gegangen?

Die Akten enthüllen eine Fratze, von der es kein humanes Gesicht geben kann, höchstens humanitäre Schminke. Wir müssen uns fragen, was uns zweimal innerhalb eines reichlichen halben Jahrhunderts zu Opfern, Tätern, Mitläufern, Profiteuren, Duldern einer Diktatur werden ließ.

Erduldet haben wir die Diktatur fast alle, auch wenn wir uns dagegen gewehrt haben. Bei der Lektüre der Akten habe ich mich immer wieder gefragt, warum ich so lange in diesem Land geblieben bin. Warum bin ich nicht spätestens gegangen, als die Repressalien auch auf meine Kinder ausgedehnt wurden ? Warum habe ich so lange geglaubt, Berufs- und Reiseverbot ertragen zu müssen ? Selbst als ich mich dann im Gefängnis in einer von mir als aussichtslos eingeschätzten Situation entschloß, wie die anderen Verhafteten nach der Rosa-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 vor mir, in den Westen zu gehen — aber nur mit DDR-Paß, sonst wäre ich geblieben —, tat ich es unter größten inneren Qualen und mit elendem Gewissen. Lange Zeit habe ich geglaubt, mich immer wieder dafür rechtfertigen zu müssen, obwohl ich in England, wohin es mich verschlagen hatte, die beste Zeit meines Lebens genoß.

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Unser Weggang im Februar 1988 war ein furchtbarer Schlag für die Oppositionsbewegung. Wochenlang hatten Abend für Abend Tausende Menschen in zuletzt mehr als 30 Orten der DDR um unsere Freilassung gekämpft. Wir haben davon nichts erfahren. Der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, der sich damals jeden Abend von den Versammelten als Held feiern ließ und Lügenberichte über die Gefangenen verbreitete, tat alles, um uns unsere Lage so aussichtslos wie nur möglich darzustellen. Ich glaubte ihm, denn ich hielt ihn damals für meinen Freund. Er schien mich vor Gericht mutig und kompromißlos verteidigt zu haben. Als das Urteil verlesen worden war — sechs Monate wegen versuchter Zusammenrottung —, rief er: «Ich werde diesen Rechtsbruch nicht dulden.»

 

Unter diesem Eindruck kam mir erst später zu Bewußtsein, was es bedeutete, daß ein enger Freund von mir, der als Zeuge der Verteidigung geladen und aufgerufen worden war, sich vor dem Richter in den Zeugen der Anklage verwandelt und alle nötigen Aussagen geliefert hatte, aus denen das Gerüst der Urteilsbegründung gezimmert werden konnte.

Vielleicht haben Stasi-Richter Wetzenstein-Ollenschläger und Stasi-Spitzel Schnur dieses Vorgehen in der Sauna Normannenstraße beschlossen, schräg gegenüber vom Gericht, die sie gemeinsam besuchten. Aber auf jeden Fall hat der Zeuge der Verteidigung/ Anklage, Herbert Mißlitz, mitgespielt. Für mich ist der Auftritt von Mißlitz vor Gericht das entscheidende Signal gewesen: Wenn er, den ich für einen Kerl gehalten habe, den so leicht nichts umwarf, vor Gericht mit eingeknickten Knien, gesenktem Kopf und unstetem Blick, der im ganzen Gerichtszimmer umherhuschte, aber die Ecke mied, in der ich saß, jede Aussage machte, die der Richter von ihm verlangte — wie sollte ich da nicht glauben, daß die Lage wirklich hoffnungslos sei. 

Daß die Kirchenglocke nebenan läutete, solange das Urteil verlesen wurde, und daß der tags zuvor so selbstsichere und arrogante Richter las, als würde er gehetzt, habe ich registriert, aber in seiner Bedeutung nicht erfaßt. Überflüssig zu sagen, daß Schnur mir natürlich nicht mitteilte, daß die Kirchenglocken für mich geläutet worden waren. Bei den abendlichen Meetings haben er und Donald-Knud Wollenberger gemeinsam alles getan, um die Proteste unter einer bestimmten Schwelle zu halten, keine Mahnwachen, keine Westpresse.

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Als mein Anwalt und mein Ehemann hatten sie die nötige Autorität, das durchzusetzen, obwohl viele Freunde es politisch für falsch hielten.

Im Gefängnis arbeiteten beide gegeneinander. Schnur tat alles, damit ich in den Westen ging. Donald-Knud wollte, daß ich bleibe. Nach der Wende hat Donald das damit zu begründen versucht, der «Perestroika-Flügel» der Stasi hätte schon damals ein Interesse daran gehabt, die Oppositionellen im Lande zu behalten, mit ihnen in einen Dialog zu treten und mit ihrer Hilfe einen Perestroikaprozeß in Gang zu setzen.

Wenn man dem folgen wollte, so wäre der Rechtsanwalt und spätere PDS-Vorsitzende Gregor Gysi jedenfalls schon damals kein Perestroikamann gewesen. Er wurde, als sich meine Abschiebung in die Länge zog, von Donald in der Hoffnung zur Hilfe geholt, meinen Weggang zu verhindern. Gysi aber tat alles, um die letzten Hindernisse zu beseitigen. So besuchte er mich am Sonnabend, den 6. Februar, im Gefängnis, um mir zu sagen, daß ich ruhig schon alleine in den Westen gehen könnte. Er persönlich würde mir meine Kinder an jeden Ort der Welt hinterherbringen. Ich weigerte mich, auf dieses freundliche Angebot einzugehen, und so wurde an diesem Tage nichts aus dem geplanten Abtransport. Am Montag, den 8. Februar, erschien er noch einmal in Begleitung von Donald, den er inzwischen umgestimmt hatte, so daß Donald sich bereit erklärte, mit mir und den Kindern nach England zu gehen.

Gysi eröffnete mir, daß er am Vormittag dieses Tages noch einmal auf der Staatsanwaltschaft gewesen sei, wo man ihm mitgeteilt habe, daß eine Entlassung in die DDR für mich nicht vorgesehen sei, daß ich aber letztmalig die Gelegenheit habe, das Angebot, nach England zu gehen, anzunehmen. Ich willigte ein, und mit Schnur, der ebenfalls erschienen war, wurden die Modalitäten meiner Abschiebung besprochen.

Nach der Wende, als ich meine Gerichtsakten einsehen konnte, fand ich eine Entlassungsanweisung für eben diesen Montag, die aber bereits am Sonnabend zuvor ausgestellt worden war. Gysi muß also gelogen haben oder auf der Staatsanwaltschaft belogen worden sein. Er tat bisher trotz mehrmaliger Bitten nichts, diesen Vorgang zu erhellen. 

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Gysi hatte mir übrigens am Ende unseres Gesprächs auch in die Hand versprochen, meinem damals sechzehn­jährigen Sohn Philipp, der sich zuvor bereits definitiv geweigert hatte, mit mir in den Westen zu gehen, persönlich einen Brief zu übergeben, der ihm die Gründe meines Wegganges noch einmal erklärte. Gysi hat diesen Brief nicht übergeben, sondern in einen Briefkasten gesteckt. So erfuhr mein Sohn von unserem Weggang aus dem Radio.

Kaum war ich im Westen, tat Schnur alles, um den Eindruck zu erwecken, ich sei trotz Zuredens nicht zu halten gewesen. Trotzdem haben meine Freunde, auch wenn sie es bedauert haben, meine Entscheidung verstanden.

Es gab aber andere, die ich bis dahin durchaus auch zu meinen Freunden gezählt hatte, die nun eine unsägliche Kampagne gegen mich und die weiteren Weggetriebenen entfachten. So verbreitete Reinhard Schult eine Sondernummer des «Friedrichsfelder Feuermelders», in der er uns alle attackierte. Was mich betraf, so behauptete er wider besseres Wissen, ich hätte an der Ausreisedemonstration teilnehmen wollen. Das wird die Staatsanwaltschaft gefreut haben, denn durch die Publikation im «Feuermelder» bekam die Anklagekonstruktion der «versuchten Zusammenrottung» mit den Ausreisern eine überraschende Legitimation durch einen namhaften Vertreter der Opposition. Es fehlte in Schults Schrift zwar das Wort «Verräter», aber sein Terminus «vermeintlich eigene Leute», mit dem er uns bezeichnete, kommt dem gefährlich nahe. Damit stellte er, nachdem die Stasi uns aus dem Lande geschmissen hatte, unser ganzes bisheriges Engagement in Frage. Die Lektüre seiner Philippika gehört zu den bittersten Erfahrungen meines Lebens.

Schon am ersten Tag meiner Stasiakten-Einsicht fand ich einen Maßnahmeplan, der erstellt worden war, um mir die Lust auf die Rückkehr zu nehmen. Er findet sich hand- und maschinengeschrieben an mehreren Stellen meiner Akte. Punkt zwei liest sich so: «Aktivitäten von Schult, sich von Wollenberger abzuwenden, sind verstärkt in unserem Sinne zu nutzen.» Die Staatssicherheit hat versucht, uns gegeneinander auszuspielen und gegeneinander aufzuhetzen, wo sie nur konnte. Es scheint aber auch so zu sein, daß, wenn wie im geschilderten Fall Formen der Auseinandersetzung gewählt wurden, die den von mir abgelehnten neostalinistischen Praktiken ähnelten, es für die Staatssicherheit besonders leicht möglich war, «sie für unsere Zwecke zu nutzen».

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Das sollte zu denken geben. Schult, als ich ihm die Notiz zeigte, fragte lediglich: Wer hat das unterschrieben? Zeiseweis? Mehr hatte er dazu nicht zu sagen. Der gleiche Schult wußte übrigens seit Sommer 1990 von den Stasi-Verstrickungen meines damaligen Mannes. Er hat es ausgewählten Leuten mitgeteilt, die es mir alle, aus unterschiedlichen Gründen, verschwiegen haben. Als das Gerücht endlich zu mir drang, tat ein Freund von Schult alles, um mich davon zu überzeugen, daß an der Sache nichts dran sei. Das hörte ich natürlich gern, war beruhigt und hatte wieder unrecht damit.

Es bleibt die Frage, warum mir keiner der davon Informierten Gelegenheit gegeben hat, den Verdacht gegen Knud-Donald zu klären und damit gegebenenfalls selbst an die Öffentlichkeit zu gehen. So erfuhr ich erst am Vorabend der Presseveröffentlichung, daß es tatsächlich schwerwiegende Verdachtsmomente gegen Knud-Donald gab. Ich habe die Agonie der Entdeckung an anderer Stelle geschildert.

 

Interessant und in meinen Augen makaber ist das Verhalten der Zeitungsredaktion Die Andere, ein Blatt, das an sich den Anspruch stellt, Sprachrohr der Bürgerbewegung zu sein. Nachdem der Chefredakteur Klaus Wolfram zunächst versucht hatte, mir durch Drohungen, wie: «Das wird dein politischer Tod sein», eine Stellungnahme zu der Enthüllung in Die Andere auszureden, strich er, trotz meiner ausdrücklichen Verbote, irgend etwas am Text zu ändern, schließlich einen Satz ganz und veränderte zwei Sätze sinnentstellend. 

Gegen solche Zensurpraktiken war die Bürgerbewegung unter anderem auf die Straße gegangen. Meinen Protest gegen die Verfälschung meines Textes druckte Die Andere nicht ab. Hingegen gab die Redakteurin Tina Krone der tageszeitung ein Interview, in dem sie behauptete, ich hätte mich zum Werkzeug von Donald machen lassen, und ihre Zeitung hätte sich zur Veröffentlichung des Verdachts gegen Donald-Knud entschlossen, weil sie viele Fragen an ihn und seine Spitzeltätigkeit hätte. Tatsächlich hatte die Redaktion aber einen Fragenkatalog für mich, die Bespitzelte, vorbereitet und dem Spitzel keine einzige Frage gestellt.

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Warum erzähle ich das so ausführlich? Weil solche Methoden, mit Menschen umzuspringen, schon von jenen praktiziert wurden, gegen die wir uns seit Anfang der achtziger Jahre aufgelehnt haben. Und die Methoden unserer Peiniger sollten wir scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Solange es die Wo-gehobelt-wird-da-fallen-Späne-Mentalität gibt, lebt der Stalinismus fort. Solange die Aufdeckung der Vergangenheit anderen politischen Zwecken dient als der Wahrheitsfindung, der historischen und politischen Analyse und der Frage, wie die Wiederentstehung eines solchen menschenverachtenden Systems zukünftig verhindert werden kann, ist sie mißbrauchbar. In der DDR sind wir in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der Antifaschismus ein Dogma war. Ausgewiesene Antifaschisten galten a priori als edel, hilfreich und gut, und ihr Handeln durfte nicht hinterfragt werden. Daß sie Machtmißbrauch treiben konnten, galt als ausgeschlossen. In die Mentalität solcher Denkverbote sollten wir nicht wieder verfallen. Und auch der Zweck der IM-Aufdeckung heiligt nicht alle Mittel.

Die Staatssicherheit war eine kriminelle Organisation, das beweisen die von ihr angelegten Akten. Die kriminellen Vergehen der Stasi-Offiziere sollten endlich in den Mittelpunkt der Stasi-Diskussion gestellt werden. Es ist ein unhaltbarer Zustand, daß jedes bedeutende politische Magazin in Deutschland seine Führungsoffiziere bezahlt, die nach Bedarf Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit eines ausgesprochenen Verdachts kommentieren. Leute, die jahrelang damit beschäftigt waren, Menschen das Leben zur Hölle zu machen, ihr Lebensglück, ihre Gesundheit, ihre Privatsphäre zu ruinieren, gehören nicht in dieser Form ins Licht der Öffentlichkeit — und schon gar nicht als Berater und Kommentatoren ihrer Machwerke —, sondern vor ein Gericht.

Die Akten sind ein gefährliches Gemisch aus Dichtung und Wahrheit. Sie sind voll von Lügen über die Observierten. Die Lektüre zeigt auch, wie bereits auf unterster Ebene Berichte von den Führungsoffizieren gefälscht wurden. Die Teilnehmerzahlen der Friedensveranstaltungen zum Beispiel wurden in den Berichten immer nach unten reduziert, zum Teil drastisch bis zur Lächerlichkeit. In meinen Akten finden sich Berichte von Wochenendseminaren mit nur einem Teilnehmer.

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Auf einem anderen Blatt steht, daß am mobilen Friedensseminar in Mecklenburg, das jedes Jahr von mehr als hundert, wenn nicht gar Hunderten Menschen besucht wurde, nur zehn «negative Elemente» teilgenommen hätten. Die Stasi hat sich selbst am effektivsten belogen. Gleichzeitig ertrank auch sie in einer Flut von Trivialinformationen. Wenn man dann noch liest, daß — wie bei mir — IBM Donald verstärkt zur «weiteren Aufklärung des Leitungsmitgliedes Vera Wollenberger» eingesetzt werden soll — da waren wir schon drei Jahre verheiratet —, wird deutlich, wie wenig die Stasi von unserem Denken begriffen hat, selbst wenn sie mit uns das Bett teilte, wie IBM Donald mit mir.

 

Die Legende von seiner Allwissenheit und Omnipotenz hat die Auflösung des Apparates der Staatssicher­heit überlebt und wird eifrig kolportiert. Und selbst seriöse Blätter entblöden sich nicht, Variationen zu diesem Thema zu drucken. Zum Beispiel Henryk Broders lächerliche, aber ernstgemeinte Glosse in der Zeit, in der er, ausgehend von der Tatsache, daß es der Stasi gelungen war, einen der ihren in mein Bett zu legen, den kühnen Schluß zog, daß nur sie es gewesen sein konnte, die die Wende herbeigeführt hat. Ich würde dies zu den eher harmlosen Versuchen eines gestreßten Essayisten zählen, am Stasi-Thema Geld zu verdienen, wenn nicht viel zu viele solche Thesen glaubhaft fänden.

Mit Frauen sprang der Männerbund Stasi besonders schlimm um. Ich komme im Gegensatz zu anderen Frauen noch gut weg, obwohl mir — wie anderen — zum Beispiel Geliebte angedichtet wurden, die ich nicht hatte. Was aber über meine Freundinnen oder auch Nicht-mehr-Freundinnen an Dreck in diesen Akten ausgegossen wird, versetzt mich in kalte Wut. Die Frauen der Friedensbewegung waren angeblich alkoholsüchtig, männergeil, eitel, dumm, faul, schlampig, was in oft obszönen Detailschilderungen zu belegen versucht wird. Der ganze versteckte Haß einer Männergesellschaft auf andersdenkende, unabhängige Frauen spiegelt sich in den Akten wider. Da wird geschildert, wie sich angeblich eine Ehefrau und Pastorin vom Mann ihrer Freundin bei der Begrüßung lüstern die Brustwarzen streicheln läßt, wie sich angeblich betrunkene Ehefrauen auf Parties an den Hals des ersten Besten werfen.

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Ein Teil dieser Schmutzproduktion kursiert auch in den Redaktionsstuben politischer Magazine, und die Redakteure sind sich nicht zu schade, die Ehemänner um Stellungnahmen zu bitten. Meine Wut darüber ist selbst sehr lieben Freunden unverständlich. So sagte mir, als wir darüber sprachen, ein Freund, dem ich sehr viel zu verdanken habe, es wäre doch besser, wenn die Akten bei einem solchen Magazin lägen als anderswo. Erstens ist gar nicht ausgeschlossen, daß sie auch anderswo herumliegen, zweitens bin ich nicht sicher, ob er das auch denken würde, wenn es seine Frau beträfe.

 

Ein solcher Umgang mit den Akten ist gleichsam eine zweite Vergewaltigung der Stasi-Opfer. Die Observierten müssen nun mit dem über sie heimlich und auf kriminelle Weise zusammengetragenen Schmutz, mit der ihnen angetanen Schmach öffentlich umgehen. So habe ich den an mir verübten privaten Verrat nicht nur erst durch die Öffentlichkeit erfahren, sondern ich mußte ihn faktisch öffentlich durcharbeiten und erleben, wie mein Privatleben politisiert wurde. Erbarmungslos wurde jede Träne, jedes verzerrte Lächeln, jedes Händezittern auf Zelluloid gebannt, beschrieben und interpretiert. Jeder Hobbypsychologe, wenn er nur Chefporträtist eines politischen Magazins war, durfte meine Lebensgeschichte dilettantisch deuten und beurteilen. Und weil ein solches Magazin gelegentlich auch gern Politik macht, zum Abschluß noch eine kleine Denunziation hinzufügen.

Aber eines sollte klar sein: Eine Denunziation bleibt eine Denunziation, auch wenn sie in einem verdienstvollen Blatt steht. Und ich sehe nur einen graduellen, keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Denunziation, die man bei einem Führungsoffizier, und einer, die man bei einem Journalisten abliefert. Das sei denen, die es betrifft, ins Stammbuch geschrieben.

Ich bin in den Tagen der Akteneinsicht und danach häufig gefragt worden, ob ich nach meinen schrecklichen Erfahrungen die Akteneinsicht weiter befürworte und ob ich Menschen raten kann, ihre Akten einzusehen.

Wenn ich heute auf diese schlimmen Tage und Wochen zurückblicke, so ist es dennoch für mich keine düstere Zeit. Denn vor allem habe ich Zuwendung, Liebe und Hilfsbereitschaft erfahren von Freunden und Bekannten, die meine Freunde wurden. Von Unbekannten, die an meinem Schicksal Anteil nahmen und mir Mut zusprachen.

Und die meisten Journalisten, sofern sie nicht für Boulevardblätter arbeiteten, ähnelten dem von mir oben beschriebenen Kollegen erfreulich wenig. Von vielen Journalisten, befreundeten, bekannten und unbekannten, habe ich viel Solidarität und Sympathie erfahren. Ich habe einen Mann verloren, der nie mein Mann war. Ich fühle mich befreit. Im ersten Schrecken habe ich gedacht, ich hätte von Donald lieber nichts erfahren wollen. Doch danach wußte ich, daß es doch richtig gewesen ist. An einem Leben mit Donald wäre alles falsch gewesen, selbst wenn ich nie gemerkt hätte, warum.

Bin ich also für die Akteneinsicht? Meine Antwort war und bleibt «ja», denn trotz der zu erwartenden Schmerzen sind die Chancen, die die Akteneinsicht bietet, es wert, sie zu ertragen. Nur wenn wir den Mut haben, die vielfältigen Gesichter des Verrates und der Denunziation zu erkennen, werden wir vielleicht gegen Verrat und Denunziation immun.

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