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8. Menschliche Taten: Überlebende und ihre Arbeit

 

Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.
Wenn du vorankommen willst, mußt du mindestens doppelt so schnell rennen!

Lewis Carroll Alice im Wunderland 

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Yolanda ist eine Lehrerin, wie sie sich alle Kinder wünschen: kreativ, einfühlsam, erfolgreich und bei ihren Schülern sehr beliebt. Sie unterrichtet ihre Muttersprache Spanisch und Kunsterziehung in einer alternativen Highschool für psychisch gestörte Jugendliche.

Yolanda kennt die Wurzeln ihrer guten Beziehung zu ihren Schülern: »So schwer ich es auch hatte, es war immer jemand für mich da, der sich um mich kümmerte, der mir in jeder Phase meiner Reise geholfen hat. Es war nicht immer derselbe Mensch — aber das ist unwichtig. Ich glaube, wir können alles überstehen, so lange sich jemand um uns kümmert.«

Heute ist Yolanda dieser Jemand für ihre gestörten Schüler.

Ihr Leben war vom ersten Atemzug an schwer. »Ich wog dreizehn Pfund, und meine Geburt brachte meine Mutter beinahe um. Als sie in die Klinik eingeliefert wurde, fuhr ein Notarztwagen mit meinem Vater vor — dem eine Prostituierte im Streit das Gesicht zerschnitten hatte.«

Die Ehe ihrer Eltern war eine >Romeo-und-Julia-Romanze<. Ihre Mutter Carmen, Tochter eines sehr berühmten Arztes in Puerto Rico, gehörte der Oberschicht an. Yolandas Vater wuchs in armen Verhältnissen auf. Carmen heiratete ihn aus Protest gegen eine vom Vater arrangierte frühe Heirat, die in einer schmachvollen Scheidung endete. Yolanda hat ihren Vater nur vier- oder fünfmal in ihrem Leben gesehen.

»Meine Mutter erzählte, als sie mit mir aus der Klinik nach Hause kam, packte sie als erstes all seine Sachen zusammen, steckte eine Pistole in die Tasche ihres Rockes und wartete. Als er nach Hause kam, richtete sie die Waffe auf ihn und sagte: >Das ist eine geladene Pistole. Dort steht dein Gepäck. Und jetzt schaff deinen Hintern hier raus.<«

Da Carmen sich von der schweren Geburt erholen mußte, konnte sie sich nicht um Yolandas drei ältere Brüder kümmern. Der dreizehnjährige Jose - aus der ersten Ehe - ging zu seinem Vater. Der zehnjährige Hector wurde von ihrer Schwiegermutter aufgenommen. »Er sollte zu uns zurückkommen, sobald meine Mutter sich besser fühlte, aber er kam nie zurück«, sagte Yolanda. »Wir lernten uns erst als Erwachsene kennen.«

Es blieben nur der achtzehn Monate alte Edward und das Baby Yolanda bei ihr. Carmens Vater sorgte dafür, daß seine Tochter und ihre Kinder ein Luxusleben führten. 

»Meine Mutter gab den Kindermädchen Anweisungen, das war alles. Sie umarmte oder küßte uns niemals. Ich war von Anfang an eine große Enttäuschung für sie. Nach den drei Buben war ich das ersehnte Mädchen. Aber der Zeitpunkt war falsch gewählt - da saß sie nun, eine lateinamerikanische Katholikin der Oberschicht mit vier Kindern vor ihrer zweiten Scheidung. Meine Mutter war der Inbegriff einer Lady: zierlich, schön, in der Schweiz erzogen, sie besaß eine wunderschöne Stimme, nahm Gesangunterricht und hatte die Begabung, eine Operndiva zu werden. Doch die erste vom Vater arrangierte Ehe verzögerte ihre Karriere, und die Ehe mit meinem Vater machte sie endgültig zunichte. Mich hatte sie dazu auserkoren, dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatte, und ihre Träume zu verwirklichen. Ich zog es aber vor, mit den schwarzen Kindern Cowboy und Indianer zu spielen. Ich bin grobknochig, ganz hübsch, aber keine Schönheit; am schlimmsten ist, daß ich meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten bin.«

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Carmen nahm die <Erziehung> ihrer Tochter selbst in die Hand. Wenn Yolanda unruhig auf ihrem Stuhl herumrutschte, statt andächtig klassischer Musik zu lauschen, schlug Carmen sie mit einem Elektrokabel. Sie war aufbrausend und gewalttätig.

»Ich hielt sie für eine <strenge> Mutter, erkannte in ihr aber erst als Erwachsene die Kindesmißhandlerin. Über Mißhandlung wurde in der latein-amerikanischen Kultur nicht gesprochen. Eltern hatten immer recht. Wenn sie mich schlug, sagte sie ständig: <Du bist genau wie dein Vater, genau wie dein Vater.>«

Als Yolanda sieben war, ließ ihr Großvater sich nach fünfundvierzig Jahren Ehe scheiden und heiratete seine Geliebte Isabelle, die von ihm verlangte, seine Unterhaltszahlungen für Carmen und ihre Kinder einzustellen. In den nächsten drei Jahren lebten die drei in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und Carmen arbeitete als Hotelangestellte. Der plötzlich veränderte Lebensstil trug nicht zur Besserung ihrer Launen bei. Die Mutter mißhandelte ihre Kinder nur noch grausamer. Eddie begann, Tiere zu quälen, und Yolanda zog sich in die Religion zurück.

In der sechsten Klasse Grundschule erkrankte Yolanda an Mumps. »Meine Mutter konnte ihren Job nicht aufgeben, um mich zu pflegen. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an meinen Großvater. Isabelle willigte ein, mich aufzunehmen, bis ich gesund war.« Doch sobald Yolanda weg war, schickte Carmen den kleinen Edward zu seinem Vater und Yolanda sah ihre Mutter erst fünf Jahre später wieder. »Sie vermutete wahrscheinlich, ich könne ihre Träume besser verwirklichen, wenn ich Zugang zum Geld meines Großvaters hätte.«

Yolanda wurde in eine Klosterschule gesteckt. Am Wochenende besuchte sie die Großeltern, wo sie Isabelles Gewalttätigkeiten ausgesetzt war. Isabelle schlug ihre Dienstmädchen, und wenn eine kündigte, wurde Yolanda geschlagen. »Eines Tages mußte ich zusehen, wie sie ihren begehbaren Schrank entleerte und alles auf den Boden warf. Sie sagte mir, wenn ich in einer Stunde den Schrank nicht ordentlich eingeräumt hätte, würde sie mich verprügeln. Dann ging sie zum Reiten. Es war völlig unmöglich, den Schrank in der angegebenen Zeit einzuräumen. Die Bediensteten hatten die Szene mitbekommen und halfen mir. Als Isabelle zurückkam und den aufgeräumten Schrank sah, war sie so wütend, weil sie reingelegt worden war, daß sie mich mit der Reitgerte verprügelte.«

Isabelle schrie sie an: »Du bist genau wie deine Mutter, eine nichtsnutzige Hure, genau wie deine Mutter.«

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»Ihre Prügel waren nicht das Schlimmste. Es war die heimtückische seelische Folter. Wenn sie sah, daß ich glücklich war, wollte sie mir alles wieder kaputt machen. Sie ließ mich einigermaßen zufrieden, wenn ich in ihrer Gegenwart ein mürrisches, verschlossenes Gesicht machte. Unbeschwert und fröhlich konnte ich nur sein, wenn sie nicht in der Nähe war.«

Yolanda schreibt ihre psychische Gesundheit den Nonnen in der Klosterschule zu. »Sie beschützten mich so gut sie konnten. Seit meinem zwölften Lebensjahr litt ich unter Migräne -jeden Freitag. Sie sagten Isabelle, ich sei zu krank, um am Wochenende nach Hause zu kommen. Aber Isabelle ließ mich trotzdem abholen. Wenn ich am Sonntag wieder ins Internat kam, versorgten die Nonnen meine Striemen und Blutergüsse und beteten für mich. Sie wagten nicht, meinem Großvater die Mißhandlungen zu melden - einmal, weil sie glaubten, kein Recht zu haben, und zum ändern ließ er dem Kloster stattliche Geldsummen zukommen. Wenn ich wütend war, knallte ich meine Zimmertür zu, machte sie auf und knallte sie wieder zu, immer wieder, um meinen Zorn abzureagieren. Hinterher war mir wohler. Meine Tobsuchtsanfälle erschreckten die Nonnen zwar, aber sie ließen mich gewähren und bestraften mich nie. Solange ich nicht mir oder anderen weh tat, ließen sie mich zufrieden.«

Als Yolanda fünfzehn war, heiratete ihre Mutter Alberto, einen Staatsbeamten, und nahm das Kind zu sich. Ihren Sohn Eddie, der wie sein Vater ein kleiner Ganove geworden war, hatte sie verstoßen. »Ich hatte die Mißhandlungen meiner Mutter völlig vergessen, weil Isabelle mich noch gemeiner behandelte, deshalb hatte ich mir eine Idealvorstellung von meiner Mutter bewahrt. Ich freute mich wahnsinnig, zu ihr zurückkommen zu dürfen.« Die Realität holte sie schnell ein. Carmen war nach wie vor aulbrausend, und Alberto wollte Carmens Zuneigung nicht mit Yolanda teilen.

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Einmal traf Yolanda sich heimlich mit Eddie, der gerade mal nicht im Gefängnis saß. »Er begleitete mich nur bis zur Straßenecke, aber sie muß uns gesehen haben. Als ich nach Hause kam, machte sie mir eine Riesenszene und zerschlug eine Keramikschale auf meinem Kopf. Alberto mischte sich ein und brachte mich ins Bett. Als ich am nächsten Tag aufwachte, war mein ganzes Bett voller Blut. Mein Hinterkopf war ein einziger schmerzender Klumpen. Alberto hörte mein Stöhnen von seinem Zimmer. Er steckte den Kopf zur Tür herein und sagte:

>Mach schnell sauber, bevor deine Mutter das sieht.< Er versteckte die Bettwäsche unter meinem Bett. Ich wünschte, ich hätte gesagt: >Rutsch mir den Buckel runter, sie soll ruhig sehen, was sie getan hat< oder >Nein. Sie soll das selbst saubermachen. <«

Noch am gleichen Tag floh Yolanda und schleppte sich zurück in die Klosterschule. Die Nonnen brachten sie ins Krankenhaus. »Sie behielten mich vier Tage und nähten die Wunde mit mehr als vierzig Stichen. Meine Mutter fragte nie danach, wo ich gewesen bin.«

Bald darauf ging Yolanda von zu Hause fort, um einem strengen Orden in Europa beizutreten. »Ich lehne Autorität ab, wenn sie mir nicht wirklich sinnvoll erscheint. Ich war keine gehorsame Novizin. Ich habe es nicht geschafft.« Sie kehrte nach Puerto Rico zurück und zog zu einer Gruppe Nonnen, zu ihren alten Freundinnen aus der Klosterschule. »Sie arbeiteten in einem Krankenhaus im Elendsviertel. Sie waren wirklich gute Freundinnen. Es war eine wunderschöne Zeit in meinem Leben.« Schön, aber nicht von Dauer. »Ich konnte immer nur ein paar Wochen arbeiten. Ich war ständig hypernervös. Maria, eine dreißigjährige Laienmissionarin, die oft zu Besuch kam, schaute mich eines Tages an und sagte: >Du siehst aus, als würdest du dich weigern, erwachsen zu werden, weil du keine Familie als Rückhalt hast. Komm mit mir nach Hause.<« Mit einundzwanzig Jahren bekam Yolanda eine >Pflegemama<.

Yolanda zog zu Maria und deren Mutter. »Sie stellte mir eine Bedingung, ich mußte mir einen Job suchen - irgendeinen Job - und ihn ein Jahr behalten, ob mir die Arbeit Spaß machte oder nicht. Ich arbeitete in einer Reinigung.« Nach einem Jahr meinte Maria, es sei Zeit, daß Yolanda sich etwas Besseres suche. Mit Marias Unterstützung besuchte Yolanda eine Kunstschule. »Wir waren wie eine Familie. Bei Maria verlebte ich die vier >normalsten< Jahre meines Lebens.« Yolanda lernte, Arbeit und Studium als organisierende Kraft in ihrem ansonsten chaotischen Leben einzusetzen.

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Nach ihrer Abschlußprüfung bestand Maria darauf, daß Yolanda >das Nest veriäßt<. »Es fiel mir schwer, ich war einsam und besuchte sie häufig«, sagt Yolanda, »aber ich schaffte es.« Dann hörte sie von einer Möglichkeit, in einem Frauenhaus im New Yorker Harlem zu arbeiten. So kam Yolanda in die Vereinigten Staaten.

»Ich fing an, den Frauen in dem Frauenhaus Malunterricht zu geben, zunächst nur zur Entspannung, doch dann wirkte der Unterricht wie eine Therapie. Ich hatte damals keinerlei Ahnung von Therapie. Ich wußte lediglich, daß ich eine gute Lehrerin bin und daß meine Schülerinnen sich hinterher besser fühlten - ich mich im übrigen auch.« Ihre Arbeit machte ihr solchen Spaß, daß sie begann, farbige Erwachsene ohne High-school-Abschluß in einem städtischen College zu unterrichten. »Das Unterrichten machte mir großen Spaß, und ich fing wieder an zu studieren, um mein staatliches Examen als Lehrerin zu machen.«

In dieser Zeit freundete sich Yolanda mit Molly an. Molly glich in vieler Hinsicht Carmen und Isabelle. »Sie war sehr dominant und ich gab immer nach - was sie auch beabsichtigte. Im College lernte ich neue Freunde kennen, das paßte ihr nicht; sie kritisierte an ihnen herum - sie wollte mich ganz für sich. Ich arbeitete nebenbei unentgeltlich im Frauenhaus; ich war erschöpft, nervlich am Ende. Die Migräneanfälle setzten wieder ein; häufig überkam mich Panik und ich mußte aus dem Klassenzimmer laufen. Mein Chef war wunderbar. Er sagte, ich solle ein paar Wochen ausspannen, mich in Beratung begeben, er wolle den Posten für mich freihalten. Ich begann mit einer wundervollen Therapeutin zu arbeiten. Mit meiner Zustimmung lud sie Molly zu einigen Sitzungen ein und half mir, die Beziehung zu beenden.«

Die innige Freundschaft Yolandas mit Molly war ein Vorstadium künftiger Orientierung: »Ich fühlte mich immer zu Frauen hingezogen und hatte nie etwas mit Männern. Meine Sexualität begann zu erwachen. Zunächst war ich zornig auf Gott, mich lesbisch werden zu lassen. Dann machte ich mir Sorgen, ob er mich verstoßen würde. Meine Therapeutin verstand und akzeptierte meine Seelenqualen.«

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Während Yolanda diese >Seelenqualen< durchmachte, stand ihre Arbeit weiterhin im Mittelpunkt ihres Lebens, womit sie nicht zuletzt ihren Selbstwert rettete. »Ich hatte nur mit Erwachsenen gearbeitet und es schien mir fast >zu spät<, um etwas anderes zu tun. Aber ich hatte nicht vergessen, wieviel mir in meiner Kindheit die Nonnen in der Klosterschule bedeutet hatten. Also nahm ich eine Stelle an einer High School in der City an.«

Die meisten von Yolandas Schülern waren schon mal im Gefängnis gesessen, meist wegen Gewaltverbrechen. 

»Diese Jugendlichen haben die Nase voll von Sozialarbeit. Sie schützen emotionale Probleme vor, um sich vor der Arbeit in der Schule zu drücken. Ich weiß, wann ein Kind wirkliche Probleme hat, und wann es mir etwas vormacht. Schließlich habe ich als Kind mit meinem Rollenspiel Isabelle ausgetrickst. Wenn ein Kind echte Probleme hat, sorge ich dafür, daß es eine fachgerechte Beratung erhält. Ich möchte von meinen Schülern hören, daß sie ihre Schularbeiten gemacht haben. Ich sage ihnen: >Ich mache mir viele Gedanken darüber, was ich euch beibringe und ihr liegt mir sehr am Herzen. Ihr habt zwei Möglichkeiten: entweder ihr bleibt hier und arbeitet und lernt mit mir oder ihr verlaßt meinen Unterricht. < Sie haben unterschiedliche Beziehungen zu mir. Ich habe großes Mitgefühl für ihre Schmerzen und weiß, wovon sie reden, bin aber auch distanziert genug, um zu wissen, daß sie arbeiten können - und Arbeit ist wichtig.«

Eine Schülerin liegt Yolanda besonders am Herzen. »Jean ist Indianerin, wurde von ihrem Stiefvater auf grausame Weise sexuell mißbraucht, lief von zu Hause fort und wurde als Dreizehnjährige von der Polizei wegen Prostitution aufgegriffen. Sie kam aus einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung zu uns. Ihr Zorn und ihre Angst waren unbeschreiblich groß. Wenn ich sagte >Guten Morgen, Jean<, spuckte sie mich an. Ich traf ein Abkommen mir ihr. Wenn sie einfach sagen konnte >Guten Morgen<, würde ich ihr ein spezielles Kunstprojekt geben. Wenn nicht, würde ich ihr alle Privilegien entziehen.

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Dann ging ich weiter. Fünf Minuten normales Gespräch am Tag, dann zehn Minuten. Ich sagte ihr: >Wenn du nichts Gutes erlebt hast, worüber du sprechen kannst, dann denk dir was aus. Damit beweist du Kreativität. < Sie hielt mich für sonderbar. Erst brach ich ihren Widerstand, weil ich sie nicht zurückwies und dann gewann ich ihre Sympathie.«

Yolanda hat ein sehr gutes Verhältnis zu ihren Lehrerkollegen. Vor kurzem trennte sie sich von ihrer Geliebten Giselle, mit der sie sieben Jahre zusammenlebte. »Meine Kollegen halfen mir darüber hinweg. Sie gaben mir großen Rückhalt. Diese Schule ist für mich wie ein Zuhause.«

Yolanda weiß, daß Lernen und »eine Arbeit, die man gut macht, das Leben verändern kann«, aber sie hat auch andere Interessen. Sie ist Mitglied im katholischen Lesben-Chor, der bei feierlichen Hochämtern singt. Meditation gehört zu ihrem täglichen Ritual. Sie zeigte mir eine Sammlung schöner Keramikmasken, die sie angefertigt hat; jede Maske zeigt gegensätzliche Emotionen - so wie sie in Yolanda zu finden sind.

 

   Menschliche Taten    

 

Sigmund Freud war der Ansicht, ein gesundes Leben werde von zwei Säulen getragen: Liebe und Arbeit. Um dem Schmerz einer Beziehungsausbeutung zu entfliehen, oder weil sie glaubten, Liebe nicht wert zu sein, wandten sich viele der Befragten meiner Studie einer Arbeit zu, in der sie ein Gefühl der Identität und Erfüllung fanden. Sie waren der Ansicht, wenn es mit der Liebe nicht geklappt hat, klappt es vielleicht mit der Arbeit, zumindest für eine Weile.

Daher wurden manche Mißbrauchsopfer zu dem, was der Psychologe Terry Kellog »Menschliche Taten«' nennt, Menschen, für die das Wohlbefinden - gezeichnet von gesunden Beziehungen, Entspannung und Freude - weniger Priorität hat als Produktivität und Kreativität.

In einer >genügend gutem Familie wird ein Kind darin bestärkt, fröhlich aber auch verantwortlich und produktiv zu sein. Das Kind muß nichts beweisen, es muß sich Liebe nicht >verdienen<. Problemeltern legen eine Haltung an den Tag, die

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besagt: »So wie du bist, bist du nicht gut genug, deshalb wollen wir sehen, was du tun kannst.« Mißbrauchte und vernachlässigte Kinder >arbeiten<, um sich Liebe zu verdienen und um ihre Existenz zu rechtfertigen. Es wird ihnen wenig Zeit und Recht zum Spielen eingeräumt, es wird vielmehr von ihnen verlangt, etwas zu tun - gewöhnlich zum Nutzen des mißbrauchenden Elternteils.

Für die >kleinen Ehefrauem oder die >kleinen Ehemännen gab es eine Menge zu Hause zu tun, und als >kleine Mütter< und >kleine Väter< ihrer jüngeren Geschwister waren sie voll ausgelastet. Die eigennützige Liebe, die sie sich verdienten, war besser als überhaupt keine Liebe.

Thelma kam 1929 in einer großen Industriestadt als jüngstes von acht Kindern zur Welt. Ihre eingewanderten Eltern waren beide Alkoholiker. Der Vater war wegen seiner Trunksucht ständig arbeitslos und litt unter Gedächtnisausfällen. Ihre Mutter verdrosch im Rausch sämtliche Kinder. Thelma wurde als Fünfjährige gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder losgeschickt, um Geld zu verdienen. »Er zog den Karren mit den Zeitungen und ich ging auf die Passanten zu und bot ihnen Zeitungen an. Wir gingen in Bars. Wenn ich auf der Bartheke zu >When Irish Eyes Are Smiling< tanzte, kauften die Gäste alle Zeitungen. Die Aufmerksamkeit und das Geld machten mir Spaß.«

Heute ist Arbeit für Thelma gleichbedeutend mit Liebe. »Hier sehen mich die Menschen von meiner besten Seite.« Sie ist eine Public Relations Expertin in hoher Position, aber sie sagt: »Ich kann doch Menschen nicht darum bitten, sich mit mir anzufreunden.«

Dem Klischeedenken zufolge leisten Menschen mit traumati-sierter Kindheit nichts; sie bringen es im Leben zu nichts, sind zu bedrückt, um tüchtig zu sein, oder glauben, Erfolg nicht zu verdienen. Oft sind sie nicht fähig, eine Ausbildung zum Abschluß zu bringen. Unter den Befragten meiner Studie war keiner, der zu wenig leistete. Ich würde auch keinen als übertrieben leistungsorientiert bezeichnen, da keiner über seine Grenzen hinaus nach grandiosem Erfolg strebte. Ich lernte statt dessen eine Gruppe talentierter und engagierter Menschen kennen, deren Leistungen ein Spiegel ihrer Persönlichkeit waren, nicht ihres übersteigerten Ehrgeizes.

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Doch vielen war bewußt, daß sie nur teilweise an ihre Fähigkeiten glaubten, sie noch nicht ganz in ihren Selbstwert integriert hatten. Laura wurde für ihre Leistungen sehr bewundert, dennoch glaubt sie: »Egal, wieviel ich leiste, es ist nie genug. Wenn ich eine Sache gut mache, ist das unerheblich. Das kann jeder. Wenn ich gelobt werde, höre ich oft nicht hin. Wenn mich aber jemand kritisiert, hat er meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich messe meinen Wert nach wie vor daran, wie liebenswert ich bin.«

Arbeit - einst der aufrichtige Versuch des Kindes, zu einer Familie zu gehören, in der es allem Anschein nach unerwünscht war - bleibt nach wie vor eine Form der Zugehörigkeit. Glen beschreibt Arbeit als seine »Eintrittskarte zur Welt - ohne sie würde ich nicht reinkommen«.

Der Psychotherapeut Nicholas Etcheverry berichtet, daß in seiner Jugend Arbeit für ihn die Suche nach Liebe war: »Ich glaubte, wenn ich nur genug leistete, würden eine Menge Leute mich respektieren. Und wenn mich eine Menge Leute respektieren, würde ich es schaffen, daß mich ein paar gern haben. Wenn ich es schaffe, daß mich ein paar Leute gern haben, dann würde ich es auch schaffen, daß mich ein einziger Mensch liebt.«2 Diese Formel ist unter den Befragten meiner Studie weit verbreitet.

Einstige Opfer von Kindheitstraumen glauben oft, daß ihre Identität irreparabel geschädigt ist und sie Ersatz leisten müssen, da sie sich als >geringer< als andere einstufen, daß sie also mehr Leistung erbringen müssen als andere. Eine Anschauung, der die Gesellschaft häufig zustimmt. Mehr als jede andere Bemühung kann Arbeit zur Manifestation werden >einen guten Eindruck nach außen zu machen<. 

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    Berufswahl   

 

Trauma oder nicht Trauma, Kindheitserfahrungen beeinflussen häufig die Entscheidungen zur späteren Berufswahl. Sam fand in seiner Arbeit das windstille Zentrum des Wirbelsturms seiner Kindheit, eine Betätigung, die ihm bis heute große Freude bereitet. 

»Zu meinen Aufgaben im Haushalt gehörte es, mich um die wenigen Pflanzen zu kümmern, die wir hatten. Sie wuchsen und gediehen, und das machte mich ein wenig stolz. Andere Kinder verkauften Limonade auf der Straße und ich verkaufte Pflanzenableger. Wir kannten keine Zärtlichkeit, bei uns gab es nur Ohrfeigen, Prügel und körperliche Inspektionen. Meine Haustiere und Pflanzen gaben mir Liebe und trostspendende Berührung. Ich beobachtete fasziniert, wenn etwas heranwuchs. In der Highschool züchtete ich Wüstenmäuse und Hamster, verkaufte sie an meine Freunde und brachte ihnen bei, wie sie die Tiere füttern und halten mußten. Die Mutter eines Freundes leitete ein Geschäft für Aquariumzubehör, und ich arbeitete ein paar Jahre für sie.« 

Heute ist Sam ein erfolgreicher Geschäftsmann und freut sich noch immer an heranwachsendem Leben. Er besitzt eine Ladenkette, die auf »Leben im Haus - Pflanzen, tropische Fische, Haustiere, Vögel - spezialisiert ist, also alles Geschöpfe, zu denen man eine Beziehung haben kann«.

Für andere bedeutet Arbeit der Versuch, etwas zu meistern, was einst eine drohende Niederlage bedeutete. Diese Menschen sind heute hilfsbereit statt hilflos. Paul versuchte als kleiner Junge einen Sinn in Hanks verrücktem Verhalten zu sehen. Als Anthropologe setzt Paul seine Studien über die Dynamik der Aggression in die Praxis bei Verhandlungen mit Geiselnehmern um.

Daryl, der in einem Armenviertel aufwuchs, von hellerhäutigen Kindern der Nachbarschaft schikaniert wurde, wußte, daß »die Kinder, die mich schlugen, in gewisser Weise ebenfalls litten«. Heute arbeitet Daryl mit vorwiegend farbigen Jugendgruppen und versucht über »Theaterspiel und Musik ethnische, Klassen- und Rassenspannungen abzubauen. Kreatitivät ist ein wunderbarer Ausgleich - wenn wir Musik machen, sehen wir alle gleich aus.«

Für den Boxweltmeister im Halbschwergewicht Donny La-londe war die Kindheit buchstäblich der Trainingsring für seine spätere Karriere. Von seinem Stiefvater wiederholt bewußtlos geschlagen, fing er an zu boxen, um sich zu beweisen, daß »man mit ihm rechnen mußte« und daß er »einstecken konnte wie ein Mann, ja sogar zurückschlagen konnte«.3

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Lalonde sagte, als er zu boxen anfing, machte es ihm eigentlich nichts aus, Treffer einzustecken, weil kein Mensch ihn so sehr schlug wie sein Stiefvater, und weil seine Gegner im Ring alle nicht größer waren als er. »Für mich gehörte Schmerz zum Leben. Aber ich wollte den Schmerz auch fühlen. Im Unterbewußtsein glaubte ich, Schmerz zu verdienen.« Lalondes Vater sah ihn zum ersten Mal in November 1987 im Boxring in seinem Kampf gegen Eddie Davis. »Ich wäre lieber im Ring gestorben, als mich vor meinem Vater zu blamieren. Aus welchem Grund tut ein Junge das, was ich getan habe - geht in den Boxring und setzt sein Leben aufs Spiel -, um Respekt zu erhalten?«

Lalonde zweifelt heute an seiner Berufswahl. »Ich bin nicht der Meinung, daß man dafür verherrlicht werden soll, wenn man andere k. o. schlägt.« Aber er setzte seinen Überlebenskampf als Kind in die Fähigkeit zur Inspiration um, nicht um andere zu verletzen: »Es gibt noch einen Grund, warum ich gewinnen muß. Als Box-Champion kann ich mir Gehör verschaffen. Ich kann mich öffentlich zu Mißbrauch äußern. Ohne meinen Titel wäre ich bloß ein Boxer unter Tausenden.«

Nach seinem Sieg über seinen Herausforderer Leslie Steward im Mai 1988 sprach er vor dem Worid Boxing Council. Seine Siegesrede war eine direkte Botschaft an »alle Kinder da draußen, die Probleme zu Hause haben. Glaubt an euch und kämpft weiter. Ihr könnt euer Leben umkehren. Die Menschen, die euch mißhandeln, haben die Probleme - nicht ihr. Sie sind diejenigen, die Hilfe brauchen.«

Laura entdeckte erst vor kurzem die Verbindung zwischen ihrer traumatischen Kindheit und ihrem Beruf. Ihre Mutter pflegte sich tagelang in ihr Schlafzimmer einzuschließen. Wenn ihre vier kleinen Kinder an die Tür klopften, weil sie etwas zu essen oder Zuwendung brauchten, bekam sie einen Wutanfall. Der Familien­mythos lautete: »Sheila schreibt große Literatur, einen Roman.« In Wahrheit tat Sheila nichts weiter als essen und schlafen und wusch sich oft tagelang nicht. Ihre Tablettensucht machte sie launenhaft und unberechenbar. »Wenn ich die Hand hob, um mein Gesicht zu schützen, wenn sie mich prügelte, drehte sie vollends durch. >Wie kannst du es wagen, die Hand gegen deine Mutter zu erheben !< Und dann schlug sie mich noch brutaler.

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Ich hasse das Schreiben, aber ich habe immer den Zwang verspürt zu schreiben. Mit zweiunddreißig Jahren schrieb ich mein drittes Buch über die Rechte der Kinder, bevor mir klar wurde, daß ich mich mit meinem Schreiben an meiner Mutter rächte. Sie hat natürlich nie etwas geschrieben, verbucht aber meinen Erfolg als Autorin für sich - ihr Einfluß machte mich zu der, die ich heute bin. In einer verdrehten Art stimmt das auch. Ich hielt ihr ihre Selbsttäuschung vor Augen.«

Der Kinderpsychologe Jean Piaget, der gänzlich neue Theorien darüber entwickelt hat, wie Kinder denken und lernen, führt seine Arbeit als Erwachsener auf das Trauma seiner Kindheit zurück:

Eine der direkten Folgen der schlechten geistigen Verfassung meiner Mutter bestand darin, daß ich sehr früh in meiner Kindheit darauf verzichtete zu spielen und statt dessen arbeitete; das machte ich einerseits, um meinen Vater nachzuahmen (ein Gelehrter von großer Gewissenhaftigkeit und kritischem Geist, der mich den Wert systematischer Arbeit lehrte) und andererseits, um mich in eine private und nichtfiktive Welt zu retten. Ich verabscheue jede Form der Realitätsflucht, eine Haltung, die ich auf diesen bedeutsamen beeinflussenden Faktor in meiner frühen Kindheit zurückführe, vorwiegend auf den schlechten geistigen Zustand meiner Mutter.4

 

   Das Helfersyndrom    

 

Elf der Befragten meiner Studie arbeiteten in helfenden Berufen. Weitere sieben waren als Freiwillige in sozialen Bereichen tätig. Da sie in Problemfamilien aufwuchsen, lernten sie für andere Menschen zu sorgen und wurden das, was ich mit >Wunderkinder der Fürsorge< bezeichne. Sie haben die Gabe, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und zu erfüllen - meist auf Kosten ihrer eigenen Bedürfnisse - und eignen sich für Berufe im Erziehungswesen, als Seelsorger, Mediziner, Pfleger, Berater, Pflegeeltern, Krankenpfleger und so weiter.

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Darüber hinaus haben sie eine hohe Toleranz für unangemessenes Verhalten, verspätete oder nicht existente Anerkennung, Krisenorientierung, und sie haben oft einen sechsten Sinn für die Stimmungen anderer Leute entwickelt.

Einige Befragte glaubten, der Grund, warum sie im Leben leichter zurechtkamen als ihre Geschwister, liege darin, weil ihnen in so jungen Jahren Verantwortung aufgebürdet wurde. Ihren Geschwistern kam häufig eine eher passive Rolle zu, sie absorbierten den Schmerz so gut es ihnen möglich war. Laura ist zwar traurig und verärgert darüber, wie schlecht ihr Bruder seine Kindheit verkraftet, sagt aber: »Ich verstehe auch, daß Chris genau so ist, wie er erzogen wurde. Mir wurde gesagt, ich sei nicht liebenswert, und ich arbeite heute für Liebe. Ich habe die Torturen überstanden, weil ich meine Brüder beschützte. Chris wurde ständig gesagt, daß er nichts richtig mache — er sei faul, dumm, unbeholfen. Wen wundert es, daß er heute ständig arbeitslos ist. Ich entschuldige das nicht. Aber ich kenne ihn nur als passiven, traurigen kleinen Jungen.«

Joan, als Teenager selbstmordgefährdet, ist heute Schulpsychologin, die vorwiegend mit selbstmord­gefährdeten Jugendlichen arbeitet. »Ich weiß, wo sie aufhören und wo ich beginne — meine Grenzen sind gefestigt. Wäre das nicht so, würde ich mehr Schaden anrichten, als Gutes tun. Aber jedesmal wenn eines dieser Kinder aufhört, zwanghaft an Selbstmord zu denken, ist mir, als habe ich ein kleines Stück von mir selbst gerettet.«

Rob arbeitet als Sozialarbeiter an einer Klinik und hilft chronisch kranken Patienten, ihre Schmerzen zu lindern und damit umzugehen. »Eine Sache ärgert mich noch heute. Wenn ich nicht diese schreckliche Kindheit gehabt hätte, wäre ich Arzt oder Rechtsanwalt geworden und würde anständiges Geld verdienen. Aber nein, ich mußte mich mit Opfern identifizieren. Als ich mit sechzehn im Jugendgefängnis landete, wo ich es mit unbeschreiblichen Bewährungshelfern zu tun hatte, und später als Soldat wußte ich, daß ich die Schule abschließen und Therapeut werde und mit leidenden Menschen arbeite.«

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Janet wurde Therapeutin und spezialisierte sich auf die Behandlung von Sexualstörungen.

»Vor kurzem nahm ich am fünfundzwanzigsten Klassentreffen meiner Highschool teil und meine ehemaligen Mitschülerinnen sagten, ich habe bereits in der neunten Klasse verkündet, daß ich Sexualberaterin werden wolle. Ich bot nicht nur allen eine Schulter, woran sie sich ausweinen konnten, ich war auch die einzige, die wußte, was Sex bedeutete. Meine Freundinnen wußten allerdings nicht, daß ich meine Kenntnisse vornehmlich aus meinen Beobachtungen der sexuellen Gewalt meines Vaters gegen meine Mutter bezog, seiner offenen Affären, seinen Pornoheften und den heimlichen lüsternen Annäherungsversuchen, die er bei mir machte.«

Vielen dient die Arbeit der Fürsorge um andere auch dem Zweck, Zeugnis abzulegen von dem Schaden, der durch Gewalt in der Familie angerichtet wurde. Janet fährt fort: »Ich wußte alles über Prügel und Gewalt, lange bevor ein Buch darüber geschrieben wurde. Dieses Wissen ist seit meiner Kindheit in mir. Statt mich hilflos und ohnmächtig zu fühlen, war ich wütend darüber, was mein Vater meiner Mutter und mir antat. Ich bin entschlossen, dieses Wissen einstigen Opfern von Kindesmißbrauch näherzubringen, damit sie gewaltlose sexuelle Freuden entdecken und genießen können.«

Der Psychologe John Wilson entwickelte eine >Typologie des Streßreaktionssyndroms unter Überlebens­gruppen<, die ein breites Spektrum der Folgeerscheinungen von Traumaopfern definiert. In dieser Typologie ist auch ein >prosozialhumanitäres Syndrom< aufgeführt, das auf die meisten der von mir Befragten zutrifft:

[Der Betreffende ist] altruistisch und hat Überlebensschuld und andere trauma-bezogene Symptome in eine fürsorgliche, humanistische Ausrichtung auf andere und die Gesellschaft umgewandelt. Er ist intensiv und kreativ. Lebt mit dem existentiellen Verlangen, zweckorientierte Werte zu erarbeiten, die sein Leben und seine Selbstverwirklichung fördern. Das ist vielleicht die gesündeste Form, mit dem Streßsyndrom umzugehen.5

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Laura hat sich zur Fürsprecherin der Rechte der Kinder gemacht; ihr Beruf und ihre freiwillige Tätigkeit als Pflegemutter sind ihr wichtig, doch »die Haltung anderer kann schmerzhaft und unbeabsichtigt erniedrigend sein, wenn sie feststellen, daß ich ein Mißbrauchsopfer bin. Manche Menschen erkennen mich nur als die geschädigte Person an, die anderen geschädigten Menschen hilft - wie ein Leprakranker andere Leprakranke versorgt und damit verhindert, daß Gesunde von der Krankheit angesteckt werden. Diese Haltung unterstellt, daß es meine Pflicht sei, nicht die ihre. Wenn Mißbrauchsopfer sich um mißbrauchte Kinder kümmern, kann die übrige Gesellschaft beruhigt sein. Es interessiert niemanden, daß ich mir diesen Beruf bewußt erwählt habe. >Was hätte sie mit ihrem Leben sonst anfangen können - vermutlich hat sie Schwierigkeiten mit ihren Beziehungen. Sie will keine eigenen Kinder, weil sie befürchtet, sie würde sie möglicherweise schlagen. Also ist es eigentlich ganz normal, daß sie sich um Kinder kümmert, die ohnehin schon einen Schaden abgekriegt haben. < Ich kann zwar nicht mit Sicherheit behaupten, aber ich wette, ich würde diesen Beruf auch ausüben, wenn ich in einer perfekten Familie auf gewachsen wäre. Ich arbeite gern in meinem Beruf und ich mache meine Arbeit gut.«

Die Psychologin Sarah Moskovitz setzt sich mit dem Thema auseinander, daß die guten Taten eines Überlebenden seiner >Überlebensschuld< zugeschrieben werden. Ihr Buch Love Despite Hate ist eine Studie an vierundzwanzig Erwachsenen, die einen Teil ihrer Kinder entweder in Nazi-Konzentrationslagern verbrachten oder sich im Zweiten Weltkrieg verstecken mußten. Nach dem Krieg wurden diese Waisenkinder von Alice Goldberger in einem Kinderheim in Lingfield, England, untergebracht und betreut. Über die bemerkenswerte Arbeit Gold-bergers und die humanistische Arbeit der Überlebenden selbst schreibt Moskovitz:

Es wäre zu einfach, mitfühlendes Handeln, Selbstaufopferung und soziales Engagement vorwiegend aus der Motivation von Schuldbewußtsein für vergangenes Verhalten oder für das Überleben an sich zu sehen. 

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Das positive Bedürfnis, menschlich zu handeln und Empfindungen der Empathie auszudrücken, der Wunsch, sich in seinem Leben humanitär zu verhalten, erfordert keine Unterlassungen oder Vergehen in der Vergangenheit. Daß diese zweifelhafte Überzeugung häufig von Überlebenden selbst vertreten wird — die schließlich nicht immun sind gegen das, was sie aus sogenanntem berufenem Munde über ihre angeblichen Empfindungen hören — ist eine besondere Ironie, da sie ein neues Stigma aufdrückt, nämlich die bittere Gleichung Mitgefühl ist gleich Schuld.6

Mitgefühl hat vermutlich mehr mit Weisheit zu tun als mit Schuldbewußtsein. Elaine arbeitet auf freiwilliger Basis als Krankenschwester. Ihre Motivation ist für Mißbrauchsopfer typisch: »Wenn man Situationen erlebt hat, in denen man die Dinge nicht im Griff hatte und das Gefühl kennt, anderen Menschen ausgeliefert zu sein, halte ich es für verbrecherisch, wenn man nicht versucht, anderen zu helfen.«

 

     Die Bedeutung von Arbeit    

 

Zunächst verhilft Arbeit den einstigen Opfern zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Als Kinder träumten Vinnie und Thelma davon, der Armut zu entkommen. Heute sind beide wohlhabend. Thelma sagt: »Ich sehe mich als Scarlett O'Hara: <So wahr Gott mein Zeuge ist, ich werde nie wieder Hunger leiden.> Ich habe schwer gearbeitet, um aus meiner sozialen Schicht herauszukommen, um nie wieder in Armut zu landen.« 

Alle Befragten meiner Studie haben zumindest den Aufstieg in die Mittelschicht geschafft und sehen ihren wirtschaftlichen Status als etwas, worauf sie Einfluß nehmen konnten, im Gegensatz zu dem Mißbrauch, den sie erlitten hatten. Dennoch unterstützten Vinnie und Thelma sowie andere Mißbrauchs­opfer, die in Bereichen der Wirtschaft und Wissenschaft arbeiten, ihre Mitbürger durch ihren Status und ihre finanziellen Mittel. Vinnie, heute ein angesehener Rechtsanwalt, hat nie vergessen, wie glücklich er in den Ferienlagern der katholischen Kirche war, wo er die schonungslose Gewalt zu Hause vergessen konnte.

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Heute ermöglicht er durch seine finanziellen Zuwendungen Dutzenden von Kindern aus seinem >alten Wohnviertel den Aufenthalt in solchen Ferienlagern.

Die Arbeit ermöglicht auch soziale Kontakte mit einem Minimum an Verletzbarkeit. In helfenden Berufen muß niemand seine Seele bloßlegen - solches Verhalten gilt sogar häufig als >unprofessionell<. Vielen einstigen Opfern ist diese Abschottung vor Verletzung sehr willkommen. Thelma ist sich bewußt, daß sie sich hinter ihrem Job versteckt: »Meine Berufsbezeichnung steht schon immer für das, was ich bin.« Manche Überlebende zeigten mir Ehrungen, die sie erhalten hatten, Zeitungsartikel, die über sie geschrieben wurden. Dadurch schienen sie ihr Gleichgewicht leichter wiederzufinden, nachdem sie den Mut hatten, mir ihre Geschichten zu erzählen. Verständlicherweise mußten sie in die >Sicherheitszone< ihrer Arbeit zurückkehren und mir den >Beweis< erbringen, daß sie durch die Traumen, über die sie mir berichteten, keinen bleibenden Schaden davongetragen hatten.

Einem Arbeitsteam anzugehören oder >Chef< zu sein mit der Verantwortung für das Wohlergehen seiner Mitarbeiter kann ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Doch die Hälfte der von mir Befragten arbeiteten selbständig und gaben an, nicht sonderlich für abhängige Arbeit geeignet zu sein. Selbständigkeit ermöglichte ihnen Kontakt zu anderen Menschen - zu ihren eigenen Bedingungen. Viele schilderten, in welcher Weise Arbeitssituationen die Dynamiken ihrer Kindheit wiederholt hatten. Manche hatten in ihren Vorgesetzten irrationale oder mißbrauchende Menschen wie ihre Eltern kennengelernt. Manche wurden Opfer sexueller Belästigungen, Rassismus oder anderer Formen von Diskriminierung.

Glen hat heute seine eigene Beratungsfirma. Er erklärte: »In meiner letzten Stellung war ich so wütend auf meine Chefin, daß ich sie am liebsten umgebracht hätte. Den Leuten in dieser Agentur ging es nur darum, was sie aus mir herausholen konnten. Ich als Person zählte nicht. Wieder wurde ich ausgebeutet, wurde zwischen kriegführenden Mächten aufgerieben. Ich mußte mir immer wieder vor Augen halten, daß die Firma nicht meine wirkliche Familie war, und die Leute keine wirkliche Macht über mich hatten. Also entschloß ich mich zu gehen. Mich selbständig zu machen war das Beste, was ich tun konnte.«

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Andere hatten sich zuviel Verantwortung aufgebürdet, kümmerten sich häufig um Mitarbeiter oder Angestellte. Irgendwann wurde ihnen die Last zuviel und manche stellten dann fest, daß sie wie ihre Problemeltern reagierten. Laura erinnert sich: »Ich war im mittleren Management in einem großen Sozialleistungsbetrieb tätig. Ich hatte eine Menge Verantwortung und keine Befugnisse. Ich litt sehr darunter, zu welchen Bedingungen meine vierundzwanzig Mitarbeiter arbeiten mußten. Eines Tages, nach einem Umzug in größere Büroräume, kam eine Sozialarbeiterin mit einem Problem zu mir: ihr Schreibtisch war während des Umzugs abhanden gekommen, sie brauchte Ersatz. Ihre Forderung war absolut gerechtfertigt, doch ich wußte, daß es eine Ewigkeit dauern würde, bis sie einen neuen Schreibtisch bekommen würde wegen der Bürokratie, der fehlenden Mittel und der Uneinsichtigkeit meines Chefs. Ich erinnere mich genau an meine Hilflosigkeit; ich kam mir vor wie mein Vater, der sich achselzuckend abwandte, wenn meine Mutter mich mit Fäusten traktierte. Das war nicht richtig. Die Frau war eine gute Mitarbeiterin und ein guter Mensch. Das war der Wendepunkt - kurz darauf habe ich gekündigt.«

Aber Laura fand auch echte Heilung durch die Beziehung zu zwei ihrer Mitarbeiter: 

»Es waren gesunde Männer, zu denen ich mich privat nie hingezogen gefühlt hätte. Wir waren gleichgestellt, die Erwartungen waren klar und es bestand keine Gefahr, daß unsere Beziehungen sexuell werden könnten. Das machte mich freier und ich konnte offener mit ihnen umgehen. Beide waren sehr vertrauenswürdig, gingen auf meine Gefühle ein und es machte Spaß, mit ihnen zusammenzusein. Wir hatten gemeinsame Aufgaben - wir hielten gemeinsame Therapiesitzungen mit Gruppen mißbrauchter Kinder im Vorschulalter ab. Diese Mitarbeiter waren für mich <Ehemänner am Arbeitsplatz> Unsere erfolgreiche Zusammenarbeit brachte mich dazu, meinen generellen Argwohn gegen alle Männer zu überdenken, der eine Spätfolge des Verrats meines Vaters an mir war. Ich mußte umdenken: vielleicht war ich in langfristigen Beziehungen mit Männern nicht so hoffnungslos wie ich glaubte — vielleicht war das Echte für mich gar nicht völlig undenkbar.«

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Schließlich gibt die Arbeit unserem Leben eine Struktur, bringt Ordnung in unser Zeitgefüge und unsere Energie. Viele einstige Opfer verfolgen ihren Arbeitseifer zurück in ihre Kindheit, damals hatte die Arbeit ihnen als Gegenpol zum Chaos und als Ablenkung von ihren Schmerzen gedient.

Der Psychologe Bryan Robinson schreibt in Work Addiction:

Ohne mein Wissen hatte die Arbeitssucht sich bereits im Alter von zehn bis in meine Zwanzigerjahre in mein Leben eingeschlichen. Sie linderte Schmerzen, half mir zu vergessen, lenkte mich ab, bot mir Zuflucht und war mir schweigende Gesellschaft, wenn ich mir ganz verlassen auf der Welt vorkam. Den größten Zwang, den die Arbeit bei mir ausübte, war das falsche Gefühl von Macht und die Kontrolle über mein Leben.7

Die übersteigerte Bedeutung, die der Arbeit zugemessen wird, kann auf ein gesundes Maß reduziert werden, wenn das einstige Opfer erkennt, daß die Arbeit nicht mehr der Organisation seiner Zeit und Energie dient, nicht länger die Wurzel seiner Selbstachtung ist, sondern Wachstum und Selbstausdruck in anderen gleichermaßen wichtigen Lebensbereichen blockiert.

 

   Arbeitssucht  

 

Wenn einstige Opfer die Balance zwischen Arbeit und Hinwendung auf ihre innere Entwicklung und andere Bereiche nicht lernen, verfehlt Arbeit ihren Sinn als Heilmittel. Ebenso wie Alkohol, Betäubungsmittel, Sex, Essen, Glücksspiel, Anerkennung oder Konsumgebaren kann auch Arbeit zur Sucht führen und mißbraucht werden.

Manche einstige Opfer würden allerdings mit Jake übereinstimmen: »Als Sohn süchtiger Eltern mußte ich zwangsläufig zum Süchtigen werden. Meine Suchtform ist lediglich angesehener und lohnender als andere.« Gewiß wird Arbeitssucht von der Gesellschaft eher anerkannt.

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Wir sagen einem Arbeitskollegen scherzhaft: »Natürlich bin ich arbeitssüchtig«, würden aber niemals so lässig und unbekümmert eingestehen, eßsüchtig oder drogenabhängig zu sein. Viele einstige Opfer machten sich bewußt, wie ernsthaft die Konsequenzen ihrer Sucht sein können. Als Jakes Frau mit Scheidung drohte, wurde ihm klar, daß er für seine beiden Söhne ebenso unzugänglich geworden war wie sein Vater einst für ihn. »Ich hatte Barbara im Stich gelassen, genau wie mein Vater meine Mutter im Stich gelassen hatte. Und ich kaufte den Kindern Geschenke, um ihnen meine Liebe zu beweisen, genau wie meine Mutter sich mit dem Essen, das sie für uns nach Hause schleppte, einreden wollte, sie sei eine gute Mutter.«

Der Psychologe Bryan Robinson glaubt, daß Arbeitssucht »ein segensreicher Betrug ist. Sie ist das einzige Rettungsboot, das so gebaut ist, daß es sinken muß. Sie nützt einem Kind, das in der Krankheit von Alkoholismus zu ertrinken droht. Das Kind denkt, es sei gerettet. Aber dann wird es von einer maskierten Form der Krankheit befallen, die ihm zunächst hilft zu überleben, bevor es heimtückisch von ihm verlangt, den Preis zu bezahlen.«8

Ließe der Arbeitssüchtige sich nicht von Arbeit vereinnahmen, würde er oder sie vielleicht von unangenehmen Gefühlen von Depression, Angst, Wut, Verzweiflung und Leere heimgesucht und möglicherweise auch von Erinnerungen an Kindheitstraumen. Der Süchtige stürzt sich noch mehr in die Arbeit, um diese Gedanken und Gefühle zu vertreiben. Wenn er aber das nächste Mal ohne Arbeit ist, kehren sie mit noch größerer Heftigkeit wieder. Schließlich versagen seine körperlichen Kräfte, Beziehungen gehen zu Bruch und seine innere Ruhe ist dahin.

Die Gesellschaft belohnt den einseitigen Lebensstil des Arbeitssüchtigen und bemißt ehemalige Opfer ausschließlich an ihrer Arbeitskraft und Ausdauer. Die Betroffenen selbst empfinden allerdings mit der Zeit tiefere emotionale, körperliche und geistige Schmerzen. Erst an einem Tiefpunkt angekommen - wenn die Arbeit nicht mehr funktioniert - , begannen viele der Befragten meiner Studie nach einem Ausgleich in ihrem Leben zu suchen.

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    Tu nicht ständig was — setz dich endlich mal hin!    

 

Einstige Opfer, die gelernt haben, Arbeit in die richtige Perspektive zu rücken, warnen davor, daß die Suche nach Ausgleich manchmal dazu führt, die Sucht auf andere Aspekte ihres Lebens zu verlagern. Jake erinnert sich. 

»Als ich schließlich die Arbeit zu sehr übertrieb - gefährlich hoher Blutdruck war die Folge - begann ich >an Gefühlen zu arbeiten< und >an meiner Therapie zu arbeiten< und >an meinen Freundschaften zu arbeiten<; ich >arbeitete< sogar an meiner Freizeitgestaltung mit der gleichen Verbissenheit und Entschlossenheit, wie ich mich zuvor der Arbeit gewidmet hatte. Ich erkannte schließlich mein Problem, als ich versuchte, an meiner Ehe zu >arbeiten<. Ich war so zielorientiert, daß ich Pläne ausarbeitete, wieviel Zeit wir für Spaß, Sex und ernste Diskussionen aufwenden sollten. Meine Frau hatte keine Lust, sich meinem halsbrecherischen Tempo anzuschließen. Sie wollte lediglich sehen, was ganz natürlich dabei herauskommen würde, wenn wir mehr Zeit miteinander verbrachten.«

Ein Schritt zu einem gesunden Ausgleich ist der Gedanke »Ich verdiene es geliebt zu werden, einfach so«. Bislang war die Arbeit die beste Methode für das einstige Opfer, um zu wissen, daß seine Bedürfnisse erfüllt wurden.

In ihrem Buch <Die Erlöser-Falle> erforscht die Sozialarbeiterin Carmen Berry die Probleme von >Helfer-Typen< oder >Messias-Typen<. Sie findet die Wurzeln ihres Dilemmas in ihrer dysfunktionalen Kindheit und in zwei starken Überzeugungen:

»Wenn ich es nicht tue, wird es nicht getan« und »Die Bedürfnisse aller anderen sind wichtiger als meine.« Natürlich sind Messias-Typen irgendwann einmal ausgebrannt und beklagen sich darüber, daß sie nicht genug im Leben bekommen.

Messias-Typen sind emotional unterernährt, nicht weil das Nahrungsangebot zu gering wäre, sondern weil die Messias-Typen so winzig kleine Münder haben, daß sie nicht in der Lage sind, Nahrung aufzunehmen. Sehnsüchte eines Menschen geben keinen Aufschluß darüber, was das Leben zu bieten hat. 

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Im Gegenteil, das Maß des Verlangens weist darauf hin, welche Teile des Lebens der Betreffende gegenwärtig erfahren kann. In all meinen beruflichen und persönlichen Beobachtungen bin ich nie einem Menschen begegnet, der fähig war, mehr Liebe und Fürsorge zu akzeptieren, als er oder sie zum gegebenen Zeitpunkt erfuhren. Sollte eine neue Beziehung oder Liebesaffäre mehr versprechen, dauerte es nicht lange, bevor die Aura verblaßte, die Beziehung sich als enttäuschend erwies und der Betreffende sich wieder einsam fühlte.9

Überlebende können lernen, Arbeitstechniken auf andere Lebensbereiche anzuwenden. Wunderkinder der Fürsorge können lernen, sich ebenso um sich selbst zu kümmern wie um andere, indem sie Empathie und Hilfe nach innen statt nach außen lenken. Die Therapeutin Esther lernte, sich selbst die gleichen Ratschläge zu geben wie ihren Patienten. »Mein Mitgefühl ist eine Eigenschaft, die ich schätze, und jetzt lasse ich es mir selbst ebensosehr zukommen wie anderen.«

Der Psychiater Edwin Peck berichtet von >Jim<, einem heldenhaften Kriminalbeamten im Morddezernat, der eine Psychoanalyse bei ihm machte. Jim hatte die Erinnerungen an seinen Vater, der ihn als Kind auf sadistische Weise körperlich mißhandelte, völlig verdrängt. Im Verlauf der Analyse aktivierte Jim nicht nur viele Erinnerungen und erlebte in der Depression seine Trauer um den Verlust einer unbeschwerten Kindheit, er ließ sich auch weniger von seinem aufreibenden Beruf in Beschlag nehmen als früher.

Jim begann zu sehen, daß er die Pflichterfüllung im Beruf als Schild gegen Depressionen benutzte. Ich bemerkte, daß Jim Verbrechen mit Erfolg aber mit sehr wenig Erfolgserlebnissen aufdeckte; nun deckte er Familien verbrechen auf, die gegen ihn begangen worden waren, und damit erfuhr er Erfolgserlebnisse und Linderung seiner Depression.10)

Beth fand durch ihr Interesse und ihre aktive Teilnahme an Basketballspielen zu einem neuen Lebensaspekt. »Eine wunderbare Entspannungsmethode! Und ich setze das, was mir an meiner Arbeit am besten gefällt, in einen anderen Bereich um. Ich hatte immer Teamgeist. Für dieses Spiel braucht man Intelligenz, strategische Umsicht und Fairneß unter Druck. Es ist schnell und verwirrend, genau das, was ich von meiner Familie und meiner Arbeit gewöhnt war. Das Schönste am Basketball ist für mich, daß ich meine Gefühle in der Spannung und der Unvorhersehbarkeit des Spielverlaufs herauslassen kann.«

Überlebende können auch lernen, ihre Bedürfnisse auf andere Lebensaspekte auszuweiten. Freunde, Liebesbeziehungen und Spaß am Spiel bezahlen zwar nicht die Miete, aber sie können uns ein Gefühl der Zugehörigkeit und Bestätigung geben und unser Leben strukturieren. Die Fähigkeit zu arbeiten ist eine der Stärken von Mißbrauchsopfern, die ihr Leben in den Griff bekommen haben. Sie ist auch eine wunderbare Möglichkeit der Heilung und des Wachstums, so lange sie den ihr angemessenen Platz neben dem Sein beibehält. Vielleicht hat Freud seine Überlegungen nicht zu Ende geführt. Ein glückliches, zufriedenes Leben hat viele Säulen: nicht nur Liebe und Arbeit, sondern auch Selbstliebe, Spiel, Entspannung, Freundschaft, Spiritualität.

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