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5. Tatort des Verbrechens: der Körper 

 

Die überwiegende Mehrheit von uns ist gezwungen, ein Leben in ständiger, systematischer Doppelzüngigkeit zu verbringen. Die Gesundheit muß Schaden nehmen, wenn man Tag um Tag das Gegenteil von dem sagt, was man fühlt, wenn man vor jemand, den man verabscheut, kriecht und etwas bejubelt, das einem nichts als Unglück bringt. Unser Nervensystem ist keine bloße Fiktion, sondern Bestandteil unseres physikal­ischen Körpers, und unsere Seele existiert im Raum und ist in uns, wie die Zähne in unserem Mund. Man kann ihr nicht ewig ungestraft Gewalt antun.  (Pasternak: Doktor Schiwago)

 

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Jake ist der Beweis, daß man ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen kann. Er wuchs in einer Slum­gegend auf, rackerte sich ab, um die höhere Schule zu schaffen, gründete später eine Firma für Computer­software und ist heute ein Kommunalpolitiker und Lehrer für Mathematik und Physik an der Highschool seiner Stadt. Er verkörpert den Erfolg — groß, gutaussehend, sportlich. Die Leute halten Jakes Fitneß-Manie — er trainiert täglich zwei Stunden — für ein Zeichen seiner Selbstdisziplin.

Jake wurde als Kind von seinem Vater Howard schwer mißhandelt. Howard war psychotisch und glaubte, Jake sei vom Teufel besessen. Er versuchte, den Satan mit Schlägen und Verbrennungen auszutreiben und fesselte das Kind. Er führte ein Seil zwischen den Gitterstäben von Jakes Kinderbett und unter der Matratze hindurch und zurrte es fest. Jakes Mutter hatte zu große Angst vor Howard, um zu wagen, Jake oder seine drei jüngeren Schwestern zu beschützen. Sie arbeitete als Zimmermädchen in einem Hotel, weil Howard zu gestört war, um einer geregelten Arbeit nachzugehen. Jake erinnert sich, daß seine Mutter <die meiste Zeit erschöpft> war.

Jake war ein ausgezeichneter Sportler, spielte besonders gut Basketball. Er wurde von älteren Schülern trainiert und verbrachte viele glückliche Stunden auf dem Sportplatz. Doch Howard schlich Jake nach, verfluchte den Teufel, näßte seine Hosen ein und redete wirres Zeug. Schließlich hörte Jake auf, Basketball zu spielen, hat aber noch heute die besten Erinnerungen an diese Zeit. »Ich fühlte mich total glücklich. Wenn ich heute Sport betreibe, habe ich ähnliche Glücksgefühle.«

Als Jake sechs Jahre alt war, brach Howard ihm bei seinen Prügeleien den Arm. Nach diesem Vorfall stählte Jake sich gegen die Angriffe des Vaters. »Ich ließ nicht zu, daß er oder meine Schwestern oder Mama mich weinen sahen. Es war der einzige Stolz, den ich noch hatte. Ich zählte die Schläge, versuchte meinen eigenen Rekord zu brechen, wieviel ich einstecken konnte. Meine höchste Punktezahl waren siebenundzwanzig Schläge.« Jake verlor nie das Bewußtsein, wenn er verprügelt wurde. »Ich hatte nichts außer meiner körperlichen Durchhaltekraft, das war meine Selbstbestätigung — die ließ ich mir von ihm nicht nehmen. Ich wußte von den ständigen Raufereien in unserer Nachbarschaft — solange du auf den Beinen bleibst, bist du okay.«

Seine Mutter versuchte die Grausamkeiten ihres Mannes wiedergutzumachen, indem sie Jake verhätschelte: sie badete gemeinsam mit ihm, bis er neun Jahre alt war; und noch als Zehnjähriger durfte er in den Nächten, in denen ihr Mann unterwegs war, bei ihr im Bett schlafen. Sie erklärte ihr Verhalten damit, daß sie Jake >menschliche Nähe und Wärme zukommen lassen wollte<. In Wahrheit befriedigte sie ihre eigenen Bedürfnisse, suchte bei dem Kind Trost und fühlte sich dadurch weniger einsam.

Jake wuchs in einer verrückten Welt auf, in der er einerseits aufdringlich berührt und andererseits grausam mißhandelt wurde. Als junger Erwachsener hatte er sich seinem Körper entfremdet. Sein Körper war die Zielscheibe der >verrückten< Bedürfnisse seiner Eltern gewesen und Jake kam zur Überzeugung, daß sein Körper ihm die furchtbaren Probleme gebracht habe.

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Die schnellen Veränderungen der Pubertät brachten weitere Verwirrung. »Ich verlor die Kontrolle über meinen Körper. Als Zwölfjähriger, nachdem ich aufgehört hatte, Basketball zu spielen, fing ich an, Bettnässer zu werden. Mit sechzehn hatte ich mich zu einem Fettsack von 120 Kilo herausgefressen.« Seine Mutter brachte jeden Abend reichlich Essensreste aus dem Hotel, in dem sie arbeitete, nach Hause. Jake und seine Schwestern setzten sich an den Tisch und »schaufelten wie gierige Haie alles in uns hinein. Das einzige, wovon wir reichlich hatten, war Essen. Und wir aßen, um unserer Mutter das Gefühl zu geben, eine gute Mutter zu sein.« Im Unterbewußtsein wollte Jake sich auch unansehnlicher machen, um den aufdringlichen Zärtlichkeiten der Mutter zu entgehen und sich gleichzeitig Fettpolster als Schutz gegen die Schläge seines geistesgestörten Vaters zulegen.

Jake war fünfundzwanzig, als Howard eines Nachts in einer Slumgegend erstochen wurde. Da Howard nicht mehr lebte, brauchte Jake keine Fettpolster mehr und verlor rasch vierzig Kilo.

Zehn Monate später starb seine Mutter ganz plötzlich an einem Herzinfarkt. Er verachtete seinen Körper und glaubte >weniger ist mehr<, und führte seine strenge Diät und sein gnadenloses Training fort.

»Einer, der mich auf der Autobahn schneidet, lebt gefährlich! Den könnte ich umbringen.« Jake ist sich bewußt, daß er 1?, mehr als normalen Ärger empfindet. Sein Herz fängt zu rasen an, Adrenalin wird in sein Blut ausgeschüttet, und seine Fäuste ballen sich. »Ich zwinge mich, daran zu denken, daß ich für den Rest meines Lebens im Gefängnis sitze; ich zwinge mich auch, an die unschuldigen Hinterbliebenen des Opfers zu denken, um meine Mordlust im Zaum zu halten.«

Jake haßt es, allein zu sein, wenn seine Gedanken auf Wanderschaft gehen. Plötzlich kneift er die Augen zusammen und sein Kopf wird unwillkürlich nach links gerissen, dann nach rechts, wie damals, als Howard ihn schlug. Bevor er überlegen kann, was geschieht, wirft er die Arme hoch und bedeckt sein Gesicht. Es vergehen mehrere Minuten, bevor er weiß, daß er >wieder in dieser verdammten Stellung< ist. Es dauert bisweilen eine Viertelstunde, bis er seine Arme sinken lassen kann. In diesen Zuständen haßt er seinen Körper am meisten.

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Vor drei Jahren war Jakes Frau Barbara fast soweit, sich scheiden zu lassen. Nach neun Jahren Ehe hatte sie Jakes strikten Diätplan satt und nahm es nicht mehr hin, daß er seine Freizeit dem Sporttraining widmete, statt mit der Familie zusammenzusein. Sie liebte Jake, aber sie schliefen selten miteinander. Jake hat meist >eine außerkörperliche Erfahrung beim Sex< und kommt nur selten zum Orgasmus. Während eines hitzigen Streits schrie Barbara Jake einmal an: »Dein Vater versuchte dir den Teufel durch Exorzismus auszutreiben, und du versuchst den Teufel mit deinem Sport auszutreiben.« Barbara hatte die Verbindung hergestellt zwischen >gestern< und >heute<. Und plötzlich wurde Jake hellhörig.

Kurz nach diesem Streit begann Jake ein Gewichthebertraining. Damit fiel er in die alte Gewohnheit aus seinen Kindertagen zurück, sich bei seelischer Belastung über seine Grenzen hinaus zu >betäuben<. Er übertrieb wie immer und zog sich eine Rückenverletzung zu. Sein Sportarzt überwies ihn an eine Schmerz­bewältigungs­gruppe, wo er Entspannungstechniken lernen sollte. »Ich war ein schrecklicher Patient, machte nie die Übungen zu Hause.« Die Verletzung zwang Jake mehrere Wochen zu pausieren. In der Zeit wurde er von Rückblenden verfolgt, Erinnerungen an körperlichen Schmerz überwältigten ihn, die aus der Kindheit auftauchten und auch mit seiner augenblicklichen Verletzung zu tun hatten. Die Schmerzen in seinem rechten Arm, den er sich vor mehr als dreißig Jahren gebrochen hatte, als sein Vater ihn verprügelte, kehrten mit großer Heftigkeit wieder.

Jake versuchte, seine Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, und weigerte sich, sie Barbara mitzuteilen. Innerhalb von sechs Monaten hatte er ein Magengeschwür und zu hohen Blutdruck. »Ich beschloß, die Entspannungsübungen ernst zu nehmen und ging zurück in die Schmerzklinik. Ich hatte nichts zu verlieren und schilderte der Ärztin die emotionale Hölle, die ich durchmachte. Sie nahm mich wieder in die Gruppe auf und schickte mich zu einem Therapeuten.«

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Im Verlauf der nächsten drei Jahre lernte Jake seine strikte Kontrolle über seinen Körper loszulassen. Statt seinem Körper seinen Willen aufzuzwingen, wie sein Vater es getan hatte, begann Jake seinen Körper als Partner zu akzeptieren. Nach einer Weile hatte Jake sich auch äußerlich verändert. Seine viereckigen Schultern, die das Gewicht der ganzen Welt getragen hatten, wurden runder und entspannter. Seine Drahtigkeit lockerte sich und er setzte eine gesunde Schutzschicht an, die ihn weicher machte. Jake fürchtet nun nicht mehr, beim Orgasmus >die Kontrolle zu verlieren<. Er ist in seiner Liebesbeziehung zu Barbara etwas spontaner. Er ist immer noch darauf bedacht, sich richtig zu ernähren, aber er verliert allmählich die Angst, sich mit Nahrung zu vergiften. »Meine strikten Ernährungs­prinzipien glichen in vielem dem Teufelsglauben meines Vaters.« Heute kann er schon mal am Sonntag einen Eisbecher oder einen Hot dog im Sportstadion mit seinen Söhnen essen. Jake trainiert nicht mehr Gewichtheben und er joggt nicht mehr. Heute spielt er Basketball mit seinen Söhnen.

 

   Der Körper zählt die Punkte   

 

Die Nachwirkungen von Gewalt finden nicht <nur im Kopf> statt. Der Körper weiß, was einen um den Verstand bringt oder was einem das Herz bricht; der Körper wird zum Museum, angefüllt mit Objekten aus der Kindheit. Das Trauma wird im Zellgewebe des Körpers gespeichert bis zu dem Zeitpunkt, an dem es nach außen gebracht und gelöst wird.

Denken Sie an unsere Reaktionen auf Gedenktage. Am Gedenktag eines Traumas — dem Sterbetag eines lieben Menschen, dem Jahrestag einer Operation, einer unerwarteten Kündigung — fühlt ein Mensch sich >anders<, selbst wenn ihm nicht bewußt ist, daß ihm vor einem Jahr oder vor drei Jahren etwas Schlimmes widerfahren ist. Er fühlt sich den ganzen Tag unsicher, nicht auf der Höhe, würde am liebsten weinen, ist deprimiert, traurig, lustlos >ohne ersichtlichen Grund<. Beruht das ursprüngliche Trauma auf einem körperlichen Eingriff, spürt der Betroffene möglicherweise deutliche Schmerzen in der verletzten Körper­region. Sein Schlaf ist durch >schlimme Träume< in der Woche vor dem Jahrestag gestört. Er glaubt >verrückt< zu werden, weil er sich sein Unbehagen nicht erklären kann. Sein Körper weiß aber etwas sehr Wichtiges.

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Viele Kinder sterben an Mißhandlungen, wie Jake sie durchleiden mußte. Viele Menschen wissen, daß der Körper beispielsweise Schmerzen eines Autounfalls noch monatelang aufzeichnet. Für Jake und andere mit ähnlich problematischer Kindheit glich das Erwachsenwerden einem Autounfall — jeden Tag, jede Woche oder jeden Monat. Die Nachwirkungen und Schmerzen dieser Erlebnisse dauern viele Jahre an.

Während des Traumas flüchtete Jake sich in die Dissoziation, um sich gegen die Gewalttaten abzuschirmen. Sein Verstand und sein Seele begaben sich an einen sicheren Ort und überließen den Körper der Mißhandlung. Der Körper wurde zum alleinigen Empfänger der Mißhandlungen.

Ein ehemaliges Mißbrauchsopfer kann seine Heimatstadt und seine Familie verlassen, sieht vielleicht den Missetäter nie wieder. Doch seinen Körper kann er nicht für immer verlassen; die Dissoziation bietet nur kurzen Aufschub vor der Erinnerung an die Mißhandlung. Irgendwann kehrt das Bewußtsein in den Körper zurück und damit das Bewußtsein von Schmerz und Demütigung in der Vergangenheit.

 

  Körperintegrität  

 

Kinder beginnen schon frühzeitig ihren Körper zu erforschen, spielen mit ihren Fingern und Zehen, streicheln sich, betasten ihre Genitalien. Wenn Eltern die Intimsphäre ihrer Kinder respektieren, machen Kinder sich mit ihrem Körper vertraut, ohne sich zu schämen, lernen freudig, Verbindung mit ihrem Körper aufzunehmen und sich mit ihrem körperlichen Selbst verbunden zu fühlen. Sie lernen, ihren Körper­reaktionen auf die Vorgänge in ihrer Umgebung zu vertrauen. Und am Beispiel der Eltern lernen sie, ihren Körper zu pflegen und gut zu versorgen.

Das Wohlbefinden und die Geborgenheit im eigenen Körper sowie das körperliche Selbst als von anderen getrennt wahrzunehmen nennen wir Körperintegrität. Sie ist zu vergleichen mit den Grenzen zweier unab­hängiger Nationen. Auch unter den besten Umständen müssen Kinder einen schweren Kampf um den Erhalt ihrer Körperintegrität ausstehen, einfach weil die Menschen in ihrer Umgebung größer sind.

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Ein erwachsener Mensch ist etwa zwanzigmal größer als ein Baby. Läßt der Erwachsene es an Sensibilität und Achtung für die Körperintegrität des Babies vermissen, verletzt er die Grenzen des Kindes, wenn auch unabsichtlich — beispielsweise, wenn er einem Säugling Zärtlichkeiten aufdrängt, der sich dagegen wehrt. Im späteren Leben fördert die Körperintegrität die Integration des körperlichen Selbst mit allen anderen Aspekten des Selbst — Rationalität, Gefühle, Spiritualität.

Viele Problemeltern gehen mit dem Körper ihres Kindes um, als sei er die Ergänzung oder Verlängerung des eigenen Körpers. Eine Mutter nimmt ihr Kind mit ins Bett, weil sie sich einsam fühlt und Trost braucht. Ein Kind wird beschämt, weil es seine Genitalien anfaßt; Erwachsene dürfen seine Genitalien allerdings jederzeit und ungeniert berühren. Der Wunsch nach Privatsphäre des Kindes wird mißachtet oder willkürlich übertreten. Dadurch wird dem Kind zu verstehen gegeben, daß sein Körper nicht ihm gehört, daß die Wünsche anderer — die es halten, ihm verbieten sich zu berühren — Vorrang vor seinen eigenen haben. Das Kind erhält kaum Gelegenheit, seinen Körper gefahrlos und angenehm zu erforschen; es entfremdet sich seinem Körper, da er ihm so viele Unannehmlichkeiten bereitet. Ein wichtiger Aspekt seines Selbst wird für das Kind zum verbotenen Terrain; es gehört den größeren Menschen seiner Umgebung. Entfremdung vom eigenen Körper führt zur Entfremdung vom eigenen Selbst.

Die meisten Mißbrauchstäter wurden ihrerseits vom eigenen Körper entfremdet. Könnten sie den Schmerz nachempfinden, den das Kind durch ihren Mißbrauch erleidet, würden sie vermutlich anders handeln. Da sie aber ihren eigenen Körper zum Schweigen gebracht haben, versuchen sie den Körper ihrer Kinder ebenfalls zum Schweigen zu bringen. Und viele Kindesmißhandler fügen dem Kind Schmerzen zu, in der Absicht, ihre Erregung und Machtgefühle zu steigern.

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Wird die Körperintegrität immer wieder verletzt, fühlt das Kind sich seelisch vernichtet. Elaine wurde häufig von ihrer Mutter geschlagen: »Wenn du geschlagen wirst, bist du kein Mensch, du hast keinen eigenen Willen, keine Seele. Du bist nichts als ein formloser Gegenstand, der diese furchtbaren Schmerzen über sich ergehen läßt. Du bist ein Es

Die körperlichen Bedürfnisse eines Kindes zu mißachten ist menschenverachtendes Verhalten. Das Kind registriert die Botschaft »Du zählst nicht, du bist wertlos, du existierst nicht, es lohnt nicht, sich mit dir abzugeben« ebenso klar wie den körperlichen Übergriff. Paul sprach mit den Verwandten von Hank und Patsy über seine ersten Lebensjahre und erfuhr, daß ihn als Kind keiner mochte, weil seine Mutter wegen ihrer starken Depressionen sich nicht um ihn kümmerte: »Ich brüllte stundenlang. Alle waren von dem Geschrei genervt — aber nie kam einer, um mich zu trösten oder meine Windel zu wechseln. Wenn Patsy mich mal auf den Arm nahm und Hank war zu Hause, verbot er ihr, mich zu verhätscheln.«

Ein Kind mit zu viel Aufmerksamkeit zu überhäufen, auch wenn es >in der besten Absicht für das Kind geschieht<, ist gleichfalls eine Verletzung seiner Körperintegrität. Der Psychotherapeut James Ritchie nennt solche Zudringlichkeit »pathologische Pflege- und Schutztendenz«.1

Sams Mutter Loretta war Krankenschwester; sie betrachtete die Körper ihrer vier Söhne als ihren Zuständig­keits- und Herrschaftsbereich. »Es war wie auf dem Kasernenhof. Sie erteilte Befehle. >Haltung annehmen. Hosen runter. Vorbeugen. Wer heult oder nicht stillhält, bekommt doppelt so viel.<« Auch wenn die Buben sich völlig still hielten, schlug Loretta sie mit einem Gürtel, bis sie blutige Striemen aufwiesen.

Noch aufdringlicher als Lorettas körperliche Züchtigungen war ihre >pathologische Pflege- und Schutz­tendenz<. Dabei war sie besonders auf Sam fixiert, weil er >das falsche Geschlecht< hatte. Sam war ihr dritter Sohn und sie hatte sich ein Mädchen gewünscht. »Bevor ich zur Welt kam, war sie so versessen darauf, ein Mädchen zu bekommen, daß sie die dreizehnjährige Delores adoptieren wollte. Doch Delores klaute und lief weg. Bei meiner Geburt war meine Mutter noch immer wütend auf Delores. Wenn sie sich über mich ärgerte - was häufig passierte -, nannte sie mich Delores.

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Als ich zwölf war, fand sie, daß meine Hoden nicht schnell genug wuchsen, und gab mir jeden Tag Hormoninjektionen in den Po. Ein Jahr später, als ich noch keinen Stimmbruch hatte, beschwatzte sie einen Arzt so lange, bis er mir Testosteron-Tabletten verschrieb. Sie sagte: >Ich liebe dich<, aber es kam nie vor, daß sie einen von uns umarmte oder streichelte. Doch ständig untersuchte sie und piekste und kniff sie uns.«

Viele einstige Mißbrauchsopfer, mit denen ich sprach, berichteten von ähnlichen Erfahrungen. Ihre Eltern untersuchten ihre Genitalien bis in die späte Kindheit, drangen in die Intimsphäre des Badezimmers ein, bestanden darauf, mit den Kindern zu duschen, zu baden oder in einem Bett zu schlafen, und machten ständig Bemerkungen über ihre körperliche Entwicklung.

Die meisten männlichen Sexualtäter bedienen sich ihrer Autorität (»Mach das, sonst passiert etwas...«) oder versuchen, den sexuellen Mißbrauch als Eltern-Kind-Beziehung hinzustellen (»So etwas tun Papis, die ihre Töchter lieb haben« oder »So zeigen die Leute, daß sie sich lieb haben«). Weibliche Sexualtäter hingegen neigen dazu, ihren Mißbrauch in Hygienevorschriften und Körperpflege zu kleiden: »Ich wasch' dich richtig sauber«, »Ich spiel' an dir herum, bis du einschläfst, dann hast du keine Alpträume« oder »Der Doktor hat gesagt, ich soll das mit dir tun«.

Solche zudringlichen Grenzüberschreitungen führen zu tatsächlichen späteren Straftaten. Jake erinnert sich: »Wenn ich nicht einmal das Recht habe, allein auf dem Klo zu sein, wie kann ich mir das Recht anmaßen, einem Erwachsenen zu sagen, er habe kein Recht, meinen Penis zu berühren?« Amy erinnert sich: »Meine Mutter säuberte meine Vagina täglich mit Q-Tips, bis ich etwa sechs Jahre alt war. Bis mir klar wurde, daß ihr das Spaß machte. Als ich sieben war, begann mein älterer Bruder, mich zu penetrieren. Mir war das unheimlich. Aber ich konnte nichts dagegen tun.«

In manchen Problemfamilien bilden Körperfunktionen und Krankheiten den Mittelpunkt des Familienlebens. Gegenseitige körperliche Untersuchungen und gegenseitiges Bemuttern ist ihre Art, einander Zuneigung zu zeigen. Elaine erinnert sich:

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»Ich wußte, daß ich nicht verprügelt wurde, wenn ich krank war, also stellte ich mich häufig krank. Aber meine Mutter bestand darauf, daß ich neben ihr schlief, damit sie meine Atemzüge hören konnte, und ständig zog sie mich aus, schaute meine Brüste an und wollte unbedingt sehen, was ich in die Toilette gemacht hatte. Wenn Verwandte zu Besuch kamen, redeten sie unentwegt von Krankheiten und Ärzten. In meinem Elternhaus wurde nie über etwas anderes gesprochen. Wir sprachen nie über Gefühle oder Gedanken. Alles drehte sich um den Körper.«

Elaine rebellierte dagegen und wurde zum >Bücherwurm<. Sie lebte in ihrer Gedankenwelt, um sich vom aufdringlichen Interesse ihrer Mutter an ihrem Körper zu distanzieren. Und Elaine wurde als Zwanzigjährige zum Hypochonder: »Es gab so viel, worüber ich reden wollte, aber die einzige Form, wie ich mich ausdrücken konnte, war über meine Wehwehchen. Das stößt die Menschen natürlich ab, besonders wenn es so ausführlich und mit soviel Begeisterung geschieht, wie ich das praktizierte.«

Bevor ein Kleinkind rationales Denken und Emotionen entwickelt, ist es mit den Funktionen von Aufnahme und Ausscheidung von Nahrung beschäftigt. Falls das Kind nicht behutsam zu Unabhängigkeit geführt wird, und die Trennung im körperlichen Bereich nicht beachtet wird, kann es, wie in Jakes Fall, ausschließlich mit diesen Funktionen beschäftigt sein. Seine lebenslange zwanghafte Körperfixierung dient ihm als perfekter Selbstschutz und zugleich als Gegenwehr gegen einen Vater, der ihn verdrängen wollte. Er kontrollierte seinen Körper im gleichen Maße, wie sein Vater versucht hatte, ihm seinen Körper wegzunehmen.

 

  Notreaktionen  

 

Ständige Gewalt führt nicht nur zu akuten Verletzungen, sie wirkt sich auch schädlich auf Körperfunktionen aus. Das Erleben beeinflußt die Physiologie. Ein Kind, das zärtlich und beschützend gehalten wird, zur rechten Zeit gefüttert und gewickelt wird, das ausreichend Schlaf bekommt und in einer ruhigen Umgebung heranwächst, kann seinen Körper und seine Körperfunktionen normal entwickeln.

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Ist das Familienleben jedoch von Gewalttätigkeit oder Unvorhersehbarkeit geprägt, wird bereits der Säugling nervös und ängstlich und entwickelt Schlaf- und Verdauungsstörungen.

Wie bereits im vierten Kapitel erläutert, lernen Kinder in Problemfamilien keine korrekten Wortbegriffe, sie lernen auch keine konstruktiven Verhaltensweisen, um ihre Körpererfahrungen oder Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie werden mit starken Reizen überflutet, die nicht im richtigen Ablauf und der richtigen Form aufgenommen und verarbeitet werden können.

Ein Kind reagiert bei der ersten Mißhandlung spontan und total auf die Bedrohung, wie eine Alarmanlage, die einen Einbruch meldet. Das Kind schreit voller Entsetzen, läuft vor Zorn rot im Gesicht an, würgt oder erbricht sich, macht in die Hose oder bricht in Hilflosigkeit und untröstlichem Schluchzen zusammen. Solche Spontanreaktionen machen den Täter wütend, der sich nicht als >böse< oder monströs sehen will. Die Reaktionen des Kindes verstärken seine Gefühle. Will der Täter, wie Jakes Vater, tatsächlich Schmerz zufügen, verstärken die Reaktionen des Kindes die Absicht des Mißhandelnden, seine Bedürfnisse zu befriedigen. In jedem Falle bringen seine Reaktionen das Kind in größere Gefahr. Wie kann das Kind sich davor schützen?

Wir Menschen sind mit zwei angeborenen Instinkten ausgestattet, wenn uns Gefahr potentieller Vernichtung droht: Flucht oder Kampf2. Diese >Notreaktionen< sicherten bereits den Höhlenbewohnern das Überleben und leisten uns auch heute noch gute Dienste, wenn wir uns in akuter Gefahr wissen. Eine Mutter, deren Kind in Gefahr ist, wird dank der Adrenalinausschüttung eine >Kampfreaktion< haben und ihr Kind retten wollen. Jemand, der von einem Straßenräuber bedroht wird, zieht es vor, die Flucht zu ergreifen, und stellt erstaunt fest, wie schnell er laufen kann.

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Die meisten mißhandelnden Eltern hindern ihre Kinder zwar daran zu fliehen, doch Justin glaubt, daß seine schnellen Füße ihm das Leben gerettet haben: »Wenn mein Vater sich betrank und anfing, uns zu verprügeln, rief meine Mutter mir zu: <Lauf und hol John.> John war ein riesiger, geistig leicht behinderter Mann in unserer Nachbarschaft — der einzige Mensch, vor dem mein Vater Angst hatte, und einer der wenigen Leute in der Stadt, die nicht in der Firma meines Vaters arbeiteten. John kam herüber und sagte meinem Vater, er solle das Haus an diesem Abend verlassen, sonst werde er <ihm eine Lehre erteilen>. Das klappte. Als ich älter war, lief ich zu unserer Nachbarin Marjorie, die mich mit offenen Armen aufnahm.«

Christina erinnert sich an ein Gitter über ihrem Kinderbett. »Ich schob meinen Kopf durch und kroch hinaus. Als Kind lief ich ständig von zu Hause fort. Mein Vater brachte Stacheldraht an unserem Zaun an, aber ich kletterte trotzdem darüber. Ich mußte wissen, was es außerhalb unserer Familie gab. Ich lief meinen Eltern ständig weg, um zu sehen, was es sonst noch auf der Welt gab.«

Auch wenn das Kind körperlich bereit ist zu kämpfen, kann es sich gegen einen Erwachsenen nicht durchsetzen. Es hätte keinen Sinn und wäre außerdem gefährlich, sich gegen jemand zur Wehr zu setzen, der zwei-, drei- oder zehnmal größer ist als man selbst, noch dazu wenn man diesem Riesen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und auf ihn angewiesen ist. Hormonausstoß, Erweiterung der Pupillen, beschleunigter Herzschlag und andere physiologische Veränderungen, die uns auf Kampf oder Flucht vorbereiten, sind >Alarmreaktionen<, die erste Stufe zu einem Phänomen, den der Streßforscher Hans Selye als generelles Anpassungssyndrom auf Streß oder Bedrohung3 bezeichnet. Sobald die Krise vorüber ist, sollte die Alarmreaktion abflauen und uns gestatten, zu einem entspannteren Zustand zurückzukehren.

In einer gewalttätigen Familie hört die Bedrohung jedoch nie auf; das Kind lebt im Zustand ständiger Wachsamkeit oder Bereitschaft. Das führt zu Widerstand, der zweiten Stufe des Syndroms. Selye nennt dieses Phänomen, der Körper »bleibt in einer Kerbe stecken« — das heißt, er kann sich nie völlig entspannen.

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Der Körper des Kindes kann in einer Kerbe der Betäubung steckenbleiben, als gelte es, das ständige Schrillen einer Alarmsirene zum Schweigen zu bringen. Betäubung verhindert Tränen, Würgen, Um-sich-Schlagen, Schreien, etc. Das Kind hat vielleicht >schwache Knie< oder >das Herz klopft ihm bis zum Hals<, doch die Übertragung dieser Information vom Körper bis zum Hirn ist blockiert; das Kind spürt in diesem Augenblick keinen bewußten Schmerz.

Jenny glaubt: »Mein Körper hat noch Betäubungsmittel eingelagert aus der Zeit, als ich die Prügel meines Vaters ertragen mußte. Vor ein paar Jahren biß mein Hund mich in die Hand. Die Bißwunde mußte mehrmals genäht werden. Ich habe nicht das geringste gespürt.«

Jenny hat recht. Der Körper produziert Endorphine, die uns helfen, das Unerträgliche zu ertragen, indem sie unsere Wahrnehmung von unerträglichem Schmerz verschont. Dieser Mechanismus hilft uns, Trauma zu überleben, so wie er uns hilft, Operationen zu überstehen.

 

Angst ist gleichfalls eine Kerbe, in der unser Körper steckenbleiben kann. Manche Mißbrauchsopfer waren als Kinder — und sind es noch als Erwachsene — ständig >hyperaktiv<, nervös, gereizt, obsessiv oder unfähig, sich zu konzentrieren. Die Realität war für sie überwältigend; die Auseinandersetzung damit brachte lediglich Schmerz. Der Verstand schützt sich vor überwältigenden Reizen, indem er seine Aufmerksamkeit ständig verlagert.

Wieder andere können sich konzentrieren, aber nicht entspannen. Sie lenken ihre >starke Energie< auf den Beruf, oder wie Jake auf Sport, und können mit ihren Kräften meist nicht haushalten. Die ständige Über­lebensangst in der Kindheit hat >die Drehzahl ihres Körpers zu hoch eingestellt<, so wie der Leerlauf bei einem Auto zu hoch eingestellt sein kann.

»Ich beneide Menschen, die sich entspannen können«, sagte Glen. »Ich bin dazu nicht fähig. Wie jemand, der zuviel Kaffee trinkt und davon nervös wird und sich wundert, warum er nervös ist. Er sucht die Gründe bei äußeren Umständen, statt in der einfachen Tatsache, daß er eben zuviel Kaffee getrunken hat. Er versucht, irgendwelche Dinge, die nichts damit zu tun haben, in Ordnung zu bringen. So ist mein Leben. Ich war immer nervös; schon als Kind rieb ich meine Decke, bis sie zerschlissen war.

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Ich wiegte mich stundenlang hin und her, nur um meine Angst zu beschwichtigen. Ich hatte guten Grund für meine Angst. Aber heute neige ich dazu, anderen Dingen die Schuld an meiner Angst zuzuweisen, und vergesse, daß ich als Baby symbolisch statt mit Muttermilch mit Koffein gestillt wurde.«

 

Die dritte Stufe des Syndroms ist die Erschöpfung. Der Körper zeigt Verschleißerscheinungen durch die ständige Beanspruchung, auf Notreaktion geschaltet zu sein. Er kann keine Reserven in einem entspannten physiologischen Zustand schaffen. Die Alarmsirene hört nie auf zu schrillen. Die Mißbrauchsopfer meiner Studie, die einen Selbstmordversuch unternommen hatten, sagten alle, daß sie zum Zeitpunkt des Versuchs >todmüde< oder >total erschöpfe waren.

Wenn sie im späteren Leben einer Situation oder einem Umstand begegnen, die zwar nicht bedrohlich sind, aber an das ursprüngliche Trauma erinnern, schaltet ihr Körper unwillkürlich auf Kampf oder Flucht. Der Psychiater Bessel van der Kolk beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen:

Traumaopfer reagieren auf Gegenwartsreize, als sei das Trauma zurückgekehrt, ohne sich bewußt zu machen, daß die frühere Verletzung und nicht der gegenwärtige Streß die Ursache ihrer physiologischen Notreaktion ist. Die Überreaktion beeinträchtigt ihre Fähigkeit, eine Situation gelassen und vernünftig zu beurteilen und verhindert die Auflösung und Integration des Traumas. Sie reagieren auf Bedrohungen wie auf einen Notfall, der rasches Handeln verlangt statt Nachdenken.4

 

Ein Mißbrauchsopfer kann durch Ereignisse, die an das Trauma erinnern, schnell aus der Fassung gebracht werden. Es gibt Fälle von Vietnamveteranen, die sich beim Geräusch einer Fehlzündung eines Autos flach auf den Boden werfen und Deckung suchen. Ein ehemaliges Opfer von Kindesmißbrauch kann bei einer unerwarteten Schulterberührung, einem Geruch, den es mit dem Täter in Verbindung bringt, oder zu große körperliche Nähe in einer Menschenmenge, ähnliche extreme unwillkürliche Schreckreaktionen haben.

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Beth sagt, von allen furchtbaren Ereignissen ihrer chaotischen Kindheit war das Schlimmste, wenn sie von den brutalen Schlägereien ihrer Eltern aus tiefem Schlaf geweckt wurde. Sie lief nach unten, um zu schlichten, und ihre Eltern gingen auf sie los: »Misch dich bloß nicht in unsere Angelegenheiten ein!« Sie »schlüpfte wieder ins Bett und lag die ganze Nacht wach. Am nächsten Morgen taten sie so, als sei nichts gewesen.« Beth hatte keine Möglichkeit, ihr Entsetzen und ihre Wut über die brutalen Streitigkeiten ihrer Eltern loszuwerden. Sie durfte nicht einmal darüber reden, wie ihr zumute war. Sie lag mit offenen Augen, klopfendem Herzen und angespannten Muskeln bis zum Morgen wach.

Wenn Beth heute von lauten Parties oder betrunkenen Auseinandersetzungen geweckt wird, reagiert ihr Körper mit der gleichen Kampfreaktion. Sie könnte die Leute umbringen, die sie aufwecken, wagt es aber nicht, um etwas mehr Ruhe zu bitten. Sie kann nicht wieder einschlafen. Ihre Reaktion ist extrem und wird von anderen als übersteigert beurteilt.

Bevor sie den Bezug zu den nächtlichen Streitereien ihrer Eltern herstellte, suchte Beth Zuflucht zu detailgenauen Phantasievorstellungen, wie sie den Leuten, die ihr die Nachtruhe raubten, Schaden zufügen würde. Heute besänftigt sie sich, wie sie ein erschrecktes, kleines Mädchen beruhigen würde, sie macht Atemübungen und autogenes Training, Techniken, die ihr helfen, wieder einzuschlafen. Am nächsten Tag spricht sie mit ihrer Freundin Angela darüber. Sie hat das Trauma als das erkannt, was es ist, und kann sich außerdem an einen Menschen ihres Vertrauens wenden, der ihr zuhört. Dadurch kann Beth sich von ihrer Angst und Wut lösen und wieder zur Entspannung zurückfinden.

Beth steckte in vielen Situationen in einem Zustand der Betäubung fest, wie sie im vierten Kapitel schilderte. Bei störenden Reizen blieben ihre Reaktionen in einer anderen Kerbe stecken: sie wurde nervös, hypererregt, aggressiv und kampfbereit. Dieses Schwanken zwischen Nervosität und Betäubung kam ihr vor wie >eine endlose Achterbahnfahrt< und ist bei Opfern von Kindesmißbrauch keineswegs unüblich.

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Der sechsjährige Sam wurde von seinem älteren Bruder Claude gequält, der ihm ein Kissen auf das Gesicht drückte und seine Genitalien quetschte oder seinen Penis an Sams sich windendem Körper rieb. Zu anderen Zeit zwang er seinen erigierten Penis in Sams würgenden Mund und gab ihm sexuelle Schimpf­namen. Sams Körper hatte jedesmal Alarmreaktionen: sein Herz klopfte, er rang nach Luft, sein Körper schüttete Adrenalin aus. Claude beschimpfte und verspottete Sam, »Spaß daran zu haben« und drohte ihm mit Kastration, wenn er ein Wort darüber verlauten ließ.

Der Mißbrauch endete erst fünf Jahre später, als Claude das Elternhaus verließ, um Soldat zu werden. Einige Jahre später machte der neunzehnjährige Sam Ferien in der Nähe einer Militärbasis. Dort lernte er einen Soldaten kennen, der Claude sehr ähnlich sah: »Er war viel größer als ich, sah brutal und vulgär aus, muskulös, braungebrannt und hatte schwarzes Haar. Ich begann zu zittern, bekam Herzklopfen, mir wurde schwindelig, ich rang nach Luft. Ich glaubte, sexuell von ihm erregt zu sein. Ich sprach ihn an und hatte Sex mit ihm.«

Die nächsten zehn Jahre hielt Sams konditionierte Reaktion auf eine Konstellation von Reizen an, die eng mit seinem Bruder in Verbindung standen. Als Claude aus der Armee entlassen wurde, arbeitete er als Mechaniker, und Sam erlebte den gleichen >sexuellen Rausch< in Gegenwart von gefährlich aussehenden Mechanikern. Später fuhr Claude mit Motorradgangs herum und Sam wurde von Motorradfahrern erregt. Schließlich wurde Claude wegen sexuellen Mißbrauchs Jugendlicher verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Jetzt stellte Sam fest, daß seine rauschhafte Reaktion durch

»kriminelle Typen stimuliert wurde. Es ist ein Wunder, daß ich nicht umgebracht wurde. Irgendwie schaffte ich es, diese gefährlichen Typen unter Kontrolle zu bekommen, sie auszutricksen. Ich gab mich als Photograph aus, machte ihnen Komplimente, mit ihren tollen Körpern sollten sie als Models arbeiten. Ich ließ sie in verschiedenen halbnackten Stellungen posieren, dann verführte ich sie. Hinterher war ich nur selten sexuell befriedigt — meist ekelte ich mich vor mir selber. Ich glaubte mich in der Gewalt von etwas, das stärker war als ich. Meine einzige Genugtuung fand ich darin, diese Kerle auszutricksen, sie mit meiner Schlauheit rumzukriegen.«

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Während dieser Zeit hatte Sam eine enge Beziehung mit einem Mann, aber sein Geliebter wußte nichts von seinen >Sexualräuschen<. »Es war eine Qual für mich. Ich führte ein Doppelleben. Für meine Sexabenteuer legte ich mir sogar einen anderen Namen zu. Ich begab mich in Therapie, weil ich fürchtete, schizophren zu werden.«

Mit Hilfe seines Therapeuten erkennt Sam heute seine physiologische, körperliche >Besessenheit< als Abreaktion des »Entsetzens, das ich dabei empfand, wenn Claude mich sexuell mißbrauchte. Es hat nichts zu tun mit sexueller Erregung oder Attraktion.« Sams Verhalten war zudem antiphobisch. Als mächtiger Initiator, der >rauhe Burschen< wie Claude manipulieren und kontrollieren konnte, versuchte er, sein Trauma zu bewältigen, indem er seine Angst verleugnete.

 

Flucht in den Sport

 

Manche Kinder haben das Glück, körperliche Erleichterung durch Spiel oder Sport zu finden, womit sie zugleich ihrer Problemfamilie entfliehen und aufgestaute Emotionen im Sport abbauen können.

Wie Jake auf dem Basketballfeld feststellte, gab der Sport ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit: »So lange ich trainierte, wurde ich von den älteren Jungs akzeptiert, sie kümmerten sich sogar um mich.« Stefan fand in seinem Karatelehrer einen >zweiten Vater<. »Karate ist sehr gesundheitsbewußt und gegen Alkohol. Karate bewahrte mich davor, ein jugendlicher Alkoholiker zu werden wie mein jüngerer Bruder Peter.« Am wichtigsten war: »Ich hatte einen Ort, um gegen meine Dämonen anzukämpfen. Meine Familie fürchtete sich vor englisch sprechenden Menschen, fürchtete sich vor Außenseitern, fürchtete sich vor allem und jedem. Ich hatte das Gefühl, ich müsse ständig etwas bekämpfen, aber ich konnte nicht sagen, gegen wen oder was ich kämpfte. Im Karate werden festgesetzte Übungen trainiert, wie Tänze, bei denen wir gegen einen imaginären Feind kämpfen. Ich hatte endlich einen Ort gefunden, wo ich meinen Kampf austragen und beenden konnte.«

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Glen mußte als kleiner Junge die Schlägereien seiner Eltern schlichten, die so um seine Gunst kämpften. Wen wundert es, daß er als Erwachsener fasziniert war vom politischen Status der Provinz Elsaß, »Elsaß nahm bei jeder Invasion der Deutschen oder der Franzosen die Nationalität der jeweiligen Siegermacht an«. Glen war für seine Eltern ein Verbündeter, eine Siegestrophäe, nicht ein Kind. Seine Mutter lockte ihn mit Essen und Geheimnissen über seinen Vater. Craig, ein enttäuschter Berufssportler erpreßte seinen künstlerisch begabten Sohn mit den neuesten Sportausrüstungen und mit der Zuwendung, die er ihm als Trainer der Mannschaften gab, in die er Glen einzutreten zwang.

»Im Zweiten Weltkrieg war mein Vater Marineoffizier und sah auf Photos aus, als sei er einem Sportmagazin entstiegen. Aber irgendwas muß schiefgelaufen sein, denn so lange ich zurückdenken kann, wog der Mann fast 150 Kilo und rauchte drei Packungen Zigaretten am Tag.« Craig liebte Baseball, also mußte auch Glen Baseball lieben; der Sohn sollte das verwirklichen, wozu der Vater nicht mehr fähig war. Glen fand einen Weg, um seine Wut herauszulassen, weil »ich in zwei Teile zerrissen war, keinen normalen Kontakt mit Kindern hatte, außer im Wettkampf, und einfach weil ich benutzt wurde.

Der Sport war meine Rettung; er verlangte von mir Disziplin und gab mir ironischerweise Gelegenheit, mich unkontrolliert aufzuführen. Mein Idol war der Baseballspieler Jimmy Piersall der Cleveland Indians. Ich machte ihm alles nach, ich brüllte den Schiedsrichtern Obszönitäten hinterher, kletterte am Netz hoch und schüttelte es wie wild. Mein Vater verteidigte mich — >Der Junge ist ein Genie, was soll ich dazu sagen.< Ich war kein Genie, aber ich dachte, wenn ich schon gezwungen werde, einen Sport auszuüben, den ich hasse, will ich ihn zumindest als Ventil nutzen.«

Dieses Verhalten auf dem Baseballplatz entfremdete ihn zwar von seinen Mannschaftskollegen, die ihn fürchteten, aber Glen konnte damit seine Wut ausleben. Als Erwachsener weiß Glen heute, daß »ich nicht wegen einem Foul ausrastete oder wenn ein Spieler den Ball nicht fing, sondern wegen dem Kampf meiner Eltern um mich«. Da er in der Kindheit jedoch Gelegenheit hatte, sich völlig über den Körper auszudrücken, hatte er weniger aufgestaute Wut zu bewältigen als viele andere Mißbrauchsopfer.

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Natürlich ist die Teilnahme an organisiertem Sport nicht der einzige Weg, über den Kinder ihren Körper kennen und sich mit ihm wohl fühlen lernen. In gesunden Familien werden Kinder ermuntert zu spielen, sei es alleine oder mit anderen Kindern, wobei sie lernen mit anderen zu interagieren und ihre Kreativität zum Ausdruck zu bringen. Im Spiel lernt das Kind außerdem, Spaß am eigenen Körper ohne Sex zu haben.

Im allgemeinen durften mißbrauchte Kinder diese lebenswichtigen Erfahrungen nicht machen. Das Spiel galt als Ablenkung von der >eigentlichen< Rolle des Kindes — nämlich die Sorge um die Familie. Besonders sexueller Kindesmißbrauch vergiftet körperliche Freuden, so daß eine der gebräuchlichsten und beliebtesten Formen des Erwachsenenspieles — der sexuelle Kontakt — gleichermaßen vergiftet ist. Opfer von körper­lichem Mißbrauch wissen mehr über das Geheimnis, körperlichen Schmerz zu ertragen, als darüber, Freude zu erfahren. Glen meinte dazu: »Ich lernte, keiner Art von Schmerz nachzugeben — ob körperlich, emotional oder seelisch. Ich glaube, ich hätte meine furchtbare Ehe früher beendet, wenn ich meinem Schmerz mehr Beachtung geschenkt hätte. Heute lehne ich die Einstellung >Nimm dich zusammen und mach weiter< ab. Sie ist schlecht.«

 

Der Körper meldet sich zu Wort

Das Trauma wird im Körpergewebe gespeichert. Bei Überlebenden, die keine bewußte Erinnerung an Mißbrauch haben, oder die zwar bewußte Erinnerung haben, aber wenig Zugang zu ihren damit verbundenen Gefühlen, lassen medizinische Störungen manchmal auf ein Trauma schließen, das gelöst werden muß. In meiner klinischen Praxis habe ich viele Überlebende kennengelernt mit chronischen Zahnproblemen oder Hals­infektionen, die auf keine medizinische Behandlung ansprachen. Es handelt sich um Mißbrauchsopfer, die als Kinder zu oralem Sex gezwungen wurden.

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Als Jake berichtete, wie sein Stiefvater Howard ihn würgte oder überhaupt, wenn seine Gefühle ihn zu überwältigen drohten, strich er sich sanft über den Hals. Esther versagte die Stimme — um keine Geheimnisse preiszugeben — als sie von ihren schlimmsten Kindheits­erinn­erungen erzählen wollte.

In der Woche vor unserem seit längerem festgelegten Gespräch begann Justins Bein zu schmerzen. Das geschieht nur, wenn er von seinem Vater spricht. Sein Vater schleuderte den Siebenjährigen gegen einen Schürhaken; die Narbe ist noch heute sichtbar und die Nerven sind bleibend geschädigt. Während unserer langen Gespräche konnte er die Schmerzen kaum ertragen.

Das Trauma lebt auch in der Körperhaltung weiter. Manche Überlebenden wirken buchstäblich wie >gelähmt vor Angst<. Ihre Augen sind aufgerissen, ihre Gesichtsfarbe ist bleich, ihre Schultern wirken, als seien sie >unentwegt gegen eine Wand gedrückt und ihre Gelenke sind steif und schmerzhaft.

Jake weist eine andere typische Körperhaltung auf: >gepanzert<, stark ausgeprägte Muskulatur, vorspringendes, trotziges Kinn, geballte Fäuste, wachsamer Blick, immer auf der Hut, immer kampfbereit.

Kinder, denen beigebracht wurde, ihr Wert liege nur darin, daß andere Vergnügen an ihrem Körper haben, werden manchmal von ihrer Sexualität bestimmt, da ihr Überleben von der Überbetonung ihrer sexuellen Aspekte abhing. Sie wirken manchmal älter und reifer als sie tatsächlich sind.

Christina wuchs auf »in einer Familie, in der man unentwegt betatscht wurde«. Sie erinnert sich: »Meine Mutter inspizierte und berührte ständig meine Genitalien. Mein schizophrener Bruder fand nichts dabei, andauernd an meinen Brüsten herumzuspielen. Seit kurzem habe ich Erinnerungen an meinen Vater, der mich sexuell mißbraucht hat. Wenn ich sagte: >Hört auf, mich anzufassen<, kümmerten sie sich nicht darum. Die einzigen Komplimente bekam ich wegen meiner >sexy Figur<. Ich fühlte mich innerlich leer und glaubte, ich tauge nur zu Sex. Als ich mit siebzehn von zu Hause fortging, war ich sexuell nicht sonderlich wählerisch.«

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Andere ehemalige Opfer von sexuellem Mißbrauch suchen ihr Heil in der Asexualität, sind der irrigen Meinung, sie seien wegen ihrer körperlichen Reize mißbraucht worden. Manche werden freßsüchtig, um durch Fettleibigkeit ihre sexuellen Sekundärmerkmale, wie die Entwicklung von Brüsten oder Hoden, zu verbergen. Oder sie hungern, um die Entwicklung von Genitalien, Schamhaar oder Brüsten hinauszuzögern.

Nancy hatte zum Zeitpunkt unseres Gesprächs etwa 30 Kilo Übergewicht. »Ich finde meinen Körper ziemlich häßlich. Wenn ich jemandem gefalle, dann bestimmt nicht wegen meines Körpers. Jemand muß sehr daran interessiert sein, was ich denke und wer ich bin, um meiner Figur keine Beachtung zu schenken.« Nachdem Nancy ihren Stiefvater wegen seines sexuellen Mißbrauchs an ihr vor kurzem zur Rede gestellt hatte, begab sie sich mit ihrem Ehemann Ed in eine Ehetherapie, um an Kommunikations- und sexuellen Problemen zu arbeiten. »Ed sagte dem Eheberater, am meisten ärgere er sich über meinen Stiefvater wegen meiner Freßsucht. Er sagte, ich fresse mich zu Tode wegen des sexuellen Mißbrauchs, und er wisse nicht, wie er mich davon abhalten soll.«

Viele ehemalige Opfer trugen sichtbare Narben der an ihnen verübten Mißhandlungen. Elaine zeigte mir einige Narben im Gesicht und wollte zunächst gar nicht glauben, daß sie mir bislang nicht aufgefallen waren. Sie fühlte sich nicht nur verunstaltet; sie glaubte, jeder müsse ihr die Verunstaltung ansehen.

 

     Wenn mein Körper nicht wäre ....    

 

Mißbrauchsopfer neigen dazu, ihren Körper als >meinen Feind< anzusehen oder als >nicht zu mir gehörige zumal dann, wenn der Körper ihn oder sie an das in der Kindheit erlittene Trauma erinnert. Jake sagt: »In mir lebt ein Terrorist.« Haß auf den eigenen Körper ist bei Opfern von Gewalt üblich, die die in der Familie herrschenden Anschauungen verinnerlicht haben.

Der Körper dient als Schuttabladeplatz für Gefühle über den Mißbrauch, die schwer zu artikulieren und möglicherweise überwältigend sind. Es ist einfacher zu sagen: »Wenn mein Körper nicht wäre, wäre ich ganz in Ordnung« als: »Ich kann mich nicht genau erinnern, was passiert ist, und ich möchte den Schmerz, die Angst und die Wut in mir nicht fühlen, aber etwas stimmt nicht und ich weiß nicht, wie ich es in Ordnung bringen kann.«

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Manche ehemaligen Opfer glauben, ihr Körper habe sie durch das Trauma verraten. Besonders bei sexuellem Mißbrauch können körperliche Reaktionen des Opfers Schuldbewußtsein, Verantwortung und Mittäterschaft verstärken. Wenn, wie in Lauras Fall, der Täter sich durch körperliche Züchtigung sexuelle Erleichterung verschafft, spüren Kinder die erotisierte Atmosphäre. »Es war, als würde ich mir einen schmutzigen Film ansehen — mit dem Unterschied, daß ich mitspielte. Ich begriff die sexuelle Erregung meiner Mutter nicht ganz, aber ich wußte, in ihr ging etwas völlig anderes, etwas sehr Erregendes vor. Irgendwie lag eine knisternde Spannung in der Luft.«

 

Der Psychotherapeut John Prebble bedient sich einer sehr guten Analogie, wenn er mit männlichen Opfern arbeitet, die im Verlauf ihres Mißbrauchs Erektionen hatten oder andere Anzeichen körperlicher Erregung spürten, und die sich Sorgen machen, als Mittäter schuldig zu sein oder insgeheim Lust an dem Mißbrauch verspürten. »Sie lachen doch auch, wenn Sie gekitzelt werden?« fragt er sie. »Sie lachen aber nicht, weil Sie das komisch finden, oder weil Sie Spaß daran haben, oder wünschen, daß Sie weiter gekitzelt werden. Sie lachen, weil Sie nicht anders können. Das Lachen ist eine Reaktion Ihres Körpers, ungeachtet, wie Sie darüber fühlen oder denken. Die Erektion während eines sexuellen Mißbrauchs ist wie Ihr Lachen, wenn Sie gekitzelt werden. Das kommt gelegentlich vor, heißt aber nicht, daß Sie den Mißbrauch wünschten oder ausgelöst haben.«5

Jeder von uns hat ein Bild seines körperlichen Selbst. Dieses Bild wird durch das Trauma drastisch verzerrt. Daryl wurde von seinem Vater geschlagen, von hellhäutigeren Gleichaltrigen gehänselt und verprügelt, mußte in Straßenkeilereien einiges einstecken und hielt sich keineswegs für einen körperlich kräftigen Jugendlichen, der er in Wirklichkeit war. »Das Schlimmste an der Gewalt ist, daß ich dadurch meinem Körper entfremdet wurde und mich nicht als den sehen konnte, der ich wirklich bin.«

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Janet ist eine schöne Frau, das würde jeder bestätigen. Obwohl sie häufig Komplimente wegen ihres guten Aussehens bekommt, sieht sie sich selbst als »Ziegelstein - klobig, unattraktiv und häßlich«. Ziegelsteine sind stabil, unbesiegbar - sie können die Qualen aushallen, die Janet erleiden mußte.

Rob war bei der Marine, ist ein großer, kräftiger Mann und wiegt hundert Kilo. »Ich komme mir vor wie ein mickriger Zwerg. Mir ist nicht bewußt, daß ich größer bin als die meisten Menschen. Ich finde, die meisten schauen auf mich herunter. Als ich 20 Kilo mehr wog, aß ich absichtlich zuviel, um mich stärker zu fühlen, um mich durch mein massiges Aussehen zu »schützen.«

Die Wurzeln dieser Verzerrungen sind im Selbsthaß des Mißbrauchstäters zu suchen, der diesen Haß auf das Kind projizierte. Der einst schlanke Craig, der sich krankhaft fett fraß, nannte Glen ständig >Fettarsch<. Aber Glen sagt: »Ich habe mir Kinderfotos von mir angesehen und ich bin endlich davon  überzeugt, daß ich nie ein Fettarsch war.«

Sheila zischte die achtjährige Laura an: »Du hast ein Doppelkinn.« Als Laura in der Highschool war, sagte die Mutter ihr: »Du mußt immer Hosen tragen — deine Beine sind so mager, im Rock siehst du gräßlich aus.« Auch Laura hat Kinderbilder von sich angesehen und weiß heute: »Ich hatte immer lange, schlanke Beine. Meine Mutter ging in die Breite und übertrug ihren Ekel auf mich. Es hat lange gedauert, bis ich diese Lügen verlernt habe.«

Einige Mißbrauchsopfer zeigten mir bei unseren Gesprächen Familienfotos. Ich war erschrocken, wie alt viele von ihnen als Kinder aussahen und welch falsches Persönlichkeitsbild sie boten. Jenny sah mit zehn aus wie eine verhärmte Hausfrau. Beth sah als Zehnjährige zerbrechlich und ältlich aus, als hoffe sie damit andere davon abzuhalten, ihr wehzutun. Stefan sah mit siebzehn aus wie ein abgebrühter Krimineller. All diese Persönlichkeitsbilder erfüllten einen wichtigen Zweck — die Jugendlichen wirkten zerbrechlich, abgebrüht oder abweisend, um sich damit vor weiterem Schmerz zu bewahren.

Als sie lernten, sich um ihr körperliches Selbst zu kümmern, begannen die einstigen Opfer jünger und entspannter auszusehen. Die Schutzmauern verschwanden und legten ein natürliches und sympathisches Erscheinungsbild frei. Wer sie heute sieht, würde nie ahnen, daß sie unter der Bedrohung der Vernichtung ihres wahren Selbst aufgewachsen sind.

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     Dem Körper Dank sagen     

 

In seinem Buch <Prognose Hoffnung> bestätigt der Arzt Bernie Siegel, daß die Einstellung zu unserem Körper unsere Gesundheit und unsere Heilung beeinflußt:

Wir wissen bis heute nicht genau, in welcher Weise die Chemie des menschlichen Gehirns auf Emotionen und Gedanken einwirkt. Der springende Punkt ist jedoch, daß unser Geisteszustand eine sofortige und direkte Wirkung auf unsere Körperbefindlichkeit ausübt. Wir können den Körper verändern, wenn wir auf unsere Gefühle achten. Wenn wir unsere Verzweiflung mißachten, empfängt der Körper die Botschaft >stirb<. Wenn wir unseren Schmerz anerkennen und Hilfe suchen, lautet die Botschaft: »Das Leben ist schwer, aber wünschenswert.«6) 

Unser Körper beginnt gesund zu werden, wenn wir ihm seine unweigerlichen Schwächen verzeihen, wenn wir ihm nachsehen, daß er durch das Trauma einsam, ohnmächtig und überwältigt war. Der Körper hat sein Bestes getan. Statt ihn zu verurteilen für das, was er nicht tun konnte — sich vor Verletzung zu schützen, sein Selbst zu verteidigen, sich gegen das Trauma zu immunisieren —, müssen wir dem Körper dafür danken, was er geschafft hat. Schließlich wurden die Körper vieler Kinder durch Traumen vernichtet oder erlitten dauerhaften Schaden. Jenny glaubt: »Wenn mein Körper nicht diese Zähigkeit hätte, wenn ich nicht diese robuste bäuerliche Abstammung hätte, wäre ich meiner Meinung nach heute nicht hier, um Ihnen meine Geschichte zu erzählen.«

Zum Glück machen die Lebensumstände erwachsener einstiger Opfer nicht mehr die ständigen oder extremen Reaktionen ihrer Kindheit nötig. Es ist schließlich nicht nur gefahrlos, sondern notwendig geworden, in einen Zustand der Entspannung zurückzukehren.

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Viele der Überlebenden meiner Studie sprachen davon, anfälliger für Rückblenden, überwältigende Gefühle, falsches Denken und Existenzängste zu sein, wenn sie ihren Körper vernachlässigen. Die Heilung ist >Teamarbeit<; der Körper braucht Pflege und Zuwendung, um mit dem Verstand und dem Herzen effektiv zusammenzuarbeiten.

Wir erhalten unseren Körper am Leben, wenn wir ihm Nahrung zuführen. Laura sagt: »Mich schüttelt es bei dem Gedanken daran, daß ich mich als Zwanzigjährige buchstäblich von Dosenfleisch und Coca-Cola ernährt habe. Und dann wunderte ich mich, warum ich mich ständig so abgespannt fühlte. Heute liebe ich es, zu kochen und zu essen. Ich achte auf Vollwertkost, koche aber auch gelegentlich ein reichhaltiges französisches Menü. Ich sehe das als Hobby und bin gleichzeitig dankbar dafür, daß ich noch am Leben bin.«

Viele einstige Opfer, die in gewalttätigen Familien aufwuchsen, erinnern sich daran, daß sie als Kinder ständig erschöpft waren. Sich täglich ausruhen, genügend schlafen, dem Körper weder durch Arbeit noch durch übertriebenen Sport zuviel zuzumuten — all das sind weitere Maßnahmen, um dem Körper Gutes zu tun. Das bedeutet auch, Ferien zu machen, wenn man sie braucht, sich in der Freizeit zu erholen und seine Tage so einzuteilen, um Belastungen möglichst gering zu halten. Wir sollten Rücksicht auf unseren Körper nehmen, statt ihn bis zur völligen Erschöpfung zu Aktivitäten zu zwingen.

Sport gehört für die Mehrheit der Befragten meiner Studie zum täglichen Leben. Für Jake und für viele andere bestand die anfängliche Motivation in dem Bedürfnis, den >sündigen< Körper zu stählen; später entwickelte sich daraus der Wunsch, den Körper bewußt zu entspannen, Streß abzubauen und Gefühle auszudrücken.

Einige der Befragten wandten auch Meditationstechniken an, um ihre Abgestumpftheit zu mildern, um ihre >Notreaktionen< zu dämpfen oder um aufdringliche Erinnerungen an erlittene Traumen zu besänftigen. Mit Hilfe von Meditation vermögen wir Geist, Herz und Körper in einen Zustand heiterer Gelassenheit zu versetzen.

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Jake sagt: »Früher hat mein Körper für mich gesprochen — er wurde krank, schlug zu, brach zusammen — heute kann ich mit Hilfe der Meditation meine Gedanken und Gefühle darauf verwenden, das auszudrücken, was in mir vorgeht. Erst seit ich täglich meditiere, gelingt es mir, diese drei Aspekte meines Lebens in Einklang zu bringen.«

 

Die beruhigende Wirkung von Massagen kann den Körper von der Verletzung heilen, die ihm durch Gewalt zugefügt wurde oder unerfüllte Sehnsüchte aufgrund von Vernachlässigung stillen. Viele einstige Opfer brauchen allerdings zunächst ein stabiles >kognitives Überlebensfloß< und vor allem Vertrauen in die Person, die die Massage durchführt.

Acht der zwanzig Mißbrauchsopfer aus meiner Studie hatten eine gewisse Zeitdauer in ihrem Leben Drogen- oder Arzneimittelabusus betrieben; alle waren zum Zeitpunkt unserer Gespräche seit mindestens sieben Jahren abstinent. Vinnie und Laura hatten ihre unbestimmten ständigen Ängste mit Marihuana >betäubt<. Für manche war die körperliche Entladung und Euphorie des Orgasmus eine gewisse Zeit die einzige Erleichterung ihrer tiefen Verzweiflung oder Stumpfheit. Sie alle glauben heute, daß Suchtmittel und Suchtverhalten den Körper lediglich daran hindern, ein erlittenes Trauma völlig aufzuarbeiten und sich davon zu befreien. Jeder erkannte, daß er in die Rolle des Täters schlüpfte, weil er seinen Körper entweder betäubte oder mit Reizen überflutete, indem er sich fortgesetzt über seine Grenzen hinaus belastete. Viele der Befragten hatten sich den verschiedenen Zweigen der >Anonymen< Suchtgruppen angeschlossen.

 

Überlebende sehen in der Pflege ihres Körpers eine gesunde Form der Kontrolle. Jake sagte: »Während meiner gesamten Kindheit war mein Körper das Eigentum anderer Leute; er hatte zu tun, was sie von ihm verlangten. Ich wurde geschlagen, befummelt, ausgehungert, überfüttert, vernachlässigt, abgewiesen und gelegentlich gebrochen. Heute habe ich meinen Körper befreit. Ich habe Besitzansprüche an meinen Körper erhoben und durchgesetzt. Mit allem, was ich esse, mit jeder Stunde, die ich ruhe, jedem Spaß, den ich habe, beabsichtige ich, meinem Körper die zärtliche und liebevolle Zuwendung zu geben, die er hätte erhalten müssen, als ich ein Kind war.«

Was zerbrochen wurde, kann wieder zusammengefügt werden. Der Körper ist weder die einzige Hoffnung des Überlebenden auf Rettung noch die Ursache all dessen, was in seiner Kindheit schiefgelaufen ist. Verstand, Herz und Seele verdanken dem Körper ihr Überleben; jetzt hat der Körper Ruhe nach der Schlacht verdient oder das Erwachen aus seiner Taubheit.

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