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Trauma 

 

Wenn von allen Seiten Katastrophen einstürmen... die Seele des Menschen stellt sich nie der Gesamtheit ihres Elends. Die bittere Arznei wird ihm in einzelnen Schlucken eingeflößt; heute nimmt er einen Teil seines Elends zu sich; morgen einen zweiten; und so weiter, bis der letzte Tropfen getrunken ist. (Herman Melville: Pierre)

 

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Amy wird von vielen Menschen bewundert. Sie ist warmherzig, schlagfertig, einfühlsam und klug — sie scheint eine dieser Frauen zu sein, die <alles haben>. Amy ist eine erfolgreiche Börsenmaklerin: im letzten Jahr konnte sie den zweithöchsten Auftragsbestand ihrer Firma, einem angesehenen Wall Street Unter­nehmen, verbuchen.

Trotz der Achtung und Zuneigung, die Amy entgegengebracht wird, fühlt sie sich nicht wohl. Sie sagt von sich: »Ich habe alles, was ich will, aber nichts, was ich brauche.« Sie geht nur gelegentlich mit Männern aus, obgleich sie ständig neue Männer kennenlernt. Wenn eine Beziehung enger wird, verwandelt sie sich <in eine wahre Hexe>, reagiert aufbrausend bei Lächerlichkeiten — wer den Abwasch macht oder wo man das Wochenende verbringt. 

Ihre Ausbrüche werden immer schlimmer, bis der Partner das Handtuch wirft und sie verläßt. Zunächst fühlt Amy sich erleichtert — der Druck ist gewichen. Doch nach einer Weile versinkt sie in Depression. Manchmal hat sie den Verdacht, es könnte alles viel leichter für sie sein, wenn sie die Nähe eines Mannes besser ertragen könnte, aber sie begreift nicht, warum sie sich so verhält, wie sie sich verhält.

 

Amy ist der Meinung, sie habe ihre <kranke und perverse Familie für immer hinter sich gelassen>. Sie hat keinerlei Kontakt zu ihrem Vater, der Alkoholiker ist und sie in der Kindheit sexuell mißbraucht hat, oder zu ihren beiden gewalttätigen Brüdern. Zum Begräbnis der Mutter war sie zum letzten Mal zu Hause. Rose hatte sich mit einer Überdosis von Hunderten von gehorteten Beruhigungspillen vergiftet, die der Hausarzt ihr im Laufe von etwa fünfundzwanzig Jahren verschrieben hatte.

Doch Amy konnte ihrer Vergangenheit nicht entrinnen. Sie wird von >Filmausschnitten< heimgesucht, uner­wünschten Bildern, die an ihrem geistigen Auge vorüberziehen, >in Technicolor und Stereoton<, Ausschnitte, in denen ihr Vater die Mutter verprügelt oder ihr Vater und ihre Brüder Amy sexuell mißbrauchen und mißhandeln. Vor dem Tod ihrer Mutter konnte Amy die >Filmausschnitte< abschalten - sie las, vertiefte sich in Börsenberichte oder flüchtete sich in ein Ritual aus ihrer Kindheit, sie sagte sich das Alphabet rückwärts auf

Doch seit neuestem funktionieren diese Ablenkungsmanöver nicht mehr so gut, und die Filme enthalten in letzter Zeit Szenen, in denen Amy ihren Vater und ihre Brüder umbringt. Amy hat das Gefühl »verrückt zu werden. In mir lauert ein Massenmörder darauf, ausbrechen zu können«.

Tagsüber ist es für Amy schon schlimm genug, doch ihre Nächte sind unerträglich. Egal wie erschöpft sie auch ist, fünfundvierzig Minuten, nachdem sie eingeschlafen ist, fährt sie erschreckt aus dem Schlaf hoch. Dieses Timing ist kein Zufall. Ihre korpulente Mutter pflegte auf dem Rücken zu schlafen. Amys Brüder oder der Vater warteten, bis sie anfing zu schnarchen — etwa fünfundvierzig Minuten nachdem sie eingeschlafen war — bevor sie sich in Amys Zimmer schlichen und sie zwangen, sich sexuell mit ihnen zu betätigen. Wenn Amy schließlich wieder einschläft, fangen ihre Alpträume an.

Am Morgen ihres dreißigsten Geburtstages erwachte Amy mit dem Gedanken. »Was nun?« 

Als Kind glaubte sie nicht, mit dreißig Jahren noch am Leben zu sein: »Ich war sicher, daß mein Vater oder meine Brüder mich bis dahin umgebracht hätten. Ich ging davon aus, daß ich in den wenigen Jahren, die mein Leben dauern würde, so viel wie möglich erreichen mußte.«

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Dieses >Was nun?< bezog sich für Amy auf ihre Beziehungen und auf Intimität. Das war Neuland, das durch Willenskraft und Beharrlichkeit nicht so leicht zu besiegen war. Amy hatte gute Freundinnen, doch keine wußte etwas über die >Filmausschnitte< oder daß sie als Kind mißbraucht worden war.

Amy fühlte sich völlig erschöpft. Es fiel ihr in zunehmendem Maße schwer, ihre Gedanken und ihre Schlaf­gewohnheiten zu kontrollieren. Sie begann sich mit Selbstmordgedanken zu tragen. Als Amys beste Freundin Jane sie einlud, mit ihr Ferien in der Karibik zu machen, dachte Amy, ein Szenenwechsel würde ihr vielleicht gut tun.

Mit zunehmender Entspannung begann Amy mit ihrer Freundin Jane über ihren Lebensüberdruß zu sprechen und allmählich enthüllte sie die dunklen Geheimnisse ihrer Vergangenheit. 

Nach dem Urlaub begann Amy einen Therapeuten aufzusuchen. Zunächst sprach sie nur über ihre Mutter, doch nach einem Jahr beantwortete sie schließlich die immer wiederkehrenden Fragen ihres Therapeuten nach körperlichem und sexuellem Mißbrauch. Der Therapeut drückte Amy sein Mitgefühl über ihren Mißbrauch aus und sie wußte, daß er es ehrlich meinte. Es war wichtig, daß jemand endlich bei Amy Abbitte leistete, was ihr angetan worden war.

Amy arbeitete zwei Jahre mit diesem Therapeuten und schloß sich dann mit anderen Mißbrauchsopfern einer Gruppentherapie an. Sie hat eine wesentlich bessere Einstellung zur eigenen Person. Ein paar Freunde wissen jetzt über ihre Vergangenheit Bescheid. Am Todestag ihrer Mutter Rose überraschten Jane und zwei andere Freundinnen sie mit einem Abendessen in ihrer Wohnung. Die Filmausschnitte laufen nach wie vor ab, sind aber seltener geworden.

»Es ist wie das Zusammensetzen eines Puzzles — ich stelle Zusammen­hänge her zwischen den Erinnerungen, die mich nachts überfallen und der Panik oder Verzweiflung tagsüber. Das alles hängt mit meinen Ängsten im Umgang mit Männern zusammen. Mit jeder <Vorführung meiner Film­ausschnitte> für meine Freunde, meinen Therapeuten oder die Gruppe, verliert meine Vergangenheit ein wenig von ihrer früheren Macht über mich. Eines Tages werde ich fähig sein, die Nähe eines Mannes dulden zu können, ja sogar Freude daran zu haben, ohne an meine eigene Familie denken zu müssen. Ich habe viel Zeit. Jetzt bin ich so weit, daß ich mich selbst und meine Vergangenheit besser akzeptieren kann. Was mir angetan wurde, war nicht in Ordnung, aber ich selbst bin in Ordnung.«

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   Trauma   

 

Amy ist eine Überlebende der fünf Formen von Kindheitstrauma, die in der Einführung angesprochen wurden. Ich befasse mich mit diesen Traumen wegen ihrer Gemeinsamkeiten — Mißbrauch elterlicher Macht und die Ausbeutung oder der Mißbrauch der völligen kindlichen Abhängigkeit von Erwachsenen.

Der Trauma-Spezialist und Psychotherapeut Frank Pescosolido ist der Ansicht, »die größte Tragödie an Kindesmißbrauch und Vernachlässigung ist die Ausbeutung der Abhängigkeit des Kindes von der Elternfigur«.1 Es ist natürlich weitaus einfacher, die eigenen Kinder zu mißbrauchen, eben weil ihre Liebe und Elternbindung sie den Eltern gegenüber weitaus willfähriger und unterwürfiger machen als Fremden gegenüber. Genau diese Ausbeutung der Abhängigkeit lehrt die Kinder, daß sie in Beziehung mit anderen Menschen schutzlos sind.

Der Psychiater Brandt Steele schreibt in seinem Artikel <Anmerkungen zu bleibenden Auswirkungen frühkindlichen Mißbrauchs auf den gesamten Lebensverlauf> (<Notes on the Lasting Effects of Early Child Abuse Throughout the Life Cycle>):

Körperliche Mißhandlungen rufen nicht zwangsläufig Probleme hervor. Die meisten Menschen erleiden in der Kindheit körperliche Verletzungen, Knochenbrüche oder Verbrennungen aufgrund von Unfällen, und tragen keinen bleibenden Schaden davon, weil sie bei Eintreten des Unglücksfalls von guten Betreuern getröstet und versorgt wurden. Der Schaden tritt dann ein, wenn die Verletzungen von Menschen ausgehen, bei denen man Liebe und Schutz sucht, die aber keine Linderung des Traumas bieten.

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Das gleiche trifft in gewisser Weise auch auf sexuellen Mißbrauch zu. Es ist nicht der sexuelle Mißbrauch selbst — außer in Fällen von erzwungener, körperlich schmerz­hafter Vergewaltigung kleiner Kinder — der zum Trauma wird. Bleibender Schaden entsteht vielmehr durch das emotionale und psychologische Umfeld, in dem die sexuelle Mißhandlung geschieht, sowie durch die Person des Täters. Wenn lediglich sexuelle Handlungen, Berührungen, Streicheln, ja selbst Geschlechtsverkehr ernsthaften Schaden anrichten würden, müßten die meisten Menschen in der Adoleszenz durch ihre Erlebnisse in der Schule in wesentlich ernsthaftere Konflikte geraten, als wir dies im allgemeinen beobachten. Sexuelle Aktivität ist in diesen Entwicklungsphasen alters­angemessen und geht mit bewußter Einwilligung einher. Sexuelle Aktivität ist dann Mißbrauch, wenn ein Kind, gleich welchen Alters, von einer älteren Person zu deren eigenen Befriedigung zu sexuellen Handlungen genötigt wird, wobei der Erwachsene nicht auf die entwicklungsspezifische Unreife des Kindes und seine Unfähigkeit, das Sexualverhalten zu begreifen, Rücksicht nimmt.2

 

Kinder kommen als absolut hilflose und abhängige Wesen zur Welt. Sie sind anderen völlig ausgeliefert, brauchen Ernährung, Wärme, Pflege und Schutz vor Gefahren. Die natürliche und gesunde Hilflosigkeit der Kinder verwandelt sich in Entsetzen und Verzweiflung, wenn diese Bedürfnisse unerfüllt bleiben oder ein Elternteil die Bedürfnisse des Kindes zu seinem Nutzen ausspielt — »Ich dulde deine Abhängigkeit von mir nur, wenn ich dich sexuell mißbrauchen kann oder du über die Gewalttätigkeiten in unserer Familie Schweigen bewahrst.«

Die Kindheit muß eine Zeit der Abhängigkeit in Geborgenheit sein. Die fünf Formen des Traumas, die wir unter­suchen werden, stellen eine starke Gefährdung dieser Abhängigkeit dar. Viele Kinder lernen aus Verzweif­lung verfrüht, für sich selbst zu sorgen — auf Kosten ihres Vertrauens in andere, auf Kosten ihres emotionalen Wachstums und ihrer Selbstbejahung. Solche Kinder können leider ihr seelisches Überleben, so sehr sie sich auch bemühen mögen, nie völlig sichern, einfach weil dies nie völlig in ihrer Macht steht.

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    Was hinterher nicht geschah   

 

Eltern können ihre Kinder trotz aller Schutzvorkehrungen nicht vor jedem Trauma bewahren. Ein naher Verwandter stirbt. Das Haus brennt ab. Die Familie wird von Fanatikern wegen ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer religiösen Überzeugungen angegriffen. Das Kind wird Zeuge eines Autounfalls mit tödlichem Ausgang oder einer Schießerei auf der Straße. Das Kind wird von einem nicht zur Familie gehörigen Erwachsenen sexuell belästigt und unter Drohungen gezwungen, Schweigen darüber zu bewahren. Dennoch könnten Kinder solche Ereignisse emotional gesund überleben, wenn Erwachsene ihnen nach dem traumatischen Vorfall ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen geben würden.

Wirklichkeitsnahes, beschützendes und einfühlsames Verhalten seitens der Erwachsenen kann größeren Einfluß haben als das Trauma selbst, da damit Langzeitwirkungen abgeschwächt werden können. Ist der Problemverursacher ein Familienmitglied, fehlt es meist an realistischer Sicht, Schutz und Einfühlsamkeit. Oft ist es nicht so sehr das eigentliche Ereignis, das die >bleibenden negativen Wirkungen< des Traumas hervorruft, als die lindernden Reaktionen, die danach nicht eintraten. Besonders wichtig sind Reaktionen, mit denen die Realität des Traumas bestätigt wird: »Ich glaube dir. Ja, du siehst es richtig. Dir ist schreckliches Unrecht widerfahren und es war nicht deine Schuld.« In Problemfamilien gesteht der Täter in der Regel seinen Mißbrauch nicht ein. Oft gibt es, wie in Amys Fall, dazu noch einen vernachlässigenden oder nicht beschützenden Elternteil, der das Trauma ebenfalls verleugnet, um >keinen Wirbel< zu machen und damit den Zorn des Täters herauszufordern.

Man stelle sich vor, ein Kind wird von einem Wirbelsturm überrascht, läuft nach Hause, um dort Trost und Schutz zu suchen, doch die Eltern sagen ihm »Welcher Wirbelsturm? Es ist ein wunderschöner Tag. Geh raus zum Spielen.«

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So verrückt und unsicher wirkt die Welt auf manche Kinder. Manche der von mir interviewten Überlebenden hatten versucht, die Wahrheit über den Mißbrauch zu sagen, und wurden zum Lügner gestempelt. Oder man warf ihnen vor, sie seien für das Verhalten des Täters verantwortlich. »Das war gar nicht so«, bekamen sie zu hören oder: »Das ist nicht so schlimm«, »Es gibt Schlimmeres«, »Er meint es nur gut mit dir.«

Rita wurde von ihrer Mutter, solange sie zurückdenken kann, körperlich mißhandelt. Ihr Vater begann, sie als Elfjährige sexuell zu mißbrauchen. »Einmal schloß ich mich im Badezimmer ein, um seinen Belästigungen zu entgehen. Er holte meine Mutter, die mir befahl, die Tür zu öffnen. Als ich gehorchte, schlug sie mich, weil ich mich meinem Vater widersetzt hatte. An diesem Tag wurde mir klar, daß ich zu Hause nicht sicher war.«

Im College suchte Rita wegen ihrer schweren Depressionen eine Beraterin auf. »Sie stellte mir nie Fragen über Mißbrauch, und ich fing an, mich deshalb zu schämen. >Es muß wirklich schrecklich sein, wenn wir nicht einmal darüber sprechen können. < Schließlich konnte ich das Geheimnis nicht länger für mich behalten. Ich mußte es loswerden und erzählte ihr alles. Ihre einzige Reaktion auf mein Geständnis, daß ich von meinem Vater fünf Jahre hindurch sexuell mißbraucht worden war, war die Bemerkung: >Das kommt manchmal vor.< Das Thema wurde nie wieder erwähnt.«

Wird einem Opfer kein Glauben geschenkt oder wird es beschämt oder mit Drohungen zum Schweigen gebracht, wird sein Geständnis bagatellisiert oder wird es für sein Geständnis bestraft, entwickelt es zu dem ursprünglichen Trauma ein zweites Trauma, das der willkürlichen Mißachtung. Kinder ertragen eine ganze Menge, wenn sie den Rückhalt anderer Menschen haben. Werden die kindlichen Gedanken und Gefühle zum Trauma jedoch von den Erwachsenen verdrängt oder abgelehnt, kann das ebenso großen Schmerz hervorrufen wie das ursprüngliche Trauma.

Kinder brauchen auch während der Nachwirkungen des Traumas Zuspruch und Ermunterung, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen, sowie eine Bestätigung ihrer Gefühle.

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»Sag mir, wie du dich fühlst«, oder »Natürlich hast du Angst, bist verletzt, wütend, verwirrt. Das wäre ich auch an deiner Stelle«. Thoreau sagte einmal: »Um die Wahrheit zu sagen, braucht es zwei: einer, der sie sagt und ein zweiter, der sie anhört.« Meist ist niemand bereit, sich die Gefühle des Kindes anzuhören, und wenn das Kind sie dennoch zum Ausdruck bringt, ist es erneutem Mißbrauch ausgesetzt.

 

Ein Arzt stellte bei der vierjährigen Christina sensorische Ausfälle fest, die sukzessive zu ihrer Taubheit führten. Von ihrem fünften Lebensjahr bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr besuchte sie mehrmals pro Woche eine Sprechtherapie. »Sprechtherapie ist eine sehr intime Sache. Wir berühren gegenseitig unsere Gesichter, unseren Hals, es geht dabei um wirksame Kommunikation. Ich sage oft, ich habe die Hölle zu Hause nur wegen meiner Beziehung zu meinen Sprechtherapeuten überstanden.«

Christinas >Hölle zu Hause< bestand aus einer psychotischen Mutter, die sie sexuell mißbrauchte, einem Vater, der sich wegen seiner tauben Tochter schämte, der sie verprügelte, weil sie Befehlen nicht gehorchte, die sie nicht hören konnte, und einem schizophrenen älteren Bruder, der ständig nach ihren Brüsten grabschte.

»Wir bekamen nie Besuch, weder von Nachbarn noch von Verwandten. Ich hoffte jedoch inständig und flehte darum, daß irgend jemand mein Elend sehen und mir helfen, mich danach fragen würde. Mit dreizehn hatte ich eine Sprechtherapeutin namens Eva. Eines Abends, als sie mich zu Hause abgesetzt hatte, streikte ihr Wagen und sie ließ ihn in der Nähe unseres Hauses stehen. Am nächsten Tag kam sie mit ihrem Ehemann, einem Psychologen, zurück, um den kaputten Wagen abzuschleppen. Sie waren mit dem Wagen beschäftigt, als mein Bruder aus dem Haus rannte, gefolgt von meinem Vater. Mein Vater hatte Eva und ihren Mann nicht gesehen. Er nahm einen Ast und schlug ihn Wayne über den Kopf, daß die Kopfhaut aufplatzte. Eva und ihr Mann brachten Wayne ins nächste Krankenhaus, wo die Kopfwunde mit elf Stichen genäht wurde. Ich wünschte mir so sehr, daß die beiden zu mir kämen und sagten: >Das war schrecklich, das war ungerecht. Hat er so etwas mit dir auch schon gemacht?

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Es ist furchtbar, daß dein Vater das getan hat. Wie kannst du das bloß aushalten?< Eva hätte mich wenigstens fragen können, wie es mir geht. Aber sie verlor kein einziges Wort darüber. Ich erstarrte innerlich und konnte nicht mehr mit ihr sprechen. Die therapeutische Beziehung zu ihr war nach diesem Vorfall wertlos für mich geworden.«

Heute haben Menschen in helfenden Berufen, wie Eva und ihr Ehemann, die Pflicht, einen derartigen Vorfall bei der zuständigen Jugendschutzbehörde zu melden und müßten bei Unterlassung mit ernsthaften Folgen rechnen. Vor 1973 war in den USA jedoch niemand verpflichtet, Kindsmißbrauch oder Vernach­lässigung anzuzeigen. Solche Überlegungen mildern allerdings Christinas Gefühl, verraten worden zu sein, in keiner Weise.

Um den Schaden eines Traumas zu verringern, brauchen Kinder auch Schutz vor weiterer Verletzung. In einer Problemfamilie hat der Täter jedoch kein Interesse daran, das Kind darüber aufzuklären, wie es weiteren Mißbrauch abwenden kann. Der nicht beschützende Elternteil, der den Mißbrauch leugnet oder herunterspielt, bleibt meist passiv. Es ist dem Kind überlassen, sich einen Weg zu suchen, wie es sich schützen kann — wie in Ritas Fall: »Meine beiden Eltern waren Alkoholiker. War mein Vater nüchtern, war er scheu und in sich gekehrt; war meine Mutter nüchtern, war sie arrogant, bösartig und gewalttätig. War mein Vater aber betrunken, wurde er gewalttätig und trieb sexuellen Mißbrauch und meine betrunkene Mutter war einsilbig und mürrisch. Mit sechs Jahren mixte ich bereits Drinks für die beiden und gab weniger Schnaps in das Glas meines Vaters und dreimal so viel Schnaps in das meiner Mutter. Ich war bereits so schlau, meinen Vater nüchtern zu halten und meine Mutter betrunken zu machen.«

Schließlich wird Trauma gemildert, wenn Kinder Zeit haben, sich von einem Trauma zu erholen, bevor sie einem nächsten ausgesetzt sind. Die von mir interviewten Überlebenden bezeichneten sich als >glücklich<, wenn zwischen traumatischen Familienvorkommnissen eine Woche oder ein Monat lagen. Viele lebten in Wohngegenden, in denen Gewalt, Rassismus, religiöse Verfolgung oder Klassenhaß vorherrschten, die zumhäuslichen Streit dazu kamen.

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Daryl lebte in einem Siedlungsprojekt, in dem drei Gebäude für Schwarze und zehn Gebäude für Weiße vorgesehen waren. Wenn die weißen Jugendlichen nicht Bandenkämpfe gegen Daryl und die anderen schwarzen Jugendlichen austrugen, war Daryl »Zielscheibe ständigen Gespötts und Witzeleien anderer Schwarzer«, weil er der bei weitem Dunkelhäutigste war. »Das war in den 40er Jahren, lange vor der Bewegung <Black Is Beautiful>.« 

Daryls Vater war Alkoholiker und litt so stark unter Platzangst, daß er nicht mehr zur Arbeit gehen konnte. Die Konflikte zwischen seinen Eltern eskalierten häufig zu Gewaltausbrüchen, die Daryl mitten in der Nacht schlichten mußte. Doch seine »schmerzlichsten Kindheitserinnerungen bestanden darin, von den anderen Kindern wegen meines Aussehens gequält und beschämt zu werden«.

 

Eine von Vinnies schlimmsten Erinnerungen ist Bloßstellung in der Öffentlichkeit. »Dienstags mußten wir immer ein Zehncentstück mit zur Schule bringen für Milch und Napfkuchen. Meist konnten meine Eltern das Geld nicht aufbringen. Ich höre noch heute die Stimme der Nonne, die laut vor der ganzen Klasse sagte: <Vincent Abruzzi — soll das heißen, deine Eltern haben nicht einmal ein Zehncentstück für dich übrig?>«

Die von mir interviewten Überlebenden kamen nur selten, wenn überhaupt, in den Genuß mitfühlender und angemessener Reaktionen, die ihnen ihre schwere Kindheit erleichtert hätten. Angesichts des Ausmaßes dessen, was nach ihren Traumen nicht passierte, ist es keineswegs erstaunlich, daß sie zu abgeumpften und/oder verängstigten Erwachsenen wurden. Beschützendes Abgestumpftsein und reaktive Angst sind schließlich normale Reaktionen auf abnorme Situationen.

 

    Dissoziation: Wenn Herz und Geist abstumpfen    

 

Es ist ein großes Unrecht, wenn Menschen körperlich oder sexuell mißbraucht werden. Die Menschen sind nicht dafür geschaffen, Mißbrauch zu verstehen oder die ganze Gewalt ihrer physiologischen und emotionalen Reaktion zum Zeitpunkt des Geschehens zu begreifen. Und sie können zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn im Erleben des Mißbrauchs sehen. Diese wichtigen Elemente der Anpassung können erst später in deutlichen Phasen stattfinden.

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Ein relativ unbedeutendes Erlebnis, das ich als erwachsene Frau hatte, ließ mich die Anpassungs­anford­erungen bei Kindern mit ganz neuen Augen sehen. Eines Abends war ich auf dem Weg zu einer Supervisionsgruppe für Selbsthilfegruppen sexuell Mißbrauchter in der Nähe von Boston. Ich war spät dran und hatte es sehr eilig. Das Treffen fand in einem Kellerrestaurant in Harvard statt. Oben an der Außentreppe stolperte ich und stürzte kopfüber die Stufen hinunter. Benommen blieb ich mit dem Gesicht nach unten auf den Steinfliesen liegen, mein Rock hatte sich bis zur Hüfte hochgeschoben. Drei Fremde eilten mir zu Hilfe. Ein Mann fragte, ob ich meine Arme und Beine bewegen könne. Ohne auf seine Frage zu achten, bemerkte ich, daß ich meinen rechten Schuh verloren hatte. Ich entdeckte ihn oben auf der ersten Stufe und begann die Treppe hochzukriechen. Ich hatte nur einen Gedanken: »Man wird mir den Schuh klauen, wenn ich ihn nicht sofort hole, und wie soll ich mit einem Schuh nach Hause kommen?« Ich spürte weder Schmerzen noch Angst oder Verlegenheit, was normale Reaktionen auf ein solches Erlebnis gewesen wären. Ich hatte gar nicht begriffen, was vorgefallen war, und war nur auf ein völlig neben­sächliches Detail fixiert.

Wie sich herausstellte, hatte ich mir den rechten Knöchel ernsthaft verstaucht, und es dauerte mehrere Monate, bis ich wieder normal gehen konnte. Erst nach ein paar Minuten wurde mir bewußt, was passiert war, und da erst spürte ich den pochenden Schmerz in meinem Knöchel. Ich erzählte meinen Freunden im Restaurant und später dem Röntgenassistenten in der Notaufnahme des Krankenhauses, was ich unmittelbar nach dem Sturz empfunden hatte. Ein paar Tage später konnte ich einen Sinn in dem Vorfall erkennen. Es war klar, daß ich in realer und symbolischer Hinsicht langsamer treten mußte. (Und nebenbei stellte ich in den zwei Wochen, die ich im Rollstuhl saß, fest, wie benutzerfeindlich die meisten >behindertengerechten< Gebäude in Wahrheit sind.)

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Das Leben in einer gewalttätigen Familie ist, als würde man jeden Tag, jede Woche, jeden Monat eine Treppe hinunterstürzen. Überlebende sprachen übereinstimmend davon, daß sie Traumen ertrugen, weil sie sich in Gedanken an einen sicheren Ort begaben und ihren Körper zurückließen, der den Mißbrauch zu erdulden hatte:

 

Mißbrauchte Kinder verlassen die Realität, trennen Geist vom Körper, damit sie nicht erdrückt werden und ihre Bewältigungsstrategien nicht vernichtet werden. Selbst ein relativ geringfügiges Trauma, wie mein Treppensturz, kann eine Dissoziation hervorrufen: ich machte mir Sorgen, daß mein Schuh geklaut wird (statt meinen Schmerz zu spüren, mich zu ängstigen oder verlegen zu sein) und mein Körper war taub, bis ich einige Zeit später den Vorfall besser einordnen konnte. >Später< kann bei chronischem Mißbrauch, zumal dann, wenn das mißbrauchte Kind keinen Rückhalt hat, viele Jahre später sein.

Kurzfristig kann Dissoziation eine sehr wirksame Schutzmaßnahme sein. Man wehrt etwas ab, das man nicht unterbringen kann. In der Dissoziation wird das Trauma gespalten, Teile des Traumas werden eingefroren, bis eine >Heilung< erkennbar wird. In manchen Fällen wird die tatsächliche Erinnerung an den Mißbrauch eingefroren. Eine Begebenheit in der Gegenwart kann starke Gefühle auslösen, die eigentlich an eine Begebenheit in der Vergangenheit geknüpft sind, an die der Betroffene sich nicht erinnert. Er reagiert wutentbrannt auf Dinge, die andere nur irritieren, versinkt in tiefe Verzweiflung, wo andere nur ein wenig traurig sind, gerät in Panik, wenn andere nur leicht beunruhigt sind. Gegenwartsereignisse reißen einen tiefen Graben von Gefühlen auf, deren Wurzeln im Dunkeln bleiben.

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Bis vor kurzem verstand Joan >diese unerklärlichen Wellen der Trauer< nicht, die sie beim Anblick von rosafarbenen Bändern befielen: »Ich erinnerte mich, daß ich allein in einer Dachkammer in einem Metallbett schlafen mußte und schreckliche Angst vor der Dunkelheit hatte. Meine Stiefmutter lauerte jede Nacht darauf, bei mir Licht brennen zu sehen. Wenn sie mich erwischte, schlug sie mich. Erst vor kurzem in der Therapie erinnerte ich mich daran, wie ich sie austrickste. Ich befestigte ein Ende des rosaroten Saumbandes aus dem Handarbeitsunterricht an meiner großen Zehe und das andere Ende an der Kette des Lichtschalters. Wenn ich ihre Schritte hörte, zog ich an dem Band und löschte damit das Licht.«

Als ich sie nach ihrer schlimmsten Kindheitserinnerung fragte, antwortete Christina: »Meine schlimmste Erinnerung muß erst noch ans Tageslicht kommen.«

Manchmal werden nur die zum Trauma gehörigen Gefühle eingefroren. Manche einstigen Opfer haben klare, detailgenaue Erinnerungen an den Mißbrauch selbst, ohne irgendeine Empfindung dabei zu haben. Ihre Herzen sind eingefroren. Sie fühlen sich wohl, solange sie nicht in zu tiefe Gefühle verwickelt werden. Sie meiden Freundschaften oder Liebesbeziehungen oder lassen sich nur zu ihren eigenen Bedingungen darauf ein. Sie glauben, ihre Gefühle seien wirklich so gefährlich und überwältigend, wie ihre Eltern sie vor Jahren gewarnt hatten. Sie sind gegen Gefühle taub, um Kontrolle zu bewahren.

 

Glen ist ein Muster an Selbstbeherrschung und hat eine Kindheit bewältigt, in der er extrem vernachlässigt wurde und schreckliche Wutausbrüche zwischen seinen Eltern erleben mußte. Er glaubt, daß seine >emotionale Laschheit zu seiner kürzlichen Scheidung beigetragen hat. »Mich verletzlich zu fühlen bedeutet für mich, zurück in die frühkindliche Sprachlosigkeit zu verfallen (präverbales Stadium). Ich ziehe mich aus Beziehungen zurück, da ich mir wie ein hilfloses Kind vorkomme, wenn ich mich einem anderen Menschen öffne.«

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Wieder in anderen Fällen werden Erinnerungen und Gefühle eingefroren. Mißbrauchsopfer stellen fest, daß ihr Körper zur Zeit des Traumas auf eine Weise reagierte, die damals lebensrettend war, eine Reaktion, die jedoch heute, da keine Bedrohung mehr vorhanden ist, ihren Sinn verloren hat. Ein Mann, der beispielsweise beim Schlafen eine Fötusstellung einnimmt, wobei er die Arme schützend über den Kopf legt, kann sich nicht daran erinnern, daß er vor langer Zeit sein Gesicht und seinen Kopf vor den lebensbedrohenden Schlägen seines Vaters schützen mußte.

Elaine wurde als Kind mehrmals bewußtlos geschlagen. »Ich habe keine Erinnerung daran. Ich habe Wieder-Erlebnisse. Mein Körper erschlafft und beginnt zu zittern. Mein Kopf ist leer und ich kann meine Muskeln nicht kontrollieren.«

Viele frühere Opfer sagen: »Ist es nicht besser, sich nicht an das Trauma zu erinnern und keine starken Gefühle daran zu haben? Es heißt doch immer, schlafende Hunde soll man nicht wecken.« Die Therapeutin Janet Yassen stellt Vergewaltigungs- und Inzestopfern, die diese Frage aufwerfen, eine Gegenfrage: »Was würden Sie tun, wenn ich von Ihnen verlange: >Denken Sie nicht an das Wort Elefant? Was auch geschieht, denken Sie einfach nicht daran!<

Vermutlich denken Sie mehr daran, oder Sie denken zwanghaft daran, daß Sie nicht daran denken dürfen. «Genauso verhält es sich mit Versuchen, nicht an Kindheitstraumen zu denken oder nichts zu fühlen. Dissoziation fordert weit mehr psychische Energie, als sie es wert ist. Je mehr wir versuchen, Gedanken und Gefühle zu vermeiden, desto mehr sammeln sie sich und beanspruchen unbewußt unsere Aufmerk­samkeit. Es kostet einen enorm hohen Preis, völlig berechtigte Erinnerungen und Gefühle über Kindheitstraumen auf Eis zu legen. Auf lange Sicht gesehen empfiehlt es sich, eingefrorene Gefühle aufzutauen und sich mit Hilfe von außen einer >Kur< zu unterziehen, die unser Leben erleichtert.

 

   Posttraumatische Belastungsstörungen   

 

Was Amy — die nach außen ausgeglichen, selbstsicher, produktiv und zielorientiert wirkte und im Inneren solche Ängste hatte, daß sie fürchtete >verrückt< zu werden — nicht wußte, war, daß sie an einer klar erkennbaren und heilbaren Angststörung leidet, nämlich einer posttraumatischen Belastungsstörung, die bei Überlebenden des Vietnamkrieges, dem Holocaust, von Massenmorden, Naturkatastrophen, Vergewaltigung, Entführung, Unfällen, Folter und anderen außergewöhnlichen Vorfällen zu beobachten sind.

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Im ausgehenden 19. Jahrhundert veröffentlichte Sigmund Freud Schriften über die Existenz und lang­fristigen Schäden, die Gewalt in der Familie bei seinen Patienten anrichtete. Leider erfuhr die psychiatrische Welt zu viel zu schnell über die Schrecken des Traumas. Wenn Autoritätspersonen anderen die Erlaubnis erteilen, über Gewalt in der Familie zu sprechen, öffnen sich Schleusentore. Die traurige Wahrheit ist, daß Kindsmißbrauch in der Vergangenheit und heute an der Tagesordnung ist. Die Psychiater erkannten, wenn das, was Freuds Patienten ihm über ihre Kindheit berichteten, der Wahrheit entsprach, mußte die Richtigkeit der gesamten Familienstrukturen in Frage gestellt werden. Freud beugte sich dem Druck der Kritik seiner Kollegen (die häufig antisemitisch gefärbt war) und distanzierte sich von seinen frühen Trauma-Theorien und zog sich auf Verleugnung und Mißdeutungen des frühkindlichen Mißbrauchs seiner Patienten3 zurück. Er behauptete, körperlicher und sexueller Mißbrauch müsse ihrem Wunschdenken entspringen, geboren aus dem sexuellen Verlangen nach einem Elternteil und der eifersüchtigen Aggression gegen den anderen.

Überlebende wie Amy, die sich mit ihrer Kindheit abgefunden haben und fürchten, >verrückt< zu werden, bekommen oft zu hören: »Es stimmt - du bist verrückt. Der Mißbrauch findet nur in deinem Kopf statt.« Glücklicherweise erkannte Amys Therapeut die Symptome posttraumatischer Belastungsstörung, wußte welche Fragen er seiner Patientin zu stellen hatte und hatte Geduld mit ihr, bis sie genügend Vertrauen aufbrachte, um über ihren Vater und ihre Brüder sprechen zu können. Eigenberichten oder der Diagnose ihres Therapeuten zufolge litten die Mehrheit der Mißbrauchsopfer meiner Befragung als Erwachsene unter post­traumatischen Belastungsstörungen.

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Da unterschiedliche Diagnosen unterschiedliche Behandlungswege erfordern, war Amys Therapeut in seiner Beurteilung von Amys Problemen sorgfältig und umsichtig. Er zog das maßgebliche Nachschlagewerk für Psychotherapeuten, The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (III-R),4 zu Rate. Wir wollen uns die Kriterien von Amys Störungen genauer ansehen.

Zunächst hat ein Patient mit posttraumatischen Belastungsstörungen »ein Erlebnis gehabt, das außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegt und für fast jeden stark belastend wäre«. Was auf Amys Kindheit eindeutig zutrifft.

Zweitens durchleben Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen das Trauma häufig erneut in ihren Gedanken, ohne daß sie dies bewußt wollen. Amy wurde von Erinnerungen (>Filmausschnitte<) und Alpträumen heimgesucht. Geht die Erinnerung mit einer körperlichen Reaktion oder einem Gefühl einher, liegt eine Abreaktion vor: »die Entladung seelischer Spannungen durch die Erinnerung an ein unterdrücktes traumatisches Ereignis«.5 Häufig ähnelt die Situation, die die Abreaktion hervorruft, dem ursprünglichen Trauma. Joans Reaktion auf rosafarbene Bänder ist ein gutes Beispiel hierfür. Thelma ist peinlich berührt von der Hartnäckigkeit und den >schlechten Manieren< ihrer Kindheitsdämonen: »Ich fuhr mit Freunden die französische Riviera entlang. Wir hatten vor, das Mittagessen sausen zu lassen, und es war ein wenig schwül. Meine Hungergefühle verwandelten mich wieder in die Straßengöre, die ich vor fünfzig Jahren war. Ich hatte meine Kindheit in der großen Wirtschaftskrise verbracht und oft gehungert. Ich konnte mich nicht zusamm­ennehmen, wurde unausstehlich und bösartig, bis mir ein warmes Mittagessen vorgesetzt wurde.«

Eine Abreaktion kann ausgelöst werden durch bestimmte Bemerkungen (»Tu das, sonst...« oder »Für wen hältst du dich eigentlich?« auch wenn solche Sätze im Spaß gesagt werden), durch bestimmte Umstände, wie mitten in einer Menschenmenge sein, völlig allein gelassen werden, ein dunkler Raum oder eine bestimmte Jahreszeit, Geruch, Berührung, Geschmack oder ähnliche Assoziationen zu einem Trauma.

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Das Mißbrauchs­opfer wird in einer Zeitmaschine zum Ereignis des ursprünglichen Traumas zurückbefördert und reagiert mit der emotionalen Heftigkeit, die damals angebracht gewesen wäre, heute aber unangemessen ist. Während einer Abreaktion ist es schwer, das >Gestern< vom >Heute< zu unterscheiden.

Hier haben einige der von mir interviewten Überlebenden ihre Achillesferse. Sie funktionieren problemlos in vielen Lebensbereichen, bis sie den Begebenheiten oder Umständen begegnen, die eine Abreaktion auslösen: emotionale Verletzung, körperliche Krankheit und verletzende medizinische Eingriffe, etwa eine Operation, Kämpfe mit Autoritätspersonen, kultureller Druck oder Verlassenheit, um nur einige zu nennen. Es muß allerdings auch erwähnt werden, daß Erwachsene, die als Kinder nicht traumatisiert wurden, sich häufig in vergleichbaren Situationen furchtsam, verletzlich, »nicht wie ich sonst bin« fühlen, wobei der Grad der Heftigkeit solcher Empfindungen bei Mißbrauchsopfern in der Regel höher liegt.

Drittens lebt ein Mensch mit posttraumatischen Belastungsstörungen mit dem beharrlichen Vermeiden von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert werden oder dem Abstumpfen genereller Reaktionsfähigkeit. Die Vermeidung kann sich auf Dinge des täglichen Lebens beziehen wie Essen, Hygiene, Arbeit, aus dem Haus gehen, oder wie in Amys Fall, einen Mann in ihrem Bett zu haben, da diese Zusammenhänge Erinnerungen und Gefühle eines unverarbeiteten Traumas auslösen. Überlebende mit posttraumatischen Belastungs­störungen können jede intime Beziehung vermeiden, was häufig >Gefühle der Ablösung oder Entfremdung von anderem zur Folge hat. Überlebende haben häufig stark ausgeprägte soziale Fähigkeiten und wirken vielfach sehr extravertiert, öffnen sich aber im Umgang mit anderen meist nicht wirklich. Sie können über ihren Beruf, über einen Film oder das Wetter sprechen, haben aber Schwierigkeiten, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Oder sie haben >eingeengte Gefühlen Sie sind unfähig, einen großen Bereich ihrer Emotionen, vorwiegend Wut, Angst und Trauer, die eng mit den ursprünglichen traumatischen Vorgängen verknüpft sind, zu identifizieren und zum Ausdruck zu bringen.

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Schließlich weisen Überlebende mit posttraumatischen Belastungsstörungen wenigstens zwei der folgenden Symptome seit dem Auftreten des Traumas auf: übermäßige Alarmbereitschaft oder übertriebene Schreckreaktion (ihr Radar ist sozusagen stark auf Erinnerungen an das Trauma ausgerichtet), Schlafstörungen (Schlaflosigkeit, um Alpträume zu vermeiden oder übermäßiges Schlafbedürfnis, um Ereignisse zu vermeiden, die ein Trauma im Wachzustand auslösen könnten); Schuldgefühle, das Trauma überstanden zu haben; Gedächtnislücken oder Konzentrationsschwierigkeiten; physiologische Reaktionen bei Konfrontation mit Ereignissen, die einem Bestandteil des traumatischen Ereignisses ähneln oder es symbolisieren (einer Frau, die in einem Aufzug vergewaltigt wurde, bricht beim Betreten von Aufzügen der Schweiß aus).

Es gibt natürlich graduelle Abstufungen einer posttraumatischen Störung. In Amys Fall war die Störung bis zum Tod der Mutter gemäßigt. Der Verlust der Mutter stellte eine starke Belastung für sie dar, dazu kam ihr dreißigster Geburtstag, wodurch die Störung sich verschlimmerte und ihre Lebensfreude beeinträchtigte. Erst als Amy begann, in der Therapie darüber zu sprechen, konnte sie die Störung allmählich beheben.

Bestimmte Umstände bewirken, daß die Störung länger anhält und sich verschlimmert. Wiederholt sich ein Trauma, wie im Falle von ständigem körperlichem oder sexuellem Mißbrauch, ist eine längerfristige Störung zu erwarten als bei einem einmalig stattfindenden Ereignis. Das heißt jedoch nicht, daß die Folgen einer einmaligen Vergewaltigung oder Prügelstrafe geringer sind.

Wie die Langzeitstudie der Psychologin Lenore Terr über den Chowchilla-Entführungsfall (damals wurde ein Schulbus mit Kindern entführt) zeigt, kann ein einziges traumatisches Erlebnis eine tiefe Wirkung auf die Opfer haben, das zu herabgesetztem Optimismus und beschränkter Fähigkeit der Zukunftsplanung, zu Gedächtnisverlust und dauerhafter Unsicherheit führen kann.6 Die Wiederholung macht die Opfer aber auch nicht immun gegen die Konsequenzen der Traumen. Sie hat vielmehr kumulative Wirkung, da jedes unverarbeitete Trauma auf das vorangegangene unverarbeitete Trauma gehäuft wird.

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Traumatische Ereignisse, die von Menschen ausgehen (Gewalttaten, Folter, Bombardierung), haben in der Regel schlimmere Nachwirkungen als Naturkatastrophen (Erdbeben, Feuer, Überschwemmungen). Und so schmerzhaft und beängstigend es ist, von einem Fremden vergewaltigt oder geschlagen zu werden oder von einer Natur­katastrophe heimgesucht zu werden, so ist doch eine Verletzung durch einen geliebten Menschen weitaus bestürzender und überwältigender.

Der letzte Faktor, der die Dauer einer posttraumatischen Störung bestimmt, ist das Alter des Opfers. Je jünger das Opfer, desto weniger ist es gegen Verletzung geschützt. Je mehr entwicklungsspezifische Fähigkeiten und Lebenserfahrungen ein Kind ohne schädigende, traumatische Einflüsse sammeln konnte, desto mehr Maßnahmen stehen ihm zur Verfügung, ein Trauma zu verarbeiten. Jeder Tag im Leben eines Kindes, an dem es beschützt und geliebt wird, sein Leben also in normalen Bahnen verläuft, stellt sozusagen eine Einzahlung auf ein Bankkonto dar. Je größer dieses Bankguthaben eines Kindes ist, das von einem traumatischen Erlebnis getroffen wird, desto besser seine Aussichten auf baldige Genesung. Kleine Kinder, die immer wieder traumatisiert werden, haben meist nur geringe Guthaben und laufen eher Gefahr, emotional bankrott zu gehen. Doch auch in solchen Fällen besteht Hoffnung, die >Defizite auszugleichen<, wie Amy dies erfahren hat.

 

    Integration des Traumas    

 

Rita freundete sich als kleines Mädchen mit einem indianischen Medizinmann an, der ihr riet, sie dürfe die Gewalt in ihrer Familie nie vergessen: »Er brachte mir bei, einen geistigen Schnappschuß davon zu machen, ihn einzurahmen und dann den Rahmen mit der Vorderseite nach unten wegzulegen. Er sagte, das Bild sei immer da und wenn ich dafür bereit sei, würde ich es zur Hand nehmen, es ansehen und beginnen, damit umzugehen. Als Kind konnte ich den Mißbrauch weder gedanklich noch gefühlsmäßig klar erfassen. Erst heute kann ich dem Trauma direkt begegnen.«

Wenn das Mißbrauchsopfer bereit ist, das Bild umzudrehen, beginnen Erinnerungen und Gefühle Bezug aufeinander zu nehmen. Er oder sie erinnert sich mit dem Herzen Verstand, statt sich durch Dissoziation abzuspalten.

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Als Jenny sieben Jahre alt war, schlug ihr Vater sie so heftig, daß sie durch die Küche flog, weil sie >die Soße versalzen< hatte. Vierzig Jahre später erhitzte sie Bratenfett für eine Soße. »Ich war noch etwas ungeschickt, den Herd vom Rollstuhl aus zu bedienen. (Zwei Jahre zuvor mußte Jennys rechtes Bein nach einem schweren Autounfall amputiert werden.) Ich überhitzte das Bratenfett und es spritzte mir ins Gesicht. Das tat sehr weh. Zu meinem Mann sagte ich: >Gleich explodiere ich. Laß mich mich austoben.<  Ich fuhr mit dem Rollstuhl in mein Schlafzimmer, packte eine meiner Krücken, schlug damit auf das Bett ein und schluchzte und schrie dabei: >Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse es.<« Später begriff Jenny, daß dieses >es< sich nicht so sehr auf ihre Behinderung bezog, sondern auf den plötzlichen, brennenden Schmerz in ihrem Gesicht — sowohl auf den Schmerz vor vierzig Jahren als auf den augenblicklichen.

Meist setzt ein Zufall diese gedankliche Verbindung in Gang — ein Vorfall oder Umstand, der mit dem ursprünglichen Trauma in Verbindung steht oder daran erinnert, so wie Jenny es erlebte. Ich habe jedoch in meiner langjährigen Praxis als Psychotherapeutin festgestellt, daß immer gleichzeitig ein >positiver Auslöser< notwendig ist, bevor die Verbindung wiederhergestellt werden kann. So mag ein Überlebender beispielsweise einen vertrauenswürdigen Menschen gefunden haben, mit dem er reden kann (Therapeut, Freund, Partner, Selbsthilfegruppe) und sich endlich genügend sicher und stark fühlen, seine Gefühle zu erforschen und zu akzeptieren. Andere positive Auslöser können sein: der Tod eines Täters, Veränderungen der Lebens­umstände, beispielsweise eine berufliche Beförderung oder eine Erbschaft, Selbst­verteidigungs­strategien, körper­liche Fitneß, oder der Umzug in eine weniger gefährliche Wohngegend.

Selbst anscheinend belastende Ereignisse, wie der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik oder eine stationäre Entziehungskur können die Sicherheit und Struktur liefern, die dem Überlebenden endlich die Möglichkeit geben, sich dem Kindheits­trauma wirklich zu stellen, mit dem Verstand und mit dem Herzen. In Jennys Fall waren die positiven Auslöser ihre Beziehung mit ihrem Ehemann und eine spirituelle Erfahrung, die sie im neunten Kapitel selbst beschreiben wird.

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Der Schmerz und die Verwirrung, die entstehen, wenn solche Zusammenhänge plötzlich klar werden, kann durch die Beschäftigung mit dem positiven Auslöser ausgeglichen werden. Während dieses Prozesses frage ich meine Patienten: »Wieso jetzt? Wieso haben Sie sich daran nicht vor sechs Monaten, vor zwei Jahren, vor fünf Jahren erinnert? Wieso haben Sie das damals nicht empfunden?« Betroffene berichten etwa davon, ein Kind gesehen zu haben, das ihnen ähnlich sah und so alt war wie sie zur Zeit des Traumas; oder sie haben einen Zeitungsartikel über Mißbrauch gelesen, oder einen Film mit Gewaltausschreitungen gesehen. Doch solche Begebenheiten ereigneten sich auch schon früher und die Frage bleibt: »Wieso jetzt?« Die Antwort liegt in der Verbindung dieses Auslösers mit dem positiven Auslöser, der dem Überlebenden zu verstehen gibt: »Jetzt bist du soweit, um die Verbindung wiederherzustellen — jetzt hast du die Kraft, die Urteilsfähigkeit, die Einsicht und den Rückhalt, den du als Kind nicht hattest und nicht haben konntest. Jetzt bist du außer Gefahr.«

Dissoziation und andere mit posttraumatischen Belastungsstörungen verbundene Bewältigungsstrategien sind einem allmählichen Prozeß unterworfen, den ich als heilsames Altern bezeichne, wenn das Erwachsenenleben der Mißbrauchsopfer weniger traumatisch verläuft. Die Befragten meiner Studie klammerten sich nicht mehr an ihr einst so wichtiges Anpassungsverhalten, hörten auf, sich mit Selbstvorwürfen zu quälen, da sie diese Verhaltensmuster als überholt erkannten. Irgendwann begannen sie über das, was ihnen früher große Dienste erwiesen hatte, hinauszuwachsen. Vor Jahren erstand ich auf einer Kunsthandwerksmesse ein Holztäfelchen mit einem Sinnspruch, der diesen Vorgang sehr schön veranschaulicht:

Und dann kam der Tag,
an dem es mir größere Schmerzen bereitete,
eine verschlossene Knospe zu bleiben,
als zu wagen,
mich zur Blüte zu öffnen.

Teile des Traumas durch Errichten von Mauern abzuspalten war einst die Lösung für eine unerträgliche Situation. Diese Maßnahmen führen jedoch zu Störungen in Körper, Geist, Herz und Seele, erschweren unsere Beziehungen mit dem Kind in uns, mit unserem Umfeld und im Berufsleben. In den folgenden Kapiteln werden wir erfahren, wie ein Trauma — das ungelöst bleibt — in einem beliebigen Aspekt unseres Selbst wieder auflebt. Wir werden weiterhin erfahren, wie Überlebende langsam aber sicher mit Hingabe und Ausdauer diese Mauern Stein um Stein zum Einsturz gebracht haben.

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