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Vorwort

 

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Ich arbeite seit 1973 mit Opfern von sexueller Gewalt. Meine Arbeit bereitet mir Freude, allerdings frustriert mich, daß herkömmliche psychologische Theorien den Mißbrauchsopfern so wenig Hoffnung zubilligen. 

Die Fachliteratur - sowie die überwiegende Mehrheit klinischer Praktiker - scheint meinen Patienten wegen ihres schweren Lebensstarts für alle Zeiten den Stempel <geschädigt> aufdrücken zu wollen. 

Der Sensations­journalismus vertieft die entmutigenden Anschauungen der Fachwelt, bezeichnet Mißbrauchsopfer als generell gestört, gewalttätig, selbstmord- und suchtgefährdet und als Menschen, die den an ihnen begangenen Mißbrauch weitertragen.

Meine Arbeit mit Mißbrauchsopfern hat weder die konventionelle Anschauung der psychologischen Fach­welt noch die düsteren Schlagzeilen der Fachpresse bestätigt. Ich weiß aus Erfahrung, daß viele einstige Opfer weit davon entfernt sind, von Kindheitstraumen dauerhaft geschädigt zu sein. Sie kommen generell gut im Leben zurecht. Die Gründe, weshalb sie sich in Behandlung begeben, lassen auf den Wunsch und die Fähigkeit, gesund zu werden, schließen. 

Sie sind mit spezifischen Problemen konfrontiert oder in eine wichtige Entwick­lungs­phase eingetreten — durch den Tod eines Elternteils, durch die Bindung an eine feste Beziehung, durch Konflikte mit einer Autoritätsperson am Arbeitsplatz oder in der Schule; oder sie stehen vor der Gewissens­frage, ob sie Kinder bekommen und wie sie Kinder erziehen sollen. Sie nehmen Hilfe in Anspruch, um sich über Gedanken und Gefühle zu ihrem Kindheitstrauma Klarheit zu verschaffen, die von derlei Vorfällen ausgelöst wurden.

Welche Probleme und Umstände sie auch veranlaßten, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, weisen starke Gemeinsamkeiten auf. Entgegen allen fachlichen und generellen Prophezeiungen haben diese Opfer weder sich selbst noch anderen ein Trauma zugefügt.

Ihre Gedanken und Empfindungen zu ihrem Kindheitstrauma sind in Anbetracht der Abnormität der Umstände normal. Ihre Probleme unterscheiden sich weder in Umfang noch Intensität radikal von den Problemen vieler anderer Menschen, die in der Kindheit nicht traumatisiert worden waren. Bei Abschluß der Therapie hatten Mißbrauchsopfer die Probleme gelöst, deret­wegen sie zu mir gekommen waren, und führten weiterhin ein erfülltes und sinnvolles Leben.

 

1983 verlagerte ich meine Arbeit als Sozialarbeiterin und staatlich geprüfte Psychotherapeutin auf die Erforschung und Gruppenbehandlung straffällig gewordener jugendlicher Sexualtäter, von denen viele in der Kindheit sexuell mißbraucht worden waren. Ich machte mich auf die ziemlich hoffnungslose Situation dieser Fälle gefaßt und erwartete, daß die Vorhersagen der Experten zumindest bei dieser Gruppe bestätigt würden. Doch auch hier erwies sich die herrschende Expertenmeinung häufig als unrichtig. Ich habe festgestellt, daß die relative Jugend, in der diese Menschen als Sexualtäter straffällig wurden, die Chancen auf erfolgreiche Behandlung erheblich steigerte. Etwa die Hälfte dieser Gruppe schien unfähig oder nicht bereit, ihr Kindheits­trauma zu bewältigen, während die andere Hälfte positiv auf Gruppen- oder Einzel­psycho­therapie ansprach.

Nach diesen Erfahrungen interessierte ich mich für die Gründe, warum ein chronisch mißbrauchtes Kind in einem Fall zu einem verantwortungsbewußten, bindungsfähigen Bürger mit einigen <normalen> emotionalen Problemen heranwuchs, ein anderes hingegen als jugendlicher Sexualtäter straffällig wurde. Klassen-, Rassen- und Geschlechts­zugehörigkeit sind für einige Zusammenhänge verantwortlich, erklären aber nicht alles. Auch in der weißen Mittel- und Oberschicht sind männliche und weibliche Sexualtäter anzutreffen. Und es ist klar, daß Sexualtäter aus dem Armenmilieu, aus sozialen und ethnischen Minderheiten, aufgrund der Ungerecht­ig­keit unseres Justizwesens und unseres mangelhaften Kinder- und Jugendschutzes leichter zu identifizieren sind.

Menschen mit frühkindlichen traumatischen Erfahrungen kommen irgendwann an den sprichwörtlichen Scheide­weg. Einige wählen den Weg des Überlebens, während andere den Weg nach unten in Gewalt und Zerstörung wählen.

Warum ist das so?

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Je mehr ich mich mit dem Problem befasse, desto mehr gelange ich zur Überzeugung, daß es viele Wege des Über­lebens gibt. Und außerdem gibt es unzählige Umkehrmöglichkeiten. Traumatisierte Menschen können auch als Erwachsene zurück an die Weggabelung gehen und eine positive Richtung einschlagen.

Das alte Sprichwort »Wir lehren, was wir lernen müssen« birgt für mich eine tiefe Wahrheit. Ich habe die Theorie der <lebenslänglich Geschädigten> nie völlig unterstützt.

1983 las ich Gloria Steinem's Essay <Ruth's Song; Because She Could Not Sing It>, in dem die Autorin den Kampf ihrer Mutter mit ihrer Geisteskrankheit und den Einfluß auf ihre Kindheit beschrieb. Eine Passage war für mich von besonderer Bedeutung:

»Ich verliebte mich einmal in einen Mann, nur weil wir beide diesem großen und geheimen Bund von Kindern angehörten, die <verrückte Mütter> hatten. Wir erzählten einander Geschichten aus unserem beschämenden Elternhaus, in das wir nie Freunde einladen konnten. Ich hatte vermutet, daß der Club groß war, aber warum war er geheim? Wir hatten nichts Böses getan, aber wir gingen mit unserer Vergangenheit um, als müsse man sie verbergen.«1  

Gloria Steinem – Wikipedia *1934

Das Essay von Gloria Steinem gab den ersten Anstoß für dieses Buch. Später wurde ich auf die Schriften des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky aufmerksam. 

Er kam in einer 1970 durchgeführten Unter­suchung über die Anpassung von Frauen aus verschiedenen ethnischen Gruppen an die Menopause zu dem Ergebnis, daß 51 Prozent der Frauen seiner Kontrollgruppe »einen ziemlich guten allgemeinen emotionalen Gesundheitszustand« aufwiesen, verglichen mit 29 Prozent weiblicher Überlebender von Konzentrationslagern. »Es geht hier nicht um die Tatsache, daß die Zahl 51 erheblich höher ist als 29«, schreibt er, »sondern daß 29 Prozent einer Gruppe überlebender Frauen aus Konzen­trationslagern eine ziemlich gesunde geistige Verfassung auf weisen«.2 Die medizinischen Unter­suchungen erbrachten gleichlautende Resultate.

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Diese Erfahrungen gingen Antonovskys 1979 veröffentlichtem Buch <Health, Stress and Coping> voraus, in dem er seinen salutogenen Ansatz zu Krankheiten erläuterte.

Die pathologische Ausrichtung versucht zu erklären, warum Menschen krank werden, warum sie einer bestimmten Krankheitskategorie beizuordnen sind. Die salutogene Ausrichtung beschäftigt sich mit den Ursprüngen der Gesundheit und stellt eine radikal anderslautende Frage: Warum stehen Menschen auf der positiven Seite der Skala <Gesundheit/Krankheit>? Oder warum bewegen sie sich in Richtung Gesundheit, wo immer sie sich zu einem gegebenen Zeitpunkt auf dieser Skala befinden?3

 

Das vorliegende Buch basiert auf salutogenen Fragen. Es ist eine nicht-empirische deskriptive Studie bei zwanzig gesunden Erwachsenen, von denen jeder mindestens mit zwei der folgenden fünf Kindheitstraumen eingehende Erfahrungen gemacht hat: körperlicher Mißbrauch; sexueller Mißbrauch; elterliche Sucht­mittel­abhäng­ig­keit; extreme Vernachlässigung; Zeuge häuslicher Gewalt­ausschreitungen.

Manche Menschen glauben, daß unter Kindesmißhandlung nur sexuelle Vergewaltigung oder körperliche Gewalt zu verstehen seien. Was kann an anderen Erlebnissen wohl so schlimm sein?

 

Waren Sie schon einmal Zeuge, wie ein Mensch auf der Straße stirbt? Vermutlich werden Sie das Entsetzen, das Sie damals packte, nie vergessen. Haben Sie schon einmal einen Geistesgestörten erlebt, der sich in blindem Wahn auf einen harmlosen Unbeteiligten stürzte? Waren Sie schon einmal Zeuge eines Autounfalls, wobei Menschen schwer verletzt wurden, und mußten hilflos zusehen, ohne irgendwie ein­greifen zu können, um das Grauen zu verhindern? 

Nun stellen Sie sich vor, diese wahnsinnigen, unberechen­baren, bedrohlichen, gewalttätigen oder verletzten Menschen sind Erwachsene, die Sie lieben und von denen Sie abhängig sind.

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Stellen Sie sich weiterhin vor, Sie würden die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen, weil Sie schwer­krank sind und müßten dort stundenlang warten, ohne medizinisch versorgt zu werden, ja ohne daß Ihre Anwesenheit in irgendeiner Form zur Kenntnis genommen wird. Nach einiger Zeit würden Sie wegen des fehlenden Interesses an Ihrer Existenz und Ihren Bedürfnissen ebenso aufgebracht und besorgt sein, wie über Ihre Krankheit. »Wieso kümmert sich niemand um mich?« würden Sie sich fragen. Sieht denn keiner, daß ich Hilfe brauche? Genau das sind die Gefühle vernachlässigter Kinder.

Nun stellen Sie sich vor, Sie erleben so etwas jahrelang immer wieder — jeden Monat, jede Woche, jeden Tag. Diese Empfindungen erfahren zahllose Kindopfer durch Mißbrauch und Vernachlässigung.

Bedenken Sie nunmehr auch noch, daß all diese Traumen in einem umfassenden Kontext von emotionalem Mißbrauch stattfinden. Es handelt sich um einen »Angriff eines Erwachsenen auf die Ich-Entwicklung des Kindes und seine sozialen Fähigkeiten, einem Muster von psychisch destruktivem Verhalten«. Das Kind wird abgelehnt, zurückgewiesen, isoliert, terrorisiert oder vernachlässigt, oder es wird zu »destruktivem, antisozialem Verhalten korrumpiert«, wodurch »das Kind die Fähigkeit für normales soziales Erleben verliert«.4

Die meisten Veröffentlichungen über Kindheitstraumen beschränken sich auf ein Trauma und stellen nur Zusammenhänge zu verschiedenen Formen des Traumas her. Wenn wir Traumen jedoch untersuchen und behandeln, als sei jedes getrennt und einzigartig zu verstehen, parzellieren wir die Heilung, isolieren die Opfer voneinander und verzögern den Heilungsprozeß. Ich bin der Überzeugung, daß die Ähnlichkeiten der Traumen verblüffender und bemerkenswerter sind als die Unterschiede.

Ein Wort zum Sprachgebrauch:  

Im Versuch, sexistische Diskriminierung unseres Sprachgebrauches auszu­schalten, wechsle ich im Text zwischen >sie< und >er< ab, wenn ich von Kind oder Elternteil, Opfer oder Täter spreche.

Ich spreche häufig von <gestörten Eltern> oder <mißbrauchenden oder vernachlässigenden Eltern>. Vielfach handelt es sich bei dem Mißbrauchstäter aber auch um Geschwister, Verwandte, Babysitter, Lehrer und andere.

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Gewöhnlich befinden sich diese mißbrauchenden und vernachlässigenden Menschen in einer Autoritätsposition dem Kind gegen­über, das Kind vertraut ihnen und ist von ihnen abhängig. Dieser Mißbrauch stellt also darüber hinaus eine Form von Bindungsdruck und Machtmißbrauch dar, wie im dritten Kapitel ausführlich erläutert wird. Diejenigen Leser, die von anderen Erwachsenen, also nicht von ihren Eltern, mißbraucht und vernachlässigt wurden, werden vermutlich in diesem Kapitel ihre Erfahrungen bestätigt finden. Viele der Mißbrauchsopfer, mit denen ich ausführliche Gespräche führte, waren von Fremdtätern aus dem sozialen Nahbereich, nicht von ihren Eltern, mißbraucht und vernachlässigt worden. Auch sie kommen über die Nachwirkungen und Spätfolgen ihrer Erfahrungen in diesem Buch zu Wort.

Wenn ich von einem mißbrauchten Kind spreche, benutze ich die Begriffe <Kind> und gelegentlich <Kindopfer>. Es gilt als allgemein erwiesen, daß Kinder, die nach wie vor mit mißbrauchenden oder vernach­lässigenden Eltern zusammenleben, <Opfer> sind. Erwachsene, die sich von solchen Eltern getrennt haben, folglich nicht länger aktiv mißbraucht werden, bezeichne ich als <Überlebende> und <einstige Miß­brauchs­opfer>. 

Wenn ich von den vielen Überlebenden spreche, die deutlich den Mythos <einmal geschädigt, immer geschädigt> widerlegen, verwende ich Begriffe wie <Überlebende, die gut im Leben zurecht­kommen>. Im Gegensatz dazu bezieht ein Satz wie <Überlebende, die nicht gut im Leben zurecht­kommen> sich auf einstige mißbrauchte und vernachlässigte Menschen, die zum Zeitpunkt des Interviews die Verletzungen des Traumas noch nicht bewältigen konnten.

Die zwanzig gesunden Überlebenden, mit denen ich speziell für dieses Buch Tiefeninterviews durchführte, bezeichne ich als <die Befragten meiner Studie>, <die Überlebenden, mit denen ich sprach> und ähnlich.

Ich habe lange und ernsthaft darüber nachgedacht, diese Gruppe mit einem Spezialbegriff zu benennen, da sie ja wesentlich mehr getan haben, als bloß zu überleben; sie haben ihre Verletzungen besiegt. <Über­lebender> sagt nichts aus über das erfüllte und ausgeglichene Leben, das diese Menschen heute führen. Sie haben sich aus verletzten Kindern in Erwachsene verwandelt, deren Leben von Kraft, Mut, Hingabe, Weisheit, Humor und bemerkenswertem Selbstbewußtsein erfüllt ist.

Schließlich gab ich mich mit dem sachlichen Begriff <Überlebender> zufrieden. Ich hoffe, darin die nötige Achtung für diese Menschen zum Ausdruck zu bringen. Ich möchte keine strenge Norm erstellen, nach der <gute> Überlebende ihre Erfahrungen in ein gesundes Leben umsetzen und <schlechte> Überlebende ihr Leben lediglich ertragen. 

Wenn wir daran interessiert sind, unser Wissen über die Möglichkeiten der Umsetzung zu vertiefen, müssen wir unser Herz und unsere Seele öffnen. Vielleicht wissen wir eines Tages genug, um unsere Sprache zu verbessern und Begriffe für die Hoffnung und Genesung zu finden, die der Begriff <Überleben> nicht umfaßt.

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