Michail Ryklin

Der "verfluchte Orden"

Schalamov, Solschenizyn
und die Kriminellen

Zeitschrift "Osteuropa"
57. Jahrgang, 6/2007, S. 107-124

 

 

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In den Lagern des Gulag spielten Berufskriminelle eine bedeutende Rolle. Sie agierten wie ein Orden mit eigenen Gesetzen und Praktiken. Solzenicyn imponierten die Kriminellen, Salamov verachtete sie als Un-Menschen.

In den Formen und der Ausübung der Macht finden sich überraschende Parallelen zwischen den Kriminellen im Lager und der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, in der die politische Polizei, die sich selbst als Orden verstand, zentrales Machtinstrument war.

Die Herrschaft basierte auf denselben Mitteln: der Denunziation, der Angst, Zynismus und Verachtung jeglicher menschlicher Solidarität und des Privateigentums.

Die Annäherung der sowjetischen Ideologie an das kriminelle Milieu ist kein Mißverständnis, kein Fehler; sie ist dieser Ideologie inhärent. Die Schatten reichen bis in die Gegenwart.

 


 

Varlam Salamov hat aus seiner Lagerhaft ganz andere Schlüsse als Aleksandr Solzenicyn gezogen.

Solzenicyn steht in der Tradition der klassischen russischen Literatur - in seiner Prosa finden sich traditionelle Themen wie das Motiv des „kleinen Menschen" oder die Vorstellung von Reinigung durch Leiden. Auch dem Lager schreibt er mitunter eine kathartische Funktion zu.

Diese Möglichkeit bestreitet Salamov. Er betrachtet das Lager als eine ausschließlich negative Erfahrung, die kein Mensch machen sollte, die sowohl für die Opfer als auch für ihre Henker gleichermaßen destruktiv ist.1

Gleichwohl hielt Salamov es für seine moralische Pflicht als Schriftsteller, der vom Baum der Erkenntnis des absoluten Bösen gekostet hat, über diese Erfahrung zu berichten, ohne dabei die Innenperspektive zu verlassen. Seine Kolymskie rasskazy (Erzählungen aus Kolyma) sind von nie dagewesener Radikalität. Ihr Autor scheint literarisches Neuland zu betreten, wo er sich nur mit Mühe seinen Weg bahnen kann. Salamov verortet seine Haft weder in einem sozialen, noch in einem historischen Kontext und ist bemüht, sie nicht aus einer Außenperspektive zu betrachten. Durch diese Selbstbeschränkung wird auch dem Leser einiges abverlangt; auch er hat einen dornenvollen Weg durch literarisches Neuland zurückzulegen, kann sich dabei nicht auf literarische Analogien stützen und wird mit Unbekanntem konfrontiert.


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Die einfachen Menschen werden bei Salamov - im Unterschied zu Ivan Denisovic und Solzenicyns anderen „kleinen Leuten" - nicht mit Empathie gezeichnet. Von ihnen kann man nichts lernen, sie sind genauso ein Teil des Lagerstaubes wie alles andere auch. Selbst menschlicher Anstand, den zu wahren im Gulag übermenschliche, unvergleichliche Kraftanstrengungen kostete, wird in den Erzählungen aus Kolyma ohne jedes Pathos und bar jeglicher moralischen Überhöhung dargestellt, als sei er etwas Alltägliches und Gewöhnliches.

Anders bei Solzenicyn: Einerseits verurteilt er die Welt der stalinistischen Lager, andererseits findet er dort Helden, die Widerstand leisten - Gläubige, Wissenschaftler, Trotzkisten. Vor diesem Hintergrund erscheint auch der Untertitel seines opus magnum, „Versuch einer künstlerischen Untersuchung" passend gewählt: Der Autor ist darin als Richter stets präsent.2 Salamovs Prosa ist Literatur und historisches Zeugnis zugleich; sie speist sich aus der persönlichen Erfahrung des Autors. Daher die vielen Redundanzen in seinen Erzählungen, die zu beseitigen er sich kategorisch weigert.3 Salamov wiederholt lieber mehrmals das Gleiche, als auch nur ein einziges Mal etwas dazu zu erfinden; paradoxerweise ist Literatur für Salamov dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht fiktional ist: „Man muß und kann eine Erzählung schreiben, die von einem Dokument nicht zu unterscheiden ist."4 Mit Reportagen habe dies dennoch nichts gemein. Seine Erzählungen, betont er immer wieder, seien keine faktographischen Skizzen (ocerki).5 In seinem späten literarischen Manifest O proze (Über Prosa) zieht Salamov eine Bilanz seines Schaffens:

Der Autor der Erzählungen aus Kolyma hält das Lager für eine Negativerfahrung für den Menschen - von der ersten bis zur letzten Stunde. Der Mensch soll es nicht kennen, soll nicht einmal davon hören. Kein einziger Mensch wird besser oder stärker nach dem Lager. Das Lager ist eine Negativerfahrung, eine negative Schule, es wirkt zersetzend auf alle - auf Chefs und Häftlinge, auf Begleitposten und Zuschauer, auf Passanten und Leser von Belletristik. [. . .] In den Erzählungen aus Kolyma werden Menschen ohne Biographie, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft dargestellt. Die Erzählungen aus Kolyma - das ist das Schicksal von Märtyrern, die keine Helden waren, sein konnten und wurden.6

 

2 Der Untertitel der deutschen Ausgabe lautet in sehr freier Übersetzung: „Versuch einer künstlerischen Bewältigung"; Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG. 1918-1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung. Reinbek 1988.
Zitate aus Archipel GULAG folgen größtenteils dieser Übersetzung. An die in diesem Text verwendete Terminologie sind lediglich einzelne Begriffe angeglichen, die Salamov und Solzenicyn verwenden, in den vorliegenden deutschen Übersetzungen aber unterschiedlich übersetzt wurden - Red.

3 Vgl. Varlam Salamov: O proze, in: ders.: Kolymskie rasskazy v dvuch tomach. Moskva 1992, Bd. 2, S. 413-423, hier S. 421. - Dokumentiert in diesem Heft, S. 183-194.

4 Ebd., S. 416.

5 Ebd.

6 Ebd.


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Da das Lager aber in der Sowjetunion zum Teil des Lebens von Millionen von Menschen geworden ist, deren Angehörige, Freunde oder Bekannte nicht aus den Lagern zurückgekehrt sind, sei der Bedarf an Dokumenten außerordentlich groß. Aus diesem Grund gewinnt die Erzählung über die Lagererfahrung, die an sich nur negativ, steril und ohne Bezug zur Welt außerhalb des Lagers ist („Menschen ohne Biographien"), für Salamov an Bedeutung, mehr noch, sie wird zur schriftstellerischen Pflicht.

 

Häftlinge als Märtyrer

 

Warum aber erachtet Salamov die nach dem berühmt-berüchtigten Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches („konterrevolutionäre Tätigkeit") Verurteilten, über die und in deren Namen er vorwiegend schreibt, als Märtyrer? Traditionell gilt als Märtyrer jemand, der ein Opfer für etwas Höhere bringt, das Leben für etwas Transzendentes hingibt. Märtyrer waren Menschen, die von einer äußerst starken religiösen Motivation geleitet waren, die die Gesetze dieser Welt mißachteten und sich um einen Heiland scharten, um den Weg zum Transzendenten als dem Eigentlichen zu finden; per Analogieschluß konnte man auch Revolutionäre als Märtyrer betrachten. Im Gulag gab es sowohl religiöse Märtyrer als auch „gläubige" Revolutionäre, es gab Menschen, die mit Stalins Namen auf den Lippen starben, und Kriminelle, die ihr Leben für ihren Ehrenkodex (vorovskoj zakon) opferten.

Doch litt die große Mehrheit der nach Artikel 58 Verurteilten nicht für eine Idee. Ihr „Verbrechen" wurde konstruiert und während der Untersuchung auf ihren Körper geschrieben; sie selbst hielten sich für völlig unschuldig. Weshalb haben diese Menschen gelitten? Wozu haben sie die physischen Überreste ihres geistig bereits beendeten Lebens bewahrt? Solzenicyn geht hart mit ihnen ins Gericht und nennt sie „politisches Pack"7:

Wie wenig braucht es [...],
um zu kämpfen und zu siegen -
nur den
Einsatz des Lebens!
Eines Lebens, das ohnedies verspielt war.8

Als Vorbild führt er eine Gruppe gefangener japanischer Offiziere an, die aus Protest gegen die Willkür der Kriminellen im Lager drohte, sich nach dem traditionellen Seppuku-Ritual der Reihe nach umzubringen.9 Die Lagerverwaltung bekam es mit der Angst zu tun und verbesserte ihre Haftbedingungen.

Doch die meisten Gefangenen nahmen ihr Martyrium ohne ein höheres Ziel auf sich; sie starben oder überlebten ohne Ziel. Genauer gesagt: Der Erhalt des Lebens war und blieb das einzige Ziel, auch für die Menschen an der Schwelle des Todes (dochodja-gä), die zu keiner Arbeit mehr in der Lage waren. Sie bewahrten sich ihr Leben, als die Grenzen des Lebens bereits überschritten waren, und Salamov versteht sie angesichts der unvorstellbaren Unmenschlichkeit der Haft als Märtyrer. Er sah ihr Verhalten in einem ganz anderen Licht. Er respektierte das Martyrium eines Lebens, das sich selbst mit allen Mitteln zu erhalten versucht.

7 Solzenicyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil III, Bd. 2, S. 282.

8 Ebd., S. 283, Hervorhebung im Original.

9 Bei dem Ritual, das in den europäischen Sprachen mit dem allerdings pejorativen Ausdruck Harakiri bezeichnet wird, schnitten sich Samurai die Bauchhöhle auf und ließen sich anschließend den Kopf abschlagen.


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Für Salamov waren es keine religiösen Märtyrer, die ihr Leben für etwas opferten, das wertvoller gewesen wäre als das Leben selbst; es waren auch keine revolutionären Märtyrer, die nach einem anderen, idealen Leben strebten. Bei Salamov haben wir es mit einem Leben jenseits jeglicher geistiger Anverwandlung zu tun, mit dem biologischen Rest des Lebens. Salamov enthielt sich des Urteils über jene, die diese Erfahrung gemacht haben; er wußte, daß allein schon die „allgemeinen Arbeiten"10 im Lager das Leben Jedes Menschen schnell auf seinen biologischen Rest reduzieren. Wer sein Leben jenseits des Lebens erhält, ist für Salamov ein Märtyrer.

Da Solzenicyn der Lagerhaft eine Moral unterstellt, ordnet er die Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, auch in eine Hierarchie ein. Aus seiner Verachtung für die nach Artikel 58 verurteilten „pseudopolitischen" Häftlinge macht er kein Hehl und stellt ihnen Märtyrer im traditionellen Verständnis gegenüber: Gläubige, Angehörige der alten Intelligenzija, Anhänger der agrarsozialistischen Ideen der Narodnaja volja. Sie alle gaben sich nicht mit dem bloßen Überleben zufrieden.

Solzenicyn schrieb seine Geschichte des Gulag aus der Perspektive des Widerstandes gegen das unmenschliche Regime. Salamov hingegen betrieb keine Geschichtsschreibung, er lieferte eine Momentaufnahme des Gulag, in deren Fokus die absolute Unmenschlichkeit steht. Solzenicyns Moralismus setzt er sein Staunen über die wachsende Macht des Unmenschlichen und über dessen Eindringen ins innerste Gewebe des Lebens entgegen. Einzig und allein vor diesem Hintergrund gelten ihm diejenigen, die ihr nacktes Leben erhalten, als Märtyrer.

Im Unterschied zu Solzenicyn wollte Salamov die Lagererfahrung nicht auf eine Formel bringen. Er war im Gulag einigen wahren Helden begegnet, aber auch sie sah er aus der Perspektive einer einzigen, grundlegenden Erfahrung: der des bloßen Überlebens.11 In seinen Erzählzyklen Kolymskie rasskazy (Erzählungen aus Kolyma), Master lopaty (Künstler der Schaufel), Levyj bereg (Das linke Ufer), Voskresenie listvennicy (Die Auferweckung der Lärche), Percatka (Der Handschuh) hat Salamov eine Poetik der Hoffnungslosigkeit entfaltet, doch wie ein Wunder dringt durch diese Hoffnungslosigkeit der Lichtstrahl des geretteten menschlichen Lebens.

 

Skizzen aus der Verbrecherwelt

 

Außer den fünf genannten Erzählzyklen schrieb Salamov noch einen weiteren, Ocerki prestupnogo mira (Skizzen aus der Verbrecherwelt). Er enthält die am wenigsten „literarischen" Texte seines CEuvres, doch lohnt es sich besonders, das, was Salamov dort über das Verhältnis von politischen Häftlingen und Kriminellen schreibt, mit Solzenicyns Archipel Gulag zu vergleichen.

10 So wurde die „reguläre" physische Zwangsarbeit auf den Baustellen, in den Minen und den Holzeinschlägen im Unterschied zu den erleichterten Arbeiten, etwa im Krankenhaus oder in der Küche, bezeichnet.

11 Nicht von ungefähr vergleicht Salamov die Märtyrer des Gulag mit der Legföhre, der anspruchslosesten Baumart des Nordens. „Er [der Baum] ist hartnäckig und tapfer wie alle nördlichen Bäume." - „Für mich war die Föhre immer der poetischste russische Baum." Warlam Schalamow: Die Legföhre, in: ders.: Geschichten aus Kolyma. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 52-54, hier S. 52; S. 54.


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Salamov wirft der Weltliteratur - allen voran den russischen Klassikern - vor, die Welt der Ganoven zu idealisieren, zu „einfühlend", ja „unterwürfig" zu sein.12 Salamov ist der Meinung, die Schriftsteller hätten die Welt der Kriminellen anhand von Menschen beurteilt, die in Wirklichkeit keine echten Kriminellen (blatnye), keine kriminellen Autoritäten (vory v zakone) gewesen seien. Als Beispiel nennt er Victor Hugos Les miserables (Die Elenden), Dostoevskijs Zapiski iz mertvogo doma (Aufzeichnungen aus einem Totenhaus), Tolstojs Voskresenie (Auferstehung), Cechovs Ostrov Sachalin (Die Insel Sachalin) und Gor'kijs Celkas:

[D]ies ist nicht die Welt der echten Kriminellen, nicht die Welt der Ganoven. Es sind einfach nur Menschen, die mit der negativen Kraft des Gesetzes konfrontiert wurden, zufällig konfrontiert, die im Dunklen irgendeine Grenze überschritten haben [...]. Die Welt der echten Kriminellen ist dagegen eine Welt, in der ein besonderes Gesetz gilt.13

Die Schriftsteller hätten die Welt der echten Kriminellen entweder gar nicht gekannt oder hätten sie ignoriert. Ähnlich bestimmt auch Solzenicyn die „besondere" Welt der Kriminellen:

[W]as hat das Wort Frajer für sie zu bedeuten? Ein Frajer sein, heißt, zur Menschheit gehören, zum anderen, normalen Menschengeschlecht. Und eben diese Menschenwelt, diese unsere Welt, mit ihrer Moral, ihren Lebensgewohnheiten und ihrem Gemeinsinn, ist den Kriminellen am meisten verhaßt, wird von ihnen am schärfsten verlacht.14

In Salamovs Darstellung erscheint die Welt der Kriminellen als etwas vollständig separates. Ein Krimineller ist nicht etwa jemand, der gestohlen, gemordet oder geraubt hat; es ist nicht der Störenfried, vor dem sich die einfachen Bürger fürchten. Auch wenn ein Verbrecher die ungeheuerlichsten Straftaten begangen hat, bedeutet das noch lange nicht, daß er ein echter Krimineller ist.

Echte Kriminelle seien, wie Salamov sagt, „Talmudisten".15 Ein Krimineller, ein vollwertiges Mitglied des „verfluchten Ordens", lebt nach einem Ehrenkodex und ist in der Lage, dieses „Gesetz" an wechselnde Umstände anzupassen. Kurzum, es ist jemand, dessen Autorität von den anderen Kriminellen respektiert wird. Salamov zufolge ist dieses Milieu endogam, für Außenstehende unzugänglich und rekrutiert sich fast ausschließlich aus Kreisen der Angehörigen von Berufsverbrechern:

Um ein „guter", echter Dieb zu sein, muß man als Dieb zur Welt kommen; nur diejenigen, die seit ihren jüngsten Jahren mit Dieben in Verbindung gestanden haben, und zwar mit „guten, bekannten Dieben", die die langjährige Schule des Gefängnisses, des Diebstahls und der Erziehung zu einem Berufskriminellen vollständig durchlaufen haben, dürfen über die wichtigen Fragen des Kriminellenlebens entscheiden.16

12 Varlam Salamov: Ob odnoj osibke chudozestvennoj literatury, in: ders.: Kolymskie rasskazy [Fn. 3], Bd. 1, S. 336-339, hier, S. 336.

13 Ebd., S. 337.

14 Solschenizyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil III, Bd. 2, S. 405; Hervorhebung im Original.

15 Varlam Salamov: Zul'niceskaja krov', ders.: Kolymskie rasskazy. Sobranie socinenij v cetyrech tomach, Bd. 2. Moskva 1998, S. 343.

16 Ebd., S. 340.


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Wenn man die Kriminellen derart isoliert von ihrer sozialen Umwelt betrachtet, muß man sie zwangsläufig dämonisieren und dem Wort „Orden" etwas Geheimes, Esoterisches verleihen. Obwohl er sie so haßt, bezeichnet Salamov die Kriminellen immer wieder mit Ausdrücken wie „Aristokratie", „höhere kriminelle Kreise", „Spitzen der kriminellen Welt", „Autoritäten".

Es gibt noch eine weitere Unstimmigkeit: Frauen werden im Milieu der Kriminellen verachtet und gelten als niedere Wesen. Wenn ein Krimineller ins Gefängnis kommt, wird seine Braut an eine andere „Autorität" weitergereicht. Unter den Berufsverbrechern sind keine emotionalen Bindungen zwischen Mann und Frau und somit keine Familien möglich. Wenn dem so ist, wie kann die Welt der Kriminellen dann endogam sein und sich aus Familienangehörigen rekrutieren?

Sogar den unter den Kriminellen gepflegten Mutterkult entlarvt Salamov als Heuchelei: Wie kann man die Mutter verehren, wenn man Frauen für niedere Wesen hält? Bei Salamov versammeln sich die Kriminellen zu ihren „Sitzungen" (pravilka), spielen Karten, nehmen den „Politischen" Geld, Essen und Kleidung ab; oft sind sie homosexuell, manchmal sodomitisch. Ihre Grausamkeit kennt keine Grenzen. In der Skizze Zul'niceskaja krov' (Ganovenblut) heißt es dazu:

Alles, was die Frajer tun, nimmt sich im Vergleich zu den wilden Szenen des Kriminellenalltags äußerst unschuldig aus.17

Im Selbstbild der Kriminellen, in ihrem Ehrenkodex, auch in der Wahrnehmung der „Politischen" arbeiten die Verbrecher nicht für die Lagerverwaltung, gehen nicht zum NKVD-Offizier im Lager, um andere zu denunzieren, sondern bestrafen ihre Verräter. So erscheint das Gesetz der Kriminellen als etwas Positives. Tatsächlich aber gibt es jenseits des Menschlichen kein Gesetz, sondern nur den Naturzustand: Auf Schritt und Tritt ist zu beobachten, wie das antisoziale Grundprinzip der kriminellen Welt von der Lagerverwaltung als sozialer Faktor instrumentalisiert wird. Kollaborieren die Kriminellen etwa nicht mit dem Machtapparat - was einen Verstoß gegen ihr eigenes Gesetz darstellt -, wenn sie die ihnen zugewiesene Rolle ausfüllen und diejenigen bestehlen und ausrauben, auf die sie gehetzt werden? Waren sie, die Un-Menschen, etwa aus purem Zufall der Staatsmacht näher als die anderen sowjetischen Bürger?

 

Die „Umschmiedung"

 

Salamov und Solzenicyn glauben, die Welt der Kriminellen existiere schon viele Jahrhunderte. Sie gründen dieses Urteil auf ihre Erfahrung im Lager, wo sie unmittelbar mit solchen Verbrechern zusammenstießen. Die Beschreibungen dieses Milieus bei ihren literarischen Vorläufern halten sie für äußerst unrealistisch. Ihren Höhepunkt habe die Idealisierung der Kriminellen in der Sowjetzeit erreicht:

[E]s scheint, als hätten alle Schriftsteller [Salamov nennt u.a. Babel', Kaverin, Leonov sowie Il'f und Petrov - M.R.] der plötzlichen Nachfrage nach Ganovenromantik ihren Tribut gezollt. Die ungebremste Poetisierung der Kriminellen gab sich für eine neue literarische Strömung aus und verführte viele erfahrene Literaten. Trotz äußerst mangelhafter Sachkenntnis [...] hatten sie Erfolg bei den Lesern und richteten folglich beträchtlichen Schaden an.18

 

7 Ebd., S. 346.
8 Salamov, Ob odnoj osibke [Fn. 12], hier, S. 338.


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So entstand die Vorstellung, man könne die Kriminellen umerziehen, „umschmieden" (perekovkä). Daher habe die Sowjetmacht sie auch ganz offiziell als „sozial-nahe Elemente" betrachtet.

Salamov und Solzenicyn sehen darin eine Fehleinschätzung, ein Mißverständnis, das zwar schlimme Folgen gehabt habe, aber nicht beabsichtigt gewesen und auf die mangelnde Kenntnis der geschlossenen Welt der Kriminellen zurückzuführen sei. Weder Solzenicyn noch Salamov sehen, daß die massive soziale Aufwertung der Kriminellen ein konstitutiver Bestandteil der sowjetischen Politik war. Solzenicyn geht davon aus, daß die großangelegte soziale Aufwertung des kriminellen Milieus und seine Vereinnahmung als Verbündeter im Kampf gegen die am Fließband des präventiven Terrors erzeugten „politischen Gegner" eine Besonderheit der Stalinzeit gewesen sei. Nicht Willkür der Vollstrecker sei es gewesen, sondern „hohe Theorie":

Sobald aber diese schön gedrechselte Theorie auf den Boden der Lagerwirklichkeit herabsank, ergab sich folgendes: Die abgefeimtesten Verbrecher gewannen eine gänzlich unkontrollierte Macht über die Inseln des Archipels, sie herrschten über die Bevölkerung ihres Reiches, über die Bauern, Kleinbürger und Intellektuellen, sie verfügten über eine Machtvollkommenheit, wie sie sie niemals und in keinem Lande je besessen und in der freien Welt draußen niemals sich erträumt haben konnten - hier auf dem Archipel waren ihnen alle übrigen Menschen als Sklaven ausgeliefert.19

Entscheidend ist die Wendung „ihres Reiches".

Es fragt sich, inwiefern Stalins Bol'seviki, die einen neuen Menschen schaffen wollten, das alte, ererbte menschliche Material (Bauern, Kleinbürger, Intelligenz) als zu „ihrer" Welt gehörig betrachteten. Vieles spricht dafür, daß diese Schichten ihnen am fremdesten und deshalb zur radikalen Umformung verurteilt waren.

Die meisten der nach Artikel 58 Verurteilten „Politischen" aber glaubten, daß ihre Lagerhaft ein Mißverständnis sei. Daß im Lager die Kriminellen als „sozial-nahe Elemente" höher in der Hierarchie standen als sie, die Sowjetmenschen, empfanden sie als tragische Fehlentwicklung, als zusätzliche, völlig unnötige Grausamkeit, unter der die ohnehin unschuldig bestraften Menschen zu leiden hatten. Sie waren nicht in der Lage, sich selbst mit den Augen der neuen Staatsmacht und ihrer wichtigsten Organe zu betrachten: der Kommunistischen Partei, der Staatsanwaltschaft und vor allem der politischen Polizei vom NKVD.

Eignet man sich dagegen eine revolutionäre Optik an, so erscheinen aus dieser - extremen - Perspektive gerade die „ideologischen" Verbrechen, welche die neue Staatsmacht massenhaft konstruierte, tatsächlich gefährlicher als herkömmliche Straftaten.

Die Lage war paradox. Jene, die nach dem Ehrenkodex der Kriminellen lebten, haßten die Welt der gewöhnlichen Menschen und deren Gesetze; die Sowjetmacht aber erklärte sie zu „sozial-nahen Elementen", die umerzogen werden können und daher zahlreiche Privilegien verdienen.

Die nach Artikel 58 Verurteilten zahlten dagegen einen unverhältnismäßig hohen Preis dafür, daß die neue Staatsmacht sie - willkürlich, wie ihnen damals schien - als ihre politischen Gegner brandmarkte.

Solschenizyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil III, Bd. 2, S. 396, Hervorhebung M.R.


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Hier bitte zweiseitig [!!!]

Abbildung: Zeitung.tif

Bildunterschrift:

Perekovka (Umschmiedung). Lagerzeitung aus dem Lager Solovki, 1931

 


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Ganz unterschiedliche Menschen, die man willkürlich zu politischen Verbrechern erklärte, wurden nicht nur durch unzumutbare Arbeit zu Tode gequält, sondern auch den Berufskriminellen ausgeliefert, die sie zynisch zum Äußersten trieben.

Es war aber durchaus kein Mißverständnis, daß Stalins Machtapparat seine Verbündeten bei der Bekämpfung der „Faschisten" - wie die nach Artikel 58 Verurteilten von anderen Gulag-Häftlingen genannt wurden - aus dem Kriminellenmilieu rekrutierte. Auch die sowjetischen Schriftsteller besangen die Tugenden der Berufskriminellen nicht aus Naivität: Ohne die soziale Aufwertung der Kriminellen wäre der präventive Terror niemals derart allumfassend geworden.

Vor der Sowjetzeit gab es keine echten Kriminellen, zumindest nicht in der Gestalt, wie sie später den Gulag-Häftlingen begegneten. Aus historischer Distanz betrachtet, stellt sich das Verhältnis zwischen den Kriminellen mit ihrem Ehrenkodex und der Stalinschen Staatsmacht als weit komplexer und intimer dar, als es selbst so herausragenden Beobachtern - und Opfern - dieses Schulterschlusses wie Salamov erschien.

Während der gesamten Sowjetepoche, vor allem aber in der Stalinzeit, klaffte eine gewaltige Schere zwischen der Eigenwahrnehmung der nach dem „politischen" Artikel 58 Verurteilten - die sich als zufällige Opfer der Willkür, als unschuldig bestrafte Sowjetmenschen begriffen - und der Beurteilung dieser Menschen durch die Partei-und Polizeimaschinerie. Obwohl diese Maschinerie die Berufskriminellen zu „sozialnahen Elementen" erhob und ihnen die „Faschisten" voll und ganz auslieferte, wurde die eigentliche repressive Rolle dieser Maschinerie den meisten „Märtyrern" sorgsam verborgen. Deshalb empfanden sie ihr Schicksal als absurdes Mißverständnis, das sich alsbald geklärt haben würde. Vermutlich war dieses Mißverständnis eine wichtige Voraussetzung für das Überleben der Menschen, die über die Grenzen des Lebens hinausgeschleudert worden waren.

Wer so dachte, mußte allerdings die Schuld des Regimes - dessen unbewußte, sich jeder Entschlüsselung entziehende Tiefenlogik, die dem Verständnis der Opfer und der Henker gleichermaßen entglitt - auf die Kriminellen projizieren.

In Salamovs Erzählung Krasny kr est (Rotes Kreuz) heißt es:

Der Chef ist grob und hart, der Erzieher verlogen, der Arzt gewissenlos, doch all das sind Bagatellen im Vergleich zur zersetzenden Kraft der Ganovenwelt. Die anderen bleiben dennoch Menschen, und ab und zu schaut das Menschliche in ihnen durch. Doch die Ganoven sind keine Menschen. Der Einfluß ihrer Moral auf das Legerleben ist grenzenlos und allseitig. Das Lager ist von A bis Z eine negative Schule des Lebens.20

Salamov verortet die Kriminellen jenseits der menschlichen Welt - für ihn sind sie Un-Menschen. Wie KZ-Häftlinge ihre Kapos und nicht Himmler und Eichmann haßten, so haßten die nach Artikel 58 verurteilten Gulag-Häftlinge vor allem die Berufsverbrecher und ihre unmittelbaren Vorgesetzten, nicht den Staatsanwalt der UdSSR Andrej Vysinskij oder den Leiter des NKVD Lavrentij Berija (von Stalin ganz zu schweigen).

Die sowjetische ökonomische Rationalität, der Sonderstatus der Kommunistischen Partei und die Struktur ihrer Repressionsorgane haben die Häftlinge selbst am wenigsten beschäftigt.

Warlam Schalamow: Rotes Kreuz, in: ders.: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma, I. Berlin 2007, S. 225-263, hier S. 232. Hervorhebung M.R.


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Was ihnen als schrecklicher Zufall erschien, fand - leider - mit Vorsatz und nach Plan statt und gab dem „verfluchten Orden" die Macht über die Feinde des Parteiordens.

Aus alter Gewohnheit setzten die Opfer des Stalinismus Macht mit Recht gleich und waren ratlos, warum die Staatsmacht sich auf die Seite jener schlug, die Recht und Gesetz offenkundig haßten. Wer das Lager überleben wollte, mußte Glück haben, aber auch einen ungeheuren Willen; beim Kampf um das Überleben jenseits des Lebens half der Glaube an einen Irrtum. Was aber soll man dann über die Partei- und Polizeimaschinerie sagen, die diese unmenschliche Welt möglich macht? Zu dieser Maschine gehören nicht nur der Lagerleiter, der Erzieher, der Arzt und der „Gevatter" (der NKVD-Offizier, der Lagerhäftlinge zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst anwirbt, russ. kum); die Maschinerie reicht viel weiter, bis in die höheren Sphären der Theorie, in Lenins Lehre von der Unfehlbarkeit der Partei, die die einzig wahre und richtige Auslegung der historischen Gesetzmäßigkeiten besitzt, in Stalins Doktrin von der Verschärfung der Gegensätze im Zuge des fortschreitenden Aufbaus des Sozialismus, in zahllose gesetzeswidrige Erlasse und Beschlüsse des Politbüros.

Der „verfluchte Orden", wie Salamov und Millionen anderer Menschen ihn kennenlernen mußten, war nicht nur keine schon ewig bestehende Struktur, sondern das Produkt jener Machtökonomie, die sich nach der Stalinschen Revolution - der Zwangskollektivierung der Jahre 1929-1933 - festigte.

Von den Kriminellen wurde gar nicht erwartet, daß sie sich „umschmieden" lassen. Vielmehr erschienen ihre Straftaten vom Standpunkt der Selbsterhaltung dieses Machttyps als unbedeutend. Denn die Sowjetmacht stützte sich von Anfang an auf Verbrechen und auf die Mißachtung des Gesetzes, das sie als bloßen Deckmantel benutzte; das Ausmaß ihrer eigenen Verbrechen ließ herkömmliche Straftaten als Lappalien erscheinen. Die totale Umformung des von der zaristischen Vergangenheit geerbten menschlichen Materials, die auf die Enteignung folgte, beseitigte alle traditionellen Vorstellungen davon, was ein Verbrechen sei.

Viele Erscheinungsformen des stalinistischen Regimes zeugen von der größeren Affinität des Regimes zur Welt der Kriminellen als zu der Welt ganzer Kategorien normaler Bürger, die in ihrer Gesamtheit zu politischen Gegnern erklärt wurden. Die politische Geheimpolizei habe, so ist im Archipel Gulag zu lesen, viel von den Berufskriminellen gelernt:

Wer hat wen umerzogen? Die Tschekisten die Kriminellen? Oder die Kriminellen die Tschekisten? Ein Krimineller, der zum tschekistischen Glauben übertrat, war bereits ein Suka, ein Hundesohn, dem wurde von den ehemaligen Kumpanen der Garaus gemacht. Ein Tschekist aber, der sich die Psychologie eines Kriminellen zu eigen machte, ward ein zielstrebiger Untersuchungsrichter der dreißiger und vierziger Jahre oder ein tatkräftiger Lagerkommandant, hochgeehrt und rasch befördert.21

Die totalitäre Welt und die der Berufsverbrecher haben auch gemeinsam, daß sie beide das Gegenteil des Transzendenten, radikal diesseitsbezogen sind. Der Unterschied besteht allein darin, daß die Kriminellen alle Formen des Sozialen negierten, während Stalins Partei- und Polizeiapparat nur die spontane Idee gnadenlos im Keim erstickte: das, was Menschen potentiell miteinander verbinden könnte.

Solschenizyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil III, Bd. 2, S. 389f.


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Die Agenten der neuen Macht hielten alle, von denen sie glaubten, sie könnten fremde Ideen vertreten, für wesentlich gefährlicher als die Berufsverbrecher, die die unbedeutende materielle Seite des Stalinschen Kosmos angriffen. Nach der Zwangskollektivierung verknöcherte die offizielle Ideologie, die fortan mit Stalins Namen gleichgesetzt wurde; bereits die Möglichkeit einer Abweichung von dieser Ideologie wurde zum schwersten Verbrechen. Die zu Tode eingeschüchterte Gesellschaft schützte sich gegen den Universalverdacht einer aufrührerischen Gesinnung mit Denunziationen; eine wahre Denunziationsepidemie wütete sowohl in der - nur noch bedingt existierenden - Freiheit als auch hinter dem Stacheldraht. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte wurde die Anwerbung durch die Geheimdienste allumfassend. Die allmächtigen „Organe", der NKVD, erhielten die Lizenz zur Massenproduktion von „Volksfeinden". In einer seiner Erzählungen bezeichnet Salamov das Denunziantentum als „höhere Naturgewalt", der gegenüber er völlig machtlos sei:

[I]ch bin es gewohnt, auf Gespräche über Spitzel und Denunzianten wenig zu achten. Gegenüber dieser höheren Naturgewalt bin ich völlig machtlos.22

Kaum hat der Protagonist der Erzählung Esperanto, der unverkennbar autobiographische Züge trägt, den Satz ausgesprochen: „Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen den Kriminellen, die uns berauben, und dem Staat" , wird er unverzüglich denunziert (obwohl dergleichen sicher nur im Kreise von Menschen gesagt wurde, denen man vertraute).

Neben den Berufskriminellen gab es im Lager einen weiteren Orden, dessen Mitglieder durch eine geheime Ordensbindung zusammengeschweißt wurden: die Einsatzbevollmächtigten (pperupolnomocennyj), die sogenannten „Gevatter" (kumov'ja), die mit allen Mitteln Denunzianten anwarben und dadurch die ohnehin schwachen sozialen Beziehungen unter den „politischen" Häftlingen, die Basis ihrer Solidarität zerstörten. Ihre Zielvorgaben erhielten die „Gevatter" eindeutig von der Partei, doch die Wahl der Methoden blieb ihnen überlassen. Sie waren es, die den „neuen Menschen" in der Freiheit und hinter Stacheldraht formten.

Die einzige Gruppe von Häftlingen, die trotz ihrer Anerkennung als „sozial Nahestehende" grundsätzlich nicht angeworben werden konnten, waren die Berufskriminellen, die ihrem Ehrenkodex gehorchten. Dieser Kodex verbot ihnen unter Androhung der Todesstrafe, mit der Staatsmacht zu kollaborieren - offen bleibt allerdings, wie streng dieser Kodex unter den Extrembedingungen der Kolyma-Lager eingehalten wurde. An diesem Punkt trennen sich die Wege der beiden Zeitzeugen Solzenicyn und Salamov. Während Salamov seiner Losung „Karthago muß zerstört werden! Die Unterwelt muß vernichtet werden!"24 treu bleibt und sie sowohl in seinen Erzählungen als auch in den Skizzen immer wieder auf verschiedene Art wiederholt, beschließt Solzenicyn, der im Archipel Gulagdie „kriminellen Blutsauger" (vol'nica vudarlakov) zu-

 

22 Varlam Salamov: Jakov Ovseevic Zavodnik, in: ders.: Kolymskie rasskazy [Fn. 3], Bd. 2, S. 353-361, hier S. 355.

23 Varlam Salamov: Esperanto, in: ders.: Geschichten aus Kolyma [Fn. 11], S. 313-320, hier S. 316.

24 Varlam Salamov: Kak „tiskajut römany", in: ders.: Kolymskie rasskazy [Fn. 3], Bd. 2, S. 429-435, hier S. 435.


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nächst verurteilte, seine Notizen über die „sozial-nahen Elemente" mit ihrer Rechtfertigung: „Auch zu Ehren der Kriminellen sei ein Wort gesagt."25 Was aber bringt Solzenicyn zu ihrer Ehrenrettung vor?

Erstens hätten die Berufskriminellen eine Art Ehrenkodex und einen Begriff der Ehre, die allerdings nicht in patriotischer Gesinnung bestünden, wie es die Sowjetmacht gerne sähe, sondern darin, daß sie „vollkommen konsequente Materialisten und ebenso konsequente Piraten sind. Und so sehr sich die Diktatur des Proletariats ihrer auch annahm - geachtet haben sie diese keinen Augenblick lang."26

Zweitens, so Solzenicyn, wollten sie leben - leben um jeden Preis. Da sie aber wußten, daß sie die Hälfte ihres Lebens in Gefängnissen und Lagern verbringen würden, wollten sie auch dort „von den süßen Früchten pflücken", nutzten ihren „Ungehorsam weidlich aus" und kümmerten sich nicht um jene, „die den Kopf einziehen und als Sklaven sterben".27 Zu essen holen sie sich bei den anderen; um etwas zu trinken zu bekommen, verkaufen sie das, was sie den „Sklaven" gestohlen haben, für Wodka an die Wachmannschaft. Hier tut sich eine ethische Kluft zwischen Salamov und Solzenicyn auf: Solzenicyn bringt es fertig, die Meinung der Berufskriminellen über das „politische Pack" zu übernehmen und nennt die nach Artikel 58 Verurteilten „Knechte", während Salamov die Meinung vertritt, politische Häftlinge seien „Märtyrer", ihre Feinde dagegen wilde Tiere, die keine Solidarität von ihren Opfern verdient haben. Drittens hätten die Berufskriminellen das Privateigentum nicht anerkannt und sich alles genommen, was ihnen unter die Finger kam, als gehöre es ihnen. Das Diebesgut verspielten sie dann ohne Verstand am Kartentisch, um anschließend die frajer erneut auszunehmen. Sie wollten nicht arbeiten; deshalb mußten jene zusätzlich für sie arbeiten, deren Kräfte schon die eigene Arbeit überstieg.

Somit wird ihr unverhohlenes Raubtierverhalten - das Solzenicyn an anderen Stellen zu verurteilen scheint - zur Ehrenrettung der Berufsverbrecher gewendet. Gegen Ende dieser Betrachtungen erfährt man zwar, daß den Berufskriminellen die übrige „Menschenwelt" verhaßt sei, kann sich aber trotzdem des Eindrucks nicht erwehren, daß Solzenicyn das Verhalten der Berufskriminellen weit mehr imponiert als jenes des „politischen Packs" und daß seine Sympathie - der, wie ich nochmals betonen möchte, eine gewisse Ambivalenz nicht abgeht - letztendlich den von Salamov als Un-Menschen bezeichneten Kriminellen gilt.

Dabei arbeiten sich beide an einem sehr ähnlichen, ja geradezu identischen Material ab. Fast könnte man meinen, daß sie miteinander intensiv über den „verfluchten Orden" diskutiert hätten.

Solzenicyn verurteilte das allumfassende System der Denunziation, das die „Organe" im Auftrag der Partei errichteten. Mit harten Worten sparte er dabei nicht und nannte es „Seelenräude"28 oder „Seelenkrebs".29 „Die Menschen lebten im Spannungsfeld des Verrats - und sie verwandten ihre besten Argumente auf seine Rechtfertigung."30 Im Archipel Gulag erfahren wir, daß einer von vier bis fünf Einwohnern der Städte ir-

Solschenizyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil III, Bd. 2, S. 400.

Ebd., S. 401.

Ebd.

Ebd., S. 580.

Ebd., S. 582.

Ebd., S. 579; Hervorhebung im Original.

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gendwann das Angebot bekam, als Informant zu arbeiten. „Vielleicht auch mehr"31 -fügt Solzenicyn hinzu. In einer Gesellschaft, in der die Anwerbung durch die Geheimdienste total und flächendeckend war, erforderte jeder Akt von Ungehorsam ein Maß an Mut, das in keinem Verhältnis zur Bedeutung der jeweiligen Sache stand -unter Stalin sei es, so Solzenicyn, riskanter gewesen, ein Waisenkind aufzunehmen, als unter Aleksandr IL Dynamit zu besitzen.

Salamov hingegen sah im Denunziantentum eine „höhere Naturgewalt", d.h. eine Erscheinung, deren Monstrosität von vornherein sein Urteilsvermögen überstieg; um so heftiger wetterte er gegen den „verfluchten Orden" der Berufskriminellen.

Das Schwert der Partei

Wenn also die Kriminellen aus der Nahperspektive des Lagers animalisch erschienen, so wurden die Bedingungen und Grenzen ihrer Grausamkeit doch durch das ihnen geheime Gesetz der Partei definiert, das die politische Polizei des Stalin-Regimes umsetzte. Der Kodex der Kriminellen wurde zu einem Transmissionsriemen eines weit mächtigeren, geheimeren und kriminelleren Gesetzes, mit dem der NKVD als „Schwert der Partei" ausgestattet worden war und das er mit beispielloser Brutalität umsetzte.

Der Orden der Hüter der Lehre schwebte über dem Gulag und ließ sich nie zu einem Dialog mit den Insassen herab. Die Häftlinge waren keine Bürger und noch weniger waren sie Genossen. Die Bol'seviki regierten zwar ein großes Land, doch eigentlich hatte sie den Untergrund, wo sie jahrelang aus dem Wirkungsbereich von Recht und Gesetz ausgeschlossen gewesen waren,32 nie wirklich verlassen und ihre konspirativen Methoden nie abgelegt. Nach der Machtübernahme brachten sie ihre Untergrunderfahrung in ihren Regierungsstil ein und verhängten den längsten Ausnahmezustand des 20. Jahrhunderts.

Ihre politische Polizei ist der Schlüssel zu diesem Geheimnis, sie offenbarte ihr wahres Wesen: Die Partei war unfähig, legale Institutionen zu schaffen und das geschriebene Gesetze zu befolgen. Die Polizei realisierte das messianische Programm, aus altem Material einen neuen Menschen zu erschaffen und das ganze Land einer Ideologie zu unterwerfen, die in ihren Grundzügen eine negativ blieb. Nachdem die Bol'seviki sich der Kontrolle der zarischen Geheimpolizei entledigt hatten, als sie aus dem Rechtsvakuum heraustraten und die Macht ergriffen, übertrugen sie die Logik des Spiels ohne Regeln, dessen Opfer sie einst selbst gewesen waren, auf die gesamte Bevölkerung des Vielvölkerstaates Sowjetunion. Nun ging es für sie darum, die Kontrolle über die Gedanken der Untertanen zu erlangen. Schuld trug nun nicht mehr, wer ein Verbrechen begangen hatte, sondern diese war per definitionein in den Menschen angelegt - daher Vysinskijs berühmt-berüchtigte „Schuldvermutung". Was ist von der Warte einer solchen messianischen Aufgabe aus schon eine herkömmliche Straftat?

31 Ebd., S. 577.

32 Ausführlicher dazu vgl. Igor' Simbircev: Na straze trona. Politiceskij sysk pri poslednich Romanovych. 1880-1917. Moskva 2006, S. 1-427. - Feliks Lur'e: Politiceskij sysk v Ros-sii. 1649-1917. Moskva 2006.

Der „ verfluchte Orden"

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Damit das stalinistische System funktionieren konnte, mußte die Abschreckung nicht nur konkrete strafbare Handlungen verhindern, sondern die Angst mußte omnipräsent, mußte zu einer ontologischen Angst werden. Zu diesem Zweck wurde ein universelles System der Denunziation ins Leben gerufen. Die Geheimdienstmitarbeiter sicherten den Anzuwerbenden offiziell zu, es sei ausreichend, wenn ihre Berichte fünf Prozent Wahrheit enthielten, den Rest dürften sie nach eigenem Gutdünken erfinden und ergänzen.33 Unter diesen Voraussetzungen war jeder Versuch, die Absurdität der erhobenen Vorwürfe durch Selbstbezichtigung vor Augen zu führen, allein schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil der Unterschied zwischen Faktum und Fiktion in der Welt der totalen Verfolgung und des totalen Verhörs ausgelöscht wurde. Die Komik einer erfundenen Selbstbezichtigung funktionierte hier nicht, sie lief ins Leere.34 Mit der Schuldvermutung ausgerüstet, konstruiert der Tschekisten-Orden aus jeder noch so absurden Phantasie einen Tatbestand. Nicht der vom Geheimdienst angeworbene Denunziant, der Angst hat, entdeckt zu werden - solche Situationen beschreibt Solzenicyn in seinem Roman Im ersten Kreis der Hölle (V kruge pervom) -, nicht der Parteigenosse, der sich den Luxus erlauben kann, im bescheidenen Rahmen ein „ideentreuer Kommunist" zu bleiben, sind die neuen Menschen. Der Tschekist selbst, der bei seiner Arbeit den Anspruch der neuen Staatsmacht internalisiert hat, ist der „neue Mensch". Er erfüllt den Plan und trägt die Verantwortung für eine maximale Informantenmobilisierung im aufzubauenden Sozialismus. Nur der Tschekist weiß, daß seine Methoden weit wichtiger sind als die Spinnweben der sie umhüllenden Ideologie. Seine Zeit ist die Zeit des Anwerbens und der bürokratischen Unterdrük-kung eines anderen Willens. Wenn er neue Informanten anwirbt, lebt er in der Zeit des „neuen Menschen". Die Kehrseite des propagandistischen Übereifers der kommunistischen Staatsmacht ist der Zynismus dieser neuen Kaste, die einen gigantischen Staatsauftrag erfüllt.

Die Mehrzahl der Opfer des präventiven Terrors begriff die grausame Logik ihrer Lage nicht. Die Annahme, daß gerade sie einem fatalen Irrtum zum Opfer gefallen seien, war die conditio sine qua non ihres Überlebens. Bei weitem nicht immer schloß dieser Glaube auch die Leidensgenossen der Lagerhaft ein: Sie galten als Feinde, und bei der ersten Gelegenheit - etwa wenn man Brigadeleiter oder Arbeitszuteiler wurde - machte man sie zum dochodjaga}5 Mut und Größe bewies Salamov als Häftling und als Schriftsteller, indem er diese Logik kategorisch ablehnte, trotz unmenschlicher Bedingungen menschlichen Anstand wahrte und ein „ehrlicher" Mensch blieb. Die

Solschenizyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil III, Bd. 2, S. 329-336. Zum Beispiel erklärte der Schriftsteller Sergej Tret j'akov, nachdem er 1937 in der Lubjanka „physischen Einwirkungen unterzogen wurde" (d.h. gefoltert wurde), er sei japanischer Spion; er erfand eine ganze Geschichte darüber, wie er angeworben worden sei, wo er sich mit den japanischen Kontaktmännern getroffen habe, welche Aufgaben er übernommen habe. Seine Geschichte enthielt eine Reihe völlig absurder Details, und wäre auch nur eines davon überprüft worden, hätte dies unweigerlich zum Freispruch führen müssen. Aber im 1937 wurde nichts überprüft. Nach dem Prozeß wurde der Begründer der Literatur des Faktums sofort erschossen. Vgl. Vernite mne svobodu! Dejateli literatury i iskusstva Rossii i Germanii - zertvy stalinskogo terrora. Memoriarnyj sbornik dokumentov iz archivov byvsego KGB. Moskva 1997, S. 46-69.

Der Begriff bezeichnet einen Menschen, der sich dem Hungertod nähert und dabei alles verliert, was den Menschen ausmacht. Zu dem Problem, dochodjaga zu übersetzen, vgl. Gabriele Leupold in diesem Heft, S. 195-201, hier S. 200.

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Wasserscheide zwischen einem anständigen Menschen und einem Schuft markierte seiner Meinung nach gerade die Einstellung zu eigener und fremder Schuld.

Der Unterschied zwischen einem Schurken und einem ehrlichen Menschen besteht in folgendem: Wenn der Schurke unschuldig ins Gefängnis gerät, meint er, daß nur er selbst unschuldig sei, während alle übrigen Staats- und Volksfeinde, Verbrecher und Taugenichtse seien. Wenn ein ehrlicher Mensch unschuldig hinter Gitter gebracht wird, meint er, daß seinen Pritschennachbarn das gleiche widerfahren sein könnte.36

In der schon per definitionein unmenschlichen Welt der Berufskriminellen kann es aber so eine Unterscheidung gar nicht geben.

 

Die Ökonomie der Macht

 

In Zeiten des präventiven Terrors spielt das Gesetz nur eine kaschierende Rolle; es ist Teil der konspirativen Strategien, die erforderlich sind, um das Regime etwa in den Augen der „kapitalistischen Welt" zu legitimieren. Berufsverbrecher verstecken nicht ihren Haß auf das Gesetz, ihre Feindschaft gegenüber der Gesellschaft. Die Agenten des präventiven Terrors sind dagegen auf die Fiktion von Recht angewiesen, sie schaffen Gesetzlosigkeit im Namen des Gesetzes. Der stalinistische Repressionsapparat war zum einen extrem ideologisiert und diente der Erreichung „höherer" Ziele; zum anderen war er vollständig „entkriminalisiert", nur noch auf die Bekämpfung der von ihm selbst konstruierten Verbrechen ausgerichtet.

Es überrascht keineswegs, daß die zahlreichen Vergleiche, die Solzenicyn zwischen dem alten und dem neuen Regime zieht, zugunsten des alten Rußland ausfallen: Die Revolutionsmacht ist präzedenzlos, anders als jede, wie man früher zu sagen pflegte, „geordnete" Form der Machtausübung, wie konservativ sie auch sein mag, die absolutistische Monarchie eingeschlossen. Auch Salamov war die Präzedenzlosigkeit der Ereignisse deutlich geworden; er verzichtete auf jegliche unmittelbare Kontextualisierung dieser Ereignisse, oder genauer gesagt: Er überließ diese Aufgabe dem künftigen Leser.

Solzenicyn schrieb für seine Zeitgenossen, und der enorme Erfolg des Archipel Gulag ist alles andere als zufällig; Salamov aber schrieb für die Zukunft.

Solzenicyn hatte für alles und jedes ein Urteil, eine Verurteilung, eine Belehrung parat; Salamov dagegen fand für das Wichtigste nichts anderes als Schweigen.

Die Berufskriminellen haben die neue Ökonomie des Verbrechens nicht erfunden, aber sie fügten sich nahtlos in sie ein, ließen sich in gewissem Sinne tatsächlich sozial aufwerten, indem sie die Rolle der „sozial-nahen Elemente" akzeptierten. Im Vergleich zu den dämonischen Verbrechen der Bol'seviki aus dem nächsten Umfeld Lenins, die effektvoll in Szene gesetzt und der Welt in Schauprozessen präsentiert wurden, verblaßten viele anderen Vergehen. Das Fließband der Schuldproduktion lief an. Es produzierte Feinde des neuen Regimes, deren Schuld darin bestand, daß sie dem alten Regime entstammten, daß die Logik der neuen Macht noch nicht in ihre Körper eingeschrieben worden war.

Warlam Schalamow: Der Lehrgang, in: ders.: Geschichten aus Kolyma [Fn. 11], S. 234-278, hier S. 250.


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 Der ganze Gulag war somit im Kern ein Versuch, die neue Ökonomie der Macht und des Verbrechens auf alte Körper aufzuschreiben. Die Berufskriminellen in den Lagern waren deutlich besser organisiert und verhielten sich wie Menschen, die etwas hatten, wofür es sich zu sterben lohnt, während alle anderen - sowohl in der Freiheit als auch hinter dem Stacheldraht - um jeden Preis zu überleben versuchten. Diese Welt war eine Welt der Knechte im Hegelschen Sinne, sie bestrafte für das große unbekannte Verbrechen, das virtuell auf jedem lastete.

Das aus vergangenen Epochen geerbte menschliche Material galt in dieser Welt als wertlos und mußte radikal umgearbeitet werden. Genau wie die Sowjetmacht verachteten auch die Kriminellen alle Formen menschlicher Solidarität, und wie diese bekämpften sie das Privateigentum. Sie verschwendeten, verpraßten und verzockten es, bestachen mit ihrem Diebesgut Ärzte und die Lagerverwaltung. Die Annäherung der sowjetischen Ideologie an dieses Milieu, seine idealisierende Überhöhung, ist kein Mißverständnis, kein Fehler; sie ist dieser Ideologie inhärent, die eine totale Enteignung zum Ziel hat.

Die bürgerlich-kapitalistische Welt, deren Grundfeste das Privateigentum bildete, zog erbarmungslos gegen jeden zu Felde, der es sich unrechtmäßig aneignete und achtlos verschwendete; eine Staatsmacht aber, die sogar die Kleinsteigentümer (die Bauern) enteignete und in bittere Armut trieb, erkannte in anderen Expropriateuren treffsicher ihre Verbündeten und sah in denen, die am Privateigentum hingen, ihre Feinde.

Diese neue Ökonomie des Verbrechens überlebte selbst die Sowjetmacht. Man erinnere sich, mit welchem Respekt die Zeitungen in den Zeiten der „wilden Privatisierung" über die Kriminellen schrieben, welch wichtige Funktionen sie als Patron (krysä) und als „Berater" für kapitalistische Ethik erfüllten. Damals gab es im Land kein anderes Gesetz.

Salamovs Un-Menschen wurden in dieser Zeit als überaus achtbare Personen präsentiert. Die Berufskriminellen erwiesen sich als beinahe die einzige schon vor der Oktoberrevolution existierende soziale Gruppe, die der Stalinismus nicht nur nicht zugrundegerichtet, sondern sogar gestärkt hatte - natürlich auf Kosten aller anderen sozialen Gruppen.

Der präventive Terror der Stalinzeit wütete in allen gesellschaftlichen Schichten; das Virus des Denunziantentums infizierte alle Schichten, und die politische Polizei, die dieses Virus verbreitete, flößte allseits lähmende Angst ein. So wurde die Geheimpolizei zu einem Manager sozialer Schuld, der so mächtig war, daß er die Sowjetmacht überlebte und bis heute für Rußland das größte Hindernis auf dem Weg zu einer demokratischen Politik und einer modernen, international anschlußfähigen Kultur ist.

In der Sowjetepoche hat wenn auch keine „Umschmiedung", so doch eine soziale Aufwertung der Berufskriminellen stattgefunden; ihre Sprache wurde weit über die Grenzen des Kriminellenmilieus gebräuchlich. Nicht zufällig wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion eine Zeitlang die Wirtschaft vom Gesetz der Krimellen dominiert: Ein anderes Gesetz gab es nicht. Die Berufskriminellen, die die Zeiten der „wilden Privatisierung" lebendig überstanden, wurden zu Unternehmern. Die romantische Vorstellung von dem jahrhundertealten „verfluchten Orden", der jenseits alles Menschlichen existiert, gehört nun der Vergangenheit an. Als das Gesetz der Kommunistischen Partei zusammenbrach, stellte sich heraus, daß der andere allmächtige sowjetische Orden, der der Tschekisten, autonom zu leben vermag und in der Lage ist, Politik mit Methoden zu betreiben, die zu Zeiten des präventiven Terrors und der Bekämpfung der Dissidentenbewegung der 1960er bis 1980er Jahre entwickelt wurden.


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Diese „neuen Menschen" legten eine verblüffende Fähigkeit zur schnellen Bereicherung an den Tag. Die zweite Runde der Privatisierung, die Anfang des 21. Jahrhunderts begann, war für sie ein Erfolg, denn sie hatten mit einem ihnen bereits vertrauten menschlichen Substrat zu tun. Die Bereitschaft postsowjetischer Menschen, um einer hypothetischen „Ordnung" willen alles in Kauf zu nehmen, wird niemanden erstaunen, der die Geschichte der Sowjetunion kennt. Es gehört nicht viel dazu, eine auf Gehorsam getrimmte Gesellschaft für stabil zu erklären. Westeuropäer reden oft von der Fähigkeit der Russen, sich aufzulehnen. Sie zitieren Puskins Worte über den „sinnlosen und unerbittlichen" russischen Aufruhr, vergessen aber, daß die heutige Staatsmacht es nicht mehr mit Russen zu tun hat, sondern mit postsowjetischen Menschen, bei denen auch noch der leiseste Gedanke an Auflehnung drei Generationen lang mit glühenden Eisen ausgemerzt wurde. Die Salamovschen Baummenschen starben, als ihr Vorrat an Lebenskraft verbraucht war.

Die einzigen, die hinter Stacheldraht subversive Energien zu bewahren vermochten, waren die Angehörigen des „verfluchten Ordens", obwohl auch sie mit dieser Energie sehr bedächtig umgingen und sie ausschließlich im Interesse des „Gesetzes der Kriminellen" nutzten. Mit unerschütterlicher Konsequenz sprach Salamov den Berufskriminellen jegliche Menschlichkeit ab und enthielt sich dabei des Urteils sowohl über die Tschekisten als auch über jene, in deren Auftrag die Tschekisten einen neuen Menschen formen sollten. Salamov verurteilte die Verklärung der Berufskriminellen in der sowjetischen Literatur als Fehler und akzeptierte sie nicht als Bestandteil eines neuen Staatsauftrages.

Solzenicyn verortete die Kriminellen in einem breiteren sozialen Kontext, setzte die „mißhandelte Freiheit" und das Lager in Beziehung zueinander und formulierte ein Urteil über die Berufskriminellen, das keine eindeutige Verurteilung war. Dafür beschränkte sich Solzenicyn nicht auf die Empörung über das Projekt der Erziehung eines neuen Menschen und über seine Erfüllungsgehilfen, Mitglieder der Tscheka, des NKVD und des KGB. Seine Leistung besteht darin, erkannt zu haben, wie stark ihr Einfluß auf die gesamte sowjetische Gesellschaft war und - was noch wichtiger ist -wie langfristig dieser Einfluß sein würde. Deshalb möchte ich mit seinen Worten schließen:

Die NKVDler sind eine Macht. Und sie werden nie im Guten nachgeben. [...] Denn sie sind ein Pfeiler. Ein Pfeiler, auf dem vieles ruht.
Doch sie haben nicht nur Macht, sie haben auch Argumente. Und es ist nicht so leicht, mit ihnen zu disputieren. Ich habe es versucht.37

Klingt das nicht ausgesprochen aktuell?

 

Aus dem Russischen von Elena und Dirk Uffelmann, Passau

Solschenizyn, Der Archipel GULAG [Fn. 2], Teil VII, Bd. 3, S. 494.

 

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