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Wilhelm Reich - Warum guter Sex die Welt heilen kann

 

Von Matthias Heine, 3.11.2007

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Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der vor 50 Jahren starb, gilt als der Vater der sexuellen Revolution. Nach seiner Theorie entstehen alle Neurosen aufgrund von gestauter Libido. Anfangs galt er als Freuds Kronprinz, dann musste er seine Geräte zerstören und danach beriefen sich die Hippies auf ihn.

Als die Beamten der amerikanischen Bundespolizei Wilhelm Reich holten, eilten keine fliegenden Untertassen herbei, um ihn zu retten. Niemand half, als Wilhelm Reichs Feinde ihm seine Bücher und Apparate wegnahmen, um sie zu zerhacken und zu verbrennen – so wie es einst die Nazis mit den Werken seines Lehrers Sigmund Freud getan hatten.

Dabei hatte Reich durchaus auf das Eingreifen himmlischer Mächte gehofft. Zuletzt hatte er seinen Mitarbeitern sogar angedeutet, sein Vater sei in Wirklichkeit ein Fremder aus dem Weltall gewesen.

Seine Gegner kamen aus allen Lagern

Der späte Wilhelm Reich machte es seinen Gegnern leicht. Und er hatte zu viele davon: Vertreter der in den Fünfzigerjahren in Amerika populär werdenden offiziellen Psychoanalyse, die ihn als Abweichler verfolgten. Sympathisanten der kommunistischen Partei, vor denen das einstige KPD-Mitglied mittlerweile genauso viel Abscheu empfand wie vor den Nazis.

Den Senator McCarthy und andere Antikommunisten, denen er wegen seines Akzents und seines 25 Jahre zurückliegenden Flirts mit den Roten verdächtig war. Und natürlich viele ganz normale Inhaber eines mehr oder weniger gesunden Menschenverstands, denen seine Versuche mit einer bis dahin unentdeckten kosmischen Lebensenergie namens Orgon ebenso spinnert vorkamen wie seine Besessenheit von Sex.

Zu guter Letzt hielt Reich wirklich alles für ein Problem des gestauten kosmischen Sexualenergieflusses. Wenn er seinen selbstgebauten "Cloudbuster" auf den Himmel über den Dürregebieten im amerikanischen Süden richtete, um Regen zu machen, dann wollte er den Wolken zu einem Orgasmus verhelfen. Ein geiler Ausländer mit rosa Vergangenheit, der mit einer Strahlenkanone herumfuchtelte – das war mehr, als die Amerikaner im Jahrzehnt von Russenfurcht und Ufo-Paranoia verkraften konnten.

Anfangs galt Reich als Freud-Nachfolger

Ein Leben lang war Wilhelm Reich groß darin, sich mit Ländern und Institutionen anzulegen, die ihn zunächst freundlich aufgenommen hatten. Am schlimmsten traf ihn wohl der Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1934 – mit Duldung und auf Veranlassung seines einstigen Meisters Sigmund Freud.

Die Psychoanalytiker, die seit den Zwanzigerjahren endlich eine gewisse bürgerliche Reputation erlangt hatten, hofften wohl, dass ihre Lehre im Nazi-Reich überstehen könnte, wenn sie sich von Radikalen wie Reich trennten. Dabei war dieser einige Jahre zuvor noch die große jugendliche Hoffnung der psychoanalytischen Bewegung gewesen.

In Wien, wo er nach der Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg von 1918 an Medizin studierte, geriet der neugierige und hochtalentierte junge Mann rasch in die Kreise um Freud. Der hatte 1900 mit seinem epochalen Buch "Traumdeutung" eine Art sexualpsychische Energie, die Libido, als Triebkraft menschlichen Handelns entdeckt.

Sein Klientel waren Arbeiter, Bauern und Studenten

Der alte Mann erkannte rasch das Genie des Anfängers. Zum ersten Mal seit dem Streit mit Freuds einstigem Meisterschüler C. G. Jung kam ein neuer Kronprinz in Sicht, der das Werk nach dem Tode Freuds nicht nur verwalten, sondern gar fortführen könnte.

Nach dem Studienabschluss 1922 wurde Reich bald Leiter des Wiener Psychoanalytischen Ambulatoriums für Mittellose. Die Begegnungen dort ließen ihn erstmals an Freuds Menschenbild zweifeln: Zu sehr erschien ihm dieses von einem ganz spezifischen Klassenstandpunkt geprägt.

Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch schreibt über Reichs Erfahrungen in der Ambulanz: „Sein Milieu war nicht die ruhige Arztwohnung, in der es jede Stunde einmal an der Tür klingelte und ein Herr sich nach der Dame seufzend auf die Couch legte, sondern die Betriebsamkeit einer Krankenhausambulanz voller geistesgestörter Arbeiter, Bauern, Büroangestellter, Studenten, Dienstmädchen, Kellner.“ Hier im Alltag wurde aber auch die kommunistische Behauptung widerlegt, dass Neurosen ein Luxusproblem überfeinerter Bürger seien.

Gestaute Libido als Ursache aller Probleme

Durch das geschlechtliche Elend, das er in seiner Praxis erlebte, wurde Reich noch radikalisiert. Sein Buch <Die Funktion des Orgasmus> leitet 1927 den Bruch mit Freud ein. Für Reich ist genitale Freiheit der Schlüssel zum neuen Menschen. Er glaubt, dass alle Neurosen sexueller Natur sind.

Sie entstehen durch fehlgeleitete oder gestaute Libido. Die Entladung solcher Kräfte im Orgasmus ist für ihn nicht nur ein menschliches und zoologisches Phänomen, sondern eine in der gesamten Natur zu beobachtende Grundfunktion des Daseins. "Orgastische Potenz" wird zum Schlüsselbegriff in Reichs Konzept geistiger Gesundheit. Der perfekte Orgasmus ist keinesfalls zu verwechseln mit dem bloßen Samenerguss des Mannes – er ist der Weg zur Heilung der Welt.

Nicht nur Freud ist indigniert, auch Reichs sittenstrenge kommunistische Genossen zetern: "Reich will, dass wir aus den Turnhallen unserer Vereine Bordelle machen." Die Nazis mit ihren erotisch aufgeladenen Inszenierungen und ihren Angeboten für Sadisten und andere Triebgestörte haben da mehr zu bieten als Reichs rote Parteigenossen.

Einstein ist zuerst freundlich, dann skeptisch

In seiner 1933 schon im dänischen Exil veröffentlichten <Massenpsychologie des Faschismus> erklärt Reich später, wie die geschicktere Sex-Politik der Faschisten die Arbeiter dazu brachte, gegen ihre Klasseninteressen zu handeln – obwohl diese doch laut marxistischer Orthodoxie rein wirtschaftlich dominiert sind. <Die Massenpsychologie des Faschismus> gilt heute als ein Klassiker der psychoanalytischen Literatur – auch bei vielen, die Reichs spätere Entdeckungen als immer lupenreiner sich offenbarenden Wahnsinn abtun.

In Amerika, wohin er schließlich 1939 emigriert, will er Albert Einstein von der Messbarkeit des Orgons überzeugen, das nicht nur in jedem Lebewesen, sondern auch in der Atmosphäre wirkt. Er bringt dem Physiker einen <Orgonakkumulator> mit nach Princeton.

In dieser nach außen isolierten Kiste soll sich die Orgonenergie konzentrieren, bis sie sich mit bläulichen Lichterscheinungen und leicht erhöhter Temperatur bemerkbar macht. Einstein ist zunächst freundlich und neugierig, spricht von einer "Bombe" für die Physik. Doch in einem Brief vom 7. Februar 1941 führt er die Messergebnisse auf bestimmte missachtete Faktoren bei der Versuchsanordnung zurück und fordert Reich auf: "Ich hoffe, dass dies ihre Skepsis entwickeln wird, dass sie sich nicht durch eine an sich verständliche Illusion trügen lassen." 

Reich ist wirklich verfolgt worden

Reich ist enttäuscht. Er identifiziert sich immer mehr mit dem leidenden Christus. Widerspruch duldet er nicht mal mehr von seinen engsten Mitarbeitern. Bei Gegnern diagnostizierter er schnell und allgemein "emotionale Pest“ – etwa bei den HIG, den <Hoodlums in Government – Schurken an der Regierung>. Immer mehr solcher Abkürzungen geistern durch sein Reden und Denken.

War er wirklich irre geworden? Seine dritte Frau Ilse Ollendorff glaubt, er sei zuletzt paranoid gewesen. Der Reformpädagoge A. S. Neill schreibt ihm: "Wenn Dulles und Ike und Macmillan und Chruschtschow alle geistig gesund sind, dann bist Du wahnsinnig – und ich bin für den Wahnsinn."

Wenn Paranoia der Wahn ist, verfolgt zu werden, dann war Reich ganz bestimmt nicht verrückt: Denn er wurde wirklich verfolgt. Seine alten Feinde begannen nun auch in Amerika, wo er sich im Staat Maine sein Domizil Orgonon erbaut hatte, seinen Ruf zu unterminieren. Er sei ein Quacksalber und verspreche den Patienten mit seinem Orgonakkumulator sexuelle Sensationen.

Seine Geräte muss er zerstören

Die Food und Drug Agency (FAD) schreitet gegen ihn ein. Sie zwingen Reich und seinen zwölfjährigen Sohn Peter, alle Orgonakkumulatoren mit der Axt zu zerhacken, und am 23. August 1956 bringt ein Lastwagen sechs Tonnen seiner Schriften zu einer Müllverbrennungsanlage in New York.

Im März 1957 tritt Reich eine zweijährige Zuchthausstrafe wegen Missachtung des Gerichts an. Am 3. November 1957 findet man ihn tot in seinem Gefängnisbett. Er ist an Herzversagen gestorben – und geht bald darauf in die Unsterblichkeit ein.

Zuerst entdecken ihn die Hippies wieder, denn er scheint den theoretischen Überbau zu ihrem Motto "Fuck for Peace" geliefert zu haben. Hans Magnus Enzensberger diffamierte Reich zwar in einem Gedicht sehr plastisch als "Rosenkreuzer des Ficks".

Bob Dylan erinnert an Reich

Doch ein größerer Dichter – Bob Dylan – lässt seinen Balladen-Helden „Joey“ im Gefängnis Nietzsche und Wilhelm Reich lesen. Und der Sieg des Renegaten ist nach der Sexuellen Revolution total: Der Glaube, dass schlechter Sex krank macht, scheint heute globales Allgemeingut.

Ob Osama Bin Laden oder George Bush – immer argwöhnt der Westler des Posthippie-Zeitalters, eine sexuelle Fehlfunktion sei Ursache für deren Gewalttaten. Vulgär-Reichismus ist die neue Weltreligion. Und orgastische Potenz ist ein banales Marketendergut auf dem Erlösungsmarkt geworden. Vegetotherapie und Charakteranalyse sowie selbstgebaute Cloudbuster und Orgonakkumulatoren gehören zur esoterischen Folklore auf der ganzen Welt – wie Didgeridoos und Rolfing. 

Doch dem Doktor Reich aus Dobrzcynica in Galizien hätten solche Kleingeld-Utopien vermutlich keinen Orgasmus beschert.

 

 

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