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6. Die Kirche als internationale, sexualpolitische Organisation des Kapitals

 

1  Das Interesse an der Kirche   

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Wollen wir uns über die Aufgaben im sexualpolitischen Kampf jeweils klar werden, so müssen wir genau die Angriffs- und Verteidigungs­positionen der Bourgeoisie an der kulturpolitischen Front beachten. Wir lehnen es ab, die mystischen Redensarten der Reaktion als ein politisches "Ablenkungsmanöver" abzutun. 

Wir sagten: Wenn die Bourgeoisie mit einer bestimmten ideellen Propaganda Erfolg hat, so kann es nicht bloß eine Vernebelung sein, sondern in jedem Falle muss ein massenpsychologisches Problem vorliegen, muss etwas von uns noch Unerkanntes in den Massen vorgehen, das sie befähigt, entgegen ihren eigenen Interessen zu denken und zu handeln. Die Frage ist entscheidend, denn ohne dieses Verhalten der Massen wäre die herrschende Klasse völlig machtlos; nur die Bereitschaft der Massen, diese Ideen aufzunehmen, was wir den "massenpsychologischen Boden" der Klassenherrschaft nennen könnten, macht die Stärke der Bourgeoisie aus. 

Es ist daher dringende Aufgabe, hier volles Verständnis zu erzielen.

Mit den Steigerungen des materiellen Drucks auf die beherrschte Klasse pflegt sich immer auch der moralische zu verstärken. Das kann nur die Funktion haben, einer eventuellen Rebellion der Massen gegen den ökonomischen Druck durch eine Steigerung ihrer ideologischen und moralischen Abhängigkeit von der herrschenden Ordnung vorzubeugen. Auf welche Weise geschieht das?

Da die religiöse Verseuchung die wichtigste massenpsychologische Maßnahme ist, die den Grund zur Aufnahme faschistischer Ideologie in der Krise legt, kann eine Untersuchung der faschistischen Ideologie auf das Verständnis der psychologischen Wirkung der Religion nicht verzichten.

Als im Frühjahr 1932 die Papenregierung nach dem Sturze Brünings ans Ruder kam, war eine ihrer ersten Massnahmen die Ankündigung der Durchführung einer strengeren sittlich-christlichen Erziehung der Nation. Die Hitlerregierung setzt heute dieses Programm verschärft fort.1)

1)  Z.B. (Meldung aus Hamburg im August 1933):  »Konzentrationslager für "unmoralische" Wassersportler. Hamburg. 
Die Hamburger Polizeibehörde hat ihre Organe angewiesen, ein besonderes Augenmerk auf das Verhalten der Wassersportler zu richten, die in vielen Fällen "die selbstverständlichen Grundsätze der öffentlichen Moral unbeachtet liessen". Die Polizeibehörde gibt öffentlich bekannt, dass sie rücksichtslos einschreiten und Kanoefahrer, die ihren Vorschriften zuwider handeln, in ein Konzentrationslager bringen werde, damit sie dort Unterricht über Anstand und Sitte erhalten.«

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In einem Erlass, der die Erziehung der Jugend betraf, hiess es:

"Die Jugend wird ihrem schweren Schicksal und den hohen Anforderungen der Zukunft nur dann gewachsen sein, wenn sie beherrscht wird vom Volks- und Staatsgedanken ... das heisst aber Erziehung zur Verantwortung und Opferfähigkeit gegenüber dem Ganzen. Weichlichkeit und zu weit getriebene Rücksicht auf jede individuelle Neigung sind unangebracht gegenüber einer Jugend, die vom Leben einmal hart angepackt wird. Nur dann aber ist die Jugend für ihren Dienst an Volk und Staat recht vorbereitet, wenn sie gelernt hat, sachlich zu arbeiten, klar zu denken, ihre Pflicht zu erfüllen und wenn sie auch daran gewöhnt worden ist, sich in Zucht und Gehorsam den Ordnungen der Erziehungs­gemeinschaft einzufügen und sich willig ihrer Autorität unterzuordnen ... Die Erziehung zu echter Staatsgesinnung muss ergänzt und vertieft werden durch eine deutsche Bildung, die sich auf die geschichtlich kulturelle Wertgemeinschaft des deutschen Volkes gründet ... durch Versenkung in unser geschichtlich gewordenes Volkstum ... Die Erziehung zur Staatsgesinnung und zum Volksbürgertum empfängt ihre stärkste innerliche Kraft aus den Wahrheiten des Christentums ... Treue und Verantwortung gegenüber Volk und Vaterland haben ihre tiefste Verankerung im christlichen Glauben. Deshalb wird es stets meine besondere Pflicht sein, das Recht und die freie Entfaltung der christlichen Schule und die christliche Grundlage aller Erziehung zu sichern."

 

Wir müssen nun fragen, worin diese vom Standpunkt des Kapitals mit Recht gepriesene Stärke des christlichen Glaubens beruht. Wenn die politische Reaktion der Ansicht ist, dass die Erziehung zur "Staatsgesinnung" ihre stärkste innere Kraft aus den "Wahrheiten des Christentums" bezieht, so hat sie hundertprozentig recht. Ehe wir jedoch dies nachweisen, müssen wir die Differenzen innerhalb des reaktionären Lagers hinsichtlich der Auffassung des Christentums kurz zusammenfassen.

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Der nationalsozialistische und der wilhelminische Imperialismus unterscheiden sich in ihrer massenpsychologischen Basis dadurch, dass der Nationalsozialismus einen proletarisierten oder in der Proletarisierung begriffenen Mittelstand, das deutsche Imperium dagegen einen blühenden Mittelstand zur Massenbasis hatte. Das Christentum des wilhelminischen Imperialismus musste daher ein anderes sein als das Christentum des Nationalsozialismus; doch rütteln die Abänderungen der Ideologie an den Grundlagen der christlichen Weltan­schauung nicht im mindesten, sie verschärfen vielmehr ihre Funktion.

Der Nationalsozialismus lehnte zunächst, zumindest in Gestalt seines bekannten Vertreters Rosenberg, der dem rechten Flügel angehört, das alte Testament als "jüdisch" ab. Ebenso gilt der Internationalismus der römischen Kirche als jüdisch. An die Stelle der internationalen Kirche soll die "deutsche nationale Kirche" treten. Nach der Machtergreifung erfolgte tatsächlich die Gleichschaltung der Kirche, die ihren politischen Machtbereich einengte, ihren ideologisch-moralischen dagegen sehr erweiterte.

"Gewiss wird dereinst auch das deutsche Volk eine Form finden für seine Gotteserkenntnis, sein Gotterleben, wie es sein nordischer Blutsteil verlangt. Gewiss wird erst dann die Dreieinigkeit des Blutes, des Glaubens und des Staates vollkommen sein." (Gottfried Feder: Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen, S. 49).

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Eine Identifizierung des jüdischen Gottes mit der heiligen Dreieinigkeit dürfe auf keinen Fall erfolgen. Eine Verlegenheit ergab dabei nur der Tatbestand, dass Jesus selbst ein Jude war; Stapel wusste rasch Rat: Da Jesus ein Gottessohn sei, könne er nicht als Jude angesehen werden. An die Stelle der Dogmen als jüdischer Überlieferung sollte das "Erlebnis des eigenen Gewissens" treten an die Stelle des Ablasses der "Gedanke des persönlichen Ehrgefühls."

Der Glaube an eine christliche Begleitung der Seelen nach dem Sterben wird als "Medizinmannentum der Südseevölker" abgelehnt. Ebenso die jungfräuliche Empfängnis Marias. Dazu meint Scharnagel:

"Er (Rosenberg) verwechselt das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der allerseligsten Jungfrau, d. h. ihre Freiheit von der Erbsünde . mit dem Dogma von der jungfräulichen Geburt Jesu (,der empfangen ist vom heiligen Geist') ..."

Wir werden noch sehr eingehend zu erörtern haben, warum der Erfolg der Kirche so gross werden musste, wenn sie sich zentral auf die Lehre von der Erbsünde als einem Geschlechtsakt um der Lust willen stützte (und nicht wie angenommen wird auf eine Erbsünde im Sinne eines Urvatermordes). Der Nationalsozialismus behält das Motiv bei, wertet es nur mit Hilfe einer anderen, seinen Zwecken entsprechenderen Ideologie aus:

"Das Kruzifix ist das Gleichnis der Lehre vom geopferten Lamm, ein Bild, welches uns den Niederbruch aller Kräfte vors Gemüt führt und durch die ... grauenhafte Darstellung des Schmerzes innerlich gleichfalls niederdrückt, demütig macht, wie es die herrschsüchtigen Kirchen bezwecken . . Eine deutsche Kirche wird nach und nach in den ihr überwiesenen Kirchen an Stelle der Kreuzigung den lehrenden Feuergeist, den Helden im höchsten Sinne darstellen." (Rosenberg: Mythus etc., S. 577).

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Es handelt sich nur um einen Austausch der Fesseln: An die Stelle des masochistischen, internationalen Christentums soll das sadistisch-narzistische des Nationalismus treten. Nunmehr geht es darum

"... die deutsche Nationalehre als obersten Masstab des Handelns anzuerkennen, um für sie zu leben (Hitler: Kampf, S. 512) ... Er (der Staat) wird jeder religiösen Überzeugung ungehindert Raum geben, er wird Sittenlehren verschiedener Form frei predigen lassen unter der Bedingung, dass sie alle der Behauptung der Nationalehre nicht hindernd im Wege stehen (Kampf, S. 566)."

Wir haben bereits gehört, dass sich die Ideologie der Nationalehre aus der familiären und diese aus der sexualvereinenden Sexualordnung ableitet. An der Eheinstitution rütteln weder Christentum noch Nationalsozialismus; für jenes ist die Ehe, von der Zeugung abgesehen, eine "volle, lebenslängliche Lebensgemeinschaft", für den Nationalsozialisten eine biologische Rassenschutzinstitution. Ausserhalb der Ehe gibt es für beide kein Geschlechtsleben.

Der Nationalsozialismus will ferner die Religion nicht auf historischer, sondern auf "aktueller" Basis erhalten. Diese Änderung lässt sich aus dem Zerfall der christlichen Sexualmoral erklären, dem die Berufung auf historische Forderungen allein nicht mehr standhält.

"Der völkische Rassestaat muss einst seine tiefste Verankerung noch in der Religion finden. Erst dann, wenn der Gottesglaube nicht mehr mit einem bestimmten Ereignis der Vergangenheit, sondern mit dem artgemässen Tun und Sein des Volkes und Staates, wie auch des Einzelnen in immerwährendem Erleben immer wieder aufs innigste verwoben sein wird, steht unsere Welt aufs neue fest gegründet da." (Ludwig Hasse: Natsoz. Monatshefte, Jg.I, Heft 5, S.213).

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Wir vergessen nicht: "Artgemässes Tun und Sein" bedeutet "sittliches" Sein, d. h. praktische Sexual Verneinung.

Gerade an dem, was die Nationalsozialisten sich von der Kirche zu unterscheiden bewog und was sie mit ihr gemeinsam vertreten, lässt sich das für die reaktionäre Funktion der Religion Unwesentliche von dem eigentlich Wirksamen unterscheiden.1)

Das Historische, die Dogmen, mancher heftigst verteidigte Glaubenssatz wird, wie es sich zeigt, bedeutungslos, wenn es gelingt, ihn in seiner Funktion durch etwas anderes, ebenso wirksames zu ersetzen. Der Nationalsozialismus will ebenfalls das "religiöse Erleben", worauf allein es ihm ankommt; er will es nur anders basieren. Was ist dieses "immerwährende Erleben"?

 

1) Die Nationalsozialisten lehnten zwar das bayrische Konkordat (15.-7.-1930) und das preussische Konkordat (1.-7.-1929) ab. Es handelte sich bei der Ablehnung jedoch nur um die Dotation 1931 im Betrag von 4,122,370 RM. Nicht angegriffen wurde die Steigerung der Seelsorge­einkommen­ergänzung in Bayern von 5,87 Mill. RM im Jahre 1914 auf 19,7 Mill. RM im Jahre 1931 (schweres Krisenjahr!). Die folgenden Angaben über das bayrische Konkordat entnehmen wir einem Artikel von Robert Boeck "Konkordate sehen dich an": 

Laut Konkordat vom 25.-1.-1925 wurde der Kirche zugestanden:

1. Die Geistlichen sind Staatsbeamte.
2. Der Staat gibt zu, dass durch die Säkularisation von 1817 (Enteignung von Kirchengütern) der Kirche ein schweres Unrecht zugefügt wurde und stellt der Kirche anheim, die Güter bzw. ihren Geldwert von 60 Millionen Goldmark zurückzufordern.
3. Der Staat muss fast 50 % der Erträgnisse der bayrischen Staatsforste aufwenden, um einen Teil der Abgaben an die Kirche bezahlen zu können, hat also die Forsteinnahmen gleichsam an die Kirche verpfändet.
4. Die Kirche ist berechtigt, auf Grundlage der bürgerlichen Steuerlisten, Steuern (Kirchensteuer) für sich zu erheben.
5. Die Kirche hat das Recht, neues Besitztum zu erwerben und als Eigentum zu haben, das unverletzlich ist und vom Staat geschützt wird.

6. Der Staat verpflichtet sich, den hohen kirchlichen Würdenträgern "eine ihrer Würde und ihrem Stande entsprechende Wohnung" anzuweisen und zu bezahlen.
7. Die Kirche, ihre Geistlichen und 28000 Mönche geniessen unbeschränkte Freiheit in der Ausübung ihrer religiösen und industriellen (Bücher-, Bier- und Schnapsfabrikation) Tätigkeiten.
8. An den Universitäten München und Würzburg müssen je ein Professor der Philosophie und Geschichte angestellt werden, die Vertrauensleute der Kirche sind und nur im kirchlichen Sinne lehren.
9. Der Staat garantiert den Religionsunterricht in den Volksschulen, und dem Bischof oder seinen Beauftragten steht das Recht zu, Misstände im religiös-öffentlichen Leben der katholischen Schüler und ihre nachteilige oder ungehörige (!) Beeinflussung bei den staatlichen Behörden zu beanstanden und Abhilfe zu verlangen.

Nach vorsichtiger Schätzung wurden der katholischen Kirche in Bayern durch das Konkordat Werte: d.h. bare Geldzuwendungen, Güterwerte, Grund- und Gewerbesteuerfreiheit und eigene Einnahmen in der Höhe von einer Milliarde Mark garantiert.
Der bayrische Staat zahlte an die katholische Kirche im Jahre 1916 13 Millionen Mark, 1929 28.468.400 Mark, 1931 26.050.250 Mark.
Der Dienst der Kirche für den Staat muss sich offenbar lohnen. — Der Abschluss des Konkordats zwischen dem deutschen Reich und dem Vatikan im Juli 1933 brachte keine grundsätzlich neuen, für die Massenpsychologie entscheidenden Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Die privatwirtschaftlichen Grundfunktionen der Kirche blieben unangetastet.

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   02  Der Kampf gegen den "Kulturbolschewismus"   

 

Das nationalistische und familiäre Empfinden ist auf das innigste verknüpft mit mehr oder minder dumpfen, mehr oder minder verstandesmässig eingekleideten religiösen Gefühlen. Die Literatur darüber ist grenzenlos. Eine akademische, ins Detail gehende Kritik dieses Gebietes kommt — vorläufig wenigstens — nicht in Frage. Wir knüpfen an unser Hauptproblem an: Wenn sich Nationalsozialismus und Kirche auf das mystische Denken und Empfinden der Massen stützen, und zwar erfolgreich, so ist ein Kampf dagegen nur dann aussichtsreich, wenn man das Tempo der antireligiösen Propaganda derart zu beschleunigen und zu intensivieren vermag, dass diese die mystische Verseuchung der Massen, um eine gute Parole der Revolution zu gebrauchen, "einholt und überholt". Es genügt nicht, wenn die atheistische Bewegung in den kapitalistischen Ländern zwar fortschreitet, aber derart langsam, dass sie immer mehr hinter der religiösen Verseuchung zurückbleibt. Und dies ist leider der Fall. Der Grund hiefür kann nur in einer unvollkommenen theoretischen Erfassung der Religion liegen. Die atheistische Propaganda stützt sich vorwiegend darauf, die objektive kapitalistische Funktion der Kirche und die Missetaten der Kirchenfürsten und -beamten zu enthüllen. Damit ist der Erfolg

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nur bei einem relativ geringen und bereits von selbst in die Nähe der revolutionären Front gerückten Teil der Massen gegeben. Die überwiegende Mehrheit bleibt unangetastet. Das hat seinen Grund darin, dass die atheistische Propaganda nur an den Verstand der Massen, nicht aber an ihr Gefühl appelliert. Wenn aber irgendeiner religiös fühlt, prallt jede noch so kunstvolle Entlarvung eines Kirchenfürsten an ihm ab, macht ihm die genaueste Darlegung der finanziellen Unterstützung der Kirche durch den Ausbeuterstaat mit den Mitteln der Arbeitergroschen ebensowenig Eindruck wie die Marx-Engelssche historische Analyse der Religion.

Die atheistische Bewegung versucht zwar auch affektive Mittel anzuwenden. So standen etwa die Jugendweihefeste der deutschen proletarischen Freidenker im Dienste dieser Arbeit. Trotz alledem verfügten die christlichen Jugendverbände etwa über 30 mal so viel Jugendliche wie die der kommunistischen Partei und der Sozialdemokratie. Etwa 1 1/2 Millionen christlicher Jugendlicher standen in den Jahren 1930-1932 etwa 50,000 kommunistische und 60,000 sozialistische gegenüber. Der Nationalsozialismus verfügte seinen Angaben nach 1931 über etwa 40,000 Jugendliche. Detaillierte Zahlen entnehmen wir der "Proletarischen Freidenkerstimme" von April 1932. 

Danach zählten:

Der kathol. Jungmännerbund Deutschlands ......................................... 386,879
Der Zentralverband kathol. Jungfrauenvereinigungen Deutschlands ......... 800,000

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Der Verband kathol. Junggesellenvereine .............................................. 93,000 
Der Verband süddeutscher kath. weibl. Jugendvereine ............................ 25,000
Der Verband kathol. Büchervereine Bayerns .......................................... 35,220
Der Verband kath. Schüler d. höheren Lehranst. "Neudeutschland" .......... 15,290
Kath. Jugendbund werktät. Mädchen Deutschlands .................................. 8,000
Reichsverband deutscher Windhorstbünde ............................................. 10,000
(Die Zahlen entstammen dem kleinen "Handbuch der Jugendverbände" 1931).

Wichtig ist die soziale Zusammensetzung. Beim katholischen Jungmännerverband Deutschlands bestand folgendes Verhältnis:

Arbeiter ..................... 45,6 %
Handwerker ............... 21,6 %
Landjugend ............... 18,7 %
Kaufleute .................. 5,9 %
Studierende ............... 4,8 %
Beamte ..................... 3,3 %

Das proletarische Element bildet die überwiegende Mehrzahl. Die Alterszusammensetzung ergab 1929:

14-17 Jahre ............ 51,0 %
17-21   " ................ 28,3 %
21-25   " ................ 13,5 %
über 25   " .................. 7,1 %

Also 4/5 der Mitglieder im Alter der Geschlechtsreife bzw. in der Nachpubertät.

Während nun die kommunistische Stellungnahme im Kampf um die Gesinnung dieser Jugendlichen die Klassenzugehörigkeit gegen-

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über den Weltanschauungsfragen in den Vordergrund rücken wollte, bezog die katholische Organisation ihre Stellung gerade in der kulturellen und weltanschaulichen Front. Die Kommunisten schrieben:

"Die Klassenzugehörigkeit wird sich bei einer klaren, zielbewussten Arbeit auch bei den jungen Katholiken als stärker erweisen, als die hemmenden Fragen der Weltanschauungen ... Wir dürfen nicht die Weltanschauungsfrage in den Vordergrund stellen, sondern die Frage der Klassenzugehörigkeit, der uns bindenden, gemeinsamen Not."

Die Führung der katholischen Jugend dagegen (in "Jungarbeiter" Nr. 17, 1931):

"In der Erfassung der Jungarbeiter und der Arbeiterkinder im frühesten Alter liegt die stärkste und wohl auch die grösste Gefahr der kommunistischen Partei. Wir begrüssen es, wenn die Reichsregierung der kommunistischen Umsturzpartei schärfstens entgegentritt. Vor allem aber erwarten wir, dass die deutsche Regierung dem Kampf der Kommunisten gegen Kirche und Religion mit den schärfsten Mitteln begegnet."

In den Berliner Prüfstellen zur "Bewahrung" der Jugend vor Schmutz und Schund fungierten Vertreter aus 8 katholischen Organisationen. In einem Aufruf der Zentrumsjugend vom Jahre 1932 hiess es:

"Wir verlangen, dass der Staat das christliche Kulturgut mit allen Mitteln schützt gegen eine volksvergiftende Schmutzpresse, Schundliteratur, gegen eine erotische, das Nationale entwürdigende oder verfälschende Filmproduktion ..."

Die Kirche verteidigt somit ihre kapitalistische Funktion an einer anderen Stelle, als die kommunistische Bewegung angreift.

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"Aufgabe der proletarischen Freidenkerjugend ist es, den jungwerktätigen Christen die Rolle der Kirche und ihrer Organisationen in der Durchführung der Faschisierungsmassnahmen und in ihrem Eintreten für Notverordnungen und Sparmassnahmen ..."

zu zeigen, hiess es in der früher genannten "Freidenkerstimme". Warum erwiesen sich, wie die Erfahrung lehrt, die Massen der christlichen Jungarbeiter gegen diesen Angriff resistent? Warum sahen sie nicht selbst die kapitalistische Funktion der Kirche? Offenbar deshalb, weil ihnen diese Funktion verhüllt ist, und weil sie derart strukturiert wurden, dass sie gläubig und kritikunfähig wurden. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die Kirchenvertreter in den Organisationen gegen das Kapital auftreten, sodass ein Gegensatz zwischen Kommunisten und Priestern in der Stellungnahme dem Jugendlichen nicht unmittelbar zugänglich ist. Bloss auf einem Gebiete ist die Grenze scharf gezogen: auf dem der Sexualität. Aber gerade dieses Gebiet liegt völlig brach, was die revolutionäre Gegenarbeit anlangt.

Es genügt nicht, wenn festgestellt wird, dass der kapitalistische Staat über Elternhaus, Kirche und Schule zur Bindung der Jugend an sein System und seine Ideenwelt nach Belieben verfügen kann. Wir können im Kapitalismus an diesen Institutionen nicht rütteln, weil sie mit allen Machtmitteln des Staates geschützt sind; ihre Aufhebung setzt die soziale Revolution voraus.

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Andererseits ist eine Erschütterung ihrer reaktionären Wirkungen eine der wesentlichsten Voraussetzungen der sozialen Revolution, also der Voraussetzung ihrer Aufhebung. Das ist die Hauptaufgabe der roten Kulturfront. Um sie zu erfüllen, ist die Kenntnis der Mittel und Wege, mit deren Hilfe Elternhaus, Schule und Kirche derart wirken können, ist die Auffindung des psychologischen Prozesses, der in den proletarischen Jugendlichen infolge dieser Einwirkung platzgreift, von entscheidender Bedeutung. Weder der allgemeine Begriff der ,,Knechtung", noch der der "Verdummung" reichen hier aus. Verdummung und Knechtung sind ja bereits der Erfolg; es kommt aber auf die Vorgänge an, die dazu führen, dass das kapitalistische Interesse die gewünschten Erfolge hat.

Welche Rolle dabei die Unterdrückung des Sexuallebens der Jugend spielt, wurde in der Schrift "Der sexuelle Kampf der Jugend" zu zeigen versucht. Im Zusammenhang dieser Schrift ist zu untersuchen, welches die Kernelemente des antibolsche­wistischen Kulturkampfes sind und auf welche gefühlsmässigen Tatsachen sich die bolschewistische Kulturfront im Gegensatz dazu zu stützen hat. Auch hier müssen wir den Grundsatz verfolgen, ganz genau auf das zu hören, was die Kultur­reaktion in den Vordergrund rückt, denn sie tut es nicht beiläufig, auch nicht um abzulenken, sondern weil es sich offenbar um zentrale Kampfgebiete der marxistischen und der antimarxistischen Weltanschauung und Politik handelt.

Wir müssen notgedrungen dem Kampf auf weltanschaulichem und kulturellem Gebiet, des-

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sen Zentrum die Sexualfrage ist, ausweichen, solange wir nicht über die notwendigen Kenntnisse, die erforderliche Schulung verfügen, diesen Kampf siegreich zu führen. Gelingt es uns aber, einen festen Standort in der Kulturfront zu gewinnen, so bekommen wir alle Mittel in die Hand, dem wirtschaftspolitischen Kampf die Wege zu ebnen. Denn es sei noch einmal gesagt: Die Sexualhemmung versperrt dem durchschnittlichen Jugendlichen den Weg zur roten Front. Wir müssen es zuwege bringen, der christlichen Front der moralischen Bindung ihrer Anhänger mit entsprechenden Mitteln zu begegnen. Dazu ist die Kenntnis ihrer weltanschaulichen Position dringend notwendig.

Wir greifen willkürlich eine der typischen antibolschewistischen Schriften heraus, die vom nationalsozialistischen Pfarrer Braumann "Der Bolschewismus als Todfeind und Wegbereiter der Religion" (1931). Wir könnten uns ebensogut an eine beliebige andere Schrift halten. Die Argumente sind überall in der Hauptsache die gleichen und auf abweichende Detail­auffassungen kommt es hierbei nicht an.

"Jede Religion ist die Befreiung von der Welt und ihren Mächten durch die Verbindung mit der Gottheit. Deshalb wird der Bolschewismus die Menschen nie ganz in Ketten schlagen können, solange etwas von Religion in ihnen ist." (Braumann, S. 12).

Hier wird zwar die Funktion der Religion, von den Nöten des Tages abzulenken, "von der Welt zu befreien", also eine Auflehnung gegen die wahren Verursachungen des Elends zu ver-

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hindern, ganz klar ausgesprochen, aber mit wissenschaftlichen Ergebnissen über die soziologische Funktion der Religion kommen wir in der propagandistischen Praxis nicht allzu weit. Für die praktische antireligiöse Arbeit kommen vor allem die eindrucks­vollen Erfahrungen in Frage, die man bei Diskussionen zwischen atheistischen und gottgläubigen Jugendlichen macht. Sie weisen uns auch den Weg zum Verständnis der psychologischen Auswirkung der objektiven Funktion der Religion, also zu ihrer subjektiven Seite, zur Ideologie und zum religiösen Fühlen der Massenindividuen.

Eine kommunistische Jugendgruppe hatte einen protestantischen Pfarrer zu einer Diskussion über die Wirtschaftskrise eingeladen. Er erschien, gefolgt und beschützt von etwa 20 christlichen Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Sein Referat enthielt im wesentlichen folgende Stellungnahmen, wobei der Sprung von zum Teil richtiger Tatsachenfeststellung in die Mystik das für uns wichtigste Ergebnis war. Die Ursachen der Not, so führte er aus, seien der Krieg und der Youngplan. Der Weltkrieg wäre ein Ausdruck der Verderbtheit der Menschen und ihrer Niedertracht, ein Unrecht und eine Sünde gewesen. Auch die Ausbeutung durch die Kapitalisten sei eine grosse Sünde. Wir sehen schon an dieser typischen Stellungnahme, wie schwer es die antireligiöse Propaganda hat, den Einfluss eines Pfarrers ausser Funktion zusetzen, wenn er selbst sich antikapitalistisch einstellt und derart dem antikapitalistischen Fühlen der christlichen Jugend entgegenkommt. Kapitalismus und Sozialismus 

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seien in wesentlichen dasselbe, auch der Sozialismus in der Sowjetunion sei eine Art Kapitalismus, der sozialistische Aufbau bringe Nachteile für die einen Klassen ebenso wie der Kapitalismus für die anderen. Man müsse jedem Kapitalismus "in die Presse hauen"; der Kampf des Bolschewismus gegen die Religion sei ein Verbrechen, die Religion sei nicht schuld am Elend, sondern nur die Tatsache, das der Kapitalismus die Religion falsch benütze. (Der Pfarrer war entschieden fortschrittlich). Welche Konsequenzen folgen daraus? Da die Menschen schlecht und sündhaft seien, lasse sich die Not überhaupt nicht beseitigen, man müsse sie ertragen, sich dreinfinden. Auch der Kapitalist fühle sich nicht wohl. Die innere Not, die die wesentlichste Not sei, werde auch nach dem dritten Fünf jahresplan der Sowjetunion nicht verschwinden.

Einige kommunistische Jugendliche versuchten, ihren Standpunkt zu vertreten: Es komme nicht auf den einzelnen Kapitalisten, sondern auf das System an. Es komme darauf an, ob die Mehrheit oder eine früher gutlebende verschwindende Minderheit unterdrückt werde. Die Auskunft, die Not zu ertragen, bedeute nur eine Verlängerung des Elends und eine Hilfe für das Kapital. Und so weiter. Am Schluss einigte man sich darüber, dass eine Überbrückung der Gegensätze nicht möglich sei, dass niemand mit anderer Überzeugung wegginge, als er gekommen war. Die jugendlichen Begleiter des Pfarrers hingen an den Lippen ihres Führers; sie schienen ebenso materiell niedergedrückt, proletarisch zu leben wie die kommunistischen

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und doch pflichtete jeder einzelne dem Standpunkt bei, dass gegen die Not kein Kraut gewachsen sei, dass man sich damit abfinden und auf Gott vertrauen müsse.

Nach Schluss der Aussprache fragte ich einige kommunistische Jugendliche, warum sie denn nicht auf die Hauptfrage der Kirche, die jugendliche Enthaltsamkeit und den Kulturbolschewismus eingegangen wären. Das wäre zu gefährlich und zu schwer, meinten sie, aber das würde wie eine Bombe wirken und es sei nicht üblich, in politischen Diskussionen darüber zu sprechen.

Einige Zeit vorher fand in einem westlichen Bezirk Berlins eine Massenversammlung statt, an der Vertreter der Kirche und solche der kommunistischen Partei ihren Standpunkt darlegten. Gut die Hälfte von den 1800 Besuchern waren Christen und Kleinbürger. Als Hauptreferent fasste ich die kommunistische Stellung zum Abtreibungsparagraphen in einigen Fragen zusammen:

1. Die Kirche behauptet, dass die Anwendung von Empfängnisverhütungsmitteln gegen die Natur sei wie jede Behinderung der natürlichen Fortpflanzung. Wenn die Natur so streng und weise ist, warum hat sie dann einen Sexualapparat geschaffen, der nicht nur so oft zum Geschlechtsverkehr drängt, wie man Kinder zeugen will, sondern durchschnittlich 2-3000 mal im Leben?

2. Die anwesenden Vertreter der Kirche sollten offen zugeben, ob sie Geschlechtsbefriedigung nur dann herbeiführen, wenn sie Kinder zeugen wollen. (Es waren protestantische Priester).

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3. Warum hat Gott im Geschlechtsapparat zweierlei Drüsen geschaffen, eine für die Sexualerregung und eine für die Fortpflanzung?

4. Warum entwickeln, schon die Kleinkinder eine Sexualität, lange bevor die Fortpflanzungsfunktion einsetzt?

 

Die verlegenen Antworten der kirchlichen Vertreter lösten Stürme von Gelächter aus. Als ich dann klarzumachen versuchte, welche Rolle die Verleugnung der Lustfunktion durch die Kirche und die bürgerliche Wissenschaft im Rahmen des kapitalistischen Systems spielt, dass die Unterdrückung der sexuellen Befriedigung eben zur Demut und allgemeinen Entsagung auch auf materiellem Gebiet führen soll, hatte ich den ganzen Saal auf meiner Seite. Die Kirchenvertreter waren geschlagen.

Reichliche Erfahrung in Massenversammlungen lehrt, dass die Gewinnung der ungeschulten Zuhörer in dem Masse steigt, in dem man die politisch-reaktionäre Rolle der Religion im Zusammenhang mit der Unterdrückung des sexuellen Lebens behandelt, je eindeutiger und direkter man das Recht auf sexuelle Befriedigung medizinisch und politisch darlegt. Dieser Tatbestand erfordert eine ausführliche Begründung.  

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   03  Der Appell an das religiöse Gefühl    

 

Der Bolschewismus sei, so heißt es in der antibolschewistischen Propaganda, "konsequenter Hasser jeder Religion", besonders der "innerlich wertvollen". Infolge seines Materialismus kenne der Bolschewismus nur materielle Güter, er habe daher nur Interesse, materielle Güter zu erzeugen. Für geistige Werte und seelische Güter habe er nicht das geringste Verständnis.

Was sind nun diese geistigen Werte und seelischen Güter? Treue und Glauben werden oft genannt, im übrigen verschwimmt aber die Phraseologie in einem unbestimmten Begriff der "Individualität".

"Weil der Bolschewismus alles Individuelle ertöten will, zerstört er die Familie, die dem Menschen immer ein individuelles Gepräge gibt. Deshalb hasst er alles nationale Streben. Alle Völker sollen möglichst gleichartig werden und ihm gefügig sein ... Alle Bemühungen, das persönliche Eigenleben zu ertöten, würden aber vergeblich sein, solange in dem Menschen noch etwas von Religion lebt, weil in der Religion die persönliche Freiheit von der äußeren Welt immer wieder durchbricht."

Der politische Reaktionär setzt also eine innige Verbindung von Familie, Nation und Religion voraus, den Tatbestand also, der bisher von der marxistischen Forschung völlig vernachlässigt wurde. Zunächst bestätigt sich in der Formulierung, dass die Religion die Freiheit von der äusseren Welt bedeute, die psychoanalytische Feststellung, dass die Religion eine phantasierte Ersatzbefriedigung für wirkliche Befriedigungen biete; das passt völlig zur Marxschen 

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These, dass Religion auf die Massen wie Opium wirke. Es handelt sich hier um mehr als um ein blosses Gleichnis. Wir werden nachzuweisen haben, dass das religiösen Erleben wirklich die gleichen Prozesse im psychischen Apparat in Gang setzt wie eine entsprechende Dosis Opium, dass es sich um Vorgänge im Sexualapparat handelt, die Tauschähnliche Zustände bedingen.

Doch zunächst müssen wir uns über die Beziehungen von religiösem und familiärem Empfinden genauer unterrichten. Braumann schreibt in der für die reaktionäre Ideologie typischen Weise:

"Der Bolschewismus hat aber noch einen ändern Weg zur Vernichtung der Religion, nämlich durch systematische Zerstörung des Ehe- und Familienlebens. Er weiss sehr gut, dass gerade aus der Familie die grossen Kräfte des religiösen Lebens hervorquellen. Deshalb wird Eheschliessung und Ehescheidung in einem Masse erleichtert, dass die russische Ehe an freie Liebe heranreicht."

Im Hinweis auf die kulturzerstörende Wirkung der sowjetrussischen Fünftagewoche heisst es:

"Das dient sowohl zur Zerstörung des Familienlebens wie der Religion ... Am bedenklichsten sind die Verwüstungen, die der Bolschewismus auf sexuellem Gebiete anrichtet. Durch seine Zerstörung des Ehe- und Familienlebens fördert er zuchtlose Ausschweifung jeglicher Art bis zum widernatürlichen Verkehr von Geschwistern, Eltern und Kindern. (Das bezieht sich auf die Aufhebung der Bestrafung des Inzests in der S. U.). Der Bolschewismus kennt überhaupt keine sittlichen Hemmungen."

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In der sowjetistischen Literatur wird oft versucht, statt solchen Stellungnahmen der politischen Reaktion mit genauer Analyse der historischen Prozesse auf dem Gebiete der Sexualkultur zu begegnen, sich dahin zu verteidigen, dass es gar nicht wahr sei, dass das sexuelle Leben in der SU unsittlich sei, dass sich die Ehen doch wieder festigen und ähnliches mehr. Solche Verteidigungsversuche sind nicht nur politisch unwirksam, sie entsprechen auch nicht den Tatbeständen. Das sexuelle Leben in der SU ist vom christlichen Standpunkt in der Tat unsittlich, und von einer Festigung der Ehen kann nicht gesprochen werden, weil die Eheinstitution im Sinne der bürgerlichen und christlichen Auffassung in der Tat aufgelöst ist. In der Sowjetunion herrscht gegenwärtig formal-rechtlich und praktisch die Paarungsehe. Der Bolschewismus zerstört also die bürgerliche Ehe und Familie und er vernichtet die bürgerliche Sittlichkeit. Es kommt nur darauf an, nicht nur die Notwendigkeit dieses Prozesses auf das genauste nachzuweisen, sondern insbesondere den Massen der Bevölkerung ihren Widerspruch zu Bewusstsein zu bringen, dass sie nämlich im geheimen genau das gleiche mit allen Kräften herbeisehnen, was der Bolschewismus in Wirklichkeit durchsetzt, während sie gleichzeitig der christlichen Ideologie zustimmen. Um aber diese Aufgabe zu erfüllen, ist theoretische Klarheit über die Zusammenhänge zwischen Familie, Religion und Sexualität notwendig.

Wir haben früher gezeigt, dass das nationalistische Empfinden eine direkte Fortsetzung des familiären ist. Jetzt müssen wir noch nachweisen, dass auch das religiöse Fühlen eine Quelle nationalistischer Ideologie ist, dass also fami-

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liäre und religiöse Einstellungen die massenpsychologischen Grundelemente des Nationalismus sind. So bestätigt sich massen­psychologisch, dass die christliche Erziehung die Wegbereiterin des Faschismus wird, wenn eine wirtschaftliche Erschütterung die Massen in Bewegung bringt.

Leitet sich das Nationalgefühl aus der Mutterbindung (Heimatgefühl) ab, so das religiöse Empfinden aus der sexuellen Atmosphäre, die mit dieser familiären Bindung untrennbar verbunden ist. Die familiäre Bindung setzt die Hemmung der sexuellen Sinnlichkeit voraus. Dieser sinnlichen Hemmung sind ausnahmslos sämtliche Kinder der privatwirtschaftlichen Gesellschaft, insbesondere die Mädchen ausgesetzt. Keine noch so laute und "frei" scheinende sexuelle Betätigung kann den Kundigen über diese tiefsitzende Hemmung hinwegtäuschen; mehr, viele krankhafte Äusserungen im späteren Geschlechtsleben, wie wahllose Partnerwahl, sexuelle Unrast, Neigung zu Ausschweifungen etc. leiten sich gerade aus der Hemmung der sinnlichen Erlebnis­fähigkeit her. Das selbstverständliche Resultat dieser zu jeder bürgerlichen Erziehung spezifisch gehörenden Hemmung des sinnlichen Erlebens ("orgastische Impotenz") durch unbewusste Schuldgefühle und sexuelle Angst, ist eine unaustilgbare, chronisch und in den meisten Fällen unbewusst wirkende sexuelle Sehnsucht, die regelmässig mit körperlichen Spannungsgefühlen in der Herz- und Zwerchfellgegend, dem Hauptsitz gehemmter sexueller Erregung, einhergeht. Dass der Volksmund das Empfinden der Sehnsucht in der Brust lokalisiert, hat seinen berechtigten physiologischen Sinn.

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Die ständige Spannung im psychophysischen Apparat bildet die Grundlage zunächst von Tagträumerei beim Kleinkind und Puberilen, die sich besonders leicht in mystisches, sentimentales und religiöses Empfinden umsetzen und fortsetzen kann, weil die Atmosphäre des bürgerlichen Menschen davon durchtränkt ist. Beim durchschnittlichen Kinde jeder gesellschaftlichen Schichte wird so eine Struktur hergestellt, die mystische Einflüsse des Nationalismus, der Religion, des Aberglaubens jeder Art geradezu aufsaugen muss. 

Das Schauermärchen in früher Kindheit, die Detektivromane später, die mysteriöse kirchliche Atmosphäre sind nur Stufen zur Entfaltung des Anklingens der psychischen Apparatur bei militärischen und vaterländischen Weihen. Es ist für die Beurteilung der Wirkung des gesellschaftlich produzierten Mystizismus und der Aufnahmefähigkeit der psychischen Apparatur nicht wesentlich, ob die Persönlichkeit an der Oberfläche unmystisch, rauh oder sogar brutal erscheint. Auf die Prozesse in der Tiefe der Person kommt es an. Die Sentimentalität und Gottesfürchtigkeit eines Matuschka, Haarmann, Kürten steht nicht nur in einem Widerspruch, sondern auch in einer engen Beziehung zu ihrer tierischen Grausamkeit. Dem Kenner der Tiefenstruktur erscheinen diese Gegensätze nur als zusammengehörige Elemente, die ein und derselben Quelle ihren Ursprung verdanken: Der durch die sexuelle Hemmung erzeugten vegetativen Sehnsucht, der der naturgemäss vorge-

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zeichnete Weg zur Erfüllung versperrt ist und die daher so leicht einerseits der muskulären Entladung fähig wird, andererseits entsprechend dem gleichzeitig entstehenden Schuldgefühl in mystisch-religiöses Erleben ausstrahlen kann. 

Dass der Kindermörder Kürten sexualgestört war, wurde zwar durch die Aussagen seiner Frau klar, ohne aber unsern klinisch-psychiatrischen "Sachverständigen" aufzufallen. Die Gepaartheit von Brutalität und religiösem Empfinden ist durchschnittlich überall dort anzutreffen, wo die normale sinnliche Erlebnisfähigkeit gestört ist. Bei den Inquisitoren des Mittelalters, beim grausamen und religiösen Philipp II. von Spanien nicht minder als bei irgend einem Massenmörder unserer Zeit. Wo nicht eine hysterische Erkrankung die unausgeglichene Erregung in ängstlicher Ohnmacht des psychischen Apparats, oder eine Zwangsneurose die gleiche Erregung in sinnlosen und grotesken psychischen Symptomen erstickt, bietet die Realität der patriarchalischen und christlichen Ordnung genügend Gelegenheit zu einer Abfuhr, die wegen der sozialen Rationalisierung solcher Verhaltungsweisen das pathologische verwischt.1) 

 

1) Morphinisten sind regelmässig in normaler Weise befriedigungsunfähig; ihre Erregungen versuchen sie daher künstlich zu bannen, was nie dauernd gelingt. Gewöhnlich sind sie sadistisch, mystisch, eitel, homosexuell und von verzehrender Angst gequält, die sie durch brutales Verhalten abzubauen versuchen.

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Es würde sich lohnen auf die Soziologie der verschiedenen religiösen Sekten in Amerika, die buddhistische Ideologie in Indien, die verschiedenen theosophischen und anthroposophischen Strömungen sowie die mystischen Kreise aller Art als gesellschaftlich bedeutsamer Erscheinungen patriarchalischer Sexualökonomie genau einzugehen. Hier genüge die Feststellung, dass diese gesellschaftlichen Gruppierungen mystischer Kreise bloß Konzentrationen von Tatbeständen sind, die wir in mehr diffuser, weniger greifbarer, aber deshalb nicht weniger deutlicher Art in allen Schichten der Bevölkerung finden.

Zwischen dem Grade des mystischsentimental-religiösen Empfindens und dem Grade der durchschnittlichen Störung des sinnlichen Erlebens gibt es eine bestimmte Beziehung. Bei Beobachtung des Verhaltens der vorwiegend proletarischen und kleinbürgerlichen Zuhörer einer kitschigen Operette lernt man für diese Probleme mehr als in hundert Handbüchern der Sexualwissenschaft, selbst solchen von Scheinsozialisten. So verschieden die Inhalte und Richtungen dieses religiös-mystischen Erlebens und so mannigfaltig sie sind, so allgemeingültig, unvariabel und typisch ist ihre sexual­ökonomische Grundlage. Man vergleiche zur Probe der Richtigkeit dieser Feststellung das wirklichkeitsnahe, unsentimentale, lebenskräftige Erleben der Mitglieder proletarischer Nacktkulturvereine mit dem sentimentalen, künstlich-natur­schwärmerischen, mystischen der bürgerlichen und man wird leicht feststellen, dass diese die sexuelle Sinnlichkeit in Gegensatz zur Nacktheit bringen, jene dagegen den wirklichen Sinn der Nacktkultur erfassen und oft danach leben, weshalb sie ja auch von der politischen Reaktion verfolgt werden. 

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Die proletarischen Nacktkulturvereine begingen nur den schweren Fehler, für die gesunde sexuelle Sinnlichkeit nicht offen und unumwunden einzutreten und zu kämpfen, sondern an dessen Stelle wie Koch 1932 an die kapitalistischen Richter zu appellieren. Sie verhüllten verschämt den eigentlichen Sinn der Nacktkultur, die eine Rebellion der unterdrückten sexuellen Bedürfnisse gegen die heutige Sexualordnung darstellt, und brachen damit dem Ganzen die Spitze ab, nicht zu reden von der kleinbürgerlichen Prüderie, die sich darin ausdrückt.

Wir können hier noch nicht auf den naheliegenden Einwand eingehen, dass ja auch der sexualökonomisch lebende mutter­rechtliche Primitive mystisch fühle. Es bedarf eines sehr ausführlichen Nachweises, dass es sich beim mutterrechtlichen und beim vaterrechtlichen Menschen um Grundverschiedenes handelt. Dieser Nachweis kann vor allem daran geführt werden, dass sich die Stellung der Religion zur Sexualität im Patriarchat veränderte, dass sie nachher ebenso zentral sexualfeindlich ist, wie sie ursprünglich im wesentlichen eine Religion der Sexualität war.

 

    04  Das Ziel des Kulturbolschewismus im Lichte der Reaktion    

 

Der Kommunismus konzentriert gegenwärtig alle seine Kräfte auf die Beseitigung der wirtschaftlichen Grundlagen des menschlichen Leidens. Indem er von diesen Leiden ausgeht und ihren Urgrund, die ökonomischen Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems erfasst, verdunkelt die erstrangige Notwendigkeit der ökonomischen Umwälzung der gesellschaftlichen Ordnung seine weiteren Ziele und Absichten. 

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Während der Kommunist oft genötigt ist, die Lösung oder auch nur die Diskussion an sich sehr dringender Fragen aufzuschieben, bis die dringendste Aufgabe, die Schaffung der Voraus­setzungen für die Lösung dieser Fragen, erfüllt ist, kämpft der Reaktionär aufs schärfste gerade gegen die durch die nächstliegenden vorbereitenden Aufgaben verdunkelten Endziele des Kommunismus.

"Der Kulturbolschewismus will die Zersetzung unserer bisherigen Kultur und ihre Neuformung in dem Sinne, dass sie rein dem Erdenglück der Menschen dient ..."

schreibt Kurt Hütten in seiner Kampfschrift "Kulturbolschewismus" (Verlag des evang. Volksbundes, 1931). Will man nun selbst eine klare Stellung in der Kulturfrage beziehen, so muss man zuerst entscheiden, ob die politische Reaktion mit ihren Vorwürfen etwas trifft, was die bolschewistische Kulturrevolution wirklich beabsichtigt, oder ob sie aus demagogischen Gründen Ziele unterschiebt, die keineswegs im Zielbereich des Kommunismus liegen. Im ersten Fall ist eine Verteidigung und scharfe Klärung der historischen Notwendigkeit dieser Ziele unerlässlich. Im zweiten Fall genügt der Nachweis der politischen Hintergründe der Unterschiebung, also eine Ableugnung dessen, was die Reaktion dem Kommunismus zumutet.

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Wie schätzt nun die politische Reaktion selbst den Gegensatz von irdischem Glück und Religion ein? 
Kurt Hütten schreibt:

"Zunächst einmal: Der erbittertste Kampf des Kulturbolschewismus gilt der Religion, denn die Religion, so lange sie lebendig ist, bildet das stärkste Bollwerk gegen seine Ziele ... Sie stellt das ganze menschliche Leben unter etwas aussermenschliches, eine ewige Autorität. Sie fordert Entsagung, Opfer, Zurückstellung eigener Wünsche. Sie umwittert das menschliche Leben mit Verantwortung, Schuld, Gericht, Ewigkeit ... Sie hemmt ein schrankenloses Sichausleben der menschlichen Triebe." "Kulturrevolution ist kulturelle Revolution des Menschen, ist die Unter­jochung aller Lebensgebiete unter den Glücksgedanken."

Der Reaktionär erkennt nicht die ökonomischen Widersprüche, deren Lösung zu einer Milderung oder Beseitigung des materiellen Leidens führt. Er fühlt bloss die Gefahr für die psychische Verankerung des herrschenden Wirtschaftssystems (= "Kultur") ; diese Gefahr sieht er aber derzeit besser und tiefer, als der heutige Revolutionär, weil dieser, wie schon gesagt, seine Kräfte und Einsichten zunächst auf die Änderung der Wirtschaftsordnung konzentriert hat. Der Reaktionär erkennt die Gefahr, die der Familie und der bürgerlichen Sittlichkeit von der Revolution her droht, wo der durchschnittliche Revolutionär noch recht weit von der Ahnung der Konsequenzen der Revolution für Familie und Sittlichkeit, ja sehr oft in dieser Hinsicht brav klein­bürgerlich ist. Der Reaktionär vertritt Heroismus, Leidenerdulden, Entbehrungertragen absolut, ewig, und er vertritt solcherweise die Interessen des Kapitals, ob er will oder nicht. Dazu braucht er aber Religion, d.h. im Kern sexuelle Entsagung.

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Daher bedeutet Glück für ihn im wesentlichen sexuelle Befriedigung und er hat mit diesem Urteil recht. Auch der Revolutionär fordert viel Entsagung, Pflicht, Verzicht, weil die Glücksmöglichkeit erst erkämpft werden muss. In der praktischen Massenarbeit vergisst er darüber oft leicht — und manchmal gern — das eigentliche Ziel, das nicht Arbeit ist (der Kommunismus bringt fortschreitende Herabsetzung der Arbeitszeit) sondern das sexuelle Spiel und Leben in allen seinen Formen vom grob Sinnlichen bis zu den höchsten Sublimationen der Sexualität; die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Lebens, aber im Kommunismus schrumpft sie personell und zeitlich zusammen, um maschinell und räumlich zu wachsen. Das ist das Wesen der sozialistischen Rationalisierung der Arbeit im Gegensatz zur kapitalistischen.

Sätze wie die folgenden finden sich in vielen christlichen und reaktionären Schriften, wenn auch nicht immer so klar formuliert wie bei Kurt Hütten:

"Der Kulturbolschewismus ist nicht von gestern und heute. Es liegt ihm ein Streben zugrunde, das von Urzeiten an in der menschlichen Brust angelegt ist: Die Sehnsucht nach Glück. Es ist das urewige Heimweh nach dem Paradies auf Erden ... An die Stelle der Religion des Glaubens tritt die Religion der Lust."  

Wir fragen dagegen: warum kein Glück auf Erden, warum nicht die Lust als Inhalt des Lebens?

Man versuche eine Massenabstimmung über diese Frage!

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Der Reaktionär erkennt (wenn auch idealistisch verzerrt) aber noch weit mehr, auch den Zusammenhang der religiösen Ideologie mit der Ehe- und Familieninstitution.

"Um dieser Verantwortlichkeit (für die Folgen des Genusses) zu genügen, hat die menschliche Gesellschaft die Einrichtung der Ehe geschaffen, die als lebenslängliche Gemeinschaft den schützenden Rahmen für die Geschlechtsbeziehung darstellen soll."

Und gleich darauf folgt das gesamte Register an "Kulturwerten", die im Gefüge der Ideologie zusammengehören wie die Teile einer Maschine: "Die Ehe als Bindung, die Familie als Forderung, das Vaterland als Selbstwert, die Moral als Autorität, die Religion als Verpflichtung aus der Ewigkeit heraus."

Der Reaktionär christlicher oder faschistischer Prägung verurteilt die bürgerliche Form der sexuellen Lust (nicht ohne ihr dennoch selbst zu verfallen), weil sie ihn provoziert und abstösst zugleich. Er kann in sich selbst den Widerspruch zwischen sexuellen Anforderungen und moralischen Hemmungen nicht lösen. Der Revolutionär verneint, sofern er sexualideologisch klar ist, diese bürgerliche Lust, weil sie nicht seine Lust ist, nicht die Sexualität der Zukunft, sondern die Lust des Widerspruchs zwischen Moral und Trieb, die Lust der Ausbeutergesellschaft, erniedrigte, schmutzige, kranke Lust. Er begeht nur, wenn er unklar ist, den Fehler, beim Verdammen der bürgerlichen Lust stehen zu bleiben, statt ihr seine eigene positive Sexualideologie entgegenzusetzen.

Ist er sich über das Ziel der Lebensgestaltung im Kommunismus infolge seiner eigenen bürgerlichen Hemmungen nicht im klaren, so verleugnet er die Lust überhaupt, wird Asket und verliert dadurch alle Möglich­keiten an der Jugend.1) Der Zerfall der bürgerlichen Lebensformen im Sexuellen setzt schon vor der Revolution die sexuelle Rebellion frei. Aber sie bleibt zunächst bürgerliche sexuelle Rebellion, vor der mancher Revolutionär und oft mit Recht flieht. Es gilt aber, sie revolutionär umzugestalten, zur proletarischen Sexualrevolution weiterzuführen, nicht anders wie sonst aus den Erschütterungen des bürgerlichen Lebens die Zukunft des Sozialismus geboren wird. 

199-200

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1)  In dem sonst vorbildlichen Sowjetfilm "Der Weg ins Leben" wird (in der Waldschenkenscene) nicht der Geschlechtsform des verlotterten bürgerlichen Menschen die Geschlechtsform des Kommunismus, sondern Askese, Antisexualität, gegenübergestellt. Das Sexualproblem der Jugend wird völlig ausgeschaltet. Das ist politisch falsch und verwirrt, statt zu lösen.

 

 

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