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Kapitel 1

Ein Imperium des Rechts

 

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Sie sieht aus wie der Umriss eines Elefantenkopfes, jene Linie, die das Wachstum und die Menge des Vermögens darstellt, das weltweit zwischen 1980 und 2017 auf verschiedene Einkommensgruppen entfallen ist; passenderweise wird sie daher als »Elefanten-Kurve« bezeichnet.1 Die breite Stirn repräsentiert 50 Prozent der Weltbevölkerung, die in den letzten 35 Jahren nur mickrige zwölf Prozent des globalen Einkommenszuwachses für sich verbuchen konnten. Von der Stirn führt eine Linie zum Rüssel hinab und von dort aus steil nach oben zu seiner erhobenen Spitze. Am Rüssel sitzt »das Eine Prozent«; dieses hält 27 Prozent des neuen Vermögens, mehr als doppelt so viel wie die an der Stirn des Elefanten zusammengefassten Menschen. Die Senke zwischen Stirn und Rüssel ist der Ort, an dem sich in den fortgeschrittenen westlichen Marktökonomien die Familien mit niedrigem Einkommen bündeln, die »zusammengedrückten unteren 90 Prozent« dieser Volkswirtschaften.2

Dazu hätte es eigentlich nicht kommen sollen. Die 1980er Jahre sahen eine rapide Zunahme wirtschaftlicher und gesetzlicher Reformen in den Industrie- ebenso wie in den Schwellenländern, die bei der Allokation wirtschaftlicher Ressourcen den Märkten Vorrang vor dem Staat einräumten - ein Prozess, der durch das Verschwinden des Eisernen Vorhangs und den Zusammenbruch des Sozialismus noch verstärkt wurde.3 Die Idee war, Verhältnisse zu schaffen, in denen alle prosperieren würden. Die durch klare Eigentumsrechte und eine zuverlässige Durchsetzung von Verträgen geschützte Eigeninitiative würde, so lautete die These, sicherstellen, dass knappe Ressourcen dem effizientesten Eigentümer zugewiesen werden, was wiederum den Kuchen - zum Vorteil aller - vergrößern würde. Die Ausgangsbedingungen würden also vielleicht nicht gerade nivelliert werden, aber die vorherrschende Meinung war doch die, dass von der Befreiung der Individuen von den Fesseln der staatlichen Bevormundung letztendlich alle profitieren würden.

Dreißig Jahre später feiern wir nicht den Wohlstand für alle, sondern diskutieren darüber, ob wir bereits ein Maß an Ungleichheit erreicht haben, das zuletzt vor der Französischen Revolution erreicht wurde, und zwar in Ländern, die sich Demokratien nennen, mit ihrem Bekenntnis zur Selbstregierung auf Basis einer Herrschaft der Mehrheit und nicht der Eliten. Es ist schwer, diese Ansprüche mit einem Grad der Ungleichheit in Einklang zu bringen, der an den des Ancien Regime erinnert.

Natürlich herrschte kein Mangel an Erklärungen. Marxisten verweisen auf die Ausbeutung der Arbeit durch die Kapitalisten.4 Globalisierungsskeptiker behaupten, dass eine exzessive Globalisierung den Staaten die Macht genommen hat, einen Teil der Profite, die die Kapitalisten einstreichen, durch Sozialprogramme oder progressive Besteuerung umzuverteilen.5 Und schließlich besagt eine neue Deutung, dass das Kapital in entwickelteren Volkswirtschaften schneller wächst als der Rest der Wirtschaft; wer immer also in der Vergangenheit Vermögen angehäuft hat, wird es im Vergleich zu anderen weiter vermehren.6 Dies sind zwar zumindest teilweise plausible Erklärungen, die allerdings nicht auf die grundlegendere Frage nach der Genese des Kapitals eingehen:7 Wie wird Vermögen überhaupt erzeugt? Und, damit zusammenhängend, warum übersteht das Kapital häufig Konjunkturzyklen und Konjunkturschocks, die so viele andere in Panik versetzen und ihnen die Gewinne entreißen, die sie zuvor erzielt hatten?

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Die Antwort auf diese Fragen liegt, so werde ich behaupten, im Rechtscode des Kapitals begründet. Grundsätzlich besteht das Kapital aus zwei Komponenten: einem Gut und dem Rechtscode. Ich verwende den Ausdruck »Gut« hier in einem weiten Sinne für jedes Objekt, jede Forderung, Fähigkeit oder Idee, unabhängig von seiner oder ihrer Form. In ihrer reinen Gestalt sind diese einfachen Güter einfach genau das, was sie sind: ein Stück Boden, ein Gebäude, ein Versprechen darauf, eine Zahlung zu einem späteren Zeitpunkt zu erhalten, eine Idee für ein neues Medikament oder ein neuer Softwarecode. Mit der richtigen rechtlichen Codierung kann jedes dieser Güter in Kapital verwandelt und dadurch seine Tendenz, Vermögen für seine(n) Besitzer zu schaffen, verstärkt werden.

Die Liste der im Recht codierten Güter hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird dies wahrscheinlich auch weiterhin tun. In der Vergangenheit wurden Grund und Boden, Unternehmen, Schulden und Fachkenntnisse alle als Kapital codiert, und wie diese Auflistung zeigt, haben sich diese Güter mit der Zeit gewandelt. Grund und Boden produzieren Lebensmittel und Unterkunft auch dann, wenn es keine rechtliche Codierung gibt, aber Finanzinstrumente und geistige Eigentumsrechte gibt es nur im Recht und digitale Güter im Binärcode, für die der Code selbst das Kapital ist. Und doch sind die rechtlichen Mittel, die für die Codierung jedes einzelnen dieser Güter angewendet wurden, im Laufe der Zeit bemerkenswert konstant geblieben. Die wichtigsten sind das Vertragsrecht, die Eigentumsrechte sowie das Kreditsicherungs-, Trust-, Gesellschaftsund Insolvenzrecht. Dies sind die Module, aus denen das Kapital codiert wird. Sie legen Gütern wichtige Eigenschaften bei und privilegieren damit ihre Besitzer: Priorität [priority], welche konkurrierende Ansprüche auf dieselben Güter in eine Rangfolge bringt, Beständigkeit [durability], die prioritäre Ansprüche zeitlich ausdehnt, Universalität [universality], die sie

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räumlich ausdehnt, und Konvertierbarkeit [convertibility], die als ein Versicherungsmechanismus fungiert, der es Vermögensinhabern ermöglicht, ihre privaten Kreditansprüche bei Bedarf in Staatsgeld umzuwandeln und damit ihren Nominalwert zu schützen, da nur ein gesetzliches Zahlungsmittel ein echter Wertspeicher sein kann, wie in Kapitel 4 näher erläutert wird.8

Sobald ein Gut rechtlich codiert ist, ist es dazu geeignet, Vermögen für seine Besitzer zu erzeugen. Die rechtliche Codierung des Kapitals ist ein raffinierter Prozess, ohne den die Welt niemals das Vermögensniveau erreicht hätte, das heute herrscht; der Vorgang dieser Kapitalerzeugung selbst fand jedoch weitgehend im Verborgenen statt. Ich hoffe, im Laufe dieses Buches verdeutlichen zu können, wie das Recht dazu beiträgt, sowohl Reichtum als auch Ungleichheit zu schaffen.

Die ersten Ursachen der Ungleichheit aufzudecken ist nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil ihr Anstieg das soziale Gefüge unserer demokratischen Systeme bedroht, sondern auch, weil herkömmliche Formen der Umverteilung durch Steuern ihren Biss weitgehend verloren haben. Tatsächlich ist die Abschirmung von Gütern und Vermögenswerten vor der Steuer eine der unter ihren Besitzern gefragtesten Codierungsstrategien. Und Rechtsanwälten, den Herren des Codes, werden außergewöhnlich hohe Honorare dafür gezahlt, dass sie solche Werte mithilfe der Gesetze derselben Staaten aus dem Zugriffsbereich der Gläubiger herausschaffen, einschließlich der Steuerbehörden.9

Wie, von wem und zu wessen Vorteil Güter ausgewählt werden, um rechtlich als Kapital codiert zu werden, sind Fragen, die den Kern des Kapitals und der politischen Ökonomie des Kapitalismus betreffen. Trotzdem gibt es, wenn überhaupt, nur wenige Antworten auf diese Fragen in der Literatur. Der Grund dafür ist, dass die meisten Beobachter das Recht als einen Nebenschauplatz betrachten, obwohl es in Wirklichkeit

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genau das Tuch ist, aus dem das Kapital geschneidert ist. Dieses Buch wird zeigen, wie und durch wen ganz normale Güter in Kapital verwandelt werden, und wird den Prozess beleuchten, durch den Anwälte nahezu jedes Gut in Kapital umwandeln können. Die Wohlhabenden führen oft besondere Fähigkeiten, die harte Arbeit und die persönlichen Opfer, die sie selbst oder ihre Eltern oder Vorfahren erbracht haben, als Rechtfertigung für das Vermögen an, das sie heute besitzen. Gewiss mögen diese Faktoren zur Entstehung ihrer Reichtümer beigetragen haben. Doch ohne rechtliche Codierung hätten die meisten davon nur kurze Zeit überdauert. Über lange Zeiträume hinweg Reichtum anzuhäufen erfordert eine zusätzliche Absicherung, die nur ein von den Zwangsbefugnissen des Staates gestützter Code bieten kann.

Es wird oft als Zufall betrachtet, dass der ökonomische Erfolg, der die modernen Volkswirtschaften von früheren Zeiten mit viel geringeren Wachstumsraten und einer viel höheren Volatilität des Reichtums trennt, eng mit dem Aufstieg der Nationalstaaten verknüpft ist, die sich auf das Recht als das primäre Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung stützen.10 Viele Kommentatoren führen das Aufkommen privater Eigentumsrechte, verstanden als wesentliche Begrenzungen der Macht des Staates, als die entscheidende Erklärung für den Aufstieg des Westens an.11

Dennoch ist es möglicherweise zutreffender, diesen Aufstieg auf die Bereitschaft des Staates zurückzuführen, die private Codierung von Gütern im Recht zu unterstützen, und zwar nicht nur in Form von Eigentumsrechten im engeren Sinne, sondern auch von anderen rechtlichen Privilegien, die einem Gut Priorität, Beständigkeit, Konvertierbarkeit und Universalität verleihen. Tatsächlich wird die Tatsache, dass das Kapital mit der Macht des Staates verbunden und von ihr abhängig ist, in den Debatten über Marktwirtschaften häufig außer Acht gelassen.

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Verträge und Eigentumsrechte schützen zwar freie Märkte, doch der Kapitalismus braucht noch mehr - nämlich die rechtliche Privilegierung mancher Güter, die ihren Inhabern einen komparativen Vorteil gegenüber anderen bei der Anhäufung von Vermögen verschafft.12

Die Offenlegung der rechtlichen Struktur des Kapitals trägt zudem zur Lösung des Rätsels bei, das Thomas Piketty in seinem bahnbrechenden Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert präsentiert hat.13 Wie er dort zeigt, liegt die durchschnittliche Kapitalrendite in den entwickelten Volkswirtschaften über der durchschnittlichen gesamtwirtschafdichen Wachstumsrate (r>g). Piketty hat dieses Rätsel nicht aufgeklärt, sondern sich damit begnügt, sein bemerkenswert regelmäßiges empirisches Auftreten zu dokumentieren. Doch seine eigenen Daten liefern wichtige Hinweise für seine Lösung. In einem Kapitel namens »Die Metamorphosen des Kapitals«14 zeigt Piketty, dass ländlicher Grundbesitz bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein die wichtigste Quelle des Reichtums war. Inzwischen sind Aktien, Anleihen und andere finanzielle Vermögenswerte sowie städtischer Immobilienbesitz an seine Stelle getreten.

Die in diesem Buch vorgelegte Analyse wird zeigen, dass die Metamorphose des Kapitals Hand in Hand damit geht, dass die Module des Rechtscodes immer neuen Gütern übergestülpt werden, dass einige Güter aber auch von Zeit zu Zeit von den entscheidenden rechtlichen Modulen entkleidet werden: Ländlicher Grundbesitz, jahrhundertelang die wichtigste Quelle für privates Vermögen, hat lange von der größeren Beständigkeit profitiert, die er im Vergleich zu anderen Gütern besaß, büßte diese herausragende Stellung in Großbritannien und anderswo aber im späten 19. Jahrhundert ein. Zu diesem Zeitpunkt waren Kapitalgesellschaften nicht nur für die Organisation der Industrie, sondern auch als Nährböden des Reichtums zu weithin gebräuchlichen rechtlichen Modulen geworden. Zudem wurde diese Gesellschaftsform neben dem Trustrecht auch zu einem

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