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  Teil 1 

  Die "subtile" totalitäre Diktatur  

 

 

30-51

Das Leben in der DDR war für die meisten Menschen in hohem Maße reglementiert. Der umfassende Herrschafts- und Erziehungsanspruch der SED, der seine Legitimität aus dem Marxismus-Leninismus und einem DDR-spezifischen Antifaschismus bezog, mündete in einen langanhaltenden Prozeß der Unterdrückung.

Vor allem das Ministerium für Staatssicherheit hatte Zeit seines Bestehens dafür zu sorgen, daß Widerspruch gegen die Parteilinie rigoros verfolgt wurde. Kamen zunächst Mittel des Terrors zum Einsatz, um Opposition zu unterdrücken, verfeinerte sich das Vorgehen des MfS in der Ära Honecker. Das MfS entwickelte sich zu einem verdeckten Steuerungs- und Manipulationsorgan und versuchte so, im Auftrag der SED alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche in den Griff zu bekommen. Das neue Vorgehen gegen die politische Opposition mittels der Zersetzung ist in diesem Zusammenhang exemplarisch.

Der Charakter der politischen Herrschaft in der DDR, ihre ideologische Legitimation sowie die beiden zentralen Institutionen SED und MfS sollen im ersten Teil dieses Kapitels im Vordergrund stehen.

Das Herrschaftsmonopol der SED sowie die Ausschließlichkeit und Verbindlichkeit der Ideologien waren die Ursachen für Verfolgung, Unterdrückung und den Versuch totaler Kontrolle in der DDR. In der Totalitarismusforschung wird auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht. Allerdings ist das gegenwärtige Verständnis von totalitärer Diktatur noch weitgehend davon geprägt, daß Terror immer notwendig sei, um das Machtmonopol und die ideologischen Doktrinen zu erhalten. Dabei müßte es aber zweitrangig sein, in welcher Form Repression ausgeübt wird: Ob offen oder verdeckt, brutal oder subtil — an dem maßgeblichen Ziel, der totalen Kontrolle und Beherrschung von Menschen, änderte sich nichts. 

Durch die im zweiten Teil des Kapitels erfolgende Diskussion und Kritik der klassischen Totalitarismustheorien sowie die Vorstellung neuerer theoretischer Ansätze soll die Koppelung von Totalitarismus und Terror aufgebrochen und damit dem Einwand begegnet werden, das allmähliche Verschwinden des offenen Terrors in der DDR widerspreche einer Charakterisierung der DDR als totalitäre Diktatur.

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1. Politische Herrschaft in der DDR

 

Jede Form politischer Herrschaft bedarf der Legitimation, um sich auf Dauer zu erhalten. Das gilt auch für solche Formen, die sich in ihrer Herrschafts­ausübung vor allem auf repressive Mittel stützen. Im folgenden sollen die beiden grundlegenden Legitimationsstränge skizziert werden, auf denen die politische Herrschaft in der DDR beruhte: der Marxismus-Leninismus und die Ideologie des Antifaschismus. Auf ihrer Basis schufen die beiden maßgeblichen politischen Institutionen in der DDR, die SED und das MfS, ein politisches System, das sich durch umfassende Repression auszeichnete.

 

Die marxistisch-leninistische Ideologie

 

Der Marxismus-Leninismus war der ideologische Grundpfeiler, der den Herrschafts- und Gestaltungsanspruch der SED abstützte und schließlich auch den Einsatz von Unterdrückungsmitteln rechtfertigte. Im folgenden werden aus der umfassenden marxistischen Gesellschaftstheorie und Geschichtsauffassung nur zwei Aspekte hervorgehoben, die für das Verständnis der Legitimierung der politischen Herrschaft in der DDR von entscheidender Bedeutung sind: die historische Mission der Arbeiterklasse und das Verhältnis der kommunistischen Partei zum Proletariat.

Für Marx und Engels ist "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft [...] die Geschichte von Klassenkämpfen";1) der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat aber werde der letzte sein. Der Grund hierfür liegt in der eigentümlichen geschichtsphilosophischen Bestimmung des Proletariats. Dieses sei, so Marx, durch den umfassenden Entfremdungsprozeß des Kapitalismus so sehr von jeglichem Privateigentum ausgeschlossen und daher von jedem partikularen Interesse gereinigt worden, daß es nur noch das Allgemeininteresse, das Interesse der Menschheit verkörpere. Das Proletariat ist die Klasse, "welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann."2)

1)  Marx/Engels 1848, S. 462.  
2)  Marx 1844a, S. 390.


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In der bevorstehenden Revolution, die aufgrund der Ausbeutung und Erniedrigung für das Proletariat zur Existenzfrage geworden sei, werde die Arbeiterklasse daher nicht nur die kapitalistischen Produktionsverhältnisse stürzen, die Bourgeoisie vernichtend schlagen und sich des Eigentums an den Produktionsmitteln bemächtigen. Das Proletariat, dem jede Besonderheit ausgetrieben worden ist, werde sich auch selbst als Klasse aufheben, seine Befreiung zugleich die allgemeine menschliche Emanzipation herbeiführen.3) Darin besteht die historische Mission, die Marx und Engels dem Proletariat zugesprochen haben: Die proletarische Revolution werde nicht die Herrschaft einer besonderen Klasse durch die Herrschaft einer anderen ersetzen, sondern ein für allemal mit jeder Klassenherrschaft brechen. Zwar seien in einer Übergangsperiode noch "despotische Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse"4 notwendig, um den Sieg des Proletariats zu sichern. Doch diese Phase der "revolutionären Diktatur des Proletariats"5 sei nur ein notwendiges Durchgangsstadium zur Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, der Assoziation freier Individuen, in der der Staat absterbe und jede Form der Unterdrückung und der politischen Gewalt beseitigt sei.6)  

Es ist nicht das Pathos der Revolution allein, sondern die Aussicht, mit dieser Revolution die Befreiung der Menschheit verwirklichen oder zumindest einleiten zu können, die den Marxismus über hundertundfünfzig Jahre so attraktiv machte. Diese Faszination war um so stärker, als Marx und Engels immer wieder betonten, daß ihre Voraussagen weder Wunschvorstellungen noch Utopien seien, sondern auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen getroffen wurden. Ganz im Geist des 19. Jahrhunderts erklärte Engels: "Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte." 7)

Da die proletarische Revolution für Marx und Engels eine historische Notwendigkeit darstellte, spielte die kommunistische Partei nur die Rolle eines Geburtshelfers. Wie in der Theorie die Marxsche Wissenschaft sollte sie in der Praxis nur die "Geburtswehen abkürzen und mildern".8) Das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und Kommunisten war im Kommunistischen Manifest klar festgelegt. "Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Kommunisten" vertreten "in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung. [...] Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder."9) Bei aller Betonung der Identität von Partei und Arbeiterinteresse ermöglichen doch diese letzten Bestimmungen die Verselbständigung der kommunistischen Partei gegenüber denjenigen, die zu repräsentieren sie beanspruchen.

3)  Vgl. Marx 1844b, S. 521.  
4)  Marx/Engels 1848, S. 481.  
5)  Marx 1875, S. 28.  
6)  Vgl. Marx/Engels 1848, S. 482.  
7)  Engels 1883, S. 335.  
8)  Marx 1867, 23/16.  
9)  Marx/Engels 1848, S. 474.


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Nachdem sich Marx' Hoffnung auf die Selbstorganisation der Arbeiter in Trade Unions nicht erfüllt hatte und nach fünfzig Jahren die angekündigte Revolution immer noch ausgeblieben war, erfuhr die Bestimmung des Verhältnisses von Proletariat und Partei durch Lenin eine folgenreiche Umdeutung.

1902 erschien Lenins bekannte Schrift Was tun?, 1904 Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. In diesen Schriften begründete Lenin die Formierung einer Kaderpartei von Berufsrevolutionären. Diese sollte nicht nur den Weg zur Revolution ebnen, sondern auch nach der Errichtung der "Diktatur des Proletariats" die Macht nicht aus den Händen geben, da es der Arbeiterklasse noch an einem revolutionären Selbstbewußtsein fehle. Dieses müsse ihr erst "von außen gebracht werden".10) Damit war die Idee einer selbständigen, klandestinen Partei geboren, einer Avantgarde, die das Proletariat nicht mehr nur begleitete, sondern führte. 

Diesen Führungsanspruch legitimierte sie ganz im Einklang mit dem Kommunistischen Manifest: Sie war der Arbeiterklasse insofern voraus, als sie und nur sie die "Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung"11 hatte. Mit einem Wort: Die Partei besaß das Deutungsmonopol der Wirklichkeit. Der später wiederholt — ob stolz, kritisch oder ironisch — geäußerte Satz "Die Partei hat immer recht" gehörte seit Lenin zur Grundausstattung des kommunistischen Selbstverständnisses. Einheit war für diese Partei "neuen Typs" oberstes Gebot: ideologische Einheit, Einheit der Organisation mittels des "demokratischen Zentralismus" und Einheit des Handelns. Lenin warnte, daß "jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abweichen von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie" bedeute.12)

Ähnlich wie die Verselbständigung der Partei gegenüber der von ihr vertretenen Klasse, verselbständigte sich auch die theoretische Grundlage, die gegen jede Kritik hermetisch abgeschottet wurde. "Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion und bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt."13) Mit diesem Glaubensbekenntnis überführte Lenin den Marxismus als Wissenschaft in die Ideologie des Marxismus-Leninismus.

Die Definitionsmacht über die Geschichte begründete die Selbstermächtigung der politischen Avantgarde. Sie übernahm die historische Mission vom Proletariat und legitimierte die Anwendung "revolutionärer" Gewalt gegen alle "Klassenfeinde". Im Namen der allgemeinen menschlichen Emanzipation und der zu diesem Zweck notwendigen "Diktatur des Proletariats" wurde der politischen Willkür Tür und Tor geöffnet. Daher war es nur konsequent, daß nach der erfolgreichen Russischen Revolution umgehend die Tscheka eingerichtet wurde, die politische Polizei zur Bekämpfung und Liquidierung der politischen Gegner. 

10)  Lenin 1902, S. 385.  
11)  Marx/Engels 1848, S. 474.  
12)  Lenin 1902, 8. 396. 
13)  Lenin 1913, S. 3f.


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Unter ihrem ersten Leiter Dzierzinsky und vor allem später unter Stalin wurde sie zu einem umfassenden Terrorinstrument ausgebaut und gegen all jene eingesetzt, die verdächtigt wurden, den Fortschritt in der Geschichte zu behindern.14 Daß diesem Terror auch ehemalige Mitstreiter, ob Intellektuelle oder Arbeiter, zum Opfer fielen, konnte bei der Willkür der Gewalt nicht ausbleiben und lag in der Logik der Herrschaftslegitimation. "Mit dem Argument, <Wo man Holz haut, fallen Späne>, wurde vieles entschuldigt, mit dem Hinweis auf die Bedrohung und den Sieg letztlich alles gerechtfertigt oder wenigstens zugedeckt."15

 

Wie in allen kommunistisch regierten Ländern im Einflußbereich der Sowjetunion wurde der Marxismus-Leninismus auch in der DDR zur offiziellen Staatsideologie. "Auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus, seiner schöpferischen Anwendung und Weiterentwicklung", so hieß es im Statut der SED aus dem Jahr 1976, "lenkt und leitet die Partei die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, mit der grundlegende Voraussetzungen für den allmählichen Übergang zum Kommunismus in der Deutschen Demokratischen Republik geschaffen werden. Sie führt das Volk auf dem Weg des Sozialismus und Kommunismus, der Sicherung des Friedens und der Demokratie voran. Sie gibt diesem Kampf Richtung und Ziel."16 

Auch in anderen Dokumenten wurde der "wissenschaftliche Kommunismus" als "die theoretische Grundlage" des politischen Handelns der SED angeführt, denn: "Im Gegensatz zu allen anderen Weltanschauungen stellt nur der Marxismus-Leninismus eine konsequent wissenschaftliche Weltanschauung dar. Zum Unterschied von allen religiösen Weltanschauungen, deren Ausgangspunkt zum Beispiel stets der Glaube an höhere und übernatürliche Mächte bildet, basiert der Marxismus-Leninismus in allen Fragen auf der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur und der Gesellschaft. Seine revolutionäre Kraft ergibt sich nicht zuletzt gerade daraus, daß er der Arbeiterklasse die volle Wahrheit über die wirklichen Bedingungen ihres Befreiungskampfes vermittelt."17

Aufgrund der Übernahme der marxistisch-leninistischen Dogmen beanspruchte die SED auch die Insignien der Macht, die in dieser Weltanschauung der politischen Avantgarde zustehen. Immer unter Berücksichtigung ihrer Abhängigkeit von der Sowjetunion bzw. der KPdSU reklamierte die SED in der DDR für sich das Gewalt- und Deutungsmonopol, mit der die eigene Herrschaft abgesichert und die vollständige Veränderung der Gesellschaft vorangetrieben wurde. Der Marxismus-Leninismus wurde "absolute Bedingung" für die Existenz der SED und ihres politischen Systems.18 Zur Definitionsmacht gehörte selbstverständlich die Bestimmung des politischen Feindes, das heißt in der Klassenkampfrhetorik: die inhaltliche Ausgestaltung dessen, was unter Bourgeoisie zu verstehen und wie gegen sie vorzugehen sei.

14)  Vgl. Werth 1998.  
15)  Petzold 1995, S. 70. 
16)  Statut der SED vom 22. Mai 1976 (Auszüge), abgedruckt in: Schroeder 1998, S. 688-692, hier S. 688f.  
17)  Zentralrat der FDJ 1982, S. 97.  
18)  Kolakowski 1981a, S. 104.


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Der Wahrheits- und Ausschließlichkeitsanspruch erstreckte sich aber auch auf die eigenen theoretischen Grundlagen. Der SED oblag es festzulegen, wie die geistigen Väter Marx, Engels und Lenin unter den sich verändernden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu interpretieren seien. Die Partei übernahm gern nur solche programmatischen Vorstellungen von den Klassikern, die ihrer politischen Linie nutzten und die den augenblicklichen Erfordernissen entsprachen.19 Andernfalls nahm sie "geistige Operationen" an den marxistischen und leninistischen Dogmen vor, um beide weiterhin in den Dienst der eigenen Ziele stellen zu können. Diese Veränderungen führten nach Ansicht von Leszek Nowak zu einer "inhaltlich neuen ideologischen Doktrin"20. 

Die wissenschaftlich durchaus interessante Frage, ob diese ideologischen Umdeutungen dem Geist und Werk von Marx, Engels und Lenin entsprachen oder ob die SED ihre Lehren verfälschte, wurde in der Praxis unter Berufung auf eben jene Denker entschieden, das heißt unter Berufung auf das Interpretationsmonopol der kommunistischen Partei. Die politische und gesellschaftliche Praxis offenbarte aber zugleich die Konterkarierung des Versprechens, mit dem die Kommunisten ihren politischen Herrschafts- und geschichtlichen Führungsanspruch legitimierten: Die marxistisch-leninistischen Dogmen entwarfen "ein Zukunftsideal, die Utopie eines der Gegenwart entgegengesetzten Seinszustandes, eines <neuen Menschen> in einer <neuen Gesellschaft>",21) und formulierten zugleich die zur Durchsetzung dieses Zieles notwendige Praxis, die in der Wirklichkeit die Grundlage der Freiheit jedoch untergrub, anstatt zur Freiheit aller Menschen zu führen.

 

Die antifaschistische Ideologie

 

Neben dem Marxismus-Leninismus, der in allen kommunistischen Regimes die ideologische Grundlage darstellte, speiste sich der Herrschaftsanspruch der SED noch aus einer zusätzlichen Quelle: dem Antifaschismus, der in der DDR die Gestalt einer eigenen Weltanschauung annahm.

Die Indienstnahme des Widerstands gegen den Nationalsozialismus für legitimatorische Zwecke lag nahe, weil er einen hohen politisch-moralischen Mehrwert versprach. Um mit den Legitimations- und Herrschaftsinteressen der SED korrespondieren zu können, mußte aber der reale und vielfältige Widerstand im Sinne der Kommunisten zu einer spezifischen antifaschistischen Ideologie uminterpretiert werden. Die zentrale "Operation" bestand darin, den Antifaschismus auf den Widerstand der Kommunisten im Nationalsozialismus und die Abrechnung mit dem Kapitalismus zu reduzieren.22 Dieses verzerrte Bild des Antifaschismus in der DDR "stellte sicher, daß man selbst zu den Opfern des Faschismus und gleichzeitig zu den Siegern der Geschichte und nicht zu den Tätern und Verlierern gehörte."23)

19)  Vgl. Weber/Lange 1995, S. 2037.  
20)  Nowak 1998, S. 97,  
21)  Pohlmann 1998, S. 227.  
22)   Günter Fippel differenziert zwischen einem "echten Antifaschismus", der für ihn Ausdruck der vielfältigen Opposition gegen den Nationalsozialismus in Europa war und zwischen dem "unechten Antifaschismus" der DDR-Diktatur; vgl. Fippel 1992. 
23)  Münkler 1998, S. 23.


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Eine solche Zuschreibung hatte zur Folge, daß jegliche moralisch-politische Mitverantwortung für das nationalsozialistische Erbe in der DDR unthematisiert bleiben konnte; Schuld am Nationalsozialismus trug einzig und allein der "Monopolkapitalismus". Da eine umfassende Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht zum offiziellen antifaschistischen Selbstverständnis der DDR paßte, wurde die Masse der Bevölkerung indirekt von jeglicher Mitverantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten freigesprochen.24 Wo persönliche Schuldgefühle der Kriegsgeneration vorhanden waren, erhöhten sie die Macht- und Aufstiegschancen der SED.25 Die vollständige Vereinnahmung des Antifaschismus, diese "Instrumentalisierung von Geschichte für Zwecke der Herrschaftslegitimation und [...] Traditionalisierung in Gestalt eines volkspädagogisch intendierten Heroismus"26, ermöglichte es der DDR-Führung, in ihrer antifaschistischen Propaganda die Ursachen und das Funktionieren von totalitären Regimes vollends auszuklammern. Sie immunisierte sich damit von vornherein gegen jegliche totalitarismustheoretische Kritik und ging selbst politisch in die Offensive.

 

So wurde Walter Ulbricht zum Beispiel nicht müde zu behaupten, daß der Ausbruch des Nationalsozialismus "das Werk der aggressivsten, expansionistischsten Kräfte des Monopolkapitals" gewesen sei, "die mit den Mitteln der Militarisierung, der staatlich formierten Herrschaft und der Manipulierung der Menschen ein unmenschliches System" geschaffen hätten.27 Dieses ideologiebedingte Antifaschismusbild sollte nicht nur eine Abgrenzung zum Nationalsozialismus markieren, sondern auch Schuld und Verantwortung an die weiter existierende kapitalistische Welt, besonders die Bundesrepublik delegieren: Antifaschistisch hieß zugleich antiimperialistisch und antikapitalistisch. Diese Gleichsetzung ließ die BRD "unschwer in die Nähe des Dritten Reiches rücken."28)

Die Freund-Feind-Unterscheidung der antifaschistischen Ideologie wurde mit der des Marxismus-Leninismus zur Deckung gebracht. Das Proletariat bzw. der Sozialismus wurden unter die Kategorie "Freund" subsumiert, die Bourgeoisie bzw. der Kapitalismus/Imperialismus/Faschismus unter die des "Feindes". Dieses ideologisch konstruierte Freund-Feind-Bild war für die Herrschaftssicherung unerläßlich, lieferte es doch eine Legitimation für den Repressionsapparat.29 Denn die Existenz des Klassenfeindes bot immer die Rechtfertigung für den Aufbau von Sicherheits- und Militärstrukturen. Letztlich, und darauf wird noch ausführlich zurückzukommen sein, wurde Opposition in der DDR ausschließlich auf das Wirken und die Einflußnahme des angeblich omnipotenten Feindes im Westen zurückgeführt, da sie in der sozialistischen Gesellschaft "keine objektive und soziale Grundlage"30 hatte. Der Antifaschismus wurde so zur "ideologischen Waffe" gegen die inneren und äußeren Gefahren.31)

24)  Vgl. Faulenbach 1997, S. 149.  
25)  Vgl. Fürth 1991.
26)  Mallmann 1994, S. 113.
27)  Walter Ulbricht zit. nach Münkler 1998, S. 16.
28)  Faulenbach 1997, S. 151.
29)  Vgl. Baule 1993, S. 174.
30)  Stichwort "Opposition", in: Schütz u. a. 1989, S. 707.
31)  Jarausch 1991, S. 116.


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Die SED-Machthaber stigmatisierten die BRD als "Hort der Faschisten", die DDR hingegen verklärten sie zum konsequentesten "antifaschistischen Staat"; schließlich, so gab die SED vor, sei in der DDR die Phase der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" radikal vollzogen worden: "Junker" und "Monopolkapitalisten" wurden enteignet und Naziverbrecher bestraft. Dies sollte als Beweis dafür gelten, daß die DDR die "Lehren aus der Geschichte" gezogen und mit der Vergangenheit gebrochen hätte. Zu einer Erneuerung "monopolkapitalistischer Verhältnisse" in der DDR konnte es deshalb aus Sicht der Machthaber auch nicht mehr kommen.32 Honecker betonte 1985: "Die DDR ist die größte Errungenschaft in der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung. Hier wurde mit der verhängnisvollen reaktionären Vergangenheit des Imperialismus und Militarismus gebrochen. Die DDR verkörpert die Ideale des antifaschistischen Kampfes."33)

Wie der Marxismus-Leninismus immunisierte der ideologische Antifaschismus die Parteiführung gegen jegliche Kritik, da die DDR das moralisch "bessere Deutschland" verkörperte. Diese Fiktion konnte die SED über Generationen hinweg durch Indoktrination und Märtyrerkult aufrechterhalten. Eine DDR-Bürgerin kommentierte dies so: "Ich konnte mir die Zeit des zwölfjährigen Reiches nur als eine Zeit unsäglicher Greuel vorstellen. Das sehr früh angebotene sozial-ökonomische Erklärungsmodell vom <Faschismus als höchstentwickelter Form des Monopolkapitalismus> und die Projektion, daß diese Verbrecher nun alle im Westen lebten, boten dem Kind Entlastung [...]. Die Geschichten von den ermordeten Antifaschisten waren die Heldensagen der DDR (die Ermordung von Millionen Juden war dabei meist nur ein Nebenthema), und die Überlebenden erfüllten deren Vermächtnis — schon deshalb mußten sie im Recht sein."34 Der Antifaschismus wurde so zur "Loyalitätsfalle".35) 

Kritik und vor allem oppositionelles Verhalten gegen die SED, die "konsequenteste Trägerin des Antifaschismus",36) waren absolut ausgeschlossen und illoyal, zumal Kritik gegen den Führungskern, der sich vorrangig aus ehemaligen Antifaschisten zusammensetzte, "Widerstand gegen die Widerständler" bedeutet hätte.37 Diese "Loyalitätsfalle" hinterließ auch Spuren in der Opposition. Nicht wenige Oppositionelle hatten durch die moralische Überhöhung der DDR große Hemmungen, das System prinzipiell abzulehnen, weil sie sich selbst mit den antifaschistischen Werten dieser Diktatur verbunden fühlten.

Der Antifaschismus schützte die SED nicht nur vor Kritik, sondern diente ihr zugleich zur Rechtfertigung ihrer repressiven Politik. Das gilt sowohl für die Phase der Machterringung als auch für die der Machterhaltung. Der Antifaschismus wurde zu jeder Zeit der SED-Diktatur als Begründung für die Unterdrückung und Verfolgung der politischen Opposition bemüht, so etwa, um nur zwei herausragende Beispiele zu nennen: für die Niederschlagung der Arbeiterproteste am 17. Juni 1953 ("faschistische Agenten") und für den Bau der Mauer ("antifaschistischer Schutzwall") am 13. August 1961. 

32)  Stichwort "Antifaschistisch-demokratische Umwälzung", in: Schütz u. a. 1989, S. 43ff. 
33)  Honecker 1985, S. 246.
34)  Simon 1993.
35)  Simon 1993; vgl. auch Münkler 1998, S. 25.
36)  Stichwort "Antifaschismus", in: Schütz u. a. 1989, S. 41.
37)  Jarausch 1991, S. 121.


        


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Nicht zuletzt bildete der Antifaschismus den Rahmen für den von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und KPD/SED eingeleiteten Entnazifizierungsprozeß, der sich nicht nur auf NS-Verbrecher konzentrierte, sondern auch politisch mißliebige Zeitgenossen aus Wirtschaft, Staat und Politik einbezog. Weil letztere der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft im Wege standen, wurden sie als Kriegsverbrecher denunziert und verschwanden in den von der SMAD eingerichteten Internierungslagern. Viele wurden hingerichtet oder starben in den Lagern an Unterernährung, Kälte und Folter.38

Wenn aktuelle Politik nicht mit der Durchsetzung der "Diktatur des Proletariats" plausibel begründet werden konnte, griffen die Machthaber auf die antifaschistische Ideologie zurück. Sie ergänzte nicht nur den Marxismus-Leninismus, sondern erwies sich, verglichen mit ihm, als wirksamer und vor allem langlebiger.39 Die Verknüpfung von marxistischleninistischer mit antifaschistischer Ideologie bildete in der DDR die legitimatorische Grundlage der politischen Herrschaft wie für den Einsatz staatlicher Repressionsmaßnahmen gegen jedwede politische Opposition. Die beiden dabei maßgeblichen Institutionen waren die SED und das MfS, deren Rolle im politischen Gefüge der DDR nun dargestellt werden soll.

 

Die SED

 

Ihre Führungsrolle hielt die SED in Artikel 1 der Verfassung aus dem Jahr 1968 fest: "Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."40 Da die SED von sich behauptete, mit dem Marxismus-Leninismus im Besitz der Wahrheit zu sein und die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu kennen, beanspruchte sie für sich ein exklusives Führungsmonopol. Unter Berufung auf ihre "historische Mission" und den durch sie definierten "Antifaschismus" legitimierte die politische Führung in der SBZ/DDR alle von ihr in den ersten Jahren nach dem Krieg vorgenommenen Maßnahmen zur gesellschaftlichen Umwälzung: die Bodenreform, die Verstaatlichung der Industrie, die Bildungsreform, den Austausch der Eliten, die Aufhebung der parlamentarischen Politikformen, die Gleichschaltung der Parteien und nicht zuletzt den Aufbau des Staatssicherheitsapparates. Diese gravierendenden Eingriffe waren die entscheidenden Meilensteine auf dem Weg zur absoluten Macht der SED.

 

38)  Die Forschung geht davon aus, daß etwa 150.000 bis 180.000 Personen in die Sonderlager eingewiesen wurden; 42.000 von ihnen starben dort. Weitere 40.000 Menschen wurden in die Sowjetunion deportiert. Es ist bislang nicht belegbar, wie viele Kriegsverbrecher sich unter den Verhafteten und Deportierten befanden. Vgl. Kilian 1997; Weber H. 1980, S. 27.
39)  Noch im Oktober 1989 waren 54 Prozent der Schüler einer 8. Klasse der Auffassung, daß in der DDR die antifaschistischen Ziele und Ideale verwirklicht seien. Vgl. Schubarth/Schmidt 1992, S. 25.
40)  "Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 (GBl. I S. 199) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. I S. 425)", in: Lieser-Triebnigg 1988. Ausführlich zu dieser Verfassung: Mampel 1982; Friedrich-Ebert-Stiftung 1987; Roggemann 1976; Hauschild 1996.


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In ihren Statuten erklärte die SED, daß sie "die höchste Form der gesellschaftlich-politischen Organisation der Arbeiterklasse" sei, ihr "kampferprobter Vortrupp" und die "führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft, aller Organisationen der Arbeiterklasse und der Werktätigen, der staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen."41 Da sie sich als "höchste Form der Organisation" bezeichnete, mußten sich alle anderen Parteien und Massenorganisationen ihr unterordnen. Zur Tarnung ließ die SED zwar die Blockparteien bestehen, die aber nicht der Begrenzung der Macht dienten, sondern sich dem Führungsanspruch der SED beugten. In ihren Statuten und Programmen erkannten die Blockparteien die führende Rolle der SED ausdrücklich an. Das gleiche galt für die Massenorganisationen wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ), den Demokratischen Frauenbund (DFB), den Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) und die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische-Freundschaft (DSF), die als Transmissionsriemen"42 den Kontakt zu allen Schichten der Bevölkerung herstellten und diese im Sinne der SED lenkten. Fast alle hauptamtlichen Funktionäre der Massenorganisationen waren Mitglieder der SED. Die SED konnte sich deshalb in der Sicherheit wiegen, die Gesellschaft nahezu vollständig unter Kontrolle zu haben.43

An dem Führungsanspruch der SED änderte sich bis zum 1. Dezember 1989 nichts. Sie war das "Hirn der Arbeiterklasse"44 und immer im Recht. Die SED war die einzige politische Kraft in der DDR, die die Richtlinien für das Handeln aller Elemente des Systems vorgab, weil "die Arbeiterklasse ihre historische Mission nicht ohne die führende Rolle ihrer marxistisch-leninistischen Partei erfüllen" könne. "Alle geschichtlichen Erfahrungen", so hieß es im Studienmaterial der FDJ weiter, "beweisen eindeutig, daß dort, wo die revolutionäre Partei ihre führende Rolle nicht ausübt oder nicht auszuüben vermag, die Arbeiterklasse ihre historische Kraft einbüßt."45

Mittels des "demokratischen Zentralismus" sicherte die SED ihre Führungsrolle organisatorisch ab. Der "demokratische Zentralismus" regelte, daß die Befehlsstruktur von oben nach unten verlief: Alle gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche hatten sich so den Weisungen der SED zu unterwerfen. 

 

41)  "Statut vom 22. Mai 1976", abgedruckt in: Schroeder K. 1998, S. 688.  
42)  Richert 1966, S. 47.
43)  97% der Erwerbstätigen gehörten z. B. in den achtziger Jahren dem FDGB an, 75% der Jugendlichen zwischen 14 und 25 waren Mitglied der FDJ, 97 % aller Bauern waren in der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) organisiert. Vgl. Glaeßner 1989, S. 189, S. 211 f.
44)  Friedrich W. 1994, S. 4.
45)  Zentralrat der FDJ 1982, S. 46.


Die "subtile" totalitäre Diktatur  42

"Der demokratische Zentralismus ermöglicht es der Arbeiterklasse, ihre führende Rolle in der sozialistischen Gesellschaft und im sozialistischen Staat zu verwirklichen und die Einheit aller gesellschaftlichen Kräfte zur bewußten Durchsetzung der objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu gewährleisten. Er ist somit eine unerläßliche Bedingung für die richtige Leitung der sozialistischen Gesellschaft, für die volle Entfaltung ihrer Vorzüge und Triebkräfte. [...] Der demokratische Zentralismus ist die Gewähr für ein effektives Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens auf allen Gebieten und in allen Orten des Landes."46 

Der "demokratische Zentralismus" konzentrierte die Macht in den Händen einer kleinen Führungselite, die keine Form von Gewaltenteilung im politischen System zuließ. Er war im Grunde genommen neben den Ideologien das "Lebensgesetz der marxistisch-leninistischen Partei."47

Ein Abrücken vom Kurs der Partei war in der Diktatur kaum möglich: Schon bei geringfügigen Abweichungen setzten repressive Mechanismen ein. Bernward Baule betont: "Alle politischen und gesellschaftlichen Theorien, Überzeugungen, Geisteshaltungen, Aktivitäten, die der Mensch in seiner ursprünglichen Freiheit wählt und sich in seiner Lebensführung zu eigen macht", wurden als "feindlich" eingestuft, "sofern sie nicht im Sinne der SED (und des MfS) als marxistisch-leninistische (und damit als allein wahr) galten."48 In allen Bereichen der Gesellschaft zeigte sich, daß es an dem Führungsmonopol der SED nichts zu rütteln gab. Die Führungsrolle war unteilbar und der Machtanspruch der SED absolut. Die SED bestimmte, was für Staat, Gesellschaft und Bürger das Optimale sei.

Als logische Konsequenz ihres Führungsanspruchs instrumentalisierte die SED auch den Staatsapparat. Sie entschied über seinen Charakter, seine Aufgaben­stellung, seine Organisation und seine Struktur.49 Darüber hinaus besetzte sie mittels ihrer Kaderpolitik und des Nomenklatursystems alle Schlüsselpositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit treuen Anhängern. Matthias Wagner charakterisierte das Kadernomenklatursystem der SED "als wichtigstes Machtmittel der Staatspartei".50 Kaderpolitik und Nomenklatursystem waren eine "systemspezifische Form der Personalpolitik" und dienten der SED als "zentrales Steuerungs- und Integrationsmoment".51 Aufgabe der Parteikader war es, die Politik der SED in entscheidenden Positionen zu verwirklichen. Sie wurden nach "Kriterien herangezüchtet, die den Interessen der SED entsprachen, wobei Disziplin und Vertrauenswürdigkeit an erster Stelle standen".52 Die Nomenklatur führte alle politischen und ökonomischen Leitungsfunktionen auf, die mit den Kadern zu besetzen waren. Sie war "ein Mittel, das die Exklusivität bestimmter Positionen und ihrer Inhaber" sicherte.53)

Alle ökonomischen, politischen, rechtlichen, wissenschaftlichen und sonstigen gesellschaftlichen Subsysteme wurden ihrer Eigenständigkeit beraubt. Sie wurden zentralisiert, um sie in den Dienst einer Partei zu stellen. Es fand nach Sigrid Meuschel ein brachialer Entdifferenzierungs- und Entklassifizierungs­prozeß in der DDR statt,54 der zur Entgrenzung der Herrschaft der SED führte. Weder ihre Macht noch die Anwendung von Repression zur Durchsetzung ihrer parteipolitischen Linie konnten durch unabhängige Instanzen kontrolliert werden — das galt auch für das MfS, das die zweite zentrale politische Institution in der DDR war.

 

46)  Stichwort "demokratischer Zentralismus", in: Schütz u. a. 1989, S. 179f.
47)  Grotewohl 1949, S. 121.
48)  Baule 1993, S. 179.
49)  Vgl. Meuschel 1992; Neugebauer 1978; Sontheimer/Bleek 1972; Brunner 1995.
50 Wagner 2001.
51 Meyer G. 1991, S. 88.
52 Wagner 2001.
53 Neugebauer 1978, S. 157.
54) Meuschel 1992, S. 19.


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Das MfS

 

Staatssicherheitsminister Erich Mielke betonte anläßlich des 35. Jahrestages der Bildung des MfS: "Die zielklare Führung durch die Partei der Arbeiterklasse ist die entscheidende Grundlage aller unserer Erfolge, der 35jährigen Entwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit zu einem im Volk fest verwurzelten, vom Klassenfeind gehaßten, kampfstarken Organ der Diktatur des Proletariats."55 Das MfS war aber nicht das Sicherheitsorgan des Volkes, auch wenn es sich so legitimierte, sondern das der Partei. Und genauer: Das MfS war vor allem das Überwachungs- und Repressionsinstrument einer Gruppe von Funktionären in der Parteispitze. Es war vorrangig ihr "Schild und Schwert". Die SED-Führung instrumentalisierte den Staatssicherheitsdienst zur Durchsetzung ihres Machtanspruchs gegenüber der Gesellschaft und ließ ihn zu einem Ministerium mit weitreichenden Befugnissen werden.

Das MfS war kein klassisches Abwehr- und Aufklärungsorgan. Seine Kompetenzen gingen weit über die Funktionen eines geheimen Nachrichtendienstes hinaus. Im Gegensatz zu Demokratien, wo eine strikte Trennung zwischen Polizei, Justiz und Geheimdienst besteht,56 lagen in der Kompetenz des MfS sowohl geheimdienstliche wie verdeckte polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Aufgaben. Auch die Überwachung und Verfolgung von unliebsamen Parteimitgliedern war kein Tabu für das MfS. Letzteres wurde besonders in den fünfziger Jahren deutlich, als der Staatssicherheitsdienst auf Befehl des Politbüros gegen Funktionäre aus den eigenen Reihen vorging, wie zum Beispiel gegen Max Fechner oder Karl Schirdewan.57

Verbindliche Grundlagen für die Tätigkeit des MfS waren die Befehle und Weisungen des Politbüros, an denen keine Kritik erlaubt war. Sie mußten strikt befolgt werden. Pointiert gesagt: Sie waren als "Klassenauftrag" verpflichtend. Im Statut des MfS aus dem Jahr 1969 wurden in aller Deutlichkeit das Programm der SED und die Beschlüsse des Zentralkomitees (ZK) sowie des Politbüros als Richtlinien für die geheimpolizeiliche Arbeit genannt.58 Die Beschlüsse wurden den <Tschekisten> jeweils von Parteifunktionären erklärt. In Gesprächen legten sie die politischen Schwerpunkte der geheimpolizeilichen Arbeit, den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Handlungsspielraum sowie die zu beachtenden Normen der geheimpolizeilichen Tätigkeit fest.59)

 

55)  Mielke 1987, S. 431.
56)  Wieck 1995; Kaltenbrunner 1985; Hirsch A. 1996; Krieger/Weber 1997.
57)  Fechner war 1949 bis 1953 Justizminister. Nach dem 17. Juni 1953 wurde er als "Feind des Staates und der Partei" seines Amtes enthoben, aus der SED ausgeschlossen, verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Schirdewan, Ulbrichts schärfster Widersacher im Politbüro, wurde 1958 wegen angeblicher "Fraktionstätigkeit" mit dem damaligen Chef des MfS, Wollweber, aus dem ZK ausgeschlossen und anschließend mit einer "strengen Rüge" bestraft.
58)  Vgl. "Statut des MfS vom 30. Juli 1969", abgedruckt in: Judt 1998, S. 467f.


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Das MfS feierte am 8. Februar 1985 sein 35jähriges Bestehen als "Schild und Schwert" der SED.


Politische Herrschaft in der DDR   45

Nach den Alleingängen des zweiten Staatssicherheitsministers Ernst Wollweber baute die SED ihre Kontroll- und Beeinflussungsinstrumente gegenüber dem MfS massiv aus, um weitere Verselbständigungstendenzen auszuschließen, die sich gegen sie richten konnten.60 Dazu gehörte zum einen eine systematische Personalpolitik im Staatssicherheitsdienst. Alle Leitungsfunktionen wurden mit Personen besetzt, die allein die Parteispitze ernannte. In die Entscheidungskompetenz des Politbüros fiel die Ernennung des Ministers für Staatssicherheit, und die Nomenklatura des Nationalen Verteidigungsrates bestimmte die stellvertretenden Minister, die Leiter einiger besonders wichtiger Hauptabteilungen sowie die Leiter der Bezirksverwaltungen. Die ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen61 war für die Besetzung der stellvertretenden Leiter der Hauptabteilungen und die "Stellvertreter Operativ" in den Bezirksverwaltungen zuständig.62 

Alle höheren Leitungsebenen im MfS wurden ausschließlich mit Genossen besetzt, die über Jahre hinweg Linientreue, Verschwiegenheit, Gehorsam, Einsatzbereitschaft und Durchsetzungskraft bewiesen hatten. Diese Eigenschaften spielten auf allen Ebenen des MfS eine überdurchschnittliche Rolle,63 denn die SED wollte und mußte sich eines hohen Maßes an politischer Zuverlässigkeit im MfS sicher sein, da die konkrete Umsetzung ihrer politischen Vorgaben in die geheimpolizeiliche Praxis einzig und allein den MfS-Mitarbeitern vorbehalten war. Fast ausnahmslos waren die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS Mitglieder der SED.64 Im Dienst der Staatssicherheit standen grundsätzlich keine Selbstbewerber, ehemalige Gestapo-Mitarbeiter und "Personen, bei denen aufgrund ihrer eigenen Vorgeschichte oder verwandtschaftlichen Verbindungen ein erhöhtes Risikopotential für .feindliche' Agententätigkeit vermutet wurde."65

59)  Vgl. Süß W. 1995, S. 94.
60)  Wollweber, der 1953 das Amt von Zaisser übernommen hatte, versuchte nach Ansicht des Politbüros, "die Staatssicherheit über die Partei zu stellen" (Bericht des Politbüros auf dem 35. Plenum des Zentralkomitees (Auszug), abgedruckt in: Engelmann/Schumann 1995, S. 65). Wollweber erließ im Januar 1957 den Befehl 11/57, der im Kern beinhaltete, daß alle Meldungen des MfS an Ulbricht und die Mitglieder der Sicherheitskommission grundsätzlich über Wollweber laufen sollten. Ulbricht vermutete, daß Wollweber ihm so gezielt Informationen vorenthalten und sich damit über Partei sowie Regierung stellen wollte. Wollweber war Ulbricht schon lange ein Dorn im Auge, da er mit seiner geheimdienstlichen Arbeit im Inneren der DDR nicht zufrieden war (vgl. ebenda, S. 61 ff). 1957 gelang es Ulbricht, Wollweber als Minister für Staatssicherheit abzusetzen. Ausführlich zu den Vorgängen siehe: Flocken/Scholz 1994.
61)  Im ZK wurde 1953 die Abteilung für Sicherheitsfragen eingerichtet, die die Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse in den "bewaffneten Organen" zu kontrollieren und das MfS in seiner politischen Arbeit anzuleiten hatte.
62)  Vgl. Süß W. 1997, S. 10.
63)  Gieseke 1995, S. 9.
64)  Lediglich im Wachregiment "Feliks Dzierzynski" und einigen wissenschaftlich-technischen Bereichen waren einige Mitarbeiter parteilos. Vgl. Fricke 1991, S. 17.
65)  Gieseke 1996, S. 13


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Die SED kontrollierte und beeinflußte das MfS zum anderen, indem sie die führenden Kader der Staatssicherheit in ihre Leitungsorgane einbezog. Mielke und sein Stellvertreter Generaloberst Mittig waren zum Beispiel Mitglieder des ZK der SED. Mielke wurde im Jahr 1976 sogar Mitglied des Politbüros. Durch diese personelle und strukturelle Verflechtung wurde die Führungsspitze des MfS unmittelbar in die politische Willensbildung und Entscheidungsfindung der SED involviert: Eine enge Bindung an die Beschlüsse der Partei sollte auf diesem Wege garantiert werden. Die personelle und strukturelle Vernetzung von Partei und MfS setzte sich bis in die unteren Ebenen fort. Ebenso wie die Ministeriumsspitze wurden auch die Leiter der Bezirksverwaltungen und der Kreisdienststellen des MfS in die jeweiligen Bezirks- bzw. Kreisleitungen der SED eingebunden.

Darüber hinaus gab es politisch-administrative Kontrollmechanismen durch die Etablierung einer eigenen Parteiorganisation im MfS. Die Parteiorganisation der SED im Staatssicherheitsdienst hatte drei entscheidende Aufgaben. Erstens hatte sie den MfS-Mitarbeitern die politische Generallinie der SED verständlich zu machen. Zweitens hatte sie die Umsetzung der ideologischen und politischen Vorgaben der Politbürokratie in der geheimpolizeilichen Arbeit zu überwachen und bei Verstößen gegen diese Vorgaben Disziplinarverfahren zu veranlassen. Drittens war die Parteiorganisation auch noch in den achtziger Jahren ein "Instrument zur ideologischen Formierung der MfS-Mitarbeiter und zur Durchsetzung der kaderpolitischen Prinzipien der SED innerhalb des Staatssicherheitsdienstes."66 Da die MfS-Mitarbeiter in hohem Maße den "ideologischen Gefahren" durch ihre Konfrontation mit oppositionellem Gedankengut ausgesetzt waren, wurde auf ihre ideologische Erziehung besonderer Wert gelegt. Auf regelmäßigen Parteiversammlungen und -lehrgängen wurde das ideologische Bewußtsein der "Tschekisten" immunisiert: Schwankungen und ideologische Abweichungen sollten durch einen festen Klassenstandpunkt in den eigenen Reihen ausgeschlossen werden.

Die Gliederung der Parteiorganisation im MfS war horizontal und vertikal der inneren Struktur des Staatssicherheitsdienstes angepaßt. In der Zentrale, in den Bezirksverwaltungen sowie den Kreis- und Objektdienststellen existierten jeweils Parteiorganisationen, die nach den Vorgaben der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen arbeiteten.

Auch wenn es im Interesse der SED lag, das MfS vollständig zu kontrollieren, so sah die Realität etwas anders aus: In der unmittelbaren geheimpolizeilichen Tätigkeit gestand sie dem Staatssicherheitsdienst aus konspirativen Notwendigkeiten und aufgrund der Hypertrophie des MfS-Apparates einen erheblichen eigenverantwortlichen Handlungsspielraum zu. So durfte die Parteiorganisation der SED im MfS, die die wichtigste Informationsquelle des ZK für Sicherheitsfragen war, weder über die Klarnamen, die Anzahl und den Einsatz von IM noch über die in den OV umgesetzten individuellen Repressions­maßnahmen informiert werden. Auch die Parteiführung selbst verfügte vermutlich kaum über detaillierte Kenntnisse aus der aktuellen geheimpolizeilichen Praxis des MfS.67) 

66)  Schumann 1997b, S. 128. 
67)  Interview mit dem ehemaligem Stellvertreter Operativ der BV Berlin, Kurt Zeiseweis, am 30.5.1999. Einige Forscher haben dies bereits für die fünfziger, sechziger Jahre konstatiert; vgl. Schumann 1997b; Süß W. 1997.


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Das immense Anwachsen des MfS-Apparates muß die Parteiführung in bezug auf Einfluß und Kontrolle schließlich völlig überfordert haben, denn auch Mielke und seine Stellvertreter konnten in den achtziger Jahren keine "zentralistisch dirigistische Leitung" des Ministeriums mehr gewährleisten.68 Die MfS-Spitze und die Politbürokratie konzentrierten sich daher nur noch auf den Erlaß geheimpolizeilicher Richtlinien.

Für die achtziger Jahre ist zu konstatieren, daß die Parteiführung nur noch bei politisch brisanten Fällen in die aktuelle Arbeit des MfS eingriff. Zwischen Honecker und Mielke gab es wöchentlich ein Vier-Augen-Gespräch, und Mielke hat von ihm, wenn es um strafrechtliche Sanktionen gegen bekannte Oppositionelle ging, Entscheidungen verlangt: "Ich konnte nichts entscheiden, ich legte vor und habe meine Entscheidungen bestätigen lassen."69 Die Ereignisse um die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988, die noch ausführlicher beschrieben werden, bestätigen Mielkes Aussage. Allerdings kam es dann, auch dies wird zu thematisieren sein, nicht selten zu Interessenkollisionen zwischen SED und MfS.

Die Politbürokratie scheint sich im letzten Jahrzehnt der Diktatur darauf verlassen zu haben, daß die genannten Einfluß- und Kontrollinstrumente ihre Monopolstellung gegenüber dem MfS ausreichend sichern würden. Der dem MfS von Seiten der SED zugestandene Spielraum führte nicht selten zu einem Übereifer einiger "Tschekisten", der sich in der Überschreitung geltender Dienstvorschriften widerspiegelte. Siegfried Suckut stellte bereits in bezug auf die sechziger Jahre fest, daß MfS-Mitarbeiter in dieser Zeit häufig die Kompetenzen ihrer Tätigkeit überschritten. So konstatierte die ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen zum Beispiel im Januar 1963, daß vom MfS observierte Menschen ohne richterlichen Haftbefehl inhaftiert wurden, Hausdurchsuchungen ohne richterliche Anordnung des Staatsanwaltes stattfanden und die Inhaftierten keinerlei Rechtsmittel in Anspruch nehmen durften.70 

In der Honecker-Ära lassen sich ebenfalls von den politischen Vorgaben abweichende Handlungen nachweisen, die vor allem möglich wurden, weil die Partei das MfS in der unmittelbaren Arbeit selbständig operieren ließ. So kam es in einigen Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS in den achtziger Jahren zur Überschreitung der in der "Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)" normierten Zersetzungsmaßnahmen.71 Regelverstöße gegen diese und andere Richtlinien waren vor allem auf den unteren Ebenen des MfS zu beobachten, da sie weniger prominente Oppositionelle verfolgten und dadurch noch unabhängiger von den Entscheidungen der SED agieren konnten. Aber die Normüberschreitungen wurden, wenn sie überhaupt bekannt wurden, nicht mit sonderlichem Argwohn registriert und konsequent bestraft. Dies hatte einen einfachen Grund: Der Übereifer einiger Genossen richtete sich nicht gegen das Machtmonopol der SED, sondern gegen jene, die es gefährdeten.


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Der dem MfS zugestandene eigenverantwortliche Handlungsspielraum führte deshalb in der Praxis auch nicht dazu, daß sich das MfS zum "Staat im Staate" entwickelte, wie gelegentlich behauptet wird,72 sondern die politische Geheimpolizei war gerade unter Mielke "Schild und Schwert" der Führungsspitze der SED. Die SED gestand dem MfS ein Eigenleben zu. Die damit verbundene Macht hätte es zwar nutzen können, um sich gegen die Partei zu richten, was aber unter der Leitung Mielkes zu keinem Zeitpunkt der Fall war: Die Antastung der Führungsrolle der SED stand im Staatssicherheitsdienst nicht zur Debatte. So wie das MfS nicht ohne die SED in dieser totalitären Diktatur existieren konnte, so konnte die Partei nicht ohne das MfS überleben. Zwischen beiden bestand eine einzigartige Symbiose, die in logischer Konsequenz zu dem Zeitpunkt auseinanderfiel, als die Macht der SED im Herbst/Winter 1989 ins Wanken geriet. Zu Recht hat deshalb Karl Wilhelm Fricke betont: 

"Mit dem politisch-ideologischen Verfall der Staatspartei verfiel auch die ideologische Motivierung und politische Mobilisierung der hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Mit der Krise der SED kam auch das MfS in die Krise. [...] Ein Staat im Staate, wäre das MfS denn ein solcher gewesen, hätte er sich nicht ohne weiteres liquidieren lassen. Da sich die Existenz des MfS jedoch ausschließlich aus seiner Funktion als Herrschaftsinstrument der SED herleitete, war sie mit dem Ende der Staatspartei auch selbst beendet."73)

 

Strukturelle Repression

 

Unabhängiges Denken und eigenständige Urteilsbildung, soweit sie selbstbewußt und kritisch auftraten, waren in der DDR unerwünscht. Die Individual­interessen hatten sich den gesellschaftlichen Erfordernissen unterzuordnen oder sich an ihnen auszurichten.74 Die Definitionsmacht über die kollektiven Interessen lag allein bei der SED, die ihren gesellschaftlichen "Erziehungsauftrag" aus ihrer Avantgardestellung in der Geschichte ableitete.75 Da nur die Partei den Marxismus-Leninismus richtig interpretieren könne, verfüge auch nur sie über das wissenschaftliche Instrumentarium zur Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Daher sei sie die einzige Kraft, die beurteilen könne, was für das Volk als ganzes, aber auch für den einzelnen Bürger gut und schlecht sei.

 

72)  So: Wilkening 1990.
73)  Fricke 1995a, S. 19. Gerd Knauer betont, daß die Mitarbeiter des MfS keine Ambitionen zeigten, die Führungsspitze zu stürzen oder die "Auflösung der DDR [...] dramatisch zuzuspitzen", obwohl das MfS "als einziger Machtfaktor der DDR" potentiell dazu fähig gewesen wäre (Knauer 1992, S. 727). Als Gründe fügt er u. a. die "auf Isolation und Abschottung ausgerichtete Struktur und Arbeitsweise sowie die bis zuletzt funktionierende Befehlsstruktur im Ministerium" an (ebenda, S. 719). Ebenso wichtig für die extrem staatsloyale Haltung waren jedoch auch die bei den MfS-Mitarbeitern überdurchschnittlich ausgeprägten Eigenschaften wie Gehorsam, Patriotismus, Untertanengeist und Pflichtbewußtsein.
74)  Zieger 1980, S. 89.
75)  Mampel 1996a, S. 15.


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"10 Gebote": Nach den Vorstellungen von Walter Ulbricht hatte sich der neue sozialistische Mensch an einem Katalog von Pflichten zu orientieren: seine Rechte waren denen völlig untergeordnet.


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Das Individuum, das in erster Linie Staatsmitglied war, hatte folglich sein Leben an einem Katalog von Pflichten zu orientieren, was nicht nur zu einer Einengung des individuellen Bewegungs- und Handlungsspielraums führte, sondern auch zur Ausschaltung der Autonomie des Individuums.76 Von vorstaatlichen, unveräußerlichen, allen Menschen angeborenen Menschenrechten konnte in der DDR-Diktatur keine Rede sein. Anpassung, Disziplin und Unterordnung wurden zu dominierenden Faktoren für die in der Diktatur lebenden Menschen. Der ständige äußere Zwang führte zu psychischen Deformierungen. "Gerade die verdeckte, für jedermann gleichwohl fühlbare Omnipräsenz des Staatssicherheitsdienstes beschädigte nachhaltig die Grundbedingungen persönlicher wie gesellschaftlicher Kreativität und Entfaltung: Eigen-Sinn, Vertrauen, <Spontaneität>".77) Durch unentwegte Kontrollen wurde bei den Bürgern in der DDR "ein Gefühl der Unsicherheit, ein Gefühl der Schwäche, ein Gefühl der Unterlegenheit, ein Gefühl des Ausgeliefertseins" hervorgerufen.78)

Wolfgang Schuller verweist zu Recht darauf, daß Repression in der DDR nicht nur durch das MfS, sondern allein schon durch die gesellschaftlichen Strukturen und politischen Rahmenbedingungen ausgeübt wurde.79) Die Zentralisierung aller gesellschaftlichen Subsysteme, das Prinzip des "demokratischen Zentralismus", die Etablierung von militärischen und paramilitärischen Organen, das sozialistische Bildungssystem, die ideologische Erziehung in Kindergarten und Schule sowie nicht zuletzt Mauer und Schießbefehl bewirkten eine permanente Disziplinierung und Unterdrückung der Gesellschaftsmitglieder.80)

Die eingeforderte Mitgliedschaft in den Massenorganisationen, die Berufssteuerung oder die Kaderpolitik sind weitere Beispiele, die die repressive Grundstruktur dieser Gesellschaft deutlich machen.81) Selbst die von Honecker gepriesenen Erfolge der sozialistischen Sozialpolitik hatten einen repressiven Effekt. Solange die Bürger dem System und seiner Führung gegenüber Loyalität bekundeten, konnten sie die Karriereleiter hochklettern, ihr Einkommen verbessern, größeren Wohnraum erhalten oder einen Urlaubsplatz zugesprochen bekommen. Im Tausch gegen Freiheit und Autonomie konnten sie mit wirtschaftlichen Leistungen, Karriereangeboten und sozialen Sicherheiten rechnen.

Die Repression, von der weite Teile des Volkes allein aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen betroffen waren, ist als strukturelle Repression zu bezeichnen. Sie hatte einen präventiv-disziplinierenden, einschüchternden und erzieherischen Charakter. Diese Form mittelbarer Repression unterscheidet sich von den Repressionsmaßnahmen gegenüber der politischen Opposition, denn diese ging weit über die üblichen Benachteiligungen, Deformierungen und Schikanen im alltäglichen Leben eines DDR-Bürgers hinaus. Die SED brauchte auf Dauer für die Masse der Bevölkerung weder die brutale Gewalt noch die spezifische Repressionsmethode der Zersetzung. Die staatlich vermittelte Gewalt erwies sich für die Herrschaftssicherung gegenüber der Mehrheit der Menschen in der DDR als äußerst effizient. Bei vielen erzielte sie über Jahre hinweg eine weitgehende Neutralisierung und staatskonforme Haltung. 

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