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Am 15. Januar 1998 erscheint der Zeuge Wilhelm M. pünktlich um 9 Uhr vor dem Gerichtssaal A 01 des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Es soll in der Strafsache gegen die Rentnerin Irene R. wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verhandelt werden. Wilhelm M. ist am Vortag aus Eisenhüttenstadt angereist. Heute wird er nach 20 Jahren zum ersten Mal die Frau wiedersehen, mit der er acht Jahre lang zusammengelebt hat und die er dann auf Befehl der Ostberliner HVA-Zentrale Hals über Kopf verlassen mußte.

All das schien lange vorbei zu sein, als eines Morgens im Jahr 1994 zwei BKA-Beamte vor seiner Wohnung in Eisenhüttenstadt standen. Sie wollen ihn zur Person von Irene R. befragen, die im Verdacht stehe, für den DDR-Geheimdienst tätig gewesen zu sein. Man wolle ihn als Zeugen in dieser Sache hören.

Wilhelm M. ist sofort bereit, alles zu offenbaren. Er empfindet fast so etwas wie Erleichterung, endlich über diesen Teil seiner Lebensgeschichte sprechen zu können, und berichtet, wann und wie er sie kennen­gelernt hat, unter welcher Legende er sich ihr gegenüber verbarg, wie er mit ihr lebte und sie dazu brachte, Geheimmaterial aus ihrem Büro im Bundeswirtschaftsministerium zu beschaffen. Und er wiederholt immer wieder, daß sie niemals gewußt hat, für wen sie das in Wirklichkeit tat, und ebensowenig, wer der Mann, den sie liebte, tatsächlich gewesen ist. Nachdem er seine Aussage unterschrieben hat, gehen die Beamten.

Einige Zeit danach meldet sich Irene R. telefonisch bei ihm. Sie weiß erst seit wenigen Monaten, wie er wirklich heißt, daß er nicht einfach ihr Geliebter, sondern ein Geheimdienstmann der DDR war, der auf sie als abzuschöpfende »Quelle« angesetzt war. Sie nennt ihn immer noch bei jenem Namen, unter dem er sich so viele Jahre getarnt hatte, und scheint sich unendlich zu freuen, daß sie seine Stimme hört. Dann weint sie, erzählt ihm von der unglücklichen Zeit, die sie erlebt hat, nachdem er sie verlassen hatte. Sie ist inzwischen verheiratet, aber sehr unglücklich in ihrer Ehe, wie sie sagt, und sie möchte den früheren Geliebten wiedersehen, wobei sie ängstlich bekennt, daß sie »sehr auseinandergegangen« sei. Sie nennt ihm weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer. Sie werde sich bald wieder melden, sagt sie.


Wilhelm M. ist bewegt von dem Gespräch, fast scheint ihm, diese Frau wolle ihm verzeihen, was er ihr angetan hat. Aber er hat auch sehr zwiespältige Gefühle. Wo soll er denn anknüpfen, wenn sie sich wiedersehen? Was will sie von ihm, was will er von ihr? Auf jeden Fall möchte er ihr dann erklären, wie er in jene Situation hineingeraten war, warum er Kundschafter wurde und schließlich jenen Romeo-Auftrag annahm. Daß er Irene R. nicht zerstören, sondern sich lediglich ein Stück von den Abenteuern des Lebens im Westen erkämpfen wollte.

Wilhelm M. dürfte die große Ausnahme unter den ehemaligen Romeos sein. Er ist der einzige dieser Agenten, der offen über seine frühere Tätigkeit spricht und versucht, sein Tun wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu erklären. Daher hofft er auch auf eine Begegnung und ein Gespräch mit Irene -und fürchtet es zugleich. Aber nach ihrem ersten Anruf meldet sie sich nicht mehr.

Im Dezember 1997 erhält er die Vorladung zum Prozeß gegen Irene R., die der geheimdienstlichen Agententätigkeit angeklagt wird. Wilhelm M. ist als Zeuge einbestellt, nicht als Mitangeklagter. Selbst wenn das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1995 nicht ergangen wäre, könnte er nicht belangt werden. Denn für ihn ist der mögliche Straftatbestand verjährt. Nicht aber für Irene R..... Sie wurde, nachdem der Romeo Wilhelm M. sie verlassen hatte, von ihrem früheren gemeinsamen Instrukteur Erich T. bis Ende 1989 als »Quelle« weitergeführt.

An jenem Morgen des 15. Januar wartet Wilhelm M. im Oberlandesgericht Düsseldorf vergeblich auf seinen Zeugenaufruf. Der Prozeß wird für diesen Tag abgesagt, da die Angeklagte Irene R. nicht erschien. Sie hat aus Angst, dem früheren Geliebten wiederzubegegnen, einen Selbstmordversuch unternommen. Am Tag zuvor hatten sie und ihr Ehemann, mit dem sie längst in Scheidung lebt, beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie fuhren mit dem Auto in einen Wald bei Bonn und nahmen dort einen starken Cocktail aus Tabletten und Alkohol ein. Der Zufall rettete sie. Eine Truppe der GSG 9 joggte in der Gegend und sah das bereits tief betäubte Paar im Auto liegen.

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Wilhelm M. reist noch am selben Tag zurück nach Eisenhüttenstadt, wo er — nur unterbrochen von den Jahren seines Westeinsatzes — seit Beginn der 50er Jahre, der Stunde Null der Stadt, lebt. »Stalinstadt«, wie sie bis 1961 hieß, war nach einem sozialistischen Reißbrettentwurf entstanden. 1950 beschloß die Regierung der DDR den Aufbau eines »metallurgischen Zentrums«, des größten Eisenhüttenwerks in Ostdeutschland. Um diesen Kern herum baute man eine Stadt, die als Abbild und Symbol der sozialistischen Gesellschaft gelten sollte, Heimat für eine politisch bewußte Industriearbeiterschaft, für die »Avantgarde« dieses Systems. Wilhelm M. gehörte zu ihren begeisterten Pionieren.

Seine Biografie ist nicht untypisch für Bürger der ehemaligen DDR. Er wurde 1931 in eine arme, kinder­reiche Familie hineingeboren. Mit sieben Jahren geben ihn seine Eltern als Hütejungen zu einem Bauern, wo er harte Jahre verbringt. Für die Schule bleibt nur wenig Zeit. Als er 14 Jahre alt ist, wird er noch in den letzten Kriegstagen eingezogen.

Nach seiner Rückkehr ist in der Familie kein Platz mehr für ihn. Er lebt, auch hier nur geduldet, im Haus von Verwandten. Nach seiner Tischlerlehre wird er begeistertes Mitglied der »antifaschistischen Jugend«. Sie ist die Vorläuferin des im März 1946 gegründeten sozialistischen Jugendverbandes Freie Deutsche Jugend (FDJ). Sein Eintritt in den Verband führt zur großen Wende in seinem jungen Leben. Hier trifft er endlich Menschen, die ihn schätzen und fördern. Es werden Ausflüge und Sportveranstaltungen organisiert, es gibt Tanzabende. Eine große Rolle spielt die Weiterbildung der durch den Krieg oft nur rudimentär geschulten Jugendlichen. Auch Wilhelm M. lernt erst jetzt richtig rechnen und schreiben. Die FDJ bietet Diskussionen über alle möglichen Themen an, über Kultur, natürlich auch über Politik. Der Aufbau des Sozialismus ist dabei ein wichtiges Thema, aber von der konsequenten politischen Indoktrination der jungen Menschen, wie sie von der FDJ seit Ende der vierziger Jahre betrieben wird, ist man noch weit entfernt.

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Der 15jährige Wilhelm hat endlich ein Zuhause, Freunde, Ermutigung gefunden. Er ist ehrgeizig, äußerst wißbegierig und abenteuerlustig. 1948 schlägt er sich allein nach Österreich durch, um seinen Vater, der inzwischen dort lebt, zu besuchen. Ihm gefällt das Leben in der Kleinstadt, er kauft sich sogar ein Motorrad, findet Freunde, einen Job. Dennoch kehrt er wieder zurück. Er will mithelfen, einen neuen sozialistischen Staat aufzubauen. In Eisenhüttenstadt arbeitet er aktiv in der FDJ mit, und dort erkennt man seine Fähigkeiten, mit Kindern umzugehen. Er bekommt eine Stelle als Pionierleiter an einer Schule. Dann absolviert er neben seinem Beruf ein mehrjähriges Fernstudium und wird schließlich Unterstufenlehrer. Auch nach seiner Heirat bleibt er abenteuerlustig. Mit seiner geselligen, zupackenden Art ist er überall beliebt. Er träumt davon, die Welt zu sehen, doch als man ihm einen Einsatz als Erzieher im sozialistischen Ausland anbietet, wehrt sich seine Frau mit Händen und Füßen, die DDR zu verlassen. Da lehnt er notgedrungen ab.

 

 

Parteibuch von Wilhelm M.

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Eines Tages im Jahr 1967, Wilhelm M. ist jetzt 36 Jahre alt und inzwischen geschieden, spricht ihn ein Bekannter an. Ernst K. ist — was Wilhelm M. nicht weiß — Inoffizieller Mitarbeiter des MfS. Er wird später über lange Jahre die Funktion des Instrukteurs für Wilhelm M. und Irene R. übernehmen. Der Verbindungsmann der HVA-Abteilung I für die Ausspähung des »Staatsapparates der BRD« fragt ihn, ob er nicht einmal im Ausland arbeiten wolle. Natürlich will er, und wie!

Kurz danach bekommt Wilhelm M. Besuch von zwei Genossen. Daß der DDR-Geheimdienst hinter diesen beiden Männern und ihrem Angebot steckt, begreift er erst allmählich. Was sie andeuten, verheißt eine völlig neue Perspektive. Er soll einige Aufträge in der Bundesrepublik erledigen und damit seine Loyalität zum sozialistischen Staat der DDR beweisen. 

 

Wilhelm M., kurz bevor er im Auftrag des MfS nach Kanada geht

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Wilhelm M. erinnert sich: »Das war eine große Auszeichnung. Viele Tausende wären auch gegangen, wenn man sie angesprochen hätte, alleine schon deswegen, um dieses und jenes kennenzulernen. Ich sagte mir: Mensch, jetzt biste raus, jetzt kannste hierhin und dorthin fahren. Das war schon eine große Sache!«

Zunächst wird er umfassend instruiert, lernt die Regeln der Konspiration, erhält Lektionen über die Alltags­verhältnisse im »Operationsgebiet Bundesrepublik«. Sein erster Auftrag führt ihn nach Westberlin. Er erfüllt ihn gewissenhaft und wird danach nach Westdeutschland geschickt, um sich Kenntnisse über Städte, Land und Leute zu verschaffen.

Nach diesen »Regimestudien« soll er in verschiedenen holländischen Städten tote Briefkästen einrichten. Er erledigt auch dies zur vollen Zufriedenheit seiner Führungsstelle.

Warum man ihn jetzt nach England auf eine Sprachenschule schickt, wo er einen dreimonatigen Grundkurs in Englisch absolvieren soll, sagt man ihm noch nicht. Aber Wilhelm M. folgt auch diesem Befehl mit Neugier und Begeisterung.

Als er zurückkommt, werden seine Instrukteure konkreter. Wilhelm M. soll nach Kanada fahren, um das Vorbild für seine zukünftige falsche Identität kennenzulernen, einen Westdeutschen, der Vorjahren nach Kanada ausgewandert ist. Man weiß nicht genau, wo dieser Mann mit dem Namen Hans Türke inzwischen lebt, und Wilhelm M. soll ihn aufspüren, sich mit ihm befreunden, seine Art, seine Gewohnheiten, seine Vorlieben sowie seine Abneigungen studieren. Danach müsse er in der Lage sein, gleichsam in dessen Haut zu schlüpfen.

Wilhelm M. sitzt zum ersten Mal in einem Flugzeug. Ziel: Kanada, sein Traumland. Noch weiß er nicht, wo er den Mann suchen soll, noch hat er keine Ahnung von den gewaltigen Dimensionen des nordamerikan­ischen Kontinents. Dann aber hilft ihm, wie später noch so oft, seine Kommunikations­fähigkeit. Kurz nach seiner Ankunft lernt er einen Auslandsdeutschen kennen, mit dem er sich anfreundet und dem er seine vorbereitete Geschichte erzählt. Er sei im Auftrag eines westdeutschen Rechtsanwalts unterwegs und solle einen Erben ausfindig machen. Ein Verwandter habe diesem Mann ein großes Vermögen hinterlassen. Man wisse aber nur seinen Namen und daß er sich in Kanada aufhalte. 

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Der äußerst hilfsbereite Mann fährt mit ihm zur westdeutschen Botschaft nach Toronto. Wilhelm M. schildert einem Botschaftsangestellten sein vorgebliches Problem. Auch der nichtsahnende Beamte ist sehr entgegenkommend. Es gelingt ihm, die Adresse des gesuchten Mannes ausfindig zu machen. Wilhelm M. reist in das kleine Städtchen am Eriesee und findet Hans Türke tatsächlich. Er erzählt seine Geschichte vom reichen Erben, weiß die verwandtschaftlichen Hintergründe aber so darzustellen, daß dieser Mann auf keinen Fall der gesuchte Erbe sein kann.

Wilhelm M. läßt sich für einige Zeit im Ort nieder, schließt Freundschaft mit Hans Türke und studiert ihn eingehend. Entsprechend der Anweisung seines Instrukteurs macht Wilhelm M. den kanadischen Führerschein bereits unter seinem neuen Namen, ein für den späteren Einsatz in der BRD kostbares Indiz für seine neue Identität.

Je länger er in Kanada ist, desto mehr reizt es ihn, für immer hierzubleiben. Das Land gefällt ihm, er kommt sehr gut mit den Leuten und mit ihrer Lebensart zurecht. Doch dann reist er befehlsgemäß wieder in die DDR zurück.

Zu Hause teilen ihm seine Instrukteure endlich den Grund für all die konspirativen Vorarbeiten mit, die Wilhelm M. offenbar zur Zufriedenheit seiner Führungsstelle erledigt hat. Der Auftrag lautet nun, sich in der Bundesrepublik unter der Identität des gebürtigen Westdeutschen Hans Türke niederzulassen und sich zunächst eine normale, bürgerliche Existenz aufzubauen.

Wilhelm M. wird über ein Drittland in die Bundesrepublik eingeschleust und beginnt sein neues Leben in Koblenz. Er sucht sich eine Wohnung und findet eine Anstellung als Vertreter für Schulbedarf. Dadurch ist er viel auf Reisen, lernt Land und Leute kennen und macht im übrigen, clever und kontaktfreudig, wie er ist, gute Geschäfte.

Nach diesen zwei Jahren aufwendiger Vorbereitung enthüllt ihm sein Instrukteur 1969 den von seiner Führunes-stelle sorgfältig ausgetüftelten und von langer Hand vorbereiteten Einsatzplan. Der Kundschafter soll sich jetzt gezielt an eine Frau heranmachen, die als Sekretärin im Bundeswirtschaftsministerium arbeitet.

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Wilhelm M. 1968 in Kanada

 

Sie war bereits zwei Jahre zuvor von einem hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeiter der Abteilung XV der Bezirksverwaltung Frankfurt/ Oder, der den Decknamen »Helmut Schneider« trug, angeworben worden. Dessen wahre Identität kennt man bis heute nicht. »Schneider« hatte die damals 29 Jahre alte Irene R. im Jahr 1965 über eine Kontaktanzeige, die sie aufgegeben hatte, kennengelernt. Bald hatten sie eine intime Beziehung. Danach warb er die junge Frau auftragsgemäß »unter fremder Flagge« an. Er gab sich als Mitarbeiter einer englischen Friedensorganisation aus, die im Interesse ihres weltweiten Engagements dringend auf Informationen jeder Art angewiesen sei. Auch Irene R. könne viel dazu beitragen, wenn sie der Organisation Material aus ihrem Arbeitsbereich zur Verfügung stelle. Obwohl die Sekretärin eher ängstlich veranlagt ist und die Konsequenzen fürchtet, bringt sie ihm fortan regelmäßig Dokumente aus dem Ministerium.

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Auf seine Aufforderung hin wählt sie sogar ihren Decknamen aus: »Monika« will sie im Verzeichnis des vermeintlichen britischen Friedenskomitees heißen. Aber ihr Tarnname landet ganz woanders: nämlich unter der Registriernummer XV/144/68 in der Kartei der HVA.

Nach vier Jahren wird »Helmut Schneider« abgezogen, aus Gründen, die Wilhelm M. nicht erfährt. Er weiß nur, daß er jetzt die Nachfolge seines HVA-Kombattanten antreten soll.

Sein Führungsoffizier zeigt ihm ein Nacktfoto der Frau, mit der er ein Verhältnis eingehen soll. Vermutlich hat es sein Vorgänger speziell für diesen Zweck geknipst. Schließlich muß der neue Romeo voraussichtlich mehrere Jahre mit ihr zusammenleben und seine Zuneigung auch beweisen. Damit so wenig wie möglich dabei schiefgeht, überläßt man dem Agenten Wilhelm M. die letzte Entscheidung.

Er betrachtet das Bild in aller Ruhe und stimmt schließlich zu. »Ich kannte zwar ihren Charakter nicht«, sagt Wilhelm M. heute, »aber vom Foto her hatte ich keine abwertenden Eindrücke.«

Die Legende, unter der Irene R. von »Helmut Schneider« angeworben wurde, wird natürlich beibehalten. Sie dient auch als Szenario für die Einführung des neuen Romeos. Die Abteilung I läßt sich auch diese Inszenierung viel kosten, an Logistik wie an Geld.

Instrukteur Ernst K., der Wilhelm M. Vorjahren in Eisenhüttenstadt angeworben hatte und sich unter dem Tarnnamen »Exner« längst bei Irene R. als Kollege von »Schneider« und Mitarbeiter des Komitees eingeführt hat, lädt die junge Frau zu einer Ausflugsfahrt der Friedensorganisation ein, die von Mailand bis nach Capri führen soll. Diese Reise soll eine Anerkennung ihrer bisherigen Verdienste und auch ein Trostpflaster dafür sein, daß ihr Freund »Schneider« angeblich für einen langjährigen Friedenseinsatz in einen anderen Erdteil abberufen wurde. Es wird ein Reisebus gechartert und eine Reisegruppe zusammengestellt. Die vorgeblichen Italien-Touristen sind allesamt Agenten und Agentinnen der HVA.

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Irene R. nimmt die Einladung gerne an. Natürlich sitzt auch Wilhelm M. mit im Bus, und natürlich kommt man sich näher bei dieser romantischen Tour zu all den herrlichen italienischen Orten und bei Gondelfahrten im Mondschein auf den Kanälen von Venedig. Die ganze Truppe im Bus tut auftragsgemäß das Ihre, um der jungen Frau eine Traumreise zu bescheren.

Wilhelm M. hat eindeutige Order erhalten: Er soll eine sexuelle Beziehung mit der Frau anknüpfen. »Das ist mir nicht schwergefallen. Denn ich war ja lange unterwegs gewesen ohne weibliche Kontakte.« Die waren ihm für den Zeitraum seiner Niederlassung in der Bundesrepublik verboten worden. »Ich hatte selber das Bedürfnis, das Alleinsein zu vergessen. Es war für mich keine Überwindung, mit ihr ins Bett zu gehen. Ich hatte sie ganz gerne. Aber von ihrer Seite war die Sympathie viel größer«, erzählt er.

Irene R. verliebt sich leidenschaftlich in den Mann, der sich »Hans Türke« nennt. Er will offenbar dasselbe wie sie, nämlich ein bürgerliches solides Zusammenleben in geordneten Verhältnissen. Der Agent sucht sich dafür einen Job in der Umgebung von Bonn. Er findet ihn in Bad Breisig, einem idyllisch am Rhein gelegenen Städtchen südlich der Bundeshauptstadt. »Hans Türke« alias Wilhelm M. wird Angestellter einer Immobilienfirma, die Wohnungen plant, baut und verkauft. Die meisten Kunden sind Ministerialbeamte. Der neue Mitarbeiter ist so erfolgreich und beliebt bei Kollegen wie Kunden, daß er es bald zum Prokuristen bringt. Als die Firma nach wenigen Jahren Pleite macht, wird er sogar zum Treuhänder bestellt und führt sie kommissarisch weiter. Nach zwei Jahren hat er den Betrieb aus den roten Zahlen herausgeholt und kann die Gläubiger auszahlen. Sein Ansehen steigt nun noch mehr.

Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit zieht er mit Irene R. in eines der von der Firma neuerbauten Zweifamilien­häuser am Waldrand. Ein typisches Viertel des gehobenen Mittelstandes, sauber und beschaulich. Wilhelm M. und Irene R. leben nun acht Jahre lang unauffällig und durchaus harmonisch zusammen, wenn auch unter sehr speziellen Bedingungen.

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Irene R. war nach dem bekannten Muster ausgewählt worden. Wilhelm M.: »Diese Frau brauchte vom Typ her Führung. Sie war sehr intelligent, aber sie war innerlich nicht frei. Mein Vorteil war, daß ich das ausnutzen konnte. Ich habe sie zum Beispiel überredet, ein eigenes Auto zu kaufen. Ich habe sie Bekannten vorgestellt, bin mit ihr tanzen gegangen. Wir sind oft verreist. Denn die Voraussetzung für alles Weitere war, daß sie sich geborgen und gestärkt fühlt. Daß sie Selbstbewußtsein entwickelte. Natürlich bin ich dabei nie ich selber gewesen. Ich mußte immer wachsam sein. Aber mit der Zeit bin ich so sehr in diese Rolle hineingewachsen, daß sie im Alltag nicht mehr hemmend war

Teil seiner Instruktionen ist es, alles zu tun, damit sich Irene R. geborgen und geliebt fühlt. Er muß sich, so weit ihm das möglich ist, zurücknehmen, die eigenen Emotionen, die eigenen Bedürfnisse unter Kontrolle halten. Das große Glück der Irene R., die außergewöhnliche Harmonie der Beziehung, die sie bis heute nicht vergessen kann, sind überhaupt erst durch diese Täuschung, durch die scheinbar wunsch- und konfliktlose Freundlichkeit des Mannes möglich gewesen. Der fordert als Gegenleistung für seine umfassende Zuwendung nur einige Informationen aus ihrem Arbeitsbereich. Aber das hat sie vermutlich nie miteinander in Verbindung gebracht oder bringen wollen.

Das Material, das sie aus dem Ministerium beschafft, ist nicht sonderlich brisant. Sie nimmt mit, was ihr unter die Hände kommt. Viele Jahre später wird ein HVA-Mitarbeiter als Zeuge in ihrem Prozeß aussagen, daß der Spionageertrag dieser Quelle höchstens mit der Note 3 — »befriedigend« — beurteilt wurde. Dennoch ist sie jedes Mal aufgelöst und völlig verängstigt, wenn sie abends das gestohlene Material nach Hause bringt. Sie zittert am ganzen Körper, greift zum Alkohol, und Wilhelm M. muß alles an Argumenten aufbieten, um sie zu beruhigen und sie zu überzeugen, daß ihr nichts passieren kann, damit sie auch das nächste Mal wieder so funktioniert, wie Ostberlin es erwartet.

Wenn Irene Material mitbringt, ist es Wilhelm M.s Aufgabe, es zu fotografieren und einem Kurier zu übergeben. Dafür trifft er sich alle sechs bis acht Wochen in Köln, Düsseldorf oder an anderen verabredeten Orten mit dem Verbindungsmann Ernst K. Der befördert die Unterlagen nach Ostberlin.

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Ansonsten lebt das Paar ein ganz normales Leben mit geselligen nachbarschaftlichen Kontakten. Wilhelm M. hat ein gutes Einkommen, einen Mittelklassewagen und liebt seinen Beruf, der ihm viel Selbstbestätigung bringt. Er gilt als zuverlässiger und hilfsbereiter Freund und Kumpel. Diese Rollen — Ostagent und fleißiger Westbürger, überzeugter Sozialist und Liebhaber auf Kommando — bringt er nach kurzer Zeit reibungslos unter einen Hut: 

»Ich hatte auf der einen Seite meinen Auftrag von Partei und Regierung. Da ging es natürlich nicht, mich jeden Tag zu fragen, wem schadest du damit. Es war meine Überzeugung, daß ich etwas für meinen Staat tue. Hier im Westen habe ich natürlich alle Leute belogen, denn ich war ja ein anderer. Ich habe sehr nette Bekannte gehabt, die auch Hochachtung vor meiner beruflichen Leistung hatten. Und obwohl ich mich für einen anderen ausgegeben habe, als ich war, habe ich die — zumindest vom Gefühl her — nicht belogen. Was diese Frau betrifft, habe ich versucht, nicht unfair zu sein. Und der Schaden, der ihr entstanden ist, trat ja erst nach der Entdeckung dessen, was sie in Wirklichkeit gemacht hat, ein (d.h. die Spionage für die DDR, d.Verf.). Denn bis dahin wurde die Frau ja durch diese Arbeit in ihrem Selbstbewußtsein gefördert, auch was ihre Arbeit betrifft. Da hat man sie sehr zielgerichtet auf neue Aufgabenbereiche hingewiesen: <Sieh mal, dort ist eine Stelle frei, und dort bewirbst du dich.> Sie hat ja dann ganz oben beim Minister gearbeitet.«

Sie verloben sich. Die Hochzeit ist für Weihnachten 1977 geplant. Da kommt plötzlich im Oktober desselben Jahres der Befehl aus Ostberlin: Wilhelm M. muß umgehend in die DDR zurückkehren.

Für beide ist es ein Schock. Wilhelm M. will sein angenehmes Leben in Westdeutschland nicht aufgeben und in die Tristesse der DDR-Realität zurückkehren. Keine Reisen mehr, kein Haus, keinen spannenden Beruf, der so viel Anerkennung und Geld bringt.

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Alles, was er aufgebaut hat, ist zunichte. Aber er wird nicht gefragt. Befehlsgemäß sagt er der entsetzten Irene R., das Komitee habe ihn zu einem anderen Friedenseinsatz abkommandiert und er werde wahrscheinlich nicht mehr zurückkommen. Was er nicht weiß: In der HVA fürchtet man seine Enttarnung, weil der Verfassungsschutz endlich die Doppelgängerstrategie bei der Einschleusung von DDR-Agenten ins »Operationsgebiet« erkannt hat, wodurch zahlreiche Kundschafter jetzt hochzugehen drohen.

Nach acht Jahren des Zusammenlebens mit Irene muß er über Nacht verschwinden. Doch der geordnete Rückzug ist längst vorbereitet, wie es eine gute konspirative Planung vorschreibt. Die gefälschten Pässe, die Wilhelm M. vor einiger Zeit »für alle Fälle« von der Zentrale erhalten und im Abflußrohr einer Tiefgarage versteckt hatte, verbrennt er. Dann gibt er Irene R. noch einige Anweisungen. Allen Kollegen, Nachbarn und Freunden soll sie sagen, »Hans Türke« sei einem Freund in der Wildnis Kanadas zu Hilfe geeilt und dort nicht erreichbar. Sie soll ihn auch beim Einwohnermeldeamt abmelden mit dem Vermerk »Nach Kanada übersiedelt« und seine sämtlichen Versicherungen kündigen. Weiterhin gibt er ihr den Auftrag, in einigen Tagen seinen Audi 80, den er in einer Garage des Flughafens in Frankfurt am Main zurücklassen wird, abzuholen und ihn zusammen mit seiner Garderobe nach Ostberlin zu überführen, wo sie sich treffen werden. 

Andere Dinge wie seine Meldebestätigung, einen Versicherungsnachweis und die Fotokopie seiner Geburts­urkunde soll sie für ihn aufbewahren. Diese Papiere wird man im Juli 1994, immerhin siebzehn Jahre später, bei der Durchsuchung ihrer Wohnung finden, so treu hat sie sich an seinen Auftrag gehalten. Auch alles andere erfüllt sie. Sie fährt Wilhelm M.s PKW mit seiner Garderobe wie vereinbart nach Ostberlin. Doch selbst als sie hier, auf dem Boden der DDR, nicht nur ihren Verlobten, sondern auch Ernst K. alias »Exner« wiedertrifft, glaubt sie immer noch felsenfest an die Legende vom englischen Friedenskomitee. Den Abschied, die Trennung von Wilhelm M. verkraftet sie kaum. Aber sie läßt sich umstandslos nach Hause zurückschicken, im Gepäck die KFZ-Schilder des Audi 80, die er vor ihren Augen in Ostberlin abgeschraubt hat und ihr mitgibt, damit sie sie ordnungsgemäß beim Straßenverkehrsamt von Bad Breisig wieder abliefert.

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Wilhelm M. hat sich verkalkuliert. Er hoffte, daß er wenigstens sein selbst erworbenes Auto behalten dürfte. Doch die Genossen konfiszieren es sofort, ohne sich die Mühe zu machen, das zu erklären oder zu rechtfertigen. Alle persönlichen Gegenstände mußte er in Bad Breisig zurücklassen.

Als er nach Eisenhüttenstadt zurückkehrt, hat man nicht einmal eine Wohnung für den verdienten Kundschafter bereitgestellt. Er ist gezwungen, die ersten Monate bei seiner geschiedenen Frau zu wohnen. Auf die plötzliche Umstellung seiner gesamten Lebensumstände reagiert er mit psychischen Problemen, übrigens wie wie viele zurückkehrende Agenten, die jahrelang in einer völlig anderen Welt gelebt hatten. Man schickt ihn zur Kur, wo er ein aufregendes Abenteuer mit einem »Mannequin« hat. Ein ehemaliger Stasi-Offizier und Bekannter, dem Wilhelm M. diese Geschichte viele Jahre später erzählt, vermutet, daß die Frau als Trostpflaster auf ihn angesetzt worden war.

Nach einiger Zeit bekommt der ehemalige Kundschafter eine kleine Zweizimmerwohnung in einer Plattenbausiedlung zugewiesen. Aktiv und kommunikativ, wie er ist, faßt er auch unter den neuen Bedingungen schnell wieder Tritt. Er baut das Stadtmuseum, dann das Feuerwehrmuseum von Eisenhüttenstadt auf. Beides werden kommunale Schmuckstücke.

Sofort nach seiner Rückkehr ist es ihm ausdrücklich verboten worden, jemals wieder Kontakt mit Irene R. aufzunehmen. Er würde sie gern wenigstens zu ihrem Geburtstag anrufen. Aber er darf ihr nicht einmal eine Karte schreiben. Eine einzige Erinnerung an sie konnte er in die DDR retten. Nach einem Gespräch, in dem er sie weisungsgemäß darauf vorbereitet hatte, daß er vielleicht irgendwann plötzlich in ein anderes Land versetzt werden könnte, hatte sie ihm ein kleines Stofftier geschenkt. Sie bat ihn, das Bärchen gut aufzubewahren. Wenn sie eines Tages getrennt würden und er ihr eine Nachricht zukommen lassen wolle, solle er dem Überbringer der Nachricht dieses Bärchen mitgeben. Dann könne sie sicher sein, daß der Bote tatsächlich von Wilhelm M. komme. Es ist das einzige Andenken an jene acht Jahre, die trotz allem die interessantesten und schönsten seines Lebens gewesen sind. Jetzt scheinen sie — zwangsweise — wie ausgelöscht.

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Wie allen Kundschaftern ist es auch Wilhelm M. strengstens untersagt, über seinen Westeinsatz mit irgend jemandem zu sprechen. Daß er noch dazu als Romeo unterwegs gewesen ist, würde wahrscheinlich sowieso niemand verstehen oder gar akzeptieren.

Er heiratet erneut, wird wieder geschieden. Lebt sonst ein ganz normales Leben als DDR-Bürger. Aber die frühere Begeisterung für das System hat merklich nachgelassen. Er sehnt sich nach seinem Leben im Westen, doch man bietet ihm nie mehr einen Einsatz an.

An Irene R. denkt er all die Jahre kaum mehr, bis zu jenem Tag im Jahr 1994, als zwei BKA-Beamte vor seiner Tür stehen. Er erzählt ihnen Irenes und seine Geschichte.

Was aus ihr geworden ist, nachdem er sie verlassen hatte, davon hatte er bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung.

Nach ihrer Rückkehr von Ostberlin nach Bad Breisig 1977 geht es Irene R. immer schlechter. In ihrer Einsamkeit, in ihrer Trauer um den Verlust von Wilhelm M. greift sie zur Flasche.

Doch die HVA vergißt ihre »Quelle« nicht. Der Instrukteur »Exner« alias Ernst K. übernimmt jetzt das Kommando. Er hat ein Lockmittel für die folgenden zwölf Jahre bis zur Wende: Er verspricht ihr als Lohn für die Beschaffung von Geheimmaterial ein Wiedersehen mit Wilhelm M., den sie nach wie vor liebt. Um sie zusätzlich zu motivieren, gibt man ihr nun auch Geld, jeden Monat 200 Mark.

Irgendwann zieht sie von Bad Breisig weg, heiratet einen anderen Mann. Es wird eine sehr unglückliche Ehe. Sie verheimlicht dem Ehemann ihre Tätigkeit für das vermeintliche Friedensinstitut und natürlich auch das Geld, das sie dafür bekommt. Ihr äußerst dominanter Mann regelt die gesamten Haushaltsfinanzen selbst und gibt ihr pro Monat nur ein Taschengeld. Sie verwendet Ernst K.s Honorar für Alkohol. Die Hoffnung, Wilhelm M. wiederzusehen, hat sie immer noch nicht aufgegeben. Ihre psychische Labilität verstärkt sich. Sie versucht, die Zusammenarbeit mit dem »Komitee« aufzukündigen. 

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An den Niagarafällen

 

Aber es gelingt Ernst K., sie so unter Druck zu setzen, daß sie weitermacht. Im Oktober 1989 übergibt sie ihm zum letzten Mal eine Diskette mit Informationen aus dem Ministerium. Das nächste geplante Treffen sagt Ernst K. ab. Sie hört nie wieder etwas von ihm. Ende des Jahres unternimmt sie ihren ersten Selbstmord­versuch.

Die Enttarnung von Irene R. und ist möglicherweise das Ergebnis der Einsichtnahme in die »Rosenholz-Akten« durch Beamte des Verfassungsschutzes. Sie wird im Juli 1994 verhaftet.

Man kann sich sicher nicht entfernt vorstellen, was in Irene R. vorgeht, als sie von den verhörenden Beamten erstmals die wahren Hintergründe erfährt, vor denen sich immerhin 29 Jahre ihres Lebens abgespielt haben: Daß sie für den Geheimdienst der DDR und nicht für ein britisches Friedenskomitee Material beschaffte; daß ihr früherer Freund »Helmut Schneider« ein Agent war, der sein Verliebtsein nur vortäuschte. 

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Das schlimmste aber ist die Erkenntnis, daß der Mann, mit dem sie acht Jahre zusammengelebt hatte und nach dem sie sich seit siebzehn Jahren verzehrt, ihr seine Liebe, seine Zuwendung und Fürsorglichkeit nur vorgespielt hatte, damit sie seinem Auftrag entsprechend funktioniert. Sie bittet die Beamten um die Telefonnummer von Wilhelm M., und es kommt zu dem geschilderten Anruf.

Am 22. November 1995, dem Tag, als ihr die Anklageschrift zugestellt wird, unternimmt sie einen zweiten Selbstmordversuch. Der dritte folgt am dritten Hauptverhandlungstag im Januar 1998, als der Zeuge Wilhelm M. geladen ist und das Wiedersehen tatsächlich droht.

Sieben Tage später kommt es dann doch zu dieser Begegnung vor Gericht, in jenem altbekannten unterirdischen Saal A 01 des Oberlandesgerichts Düsseldorf, der Bühne für Dutzende solcher Tragödien.

Als Wilhelm M. den Verhandlungssaal betritt, schlägt sie die Hände vors Gesicht und weint. Er sagt aus, daß die Sympathien zwischen ihnen durchaus gegenseitig waren, erzählt von einer sehr harmonischen Beziehung. Auch von ihren Ängsten, ihren Schweißausbrüchen vor und nach jeder Materiallieferung berichtet er und bestätigt, die Angeklagte habe zu keinem Zeitpunkt gewußt, daß sie für die DDR spionierte. Danach verläßt er den Gerichtssaal, ohne ein Wort mit ihr gesprochen zu haben.

Irene R. wird zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Sie muß die Verfahrenskosten in Höhe von 25.000 Mark übernehmen. Aufgrund des Delikts wird ihr eine Zusatzrente gestrichen. Inzwischen ist sie geschieden und lebt auf Sozialhilfeniveau im nahen Ausland. Eine gebrochene, alkoholkranke Frau. Mehrfach verabredete Treffen mit Wilhelm M. sagt sie einmal zu und dann wieder ab.

Und Wilhelm M.? Sein schlechtes Gewissen ist zumindest so groß, daß er wenigstens einmal ausführlich mit ihr reden möchte: »Ich überlege mir schon, wie ich das in Ordnung bringen könnte«, sagt er. »Aber das geht nicht. Alles das war eben Bestandteil meiner Aufgabe, und da kann man nichts wegschneiden von all dem Negativen, das diese Arbeit mit sich brachte. Ich würde gerne mit ihr darüber sprechen, warum und für wen ich das gemacht habe. Es wäre interessant, das alles noch einmal gemeinsam Revue passieren zu lassen.« Er vermutet indessen, daß sie ihn noch immer liebt, aber er ist trotzdem bereit, sich zu stellen.

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Wilhelm M. 1997 in Eisenhüttenstadt

Wilhelm M. lebt in Eisenhüttenstadt von einer bescheidenen Rente. Nach wie vor kämpft er mit der Bundes­anstalt für Arbeit wegen seiner Beiträge, die er im Westen zwar acht Jahre lang eingezahlt hat, aber — Ironie der Geschichte — unter falschem Namen. 

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Um sein Einkommen aufzubessern, hat er Kontakte zu polnischen Handwerksbetrieben aufgebaut, die — zu weitaus günstigeren Preisen als in der Bundesrepublik — zum Beispiel Dächer decken oder Türen und Fenster herstellen. Reich wird er dabei nicht.

Sein einziger Luxus ist ein liebevoll gepflegter Schrebergarten. Er hat nur noch wenige Freunde. Er ist geprägt durch jene nicht selten anzutreffende Mischung aus Bitterkeit und Beleidigtsein über verpaßte Chancen, nicht erkannte Gelegenheiten. Und er sieht sich — auch darin ist er keine Ausnahme — eher als Betrogener denn als mitschuldiger Täter.

Vor kurzem begleitete ihn die Autorin bei seinem ersten Besuch in Bad Breisig nach mehr als zwanzig Jahren. Und in der Tat, er hatte nicht gelogen: Die Leute mochten ihn. Nach all den Jahren kommt es mitten auf der Straße zu lauten, freudigen Begegnungen mit alten Nachbarn und Kollegen, die ihn immer noch »Hans Türke« nennen und in Kanada wähnten.

Als er ihnen offenbart, daß er hier als »Kundschafter« der DDR gelebt hat, reichen die Reaktionen von Verständnislosigkeit bis zu schockiertem Verstummen. Einer seiner Bekannten allerdings, ein Steuerberater, mit dem er auch beruflich viel Kontakt hatte, sagt nach kurzem Nachdenken, er schätze »Hans Türke« als Menschen so sehr, daß er sich kein Urteil darüber anmaßen wolle, wie der in seine Verstrickung hineingeraten sei.

Aber natürlich sagt Wilhelm M. keinem seiner Bekannten etwas über die Art seines damaligen Auftrags, verschweigt, daß er jene Frau R., mit der er zusammenlebte und die die Nachbarn als seine Lebensgefährtin kannten, als Romeo geführt und zu Spionagezwecken mißbraucht hatte.

Wilhelm M. freut sich sehr über die herzlichen Reaktionen, verstummt aber mehr und mehr. Er verweilt lange vor jenem Zweifamilienhaus mit dem gepflegten Vorgarten in Hanglage, in dem er acht Jahre lang mit Irene R. gelebt hat, vor dem verschnörkelten schmiedeeisernen Zaun und dem dazu passenden Briefkasten. Dann sagt er: »Wenn ich hier stehe, rumort es gewaltig in mir, es überwältigt mich, weil ich hier doch einen so guten Lebensstandard hatte, eine gute Arbeit und gesellschaftliche Verbindungen. Heute bin ich ein ärmliches Würstchen gegenüber dem, was ich einmal gewesen bin.« 

Dann fährt er zurück nach Eisenhüttenstadt.

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