T1.    

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12.

 

 

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An einem schönen Sommerabend, es ist der 31. August 1984, betreten ein Mann und eine Frau, die einen kleinen Hund an der Leine führt, das Restaurant »Tyrol« in Innsbruck. Die Frau trägt ein blaues Cocktailkleid und dazu passende blaue Pumps mit hohen Absätzen. Sie sind mit einem langjährigen Freund des Mannes verabredet, mit Herrn Dr. Mox*, der endlich die Verlobte seines Freundes kennenlernen will.  * Name geändert

Der ältere Herr, der sie am Tisch begrüßt, ist von fast altmodischer Höflichkeit und sagt, wie sehr er sich freue, Gabriele K. endlich persönlich kennenzulernen, und mehr noch, daß er bald bei ihrer Hochzeit Trauzeuge sein dürfe. Sie freut sich über seine charmanten Manieren, vor allem aber über seine Anspielung auf die Hochzeit. 

Ende September soll endlich wahr werden, was ihr »Frank« schon so lange versprochen hat. Dann wird sie hoffentlich jenen Schlag vergessen können, den er ihr vor zwei Jahren zugefügt hat, nachdem er sie vier Jahre warten ließ und dann die Hochzeit absagte. Wenn er schon seinen besten Freund zur Hochzeit eingeladen hat, dann muß er es jetzt doch ernst meinen!

Der Abend beginnt wunderschön. »Frank« hat ihr schon viel über diesen Mann, einen Freund seines Vaters, erzählt, der eine Computerfirma besitzt, die er ihm in Kürze überlassen will. Dr. Mox plaudert mit ihr während des Essens über alles mögliche. Er erzählt von seiner Firma, die er aus dem Nichts aufgebaut habe und die inzwischen Weltruf besitze. Doch bald wolle er sich zur Ruhe setzen. Gabriele K. ist überglücklich. Denn die Übernahme der Firma, so erzählt ihr Frank seit Monaten, ist die Voraussetzung dafür, daß er sie heiraten wird.

Natürlich ist Dr. Hermann Mox nicht der väterliche Freund ihres Verlobten, so wenig wie der »Frank Dietzel« heißt. Dr. Mox besitzt auch keine florierende Computerfirma im Westen. In Wahrheit ist er ein Chemiker aus Rostock, ein Berufskollege des Dr. Rudolf Hack und außerdem sein Bruder im Geiste: Er ist HVA-Mitarbeiter und dafür eingekauft, an diesem Abend in einem besonders miesen Akt des Romeo-Stücks mitzuspielen.

Viele Jahre später wird ausgerechnet dieser Mann der Schlüsselzeuge im Verfahren gegen Gabriele K. sein, und er wird sie mit seiner Aussage sehr belasten.

Gleich nach dem Essen verläßt Rudolf Hack den Tisch unter dem Vorwand, er habe noch einen beruflichen Termin und sehe Gabriele K. später im Hotel wieder. Dann ist es vorbei mit dem Charme des Dr. Mox. Er sagt ihr ohne Umschweife, daß »Frank Dietzel« sie entgegen seinem früheren Versprechen auch jetzt nicht heiraten könne. Denn er, Dr. Mox, gedenke erst 1987 in den Ruhestand zu treten, und bevor sein Freund die Firma nicht übernehmen könne, das wisse er, würde er die junge Frau auch nicht heiraten. Dann redet er ohne Pause weiter, über seine Firma, über seinen Hund und wieder über seine Firma.

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Gabriele K. verfällt in einen Zustand der Panik, will um sich schlagen, schreien, wegrennen. Doch sie tut nichts von alledem, sie sitzt nur da wie betäubt. Dr. Mox scheint ihre Erschütterung nicht wahrzunehmen und redet endlos weiter. Aber sie hört seine Worte nur noch wie aus weiter Ferne.

Plötzlich kommt »Frank« wieder durch die Tür und setzt sich zu ihnen. Die beiden Männer sehen sich an. Als sie diesen Blick sieht, durchfährt sie ein heilloser Schrecken. Aber deuten kann sie ihn nicht. Sie wünscht sich in diesem Moment nur noch den Tod.

Wie sie ins Hotel zurückgelangt ist, weiß sie später nicht mehr. Hier bricht sie zusammen und bekommt einen Weinkrampf. Sie wirft dem Agenten vor, daß sie seit sieben Jahren warte, auf ein Wiedersehen, auf die Hochzeit. Sie sagt, daß sie doch alles für ihn tue, ihn nie belogen oder betrogen habe. Da sieht er sie kühl an und sagt: »Ich heirate dich doch nicht als Belohnung dafür.« Diese Nacht verbringt sie eingeschlossen auf den Fliesen des Badezimmers. Es ist ihre letzte in »Franks« Nähe.

Warum der Kollege Mox den Romeo-Agenten Hack unterstützen mußte bei der neuen Irreführung von Gabriele K., liegt auf der Hand. Denn schon zwei Jahre zuvor hat Rudolf Hack die von der jungen Frau so sehnlich erwartete Hochzeit platzen lassen. Nun hofft man offenbar, daß der charmante, vermeintlich seriöse Freund Dr. Mox Beweis genug für die Ernsthaftigkeit der angeführten Gründe ist, in der Hoffnung, daß Gabriele K. diese herbe Enttäuschung ebenso wegsteckt wie viele andere zuvor und sich hoffentlich nicht von ihrem Geliebten löst. Denn damit würde sie als wertvolle »Quelle« verlorengehen.

Aber diesmal haben die HVA-Strategen sich verschätzt. Diesmal ist ihre Kraft zu Ende. In dieser Nacht auf den kalten Fliesen des Hotelbadezimmers trifft sie die Entscheidung, sich von »Frank Dietzel« zu trennen. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, weiß nicht mehr, ob sie außerhalb ihrer Gedanken an diesen Mann überhaupt noch existiert.

Vor kurzem hat ein Kollege aus der Botschaft, dem sie viel über ihre Liebe zu »Frank« und die erträumte Heirat erzählt hatte, sie angebrüllt, sie habe die Seele eines Opfers, sie sei ein Opfer und würde immer ein Opfer bleiben! 

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Dieser Satz dröhnt ihr jetzt in den Ohren. Hatte der Kollege am Ende recht? Haben die recht, die inzwischen über sie lachen, die Mitarbeiter im Büro, die Nachbarn im Haus, die wenigen noch verbliebenen Bekannten? Denn seit sie »Frank« kennt, erzählt sie allen Leuten wahre Wunderdinge über ihren Verlobten, über die geplante Hochzeit, über ein ganz neues Leben, das dann für sie beginnen würde. Aber niemand bekommt den Mann je zu Gesicht, er hat niemals ihre Wohnung betreten. Sie kann nicht einmal ein Foto von ihm vorzeigen.

Nichts hat sich verändert in all den Jahren. Sie sieht ihn meist nur alle zwei oder drei Monate in irgendeinem Hotel in irgendeiner Stadt, sie hat keine Telefonnummer, keine Adresse, unter der sie ihn erreichen könnte. Er will keinen ihrer Angehörigen, Freunde oder Kollegen kennenlernen. Wenn sie darüber klagt, wie sehr sie ihn vermißt und ob sie sich nicht öfter sehen könnten, dann steht er auf und sagt kühl, daß er nicht gekommen sei, um sich das anzuhören. Und dann geht er.

In den Wochen des Wartens, wenn ihre Einsamkeit fast unerträglich ist, schreibt sie ihm seitenlange Briefe, die sie ihm bei ihrer Wiederbegegnung in die Hand drückt. In diesen Briefen schildert sie ihre intimsten Gefühle und Phantasien, auch ihre erotischen Wünsche. Als sie viele Jahre später erfährt, daß sich hinter dem Geliebten ein Stasi-Mann verbarg, kommt sie fast um vor Scham bei der Vorstellung, daß er diese Briefe seinen Führungsoffizieren zur Auswertung übergeben hat, die sie dann unter den Stasi-Kadern kursieren ließen.

1980, zwei Jahre vor dem ersehnten Hochzeitstermin, ist sie an einem Tiefpunkt, was ihre Vereinsamung und innere Verunsicherung betrifft. Da schenkt ihr Frank - sicher in Absprache mit den psychologischen Beratern der HVA -einen kleinen Hund. Sie ist glücklich, denn sie liebt Hunde. Sie nennt ihn »Poochie«. Er hilft ihr über die vielen grauen Tage ohne »Frank« hinweg. Auch das war die Absicht des Agenten.

Manchmal quält er sie mit seinen früheren Freundinnen, die alle schöner, amüsanter, klüger gewesen seien als sie. Dann wieder erhält sie morgens einen überraschenden Anruf von ihm, wie sehr er sie liebe und begehre.

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Inzwischen hat sie überhaupt keine Kontakte mehr außerhalb des Büros. Sie lebt völlig zurückgezogen. Der Alltag ist ein Niemandsland zwischen Erinnerung und Zukunftsvision. Jede Woche kauft sie sich die »Hör zu« und freut sich, daß das alte Heft abgelaufen ist. Wieder ist eine Woche vergangen, ist »Franks« nächster Besuch um sieben weitere Tage näher gerückt. Manchmal besucht sie ihre Mutter und erzählt ihr von ihrem Verlobten. Aber auch für die Mutter bleibt er ein Phantom.

Wie ein magischer Punkt steht der September 1982 vor ihren Augen. Dann soll Hochzeit sein. Das Jahr zuvor geht sie wie auf Wolken, tanzt förmlich durch ihren Alltag in Erwartung des bevorstehenden Glücks.

In dieser Zeit sagt »Frank«, er wolle sie nicht nur heiraten, sondern auch unbedingt ein Kind von ihr, als Beweis seiner großen Liebe. Aber da muß sie ihn enttäuschen, denn sie hat sich, kurz bevor sie sich kennenlernten, sterilisieren lassen. Er will, daß sie sich einer Operation unterzieht, um das rückgängig zu machen, vermutlich wohl wissend, daß dies medizinisch nur schwer möglich ist. Will er sie damit quälen? Der angebliche Kinderwunsch soll wohl eher ihr Vertrauen in seine Liebe stärken, damit sie die kommende Enttäuschung besser verkraftet. Denn natürlich wird er sie weder im September 1982 noch zu einem anderen Zeitpunkt heiraten. Er ist schließlich verheiratet, und was er hier tut, ist harte Auftragsarbeit, die er so lange ausführen wird, wie seine HVA-Abteilung das befiehlt. Daß er sie nun mit seinem Kinderwunsch bestürmt, ist kühl berechnetes Planspiel. Monatelang rückt er davon nicht ab, will, daß sie alles mögliche unternimmt. Sie bereut ihre Sterilisation entsetzlich und konsultiert viele Ärzte. Aber die raten ihr alle ab. So unterläßt sie den Versuch, die Operation rückgängig zu machen.

 

Das Spionagegeschäft läuft daneben kontinuierlich weiter. Sie nimmt das Geheimmaterial aus der Botschaft mit nach Hause, fotografiert es und übergibt »Frank« die belichteten Filme. Nach wie vor verschwendet sie kaum einen Gedanken auf die Werthaltigkeit der Dokumente. Sie nimmt einfach irgend etwas mit. Da sie eine Zugangsermächtigung für eingestuftes Material bis einschließlich »NATO-geheim« besitzt, ist immer etwas dabei, was für das MfS nützlich und wissenswert ist.

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Das Material wird von der Abteilung VII der HVA, die für die Auswertung zuständig ist, manchmal lediglich als befriedigend eingeschätzt, manchmal aber auch mit der Note 2 (wertvoll) und nicht selten mit der Note 1 (sehr wertvoll) versehen.

 

März 1982. Rudolf Hack und Gabriele K. treffen sich in einer Stadt in Norddeutschland. Gabriele hofft, daß sie jetzt die Einzelheiten ihrer Hochzeit besprechen werden. Aber es kommt anders. »Frank« eröffnet ihr, er habe bei einer Spekulation 600.000 Mark verloren. Er zeigt ihr sogar Papiere, die belegen sollen, daß er in einen nun pleitegegangenen libyschen Öltrust investiert habe. Nach diesem finanziellen Einbruch müsse er sie nun bitten, von der Verlobung zurückzutreten, weil er einfach nicht genug Geld habe, um sie zu heiraten. Sie ist fassungslos, versteht seine Gedankengänge nicht, widerspricht. Aber er sagt, wenn er das Geld nicht habe, würde ihre Familie ihn sicher nicht akzeptieren. Sie sagt, daß das nicht stimme, fleht, bettelt, er möchte sie doch heiraten. Doch er läßt nicht mit sich reden. Sie ist am Boden zerstört.

Die Vorstellung, was die Kollegen, was die Nachbarn sagen werden, erfüllt sie mit Schrecken. Einer ihrer Kollegen aus der Botschaft, es ist der, der ihr einmal vorwerfen wird, sie habe eine Opferseele, hatte mit ihr gewettet, daß die Heirat nicht zustande komme, daß der Mann sie nur hinhalte. Jetzt muß sie ihm die Flasche Champagner bezahlen. Auch die Kommentare der Nachbarn werden so hämisch, daß sie ihre Wohnung kündigt. Sie zieht auf ein kleines Dorf bei Bonn.

Wie bei früheren schweren Krisen reagiert sie mit Krankheitssymptomen, entwickelt psychogene Lähmungserscheinungen. Sie beginnt zu humpeln, trägt sich mit Selbstmordgedanken. Aber sie hat Poochie, den Hund. Den kann sie nicht allein zurücklassen.

Im Sommer 1982 kann »Frank« sie überreden, mit ihm Urlaub in Portugal zu machen und alles in Ruhe noch einmal zu besprechen. Für Gabriele K. werden es die innigsten, zärtlichsten und aufregendsten Tage und Nächte, seit sie ihn kennt. Dr. Rudolf Hack scheint sein Bestes zu geben, denn sie war wirklich kurz davor, ihn zu verlassen.

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Jetzt nennt er ein neues Datum: 1984 werde sicher und unwiderruflich geheiratet. Einige Monate später erzählt er ihr dann von jenem älteren Freund, der vorhabe, in den Ruhestand zu gehen und ihm seine Computerfirma zu übereignen. Schließlich kommt es am 31. August 1984 zu jenem Abend im Restaurant »Ty-rol« in Innsbruck, an dem sie denkt, daß sie an ihrem Leben nun endgültig zerbricht. Es kommt zu jenem Morgen im Hotelzimmer in Innsbruck, als sie »Frank« sagt, daß sie sich von ihm trennt. Sie liebt ihn immer noch über alles, aber sie kann nicht mehr. Dann fährt sie zurück nach Bonn.

Nun überfallen sie schwere Depressionen. Sie sucht Hilfe bei einer Therapeutin. Aber das Loch, in das sie gefallen ist, ist allzu tief für eine schnelle Hilfe. Von »Frank« hört sie nichts mehr. Die Monate vergehen in Leere und Isolation, in Schwermut und Selbstzweifeln. Sie ist nur erleichtert, daß sie kein Material mehr aus der Botschaft schmuggeln muß. Wenigstens diese Ängste muß sie nun nicht mehr ausstehen.

Zu ihrem 40. Geburtstag im Januar 1985 unternimmt sie ein Reise nach Florida, ist von Unruhe getrieben. Sie mietet sich ein Auto, fährt viel herum, hat irgendwelche Affären. Doch ihren Schmerz kann sie auch damit nicht betäuben.

Kurz nach ihrer Rückkehr erhält sie einen Anruf von »Frank«, den ersten seit der Trennung. Er entschuldigt sich für sein Benehmen in Innsbruck, sagt, daß er sie wiedersehen wolle. Sie antwortet, sie liebe ihn immer noch und werde ihn immer lieben, aber sie wolle nur dann wieder mit ihm Zusammensein, wenn er sie heirate. Da schweigt er und legt auf.

Im März desselben Jahres lernt sie ihren zweiten Mann Steve A. kennen. Er ist Amerikaner deutsch-jüdischer Herkunft und stammt aus einer ursprünglich sehr wohlhabenden Familie. Doch er trägt eine schwere Bürde. Seine Mutter, Spielerin und Alkoholikerin, hat das gesamte Familienvermögen in Spielcasinos durchgebracht. Steve selber ist arbeitslos und ebenfalls Alkoholiker. Er lebt von Sozialhilfe. Aber er ist charmant und nett und kümmert sich liebevoll um Gabriele K. Zwei Gestrandete, die sich aneinander festzuhalten versuchen und sich gegenseitig doch nur immer tiefer in den Abgrund ziehen. Es ist dasselbe Muster wie in ihrer ersten Ehe. Sie erzählt ihm viel über ihre Beziehung zu »Frank Dietzel«. Steve reagiert mit großer Eifersucht.

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Im Mai meldet sich »Frank« wieder bei ihr und bittet um ein Wiedersehen. Steve macht ihr eine Szene. Dennoch geht sie zu der Verabredung und erzählt »Frank« von ihrem neuen Freund, den sie vielleicht heiraten werde, wenn er sich nicht endlich entscheide. Der antwortet, er sei sehr krank gewesen und habe lange in Saudi-Arabien im Krankenhaus gelegen. Aber sie geht nicht darauf ein. Da sagt er, er werde sich ihr Ultimatum überlegen. Im November ruft »Frank Dietzel« alias Rudolf Hack erneut an. Er bittet sie diesmal um ein Treffen in Paris, um noch einmal alles mit ihr zu besprechen. Sie fährt hin. Doch er kommt nicht. Nach ihrer Rückkehr zieht Steve bei ihr ein. Sie kauft sich ein Einfamilienhaus in einem Dorf bei Bonn. Die Mutter hilft ihr finanziell.

Wenige Wochen später, sie ist allein zu Hause, steht »Frank« plötzlich vor der Tür. Er ist mit einem Taxi gekommen, das draußen auf ihn wartet. Er läßt sich von ihr alles zeigen, das Haus, den Garten. Dann macht er sich ausgiebig über die Kleinbürgerlichkeit der Gegend und des Hauses lustig. Er sagt, dies alles zeige, wie spießig sie selber sei. Er hingegen hätte für sie etwas Besseres gewollt, ein geschmackvolles, schönes Haus, das Lebensstil und Eleganz ausstrahle. Deshalb hätte er auf eine überstürzte Ehe verzichtet, denn so habe er mit ihr nicht leben wollen. Dann gibt er ihr die ganze Schuld an ihrer gescheiterten Beziehung. Sie sei unfähig gewesen, die wahren Ziele des Lebens zu erkennen. Nach dieser Tirade dreht er sich um und fährt mit dem Taxi davon. Sie ist wie zerschmettert. Von nun an ist das Haus für sie wertlos. Alle Freude ist dahin. Sie pflanzt im Garten eine Trauerweide. Elf Jahre lang wird sie in diesem Haus wohnen. Aber sie fühlt sich nie mehr geborgen darin.

Im Juli 1986 heiratet sie Steve A.; die Ehe wird eine Katastrophe. Inzwischen hat er zwar wieder eine Stelle, aber seine Eifersucht, sein Alkoholkonsum nehmen noch zu. Er wird immer aggressiver, bedroht sie. Als ihr Hund Poochie, das letzte Andenken an ihren geliebten »Frank«, krank wird, zwingt Steve sie, das Tier töten zu lassen.

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Sie erleidet einen Zusammenbruch und verbringt vier Wochen in der psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik. Während der Therapie in der Klinik belegt sie einen Kurs in Seidenmalerei und entdeckt ihre Fähigkeit, auf den Tüchern ihr Inneres auszudrücken, ihren Ängsten und Hoffnungen, ihren Träumen und Alpträumen Formen und Farben zu geben. Diese außergewöhnliche Begabung wird sie später zu ihrem Beruf machen.

 

Im Juli 1988 erfolgt die Scheidung von Steve, der schließlich versucht hatte, sie zu erwürgen. In dieser Zeit taucht »Frank« wieder auf und stellt sie einer angeblichen Kollegin seines Friedensforschungsinstituts vor, die ihr als Freundin in diesen schweren Zeiten sicher behilflich sein könne. Die Frauen treffen sich wieder. Die »Kollegin« nennt sich »Vera Wagner« und ist natürlich auch eine Mitarbeiterin der HVA. Sie überredet Gabriele K., ihre Tätigkeit für das Institut fortzusetzen und Material aus der Botschaft mitzubringen. Sonst gefährde sie ihre Betriebsaltersversorgung beim Institut. Und außerdem könne sie so in Verbindung mit »Frank« bleiben. Gabriele K. bringt ihr einige wenige Male Dokumente aus der Botschaft mit. Anfang 1989 sagt Vera Wagner, sie hätten nun einen neuen Mitarbeiter gewonnen und könnten auf ihre Dienste verzichten.

Gabriele K. 1996 
in ihrem Atelier in Holland

 

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Im Januar 1990 kündigt sie ihre Stellung bei der Botschaft. Sie will ihre neuen Erfahrungen aus der Therapie jetzt konsequent umsetzen, ein Seidenmalerei-Atelier eröffnen und sich zur finanziellen Mindestabsicherung eine Halbtagsstelle suchen. Zunächst ist sie arbeitslos, hat aber zunehmend Erfolge mit ihrer Malerei und gibt auch Kurse.

Da meldet sich »Frank Dietzel« wieder und bittet um ein Treffen. Als sie ihn sieht, erschrickt sie. Sie hat ihn zwei Jahre nicht getroffen, und er ist sehr verändert. Abgemagert und grauhaarig, wirkt er völlig verfallen und scheint um Jahre gealtert. Er erzählt ihr, nachdem er die Firma von Dr. Mox übernommen habe, hätte sich herausgestellt, daß der Betrieb in den roten Zahlen steckt. Er sei am Boden zerstört und wisse nicht, was er tun solle. Er sei sehr krank und brauche Ruhe. Jetzt mit 50 Jahren sehe er ein, daß ihre Lebensvorstellungen richtig waren und sie hätten heiraten sollen. Nun sei alles verloren, und er stehe vor einem Trümmerhaufen. Er bittet sie um Verzeihung und möchte zu ihr ziehen.

Gabriele K. versteht gar nichts mehr. Dieser Mann, der ehemals so selbstbewußt und herablassend war, der ihr Haus und sie selber so sehr verachtet hat und der nun scheinbar bereut, ist ihr völlig fremd. Beim Abschied sagt er, er werde sich Ende März, spätestens im Juni wieder bei ihr melden. Doch sie hört nie wieder etwas von ihm.

Wie ist das alles zu erklären? Daß er in den Jahren zwischen 1984 und 1988 sporadisch immer wieder auftaucht, kann nicht verwundern. Er hat vermutlich den Auftrag, Gabriele K. wieder in seine emotionale Gewalt zu bekommen, und das funktionierte über Jahre hinweg immer sehr gut über die Mechanismen von Demütigung und darauffolgender Liebesbezeugung, die er ihr - »trotz allem« - wieder an-gedeihen ließ. Nichts anderes kann er bezweckt haben, als er sie und ihr Haus diffamierte. Doch er hat das Maß ihrer Zermürbung unterschätzt. Auch wenn sie ihn noch so liebt, so unterwürfig und abhängig von ihm ist wie zuvor, besteht sie jetzt unwiderruflich auf dem »Beweis« seiner Liebe — der Heirat.

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Die Ereignisse um die Jahreswende 1989/90 haben auch sein Leben verändert. Keiner weiß, was kommt. Wird er als linientreuer Kader weiterhin seine Stelle als Laborleiter an der Orthopädischen Universitätsklinik in Rostock halten können? Was ist, wenn bekannt wird, daß er jahrelang als HVA-Agent und Romeo die »Quelle« Gabriele K. geführt hat? Wird er - sollte es soweit kommen - nach den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland wegen seiner jahrelangen Tätigkeit für den Auslandsgeheimdienst des MfS ins Gefängnis wandern? Was werden seine Frau, seine Tochter aus erster Ehe, seine Familie sagen, wenn alles auffliegt?

Auch wenn er nicht krank ist, erklären sich so vielleicht seine grauen Haare, sein geschlagener Eindruck. Er weiß sicher, daß am Runden Tisch unter Hans Modrow beschlossen worden ist, der Selbstauflösung der HVA zuzustimmen. Einen Auslandsgeheimdienst hat schließlich jedes Land legitimerweise, darin ist keine undemokratische Verfehlung zu sehen. Was aber geschieht mit den Akten?

 

Ende März 1990 finden die ersten und letzten demokratischen Volkskammerwahlen der DDR statt. Das Ergebnis wird über die nähere oder fernere Zukunft des Landes entscheiden. Und von ihm wird es auch abhängen, welche Zukunft die Mitarbeiter der Staatssicherheit und der HVA haben und welche Konsequenzen ihnen möglicherweise drohen. Auch Rudolf Hacks Zukunft wird deshalb von diesem Wahlergebnis abhängen. Er hat gute Gründe, unter Umständen schlimmes zu befürchten: in beruflicher, sozialer und auch familiärer Hinsicht, und reagiert offenbar mit Panik. Jedenfalls legen das sein Verhalten gegenüber Gabriele K. und sein Aussehen nahe. Da ist es nicht unlogisch, wenn er versucht, die gefährlichste Zeugin für seine Taten unter Kontrolle zu bringen, sie gegebenenfalls entsprechend zu manipulieren und zur Loyalität zu zwingen. Vielleicht deshalb sein Kniefall vor Gabriele K. und schließlich sein Ansinnen, zu ihr zu ziehen.

Ein Beleg für die Richtigkeit dieser Vermutung ist jedenfalls das Datum, bis zu dem er sich entscheiden will: Ende März. Das ist der Termin für die Volkskammerwahlen. Danach kann er besser abschätzen, wie hoch sein Risiko ist und wie sehr er Gabriele K. unter Kontrolle halten muß oder als Rückversicherung braucht. Doch auch nach den Wahlen scheint niemandem an einer Rettung oder gar an einer Offenlegung der HVA-Akten gelegen zu sein. Rudolf Hack fühlt sich jetzt in Sicherheit, und er schreibt Gabriele K. endgültig ab.

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Nach ihrer Kündigung bei der Botschaft hat sie eine Halbtagsstelle als Fremdsprachenkorrespondentin gefunden. Daneben malt sie, zeigt ihre Arbeiten erfolgreich auf Ausstellungen, gibt Kurse. Anfang 1991 wird sie sogar zur Vizepräsidentin des Europäischen Forums für Samt- und Seidenkünstler gewählt. Sie ist so stabil wie lange nicht.

Am 13. März 1991 wird Gabriele K. an ihrem Arbeitsplatz von zwei BKA-Beamten verhaftet. Die Beamten beschuldigen sie der geheimdienstlichen Agententätigkeit für die ehemalige DDR. Gabriele K. fällt aus allen Wolken. Man bringt sie ins Gefängnis, wo sie zwei Tage und zwei Nächte bleiben muß.

Den Hinweis auf sie gab ein Überläufer der HVA, der gleich nach der Wende erkannte, wohin der neue Wind wehen würde, und den westdeutschen Behörden alles erzählte, was er wußte. Er berichtete auch von jenem »Gerhard«, das war der Deckname von Gabriele K. Kurze Zeit später wurde sie identifiziert und festgenommen.

Man durchsucht ihr Haus von oben bis unten. Aber man findet nichts. Für eine Kaution von 50.000 Mark, die ihre Mutter stellt, kommt sie frei.

Die BKA-Beamten fragen sie auch nach Rudolf Hack. Den Namen hat sie nie gehört. Als sie erfährt, daß es sich um niemand anderen handelt als um »Frank Dietzel«, ehemals Bürger der DDR, Chemiker in Rostock, seit 1977 verheiratet, Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, glaubt sie, den Verstand zu verlieren.

Bei den Verhören im Bundeskriminalamt legen ihr die Beamten Berge von Akten aus der amerikanischen Botschaft vor. Sie gibt rückhaltlos alles zu, versucht, jedes einzelne Dokument zu identifizieren, das sie verraten hat. Sie erzählt jedes Detail ihrer langen, quälenden Liebesgeschichte, die vor dem Hintergrund des nüchternen Büros wie eine peinliche Kolportage wirkt.

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Dann zeigt man ihr die schriftlich niedergelegte Aussage des — Ironie des Schicksals — ebenfalls am 13. März 1991 in Rostock verhörten Rudolf Hack. Darin behauptet er, Gabriele K. sei bereits in Berlin, als sie bei der Firma Schering arbeitete, nachrichtendienstlich angeworben worden. Sie habe auch dort geglaubt, sie besorge das Material für ein Münchner Friedensforschungsinstitut. Und dann sagt er weiter aus: »Nach meinem Eindruck ist Gabriele K. eine Person, die sehr hinter dem Geld her ist und wohl deshalb auch alle Bedenken zurückgestellt hat, um an das nachrichtendienstliche Entgelt zu kommen.« 

Vermutlich diffamiert er Gabriele K. als längst angeworbene Spionin und geldgierige Person, um selbst dem üblen Geruch der männlichen Stasi-Hure zu entkommen. Wahrscheinlich soll diese (verlogene) Variante den Schock für seine Ehefrau mildern, wenn sie erfährt, daß ihr Mann sieben Jahre regelmäßig im außerhäusigen Bett befehlsgemäß eine Spionin motivierte. Denn sie hat, wie Hack in seiner Aussage wiederholt betont, all die Jahre hindurch nichts von seinen diesbezüglichen Agentengeschäften gewußt.

Unappetitliches Detail: Hack berichtet im Aussageprotokoll, daß er 1984 für seinen Einsatz bei Gabriele K. den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze verliehen bekommen hat.

 

Eine der schlimmsten Vorstellungen für Gabriele K. ist, daß sie für ein System gearbeitet hat, das sie, solange sie denken kann, zutiefst haßt, weil es die Schuld am Tod ihres Vaters trägt, der 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft verhungert ist. Und einem Vertreter dieses Systems, in symbolischem Sinn einem Mörder ihres Vaters, war sie verfallen, den hat sie geliebt — und sie liebt ihn immer noch. Doch sie springt nicht aus dem Fenster, wie sie es vorhat.

Obwohl sie nun all diese Hintergründe des Betrugs an ihr kennt, obwohl sie weiß, daß »Frank Dietzel« niemals existiert hat, glaubt sie indirekt weiter an seine Existenz und hofft, daß er endlich auftaucht, wie er es immer für den Fall ihrer Verhaftung versprochen hatte, den BKA-Beamten erklärt, daß alles nur ein Versehen sei. Daß er sie rettet. Sie sagt das auch einem BKA-Beamten. Der kann nur noch den Kopf schütteln und bemerkt schließlich: Ob sie nicht sehe, daß sie damit den Bock zum Gärtner mache?

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Der einzige Mensch, der nach der Verhaftung zu ihr hält, ist die Mutter. Sie hatte sonst nur noch Kontakte zu früheren Kollegen bei der amerikanischen Botschaft, von denen sie einige hin und wieder auch in ihrer Freizeit sah. Nun aber meldet sich verständlicherweise niemand mehr von ihnen.

 

Im Spätsommer 1991 wird ihre Mutter plötzlich krank. Man diagnostiziert Krebs im Endstadium. Sie stirbt am 7. November desselben Jahres. Gabriele K. leidet entsetzlich, nicht nur unter der Trauer, sondern vor allem wegen ihrer großen Schuldgefühle. Sie gibt sich die Schuld am Tod der Mutter, die — so sieht sie es — an den Sorgen um die Tochter gestorben ist. Sie ist jetzt ganz allein, hat sonst keine Familie mehr. Ihre psychischen Probleme nehmen immer größere Ausmaße an. Sie weint nur noch, kann ihre Arbeit als Fremdsprachenkorrespondentin bei einer Bonner Firma nicht mehr erledigen. Ihr wird gekündigt. Nun ist sie auch noch arbeitslos. Aber sie malt weiter und beginnt sogar ein Studium in der Kölner Schule für Kunsttherapie.

Am 11. November 1993 erhebt der Generalstaatsanwalt gegen Gabriele K. und gegen Rudolf Hack Anklage wegen des Verdachts auf Landesverrat.

Nun weiß sie, daß sie ihn wiedersehen wird. Diese Vorstellung erfüllt sie mit Sehnsucht und mit Panik zugleich. Wird sie endlich der Tatsache ins Auge sehen müssen, daß er sie niemals geliebt hat? Oder hat er sie doch geliebt? Wie für viele andere Romeo-Opfer ist in diesem Moment nichts mehr in ihrem Leben so entscheidend wie die Antwort auf diese Fragen.

Ihre größte Angst ist, daß sie ihm vor Gericht endgültig unterliegen wird, daß er sie in aller Öffentlichkeit demütigt. Wahrscheinlich wird sie wieder nur stammeln und sich unlogisch und dumm ausdrücken. Wie oft hat er ihr das vorgeworfen, wenn sie seinen Ausführungen in naturwissenschaftlichen Fragen nicht folgen konnte. Alle werden über sie lachen. Sie werden nur auf ihn hören, auf seine logische Argumentation, seine Eloquenz. Wegen seines gewandten Auftretens, seiner Intelligenz wird man ihm sicher mehr Glauben schenken als ihr. Und doch kann sie es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.

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Sie hält sich nur noch in Bonn auf, wenn es die Prozeßvorbereitungen erzwingen. Die zwei letzten Jahre durfte sie mit Erlaubnis des Gerichts in Holland verbringen, wohin sie inzwischen übergesiedelt ist, auf der Flucht vor Erinnerungen, voll Haß auf die untergegangene DDR, die ihr Leben zerstört hat; aber sie ist auch voller Wut auf ihr eigenes Land, die Bundesrepublik, wo man nun sie verfolgt, aber nicht die Haupttäter, Führungsoffiziere, die Drahtzieher all dessen, was ihr angetan worden ist.

Am grausamsten wird sie von der Vorstellung gequält, wie sich die zuständigen Stasi-Offiziere über jene Briefe amüsiert haben, die sie »Frank« geschrieben und ihm mitgegeben hat. Er wird sie damals ohne Zweifel sofort an seine Vorgesetzten weitergegeben haben, so wie er ihnen auch nach jedem ihrer Treffen genaue Berichte lieferte, wie sie inzwischen weiß. Und nun wissen Menschen, die sie nicht kennt, alles über ihre heimlichsten Wünsche. Bei diesem Gedanken entwickelt Gabriele K., die sonst zu keiner Aggression fähig ist, Rachegefühle gegenüber dem früheren Geliebten, den sie in Gedanken immer noch »Frank« nennt. Jetzt wünscht sie ihm manchmal nicht gerade den Tod, aber doch eine schlimme Krankheit, damit er für das, was er ihr angetan hat, büßen muß.

 

An einem Morgen im Dezember 1995 erhält sie zwei Briefe. Der eine teilt ihr endlich den Ort und genauen Beginn ihres Prozesses mit. Der andere Brief, ebenfalls ein amtliches Schreiben, enthält die Nachricht, daß Dr. Rudolf Hack bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.

Das ist so unvorstellbar, daß sie es lange nicht erfassen kann. Dann reagiert sie mit enormen Schuldgefühlen. Hatte sie ihm nicht Unglück gewünscht? Sie wird ihre einzige und große Liebe nie mehr wiedersehen. Sein Tod hinterläßt eine Wunde, die sich nicht mehr schließen wird.

Gleichzeitig ist sie erleichtert, weil sie ihm vor Gericht nicht mehr begegnen muß. Doch mit dem Tod dieses Mannes wird ihr für immer jede Möglichkeit genommen, diese Beziehung für sich selber, wie schmerzhaft auch immer, zu beenden. Alle ihre Gedanken, die liebevollen wie die haßerfüllten, gehen jetzt ins Leere. Nichts wird sie mehr mit ihm klären, nichts mit seiner Hilfe überprüfen können.

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Ihre Selbstmordphantasien, unter denen sie oft leidet, nehmen jetzt extrem zu. Sie setzt sich ein Todesdatum. Es muß vor der Urteilsverkündung liegen, damit das ihr noch verbleibende Vermögen nicht für die Prozeßkosten kassiert werden kann.

Sie trifft testamentarische Verfügungen, ihre drei Hunde betreffend, die seit drei Jahren ihre einzige Gesellschaft waren. Ihr Vermögen vermacht sie dem Tierschutzverein. Angehörige oder Freunde hat sie längst nicht mehr. 

Sie macht Zeichnungen von ihrem Grab, setzt ihr Sterbedatum auf dem Kreuz ein und schreibt ihren Todesspruch auf englisch darauf: »Gabi — she always failed« — »Gabi - sie hat immer versagt«. Doch ihr Anwalt E., der sich sehr für ihren Fall engagiert, hilft ihr von einem Tag zum nächsten, bringt sie dazu, ihr Selbst­mord­datum hinauszuschieben.

  

Gabriele K. 
1996

 

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Am 10. Juni 1996, mehr als fünf Jahre nach ihrer Verhaftung, beginnt — wieder im Raum A 01 — vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf ihr Verfahren wegen Landesverrats. Die Verhandlung ist für sie wie ein Szenario des Wahnsinns. Alles kreist um einen Mann, den sie nicht kennt, um einen Chemiker und Inoffiziellen Mitarbeiter der HVA namens Rudolf Hack, einen Geheimdienstmann jenes Systems, dem sie die Schuld am Tod ihres Vaters gibt. Aber der Mann, den sie kennt, den sie sieben Jahre lang über alles geliebt, um den sie bis zur Selbstaufgabe gekämpft hat, den soll es nie gegeben haben? War er nur ein Phantom, wie das Gericht sagt, ein Vexierspiel ihrer Sehnsüchte? Wenn es ihn gar nicht gegeben hat, wenn er nur eine Täuschung war, wer ist sie dann? Wenn er doch wenigstens nicht tot wäre. Aber wer ist tot: Rudolf Hack oder »Frank Dietzel« ?

Wenn sie den Gerichtssaal morgens betritt, klammert sie sich an ein kleines Stofftier, ein Lämmchen, das sie den ganzen Tag über nicht aus der Hand gibt.

Zu Beginn des Prozesses gibt man ihr Rudolf Hacks Aussage zu lesen, die er 1991 gemacht hat. Als der BKA-Beamte, der Rudolf Hack damals in Rostock verhört hatte, als Zeuge vor Gericht erscheint, fragt sie ihn, ob Hack wirklich jenen Satz gesagt hat, der im Aussageprotokoll steht: »Sie war eine Person, die nur an Geld interessiert war.« Als der Beamte bestätigt, das habe Hack wirklich gesagt, schreit sie: »Ich bin keine Person, ich bin ein Mensch!« und läuft weinend aus dem Gerichtssaal.

Man hat acht Zeugen einbestellt, die im entsprechenden Zeitraum in Diensten der HVA standen. Jeden von ihnen fragt Gabriele K.: »Haben Sie ihn gekannt?« und »Wie war sein inneres Verhältnis zu mir?« Aber niemand gibt ihr eine Antwort darauf. Die meisten der vor Gericht geladenen HVA-Mitarbeiter haben ihn nicht persönlich gekannt, für sie kam er nur auf dem Papier, in den Akten vor. Und die anderen — die reden sich heraus.

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Einer, der ihn gekannt hat, ist Dr. Hermann Mox, jener alte Genosse und Mitkämpfer von Rudolf Hack, der damals in Innsbruck zur Täuschung von Gabriele K. den väterlichen Freund gegeben hat. Er behauptet, er habe sie schon lange gekannt, bevor er ihr in Innsbruck mit Hack begegnet ist. Er unterstützt also — aus Loyalität, wie man vermuten kann — Hacks Behauptung, sie sei schon vor dem Einsatz des Romeos für die Stasi angeworben worden. Damit bestätigt er, daß ursprünglich nicht Hack Gabriele K. zur Spionage verführt habe, und belastet ebenfalls die Angeklagte, die nun als altgediente Spionin dasteht.

 

Außer Mox hat man noch weitere Spitzenleute der HVA nach Düsseldorf eingeflogen: drei hohe Offiziere der ehemals für die Aufklärung der USA zuständigen Abteilung XI sowie vier Mitarbeiter der Abteilung VII, die für die Auswertung des verratenen Materials zuständig war, darunter auch der Chef des Lagezentrums der HVA, Dr. Heinz B., der 1990 zum Bundesnachrichtendienst übergelaufen war und als Morgengabe Berge von HVA-Unterlagen mitgebracht hatte. Er war Chefauswerter der Abteilung VII. Auch jene »Vera Wagner«, die in Wirklichkeit Edeltraud R. heißt, ist gekommen. Ende der 80er Jahre war sie als Kurierin für den Materialtransport der Angeklagten zuständig. 

Sie alle berichten freimütig und ausführlich über Art, Umfang und Qualität des verratenen Materials, und sie belasten Gabriele K. ohne Scheu. Sie geben preis, daß die Angeklagte im Sechswochenrhythmus 100 bis 150 Seiten Geheimmaterial geliefert hat, nicht immer Spitzenqualität, aber meistens von der Kategorie 2 »gut« oder 3 »befriedigend«, oft auch mit der Note 1 »sehr gut«. Sie berichten, daß die verratenen Dokumente Informationen über die Verhandlungen zum Vertrag über atomar bewaffnete Mittelstreckenraketen enthielten, zu den Raketensystemen Pershing, Lance und Stinger, zum Roland- und Patriot-Programm und zu anderen aktuellen Rüstungsvorhaben, aber auch zu militärischen Übungen wie »Reforger«, »Schwarzes Pferd« und »Flintlock«.

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Nach ihren umfassenden Aussagen dürfen sie den Gerichtssaal als freie Bürger wieder verlassen und nach Hause fahren. Doch zuvor kassieren sie noch das übliche Zeugengeld — dafür, daß sie vor Gericht die angeklagte Gabriele K. schwer belasten, ein Delikt begangen zu haben, das sie selbst mit allen Tricks initiierten und an dem sie wenn nicht die Hauptschuld, so doch eine große Mitschuld tragen. Sie und andere Führungsoffiziere waren es, die Hack den Auftrag gegeben hatten, sein Opfer in die Falle zu locken und sie schließlich zur Spionin zu machen. 

Aber entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Mai 1995 können ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes der DDR nicht mehr ohne weiteres gesetzlich belangt werden. Das BVG hatte entschieden, daß Personen, die ihren Lebensmittelpunkt in der ehemaligen DDR hatten und vom Boden der DDR aus Spionage zu Lasten der Bundesrepublik betrieben, seit der deutsch-deutschen Vereinigung nicht mehr wegen Landesverrats oder geheimdienstlicher Agententätigkeit verfolgt werden dürfen. Agenten, die vom Boden der Bundesrepublik aus spionierten, so besagt das Urteil weiter, »können« ebenfalls von der Strafverfolgung ausgenommen werden.

Dies ist der Hintergrund für die absurde Konstellation im Gerichtssaal A 01 beim Oberlandesgericht Düsseldorf, wo der Angeklagten Gabriele K. die Strategen ihrer Lebenstragödie als freie Männer und Frauen gegenübertreten, um dann unbelangt wieder in ihr Privatleben zurückkehren zu können, als hätten sie die letzten zehn, zwanzig oder dreißig Jahre mit normalen Amtsgeschäften verbracht.

Gabriele K. muß dieses Szenario vor Gericht nicht nur ertragen, sondern sie muß den Ex-Offizieren und ehemaligen HVA-Kadern auch noch das Zeugengeld aus eigener Tasche bezahlen. Denn so will es das Gesetz: Schuldig gesprochene Angeklagte müssen für sämtliche Kosten des Verfahrens aufkommen, auch für alle Auslagen der Zeugen.

 

Doch es hätte noch schlimmer kommen können. Vermutlich hat sich der Verfahrensbeginn dieses Prozesses deshalb so lange hinausgezögert, weil man das besagte BVG-Urteil abwarten wollte. Wäre Rudolf Hack nicht tödlich verunglückt, so hätte das Düsseldorfer Gericht in Folge dieses Urteils seine Anklage gegen den Romeo vielleicht zurückgezogen. 

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Dann wäre der Täter Hack als Zeuge im Verfahren gegen sein Opfer aufgetreten, und Gabriele K. hätte ihn dafür bezahlen müssen. Am 1. August 1996 wird Gabriele K. wegen Landesverrats in Tateinheit mit dem Verrat eines militärischen Geheimnisses eines NATO-Vertragsstaates verurteilt. Doch sie hat eine sehr verständnisvolle Richterin. 

Dem Gericht liegt ein umfassendes psychologisches Gutachten der Angeklagten vor, das die Unausweich­lich­keit ihres Lebensweges geradewegs hinein in diesen Mißbrauch durch die östlichen Geheimdienstprofis deutlich macht. Es ist sicherlich maßgeblich dafür, daß man über Gabriele K. »nur« eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. 

Die Kosten, für die sie jetzt aufkommen muß (Verfahrenskosten, Anwaltskosten, das von Hack angenommene Geld in Höhe von 30.000 Mark, das sie nun zurückzahlen muß), belaufen sich insgesamt auf 220.000 Mark.

Ihr Anwalt, der auf Freispruch plädiert hatte, will in Revision gehen. Aber sie lehnt ab. Sie hat keine Kraft mehr.

  

Im Atelier
1996

Seither lebt sie in Holland, in einem kleinen Ort am Meer. Dort hat sie ein kleines Atelier und versucht, vom Verkauf ihrer Tücher zu leben. Kontakt zu anderen Menschen meidet sie und lebt nur mit ihren sechs Hunden. Mit Deutschland will sie möglichst nichts mehr zu tun haben.

Sie ist jetzt Anfang Fünfzig, braucht nach wie vor psychotherapeutische Betreuung und hat nur noch einen Wunsch: Sie will endlich mit diesem Kapitel ihres Lebens abschließen. Und weiß doch, daß das niemals mehr möglich sein wird.

 

 

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