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1977 ist ein denkwürdiges Jahr für alle drei Frauen. Wie in einem Zeitkarussell kreisen ihre Lebenskurven um ein und dasselbe Zentrum, kreuzen sich ihre Wege in diesem Jahr auf direkte oder indirekte Weise. Im Jahr 1977 findet für eine von ihnen der Beginn, für die andere der Höhepunkt und für die dritte das vorläufige Ende ihrer Lebenstragödie statt, und das vor ein und demselben Hintergrund: Sie alle waren ins Visier derselben raffinierten Strategen geraten.

Drei Frauen im Koordinatensystem zwischen Ost und West, zwischen Männermacht und Frauenunterwerfung, zwischen Liebe und Verrat. Sie werden zu Marionetten im Kampf zwischen den politischen Systemen, aber sie sind auch Verliererinnen im ungleichen Kampf der Geschlechter. Am Ende verwischen sich in ihren Schicksalen die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld, sind sie Opfer und Täterinnen in einem.

Die Frauen sind natürlich Produkt ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft. Kurz vor oder nach Kriegsende geboren, wachsen sie alle im öden Mief der fünfziger Jahre auf, wo die Mädchen von umfassenden Verbotskatalogen und autoritärer Überwachung gefesselt werden, wo alles, was ihre Sexualität betrifft, tabuisiert ist. Man verlangt von ihnen Keuschheit, Fleiß, Anpassung. Die einzig wirklich respektable Perspektive für Frauen: Ehe, Familie, Kinder. Außereheliche Sexualität, gar ein uneheliches Kind sind persönliche und soziale Katastrophen.

Bis 1970, als eine Gesetzesnovelle den alten Zustand aufhebt, bekommt eine unverheiratete Mutter nicht das elterliche Sorgerecht für ihr Kind. Das Jugendamt hat die Amtsvormundschaft und bestimmt über alle wesentlichen Belange des Kindes. Der Vater gilt als nicht mit dem Kind verwandt. Fürsorgerinnen beobachten und reglementieren das Alltagsleben von Mutter und Kind.

Eine junge Frau soll durchaus einen Beruf erlernen und ausüben: am besten die saubere und angesehene, aber nicht allzu ambitionierte Arbeit in einem Büro. Aber die Berufstätigkeit soll eigentlich nur die Wartezeit bis zur Eheschließung ausfüllen, spätestens bis zum ersten Kind. Denn die Existenz als Hausfrau und Mutter, die die finanzielle und soziale Abhängigkeit vom Ehemann einschließt, gilt als die höchste Sprosse der weiblichen Karriereleiter.

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Gleichzeitig sind die fünfziger und sechziger Jahre von den Freiheitsversprechen des Wirtschaftswunders geprägt. Mit Leistungswillen, Anpassung und größtmöglicher Selbstverleugnung, so lautet die gängige Auffassung, könne man einfach alles erreichen: sozialen Aufstieg, gesellschaftliche Anerkennung, viel Geld und jeden erdenklichen Wohlstand. Das gilt für Frauen natürlich nur im Rahmen ihrer überkommenen Rolle der liebenden und aufopferungsvollen Gattin und Mutter, das heißt im eisernen Korsett unterdrückter weiblicher Wünsche und Bedürfnisse. Diese Kulisse ist die Basis für die Ängste und Selbstverleugnungen, aber auch die Hoffnungen der nach dem Zweiten Weltkrieg heranwachsenden Frauengeneration.

Trotz der Studentenrevolte 1968, trotz der Frauenbewegung, der sich formierenden Schwulenbewegung sind die gesellschaftlichen Verkrustungen noch lange nicht aufgebrochen. Erst langsam entwickelt sich ein neues öffentliches Nachdenken über Frauen, über Männer, über die verborgenen Kanäle von Macht, Ohnmacht und Gewalt im politischen Raum und zwischen den Geschlechtern. Die Frauen beginnen, sich ihren Teil der Welt zu erkämpfen, rebellieren gegen die ihnen aufgezwungene Rolle, die ihnen nur den Raum des Privaten und der Familie zugesteht.

Das Jahr 1977 ist auch in dieser Hinsicht eine Art Amalgam aus anachronistischen Moralvorstellungen und sehnlich herbeigewünschter Erneuerung des kulturellen und politischen Lebens. In diesem Jahr erscheint die erste Ausgabe der Frauenzeitschrift »Emma«, die nicht die herkömmlichen Informationen über weibliche Attraktivität und Mode oder Anleitungen zum Stricken und Kochen enthält, sondern in erster Linie ein Kampfblatt für weibliche Selbstfindung sein will. Das neue Magazin und seine Herausgeberin Alice Schwarzer ernten giftschäumende Reaktionen. Denn es gibt nach wie vor — nicht nur in Sachen Frauenemanzipation — die alten Sachwalter des verklemmten Miefs. Der Bayerische Rundfunk schaltet sich beispielsweise aus dem gemeinsamen ARD-Abendprogramm aus, als der für das Fernsehen produzierte Homosexuellenfilm »Die Konsequenz« ausgestrahlt wird.

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1977 wird endlich ein neues Scheidungsrecht installiert, das vom »Schuldprinzip« abrückt, nicht mehr in den Köpfen und Betten von Mann und Frau herumschnüffelt und sie zwingt, sich gegenseitig öffentlich zu diffamieren und bloßzustellen, um eine Scheidung durchzusetzen. Außerdem tritt ein neuer §218 in Kraft, der die Indikationslösung und damit ein größeres Selbstbestimmungsrecht der Frauen einführt.

 

1977 ist aber auch das Jahr, in dem der bundesrepublikanische Staat an seinen inneren politischen Konflikten zu kollabieren droht. Die Rote Armee Fraktion (RAF) hat nacheinander den Generalbundesanwalt Siegfried Buback und den Bankier Jürgen Ponto ermordet. Im Herbst entführt die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer. Damit sollen elf inhaftierte Terroristen, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe aus dem Gefängnis in Stuttgart-Stammheim freigepreßt werden. Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, entführt ein arabisches Terrorkommando die Lufthansamaschine »Landshut« nach Mogadischu. Doch alle Geiseln, bis auf den von den Terroristen erschossenen Flugkapitän, werden befreit. Die Terroristen werden getötet oder schwer verletzt. Wenige Stunden danach findet man Baader, Ensslin und Raspe tot in ihren Zellen. Nach der mißglückten Entführung sollen sie sich umgebracht haben. Doch noch jahrelang wird der Verdacht vor allem in den Reihen der Linken nicht verstummen, hier habe der Staat seine Feinde eiskalt liquidiert. Einen Tag später findet man Hanns-Martin Schleyer tot im Kofferraum eines Autos.

Die Gesellschaft ist wie paralysiert. Der Staat reagiert zum Teil hysterisch und brachial auf diese inneren Konflikte und schlägt mit Mitteln zurück, die bis an die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit gehen. Die Bundesrepublik befindet sich in diesen Herbstmonaten in einer Art geistigem und emotionalem Ausnahmezustand.

Auch in der DDR gibt es im Jahr 1977 schwere innenpolitische Turbulenzen. Nachdem 1976 die Ausbürgerung von Wolf Biermann zu Protesten vor allem unter Schriftstellern und Intellektuellen geführt hat, spitzt sich jetzt die Lage zu. 

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Es vollzieht sich geradezu ein Exodus gen Westen. Nach mehrmonatiger Haft werden der Schriftsteller Jürgen Fuchs und die Liedermacher Gerulf Pannach und Christian Kunert in die Bundesrepublik abgeschoben. Andere folgen ihnen »freiwillig«, weil sie in der DDR keine Perspektive mehr für sich sehen: der Schauspieler Manfred Krug, die Autoren Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich, Sarah Kirsch. Der Regimekritiker Rudolf Bahro wird kurz vor Erscheinen seines Buches »Die Alternative« bei einem westdeutschen Verlag vom DDR-Staatssicherheitsdienst verhaftet. Die innere Überwachungsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Man fürchtet Zersetzung bis tief in die eigenen Reihen.

All diese Konflikte hüben wie drüben spielen sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ab, der noch lange nicht zu Ende ist, trotz der Ostverträge, trotz der Bemühungen um politische und ideologische Entspannung vor allem in Zeiten der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt. Der Kampf wird nach wie vor auf allen Ebenen geführt, politisch, wirtschaftlich, militärisch, kulturell — vor allem aber auch auf der Ebene der Geheimdienste, deren Aktionen in Ost wie in West natürlich nicht nach den Kriterien der Moral durchgeführt werden, sondern nach den Prinzipien erfolgreicher Schädigung des Gegners. Das ist das Wesen aller Geheimdienste.

Deutschland Ost und Deutschland West bilden einen Schauplatz des großen Systemkonflikts, der sich rund um den Erdball erstreckt. Die gnadenlosen Kämpfe spielen sich quasi en miniature in der persönlichen Lebenswelt von Frauen wie den drei beschriebenen ab. Durch raffinierte Manipulation werden sie als Marionetten im politischen Schlagabtausch zwischen hüben und drüben vom DDR-Geheimdienst mißbraucht.

Die Romeo-Methode wäre jedoch ohne die systematische soziale Diskriminierung, der die Frauen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft jahrzehntelang ausgesetzt waren, nicht umsetzbar gewesen, zumindest nicht so erfolgreich. Denn die Konsequenz von Unterdrückung — das gilt nicht nur für Frauen — ist oft der Verlust des Selbstvertrauens und der Selbstachtung. 

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Und dieses Minderwertigkeitsgefühl bildet einen geradezu idealen Nährboden für die erfolgreiche persönliche Ausbeutung von Menschen. Die »Romeo«-Masche, das planmäßige Ansetzen ausgesuchter HVA-Agenten auf einsame westdeutsche Frauen, ist die perfide Umsetzung dieser Erkenntnis in eine der effektivsten nachrichtendienstlichen Anwerbungsmethoden.

*

Die Machtzentrale des DDR-Geheimdienstes residiert unter dem Dach des Ministeriums für Staatssicher­heit, das sowohl die Abteilungen der inneren Abwehr als auch des Auslandsnachrichten­dienstes vereint. Das MfS, Organ für die Überwachung des eigenen Volkes wie des äußeren Feindes, beschäftigte im Oktober 1989 insgesamt 91.015 hauptamtliche Mitarbeiter, davon waren 3300 für die HVA tätig. Die Spionageabteilung verfügte außerdem über 700 Offiziere im besonderen Einsatz und 10.000 Inoffizielle Mitarbeiter.1)

Das 36 ha große MfS-Gelände in Ostberlin, auf dem lediglich ein Teil der Gesamtinstitution residiert, ist bebaut mit wuchtigen grauen Häuserblocks. Die Adresse ist längst zum Synonym für Bedrohung und Überwachung geworden: »Normannenstraße«, Kürzel für einen verhaßten Machtapparat, in dessen Visier jeder DDR-Bürger geraten kann.

In einem der düster wirkenden Betonwürfel, im Haus Nummer 15, befindet sich die Hauptverwaltung A, bald Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) genannt. Sie war aus dem 1951 gegründeten »Außenpolitischen Nachrichtendienst« hervorgegangen, der sich allerdings zunächst mit der Bezeichnung »Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung« (IWF) tarnte. 1956 wurde das IWF in Hauptverwaltung A des Ministeriums für Staatssicherheit umbenannt, und Markus Wolf avancierte zu ihrem Chef. Seit 1955 ist er auch Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke.

Die HVA gilt innerhalb des Ministeriums als Elite-Club, als etwas Besonderes — ebenso wie ihr Leiter. General Wolf, Sohn des jüdischen Dramatikers und Arztes Friedrich Wolf und Bruder des bedeutenden DEFA-Regisseurs Konrad Wolf, umgibt sich gern mit der Aura des intellektuellen Feingeistes. Das führt nicht selten zu Spannungen mit den Genossen aus den anderen Bereichen, vor allem aber mit dem Minister, mit Erich Mielke.

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Doch Wolf ist ein treuer Soldat des Systems geblieben. Er hat es verstanden, innerhalb von zehn Jahren einige seiner Abteilungen entscheidend auszubauen und die HVA mit Umsicht und Geschick zu einem auch innerhalb des Ministeriums mächtigen Imperium zu machen, zu einem Staat im Staate Mielkes.

Wolf und seine Mitarbeiter der »Hauptverwaltung Aufklärung« sind ausgezeichnete Strategen und Analytiker, gerade wenn es gilt, die gesellschaftliche Situation im jeweiligen Operationsgebiet, vor allem aber in der Bundesrepublik einzuschätzen und sie sich für eigene Zwecke nutzbar zu machen. Das entspricht jenem Auftrag, den sich die HVA schon früh gegeben hat. In einer umfassenden Anleitung zur Spionage, der sogenannten »Richtlinie 2/68« des MfS, heißt es unter dem Aspekt »Werbung auf der Grundlage materieller und anderer persönlicher Interessiertheit«: »Die vom Ministerium für Staatssicherheit als Schwerpunkt zu bearbeitenden Zentren des Feindes haben eine solche personelle Zusammensetzung, die oft keine politisch-ideologischen Ansatzpunkte bietet. Deshalb müssen für die Werbung dem imperialistischen System innewohnende Wesenszüge und Widersprüche genutzt werden, die sich in den Verhaltensweisen der Werbekandidaten widerspiegeln.«2)

Der geheimdienstliche Blick hatte sich sehr genau auf die Situation der Frauen im Westen gerichtet, auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen, ihre soziale Typologie und registrierte das Spannungsverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Zwängen und den privaten Wünschen der Frauen. Auf diesen Kenntnissen basierte der nächste Schritt, auch eine konspirative Grundregel erfolgreicher Spionage: 

»Er (der operative Mitarbeiter, d. Verf.) muß in der Lage sein, die Gefühle, das Denken und das Handeln geeigneter Werbekandidaten wesentlich zu beeinflussen.«3) Das Ziel des Agenten und seiner Führungsstelle sei schließlich »die Schaffung und Verstärkung von Abhängigkeitsverhältnissen«.4) 

Die Romeo-Methode ist nichts anderes als die subtile und erfolgreiche Anwendung dieser Grundüberlegungen und Anweisungen.

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Wolf und seine Männer entwickelten eine diesen Vorgaben entsprechende feingestrickte Logistik, wie man die Schwächen und Stärken von Frauen ausnutzen kann, um die wirtschaftlichen und politischen Machtzentren der Bundesrepublik geheimdienstlich zu unterwandern. Sie fanden den Generalschlüssel zum Ausspionieren begehrter Spitzenpositionen: möglichst alleinstehende Sekretärinnen, die an wichtigen Stellen in Ministerien und anderen bedeutenden Institutionen arbeiten. Oft verfügen diese Frauen über ebenso viele Informationen wie ihre Vorgesetzten, haben uneingeschränkten Zugang zu Verschlußsachen und Geheimdokumenten.

In seiner Dissertation über »Psychologische Bedingungen der inoffziellen Arbeit in das und im Operations­gebiet«, 1972 an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit vorgelegt, geht der spätere Oberst bei der HVA Klaus Roesler auch kurz auf die konspirative Qualität von Sekretärinnen ein: 

»In privilegierten Zentren wird nicht selten die in <Ehren ergrautes dennoch betont herausgeputzte Vorzimmerdame> angetroffen. Durch lange und eingespielte Zusammenarbeit trifft es oft zu, daß eine Sekretärin <genau wie ihr Chef denkt> und daher viele seiner voraussichtlichen Reaktionen und operativ interessanten Meinungen, Auffassungen und Stellungnahmen erahnen kann. Spontane Nachahmung oder bewußte Identifizierung der Verhaltensweisen des Chefs lassen sich auch im familiären und persönlichen Umgangskreis vielfach nachweisen.«5)

Tüchtige Sekretärinnen arbeiten weit über die tarifliche Arbeitszeit hinaus, identifizieren sich stark mit ihrer Arbeit und finden häufig doch nicht die entsprechende Anerkennung. Und sie verdienen meist nicht gerade üppig. Wenn sie ledig sind, keine Familie haben, ist ihr Privatleben nicht selten trist. Ein außereheliches Verhältnis gilt entsprechend dem gängigen bundesdeutschen Moralkodex der 50er bis 70er Jahre für Frauen als anrüchig. Und Bonn ist eine Provinzstadt par excellence. Da gibt es kaum unbeobachtete Nischen, befreiende Anonymität, großstädtische Ablenkung. So verbringt manche Bonner Sekretärin ihre Abende und die langen Wochenenden allein und in quälender Isolation.

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Es widerspräche geradezu dem hohen Professionalisierungsgrad der HVA wie auch ihrer nachweislich äußerst präzisen Anwerbungstechnik bei alleinstehenden Sekretärinnen, wenn es keine genauen Analysen über die gesellschaftliche und persönliche Situation dieser Zielgruppe gegeben hätte. An der hauseigenen Schule der HVA und an der Juristischen Hochschule des MfS wurden über fast jede Facette der Spionagearbeit Untersuchungen und Dissertationen erstellt, vor allem, was die ständige Vervollkommnung und Korrektur ihrer Mittel und Methoden betraf.6)  

Die Analyse vieler Fälle von enttarnten Sekretärinnen bestätigt, daß allgemeine Erkenntnisse über die gesellschaftliche Situation dieser Frauen in Hinblick auf die jeweilige Person spezifiziert wurden. Bis auf eine Ausnahme sind all diese Untersuchungen und Forschungsarbeiten nicht mehr auffindbar, sie wurden offensichtlich vernichtet.7) 

 

Die Romeo-Methode ist so schlicht wie genial. Man setzt ausgesuchte DDR-Agenten auf einsame westdeutsche Frauen an mit dem Auftrag, ein intimes Verhältnis mit ihnen anzufangen. Scheint die emotionale Manipulation der Frau nur durch eine Eheschließung gesichert, müssen sie auch geheiratet werden. Manchmal genügt es zunächst, der Frau die Heirat in absehbarer Zeit zu versprechen. Eine Ehe ist notwendig, wenn die Frau, den gesellschaftlichen Zwängen gehorchend, Sexualität nur in legalisierter Form zuläßt oder positiv erleben kann oder wenn sie allein durch eine Heirat der Liebe des Mannes ausreichend vertraut, um sich seinen Wünschen und Forderungen fraglos zu unterwerfen. Für all das bedarf es, auch was Einfühlungsvermögen und Phantasie betrifft, gewisser Begabungen beim Agenten. Sind bis dahin alle Weichen richtig gestellt, folgt nun der letzte, wichtigste Schritt. Voraussetzung ist, daß die »Zielperson« bereits auf einem interessanten Sekretärinnenposten möglichst in Bonn sitzt oder bereit ist, sich einen zu suchen. Das ist in dieser Zeit nicht schwer für tüchtige Bürokräfte. Der Agent erzählt ihr eine genau auf sie zugeschnittene Lügengeschichte, weshalb es für ihn unglaublich wichtig ist, Einsicht in gewisses Material aus ihrem Arbeitsbereich zu erhalten. Und das funktioniert in einer verblüffenden Anzahl von Fällen. 

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Bis heute hat man 36 Sekretärinnen enttarnt, die von Ende der 50er Jahre bis zum Untergang der DDR 1989 auf Romeos hereingefallen waren und aus Liebe zu diesen Männern spioniert hatten. Über die Dunkelziffer kann man noch nicht einmal spekulieren.

Aber die Romeo-Methode erwies sich häufig auch als riskant, da die Motivation der jeweiligen weiblichen »Quelle« einzig und allein von den unwägbaren Mächten des Gefühls und der Erotik gesteuert wird. Eine fragile Konstruktion, leicht störbar und mit vielen unvorhersehbaren menschlichen Faktoren versehen.

Die Offenbarung der wahren Identität des Romeos gegenüber seiner »Quelle«, sein Bekenntnis, »Kundschafter« im Auftrag der DDR zu sein, ist nur in den wenigen Fällen erfolgversprechend, wo eine Frau auch politisch ansprechbar ist und mit dem Sozialismus sympathisiert. Oder der Agent hat sie emotional und erotisch so von sich abhängig gemacht, daß man ihr damit drohen kann, sie sehe den Mann nie wieder, wenn sie nicht für den DDR-Geheimdienst arbeite.

Ansonsten empfiehlt sich die Anwerbung unter »fremder Flagge«. Der Agent gibt sich zum Beispiel als Mitarbeiter eines Friedensforschungsinstituts aus und legt der Frau nach einiger Zeit nahe, im Sinne des Weltfriedens mitzuarbeiten. Diese Version ist bei den Frauen besonders erfolgreich. Eine andere Variante ist die Anwerbung für den Geheimdienst eines westlichen Landes, wenn zum Beispiel bei der »Zielperson« eine antikommunistische Haltung zu erwarten ist.8) 

Die Jahre 1976/77 bringen einige Rückschläge für die Drahtzieher der Romeo-Methode. Mehr als 30 DDR-Agenten werden in der Bundesrepublik enttarnt und verhaftet. Daß Gerda O. sich vier Jahre zuvor gestellt hatte und jetzt verurteilt wird, ist abgehakt. Daß allerdings ihre Nachfolgerin Karin S. durch einen dummen Fehler verhaftet wurde und aussagt, vor allem, was sie über das Paradepferd im Romeo-Stall, Herbert Schröter, weiß, ist äußerst unangenehm. Doch die anderen Frauen funktionieren nach wie vor hervorragend. Eine der »Quellen«, die brillanteste von allen, betreut Markus Wolf als Instrukteur dann und wann sogar höchstpersönlich: Gabriele Gast, die jahrelang von einer sehr hohen Position im Bundesnachrichtendienst aus spioniert.

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Außerdem gibt es neue, erfolgversprechende Anwerbungsversuche. Zwei Jahre später wird jedoch gleich eine ganze Reihe der Frauen vom westdeutschen Verfassungsschutz enttarnt werden.

Die Idee, den Geheimnisverrat als Liebesdienst zu verkleiden bzw. die erotische Verlockung zum Aushorchen von Geheimnisträgern einzusetzen, ist vielleicht so alt wie der Geheimdienst selbst. Doch in der gängigen Version, zum Beispiel in den berühmten Geschichten um Mata Hari oder Christine Keeler, war die Konstruktion eine andere: Frau verführt Mann zum Ausplaudern politischer oder militärischer Geheimnisse. Die Umkehrung dieser konspirativen Beziehung ist sicherlich keine originäre Erfindung von Markus Wolf. Aber man kann mit Sicherheit sagen, daß sie unter seiner Ägide strategisch perfektioniert wurde und daß — soweit bekannt — die HVA sie so erfolgreich praktizierte wie kein anderer Geheimdienst der Welt.

Die HVA als offizielle Geheimdienstsektion des MfS ist gerade ein Jahr alt und Markus Wolf, der »Mann ohne Gesicht«, von dem bis 1978, als dem westdeutschen Verfassungsschutz in Stockholm ein Schnappschuß des DDR-Geheimdienstchefs gelang, kein einziges Foto existiert hat, ebenso lange ihr Leiter, als der erste uns heute bekannte Romeo aktiv wird: Heinz Sütterlin stammt aus Dresden und wird gezielt auf die junge Sekretärin Leonore Heinz angesetzt, die in Bonn lebt. Wie lernt er sie kennen? Eines Tages klingelt er an ihrer Tür, mit einem großen Strauß roter Nelken im Arm. Als sie öffnet, spielt er den Verblüfften: Sind Sie wirklich Fräulein Heinz? Am Abend zuvor hätte er beim Tanzen eine junge Dame kennengelernt, die ihm diese Adresse gegeben habe. Sie hätte ihn offenbar zum Narren halten wollen. Ob er nun ihr, der wirklichen Leonore Heinz, wenigsten die Blumen dalassen dürfe? Sie bittet ihn herein. Die Rechnung geht auf.

Weisungsgemäß spielt Sütterlin der jungen Frau den leidenschaftlichen Liebhaber vor, heiratet sie. Bald kann er sie unter Druck setzen, das zu tun, worauf er von Beginn an hingearbeitet hat: Geheimmaterial aus ihrem Büro im Auswärtigen Amt zu schmuggeln. Das erledigt sie bis zum 11. Oktober 1967. Dann wird das Ehepaar Sütterlin verhaftet. Ein Überläufer hatte ausgepackt.

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Erst jetzt erfährt Leonore von der eiskalten Strategie jenes Mannes, den sie so sehr geliebt hat. In ihrem letzten Brief schreibt sie: »Ich war nur Mittel zum Zweck.« Vier Tage nach ihrer Verhaftung, am 15. Oktober 1967, erhängt sich Leonore Sütterlin am Fensterkreuz ihrer Zelle.

Heinz Sütterlin wird zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haftzeit heiratet er seine zuständige Rechtspflegerin und entkommt während eines Hafturlaubs in die DDR.

Die einschlägige Spitzenkraft unter den Genossen jedoch ist ein Mann, dem man seine inzwischen geradezu legendären Talente für diesen Job nicht unbedingt ansieht. Er ist mittelgroß, eher untersetzt, und niemand würde ihn als wirklich gutaussehend beschreiben. Ein unauffälliges, biederes, eher etwas derbes Durchschnittsgesicht mit freundlichem Lächeln. Vielleicht einer, dem man vertraut, weil er so durchschnittlich und unauffällig wirkt, und der gerade deswegen so erfolgreich ist. Er ist des Generals erfolgreichster Romeo, ein mit allen Wassern gewaschener Star unter den Liebes-Agenten der HVA. Im Laufe der Jahre wird er für seine Tätigkeit insgesamt 12 DDR-Orden und Medaillen, darunter den Vaterländischen Verdienstorden in Silber bekommen.

Sein Name: Herbert Schröter.

 

 

Herbert Schröter (links) im Dezember 1971 bei einer Feier in dem Kölner Unternehmen, wo er sich zur Tarnung seiner Agententätigkeit eine Anstellung verschafft hatte. 

Zu diesem Zeitpunkt fungiert er bereits seit sechs Jahren als Romeo von Gerda O.

 

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Im Frühjahr 1964 steigt in Paris eine junge Deutsche aus dem Zug. Sie ist gerade 20 Jahre alt geworden und kommt direkt aus London. Zwei Jahre hat sie dort als Au-pair-Mädchen gelebt, um Englisch zu lernen. Nun will sie mit Französisch beginnen. Sie möchte umgehend eine Familie finden, bei der sie gegen Mithilfe im Haushalt Logis, Verpflegung und ein Taschengeld bekommt. Sie braucht das Geld auch für die Sprachenschule, denn sie spricht bisher kein Wort Französisch.

Der Name der jungen Frau: Gerda O. Sie kann es immer noch nicht glauben, daß ihr der Ausbruch gelungen ist. Daß sie durch die Welt reisen, interessante Menschen kennenlernen und sich fremde Sprachen aneignen kann, ist ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Man hat ihr immer wieder gesagt, aus ihr würde nichts werden, auch der Vater und die Mutter trauten ihr wenig zu.

Sie haben versucht, ihr alle möglichen Knüppel in den Weg zu legen, als sie ihnen vor zwei Jahren mitteilte, sie wolle von zu Hause weggehen, weg aus dem bayerischen Provinzstädtchen, weg von der fanatisch religiösen Mutter und weg aus dem kleinen Büro, in dem sie seit ihrem Handelsschulabschluß gearbeitet hat. Sie will ihnen zeigen, daß sie auf eigenen Beinen stehen kann, daß sie ehrgeizig ist und einen interessanten Beruf finden wird. Sie will etwas erreichen in der Welt. Hübsch ist sie, das sagen alle. Ihr herbes, schönes, klares Gesicht wird von sportlich geschnittenem, dunkelblondem Haar umrahmt. Aber bisher hatte sie nur harmlose Beziehungen zu Männern, die katholischen Wurzeln ihrer Erziehung sitzen immer noch tief.

Es ist zu dieser Zeit noch etwas Außergewöhnliches, wenn eine junge Frau von 18 Jahren, damals also noch nicht einmal volljährig, ohne Sprachkenntnisse und Geld ins Ausland geht. Doch Gerda O. setzt sich durch.

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In London beginnt nun die glücklichste Zeit ihres bisherigen Lebens. Schon bald spricht sie fließend Englisch und erobert die Stadt. Über eine deutsche Freundin gerät sie in linke Künstler- und Intellektuellenzirkel. Und hier erfährt sie zum ersten Mal etwas über den deutschen Faschismus, über das Dritte Reich, über die Ausrottung der Juden. In der bayerischen Volksschule, die sie besucht hat, waren diese Themen im Unterricht kaum behandelt worden. Auch zu Hause sprach niemand darüber.

Ihre Freundin gibt ihr Schriften von Marx zu lesen. Sie besucht Lektürekurse, Schulungen, in denen über den Sozialismus, über die Diktatur des Proletariats, über die Sowjetunion diskutiert wird. Das alles ist aufregendes Neuland für sie. Sie geht auch viel aus, erlebt mit ihren neuen Freunden das »swinging London«, das in jenen Jahren zum Zentrum der europäischen Pop- und Jugendkultur wird. Eine Generation, die wild und bunt, kreativ und lustvoll gegen die überkommenen Nachkriegskonventionen protestiert, prägt diese Stadt. Und die junge Gerda aus Bayern ist dabei, wird akzeptiert. Aber nach zwei Jahren ist ihr das nicht mehr genug. Sie will noch mehr sehen, noch mehr lernen. Jetzt also Paris, ein neues Abenteuer.

Sie findet eine Familie, bei der sie arbeiten kann, und beginnt ihren Sprachkurs an der Alliance Francaise. Die liegt am Boulevard Raspail am Montparnasse, einem lebhaften Viertel mit vielen Cafes. Ein Hauch von Existentialismus, von eleganter Revolte, von Abenteuer und Libertinage gibt der Metropole eine besondere Atmosphäre.

Wie immer an solchen Schulen, trifft man an der Alliance Francaise Menschen unterschiedlichster Nationalität. Ein Kontakt ist meist schnell hergestellt. Nach den täglichen Unterrichtsstunden trifft man sich im Cafe gleich nebenan. Ihr fällt ein Deutscher auf, der in ihrem Anfängerkurs ist. Er ist wesentlich älter als Gerda O. und wurde, wie er sagt, von seiner Firma zur Fortbildung hierher geschickt. Er ist sehr verbindlich, kommt mit jedem schnell ins Gespräch.

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Wo immer sich eine Gruppe zusammenfindet, er bildet gleich den Mittelpunkt. Wenn es zu politischen Debatten kommt, ist er der beschlagenste. Daß er links steht, verhehlt er nicht und bezeichnet sich freimütig als Marxisten. Dadurch gewinnt er noch mehr Sympathien — in der Gruppe und schließlich auch bei Gerda. Zunächst findet sie ihn als Mann gar nicht attraktiv, und er ist viel zu vorsichtig, sich ihr eindeutig zu nähern. Immerhin ist er 17 Jahre älter und bestimmt keine Schönheit, obwohl die anderen Frauen auf ihn zu fliegen scheinen. Doch langsam ändern sich Gerdas Gefühle. Sie fühlt sich angezogen von der väterlichen, charmanten Art, die er ihr gegenüber an den Tag legt, von seinem Wissen und der geduldigen Art, in der er ihr politische Zusammenhänge erklärt. Noch nie hat sie erlebt, daß jemand sie fördert, sie aufbaut, persönlich und intellektuell. Einen solchen Vater hätte sie gern gehabt.

Es kommt zu vorsichtigen zärtlichen Gesten. Herbert Schröter überstürzt nichts bei seiner Anwerbung. Als erfahrener Mann und guter Agent wartet er, bis sie bereit ist — zunächst für eine sexuelle Beziehung mit ihm und später für seine Offenbarung als Kundschafter der DDR. Dennoch funktioniert dann alles verblüffend schnell und reibungslos — geradezu ein Blitzkrieg im Vergleich zu anderen Einsätzen.

 

Herbert Schröter ist erst seit kurzem als IM, Inoffizieller Mitarbeiter der »Firma«, und auf Befehl seiner Führungsstelle in Paris. Sein Deckname: »Kranz«. Er gehört zur Abteilung I, die unter anderem für die Infiltration des Bonner Auswärtigen Amtes und des Kanzleramts zuständig ist. Sein Auftrag lautet, sich an der Alliance Francaise für einen Sprachkurs einzuschreiben. Er soll Ausschau halten nach einer für die HVA interessanten »Zielperson« und ein Verhältnis mit. ihr beginnen.

Hinter diesem Plan stecken kühle, professionelle Überlegungen. Im Milieu der Pariser Sprachenschule lassen sich leicht Kontakte zu jungen deutschen Frauen aufbauen, die für die HVA später von Interesse sein können. Viele der Studentinnen sind zum ersten Mal allein im Ausland und daher oft etwas verunsichert und isoliert. Die meisten wollen sich weiterbilden, später vielleicht einmal einen interessanten Job als Sekretärin oder Fremdsprachenkorrespondentin in Deutschland finden. Solche Zielpersonen, die zwar nicht sofort, aber doch mittel- bis langfristig für einen Geheimdienst interessant werden können, nennt man »Perspektivagenten«.

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Gerda 
mit 16 Jahren 
auf dem Oktoberfest

 

 

Ort, Zeit und Mann für diesen Auftrag sind gut gewählt. Der Agent oder »Kundschafter«, wie es beschönigend im Jargon des Geheimdienstes heißt, ist überraschend schnell fündig geworden. Gerda ist spionagetechnisch geradezu ein Idealtyp: Sie kommt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, hat eine streng katholische Erziehung voller Verbote hinter sich. Sie ist unerfahren, aber sehr intelligent und ehrgeizig. Und sie sympathisiert auf eine glühende, naive Weise mit dem Sozialismus.

Ihre psychologische Disposition erweist sich als das Kostbarste: Sie ist offenbar auf der Suche nach einer Vaterfigur, von der sie sich geliebt und gefördert fühlen will.

Der Agent tut ein übriges. Er schneidet seine Lebensgeschichte auf ihre Herkunft und Mentalität zu: Er sei Waise. Eine Kindheit ohne elterliche Liebe und so weiter, dann bei strenggläubigen Pflegeeltern aufgewachsen. Tiefe Schicksalsverbundenheit also. Das wirkt.

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Seine erotische Annäherung hat schließlich auch Erfolg. Die unerfahrene Gerda ist von seiner Sicherheit hingerissen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt sie sich nicht nur begehrt, sondern vor allem geborgen und beschützt.

Der Agent zögert nicht lange mit dem zweiten Schritt. Er wählt die Methode entwaffnender Direktheit. Als sie sich einmal zu Besuch in seinem Hotelzimmer angekündigt hat und die Tür öffnet, findet sie ihn mit Kopfhörern vor dem Radio sitzend. Er beugt sich über einen Block und notiert lange Zahlenkolonnen. Als sie sich bemerkbar macht, scheint er tief zu erschrecken und offenbart ihr die Wahrheit. Er entschlüßle als Agent der DDR geheime Nachrichten. Diese Aufgabe sei eine Friedensmission, weil er auf diese Weise für die gute Sache des Sozialismus kämpfen könne. Gerda ist zunächst entsetzt, dann aber äußerst fasziniert. Und sie weiß es zu schätzen, daß er sich ihr anvertraut und sie behandelt wie eine Gefährtin, ja wie eine Mitkämpferin. Kurz darauf bittet er sie, ihn nach Ostberlin zu begleiten. Er habe seinen Führungsoffizieren erzählt, daß Gerda alles wisse, und die wünschten sie nun kennenzulernen, um zu überprüfen, ob man ihr vertrauen könne.

In Ostberlin bereitet man der jungen Frau einen aufwendigen Empfang und stellt ein hübsches Wochenend­programm für sie zusammen. Den Höhepunkt aber bildet ein langes Gespräch mit einem Kreis sehr sympathischer, an ihrer Person interessierter Genossen, offensichtlich alles Kollegen und Vorgesetzte von Herbert. Vor allem einer der Männer, er ist der älteste in der Runde, findet ihr Interesse und ihre Hochachtung. Er erkundigt sich ausgiebig nach ihrer Herkunft und ihren Ansichten. Und dann erfährt sie, er habe Jahre im KZ verbracht, weil er Kommunist war. Er schildert ihr seine erschütternden Erlebnisse von damals, sagt, nur die DDR sei ein Garant dafür, daß der Faschismus nie wieder eine Chance hätte.

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Daß dieser Mann, dem ihr Herz schon beim ersten Treffen so warm entgegenschlägt, bereits als Führungs­offizier für sie ausgesucht war, der soeben lediglich seine erste glänzende Vorstellung gegeben hat, kann Gerda natürlich nicht wissen. Die emotionale Nähe zu diesem älteren Offizier, der vielleicht wirklich als Kommunist im KZ gewesen war und seine Rolle deshalb so überzeugend spielen konnte, wird die junge Frau auch dann noch an die Spionage binden, als ihre Beziehung zu Herbert schon längst zerstört ist. Ihre Anwerbung ist eine Folge von glänzend durchdachten Schachzügen. Denn hier war gelungen, was man sonst nur selten hinbekam: die Verschmelzung von Gefühl und Ideologie, und das Ganze gleich doppelt besetzt mit väterlichen Männerfiguren.

Beim ersten Treffen beläßt man es bei schönen Gesprächen und erfreulichen Begegnungen. Wenige Wochen später wird Gerda erneut nach Ostberlin eingeladen. Wieder verbringt sie schöne Tage, und wieder führt sie intensive Gespräche mit dem älteren Genossen. Doch jetzt fordert er sie auf, ihre Liebe zu Herbert, ihr Engagement für den Sozialismus und den Weltfrieden unter Beweis zu stellen. Er legt ihr eine Verpflichtungserklärung der HVA vor. Sie unterschreibt. Man gibt ihr Geld. Sie ist verblüfft. Sie tut es doch aus Liebe und Überzeugung. 

 

 

Ausflug in die Umgebung von Paris.

Gerda ist 19 Jahre alt 
und bereits von Herbert 
Schröter angeheuert

 

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Sie weiß nicht, daß sie sich durch Geld — bewußt oder unbewußt — noch mehr verpflichtet fühlen wird, gute Arbeit für die Genossen zu leisten. Außerdem ist die Quittung, die sie dafür unterschreiben muß, sozusagen die Besiegelung ihrer zuvor unterzeichneten Verpflichtungserklärung. Mit dieser Quittung ist sie erpreßbar. Das alles gehört zum alten Spionagewissen und wird sich auch in ihrem Fall bewähren.

 

Als sie nach Paris zurückfahren, ist Gerda zur Spionin geworden. Ihr Deckname: »Rita«. Herbert fungiert als ihr offizieller Instrukteur und Kurier. In Paris mieten sie eine gemeinsame Wohnung. Noch ein Ausbruch aus den Konventionen ihres katholischen Elternhauses: eine »wilde« Ehe, die Sünde schlechthin. Nun beginnt ihre Schulung, zum einen durch Herbert, zum anderen auch durch Spezialisten in Ostberlin, wohin sie noch mehrfach kommandiert wird: dechiffrieren und verschlüsseln, konspiratives Verhalten und funken, fotografieren und Filme entwickeln, Umgang mit einem Container, also einem Behältnis mit Geheimfach. Sie lernt alles, was zu diesem Handwerk gehört. Herbert Schröter achtet vor allem darauf, daß Gerda sich geliebt und geachtet fühlt. Das ist Teil seines Auftrags, von dem Gerda natürlich nichts weiß. Er lobt sie, hört ihr zu. Und er erklärt ihr, daß ihre Mitarbeit für die HVA die Bedingung dafür ist, daß sie zusammen­bleiben können. Sonst würde die Zentrale ihrer Beziehung niemals zustimmen.

Ihr Zusammenleben verläuft in dieser Zeit sehr harmonisch. Sie schätzt seine freundliche Überlegenheit ebenso wie seine charmante Art zu plaudern. Aber die Instruktionen aus Ostberlin werden nun erschreckend ernst und präzise. Das Paar soll in Kürze nach Bonn übersiedeln, und Gerda, so die Anweisung, muß es unbedingt schaffen, eine Anstellung beim Auswärtigen Amt zu bekommen. Anfang 1965 ist es soweit. Gerda hat sich ein möbliertes Zimmer in Bonn genommen, Herbert bezieht aus Sicherheitsgründen vorübergehend ein Apartment in Köln. Die Zentrale will nichts riskieren. Schröter muß sich zunächst eine bürgerliche Tarnung verschaffen und findet dafür eine Anstellung bei einer Firma in Köln.

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Inzwischen hat Gerda eine Stellenanzeige des Auswärtigen Amts in Bonn entdeckt und bewirbt sich umgehend. Ihre Sprachkenntnisse kommen ihr zugute. Natürlich gibt es Tests, und natürlich gibt es auch eine Sicherheitsüberprüfung. Selbstverständlich erwähnt sie Herbert Schröter und ihre Reisen nach Ostberlin mit keinem Wort. Am 2. November 1965 wird sie als Sekretärin eingestellt und arbeitet fortan in der »Telco«, dem Nachrichtenzentrum des Auswärtigen Amtes, wo die Telegramme aller bundesdeutschen Botschaften ankommen, dechiffriert und weitergeleitet werden, aber auch Schreiben aus verschiedenen Sektionen der NATO. 

Ab sofort und völlig kalten Blutes bringt Gerda fast täglich zahlreiche Fernschreiben aus aller Welt mit nach Hause. Sie schmuggelt Originale, Ablichtungen und Durchschriften. Das Material verstaut sie einfach in ihrer Handtasche und trägt es ruhig an der Pforte vorbei. Wenn sie Schichtdienst hat, bringt sie einen Waschbeutel mit, um sich nachts oder morgens frisch zu machen. Dann stopft sie die Fernschreiber­streifen, die nach der Dechiffrierung eigentlich für die Vernichtung bestimmt sind, zwischen Zahnbürste und Cremetöpfchen. Es gibt offenbar keinerlei Kontrollen, ob die Streifen nach der Auswertung tatsächlich vernichtet werden. Auch an der Pforte wird man sie all die Jahre niemals kontrollieren. Für die HVA-Offiziere unfaßbar erfreuliche Zustände. 

Alle zwei Tage gibt sie Herbert einen großen Beutel mit Material. Er steigt dann regelmäßig in einen Interzonenzug und geht umgehend in einen der Toilettenräume. Dort versteckt er das Paket in einem »toten Briefkasten«, einem Hohlraum, der sich hinter der abnehmbaren Deckenverschalung befindet. Dann hinterläßt er als Zeichen für den Abholer eine leere Verpackungsschachtel Kölnisch Wasser auf der Ablage des Waschbeckens. Nach Ankunft des Zuges in Ostberlin wird der Beutel von einem HVA-Mann, der die Toiletten durchsieht und das »Zeichen« deuten kann, abgeholt. Jeweils abends sitzt das Paar in seiner Bonner Wohnung und wartet auf die Empfangsbestätigung. Die wird — wenn alles gut gegangen ist — verschlüsselt über Kurzwelle im sogenannten A-3-Verkehr aus der DDR herübergefunkt.

Gerda wird von der Zentrale für ihre Lieferungen mit Lob geradezu überschüttet. Das Material, das sie beiseite schafft, ist nach Umfang und Qualität phänomenal.

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In ihrer Beziehung ist eine strenge Professionalität eingekehrt, obwohl Herbert mit Genehmigung der Zentrale endlich in Gerdas Wohnung in der Bonner Innenstadt ziehen durfte. Das hat natürlich auch den Sinn, daß er die Frau, die sich langsam zur Top-Spionin entwickelt, stets im Auge behalten kann. Er muß regelmäßig genaue Berichte über sie liefern: Wie ihrer beider Beziehung beschaffen ist, wie es um ihre psychische Konstitution steht; wie gut sie den Streß verkraftet, ob sich Anzeichen von Panik oder gar Schuldgefühle zeigen. Aber er muß auch berichten, ob ihre politische Linientreue immer noch stabil ist. Herberts Nachrichten sind überwältigend positiv. Gerda ist ein Volltreffer.

Im Frühjahr 1966 lädt man sie erneut nach Ostberlin ein. Diesmal ist es keine Zusammenkunft wie die früheren. Feierlich ehrt eine ganze Truppe von HVA-Offizieren die Kundschafterin »Rita« für ihre Verdienste und verleiht ihr eine Auszeichnung. Aber es ist nicht irgendeine Medaille. Es ist der Vaterländische Verdienstorden in Gold. Man sagt ihr, wie stolz sie auf sich sein könne. Herbert steht ein wenig abseits. Für ihn ist ihr kometenhafter Aufstieg zwar ehrenhaft, und ein wenig Glanz fällt auch auf ihn als Instrukteur und Kurier ab, aber der Star heißt längst Gerda.

Natürlich darf sie den Orden nicht in die Bundesrepublik mitnehmen, das wäre viel zu gefährlich. Man wird ihn für sie in der DDR aufbewahren, so sagt man ihr, bis sie sich vielleicht endgültig hier niederlassen will.

Die Zeremonie und all die Aufmerksamkeiten berühren sie tief. Auch der ältere Führungsoffizier, den sie so sehr schätzt, hat gute Worte für sie gefunden. Aber viel tiefer als ihre Freude ist ihr Schrecken. So überwältigend also ist das Ausmaß ihres Verrats, daß er sogar einen der höchsten Orden der DDR wert ist?

Gerda ist jetzt 22 Jahre alt, und das vergangene Jahr war für sie eher ein aufregendes Spiel als ein ernster und überzeugter Geheimnisverrat. Und im Mittelpunkt dieses Spiels stand nicht die Ostberliner HVA-Zentrale oder gar ihre politische Überzeugung, sondern einzig und allein Herbert, den sie bewundert und liebt und dem sie gefallen will. Sie weiß, daß sie diesen Preis für ihr Zusammenleben bezahlen muß, sonst wird Herbert sofort anderweitig eingesetzt werden. 

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Aber jetzt wird ihr zum ersten Mal bewußt, in welche Verstrickung sie dadurch geraten ist und in welcher Gefahr sie lebt. Langsam kriechen Zweifel in ihr hoch. Nicht nur, weil sie ihr Land verrät, sondern weil sie alle ihre Kollegen hintergeht mit ihrem falschen Spiel. Dabei hat sie nette Kollegen, die auch ihr sehr aufgeschlossen entgegenkommen. Mit einigen würde sie sich gern anfreunden, denn außer Herbert kennt sie niemanden in der Stadt und lebt völlig isoliert. Aber das geht auf keinen Fall, und sie weiß nicht einmal, ob sie sich überhaupt noch natürlich und spontan verhalten kann. Jedes Wort, jede Geste muß sie einer eisernen Kontrolle unterwerfen, damit sie sich und Herbert nicht verrät. Es ist, als lebten inzwischen zwei Personen in ihr. Die eine ist die »wahre« Gerda, die sie nur Herbert zeigen darf. Die andere ist für alle übrigen Menschen bestimmt und ihr selber fremd. Sie versucht, mit Herbert über diese Dinge zu sprechen. Er versteht es auch diesmal, sie zu beruhigen und von neuem davon zu überzeugen, daß alles richtig und gut ist.

Einmal besucht das Paar Gerdas Eltern in Bayern. Wie so oft, kommt es zu politischen Debatten zwischen Eltern und Tochter und schließlich zum Streit. Herbert hält sich in der Diskussion völlig zurück und bezieht keinerlei Stellung. Auf der Rückfahrt rügt er Gerda. Als »Kundschafterin« der DDR müsse sie sich in Zukunft eindeutige politische Äußerungen verkneifen, selbst ihren Eltern gegenüber. Man dürfe sich auf keinen Fall mit seinen Ansichten aus dem Fenster lehnen. Das widerspreche jeglichen Grundregeln der Konspiration.

Sie kann sich ein Leben ohne Herbert längst nicht mehr vorstellen und befolgt in Zukunft auch diese Anweisung. Er ist es, der ihr Kraft, Wissen und Selbstvertrauen gibt, auch als Frau. Also macht sie weiter, obwohl sie spürt, daß ihre Zweifel immer größer werden. Bis sich Gerda aus ihrer Verstrickung lösen und sich von Herbert und von der Spionage trennen wird, vergehen noch sieben Jahre. Weitere vier Jahre später wird man ihr den Prozeß machen wegen geheimdienstlicher Tätigkeit. Und an einem der Prozeßtage wird man sie mit ihrer Nachfolgerin beim erfolgreichen DDR-Kundschafter Herbert Schröter konfrontieren: mit der dann 29jährigen Karin S.

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6.

 

Anfang 1966 treffen Karin S. und ihr Mann Achim"' eine, wie sich Jahre später zeigen wird, folgenschwere Entscheidung. Der 24jährige gelernte Exportkaufmann will sich beruflich weiterqualifizieren und möchte noch ein Studium der Betriebswirtschaftslehre absolvieren. Das aber bedeutet, daß seine Frau den Unterhalt für die Familie verdienen muß, für sie beide und die drei Monate alte Tochter Silke*. Leicht wird das nicht. Er fragt sie, ob sie sich das zutraut. Sie sagt ja.

Karin S. hat keine Berufsausbildung. Kurz vor der Geburt des Kindes hat sie das Gymnasium abgebrochen. Damit wurden auch ihre Pläne zunichte, einmal Lehrerin zu werden. Aber das bedauert sie nicht, als sie im vierten Monat ihrer Schwangerschaft den Mann heiratet, in den sie so sehr verliebt ist. Sie ist 18 Jahre alt und will, daß ihr Lebenstraum endlich Wirklichkeit wird. Sie sehnt sich nach Geborgenheit, nach einer heilen, harmonischen, schützenden Familie, das heißt nach etwas, das sie nicht kennt. Dafür will sie alles tun. Vor allem aber für den Mann, den sie seit dem ersten Tag ihrer Bekanntschaft über alles bewundert. Ihre Zweizimmerwohnung werden sie halten können. Sie liegt im Hamburger Stadtteil Altona und ist relativ billig. Es ist die Wohnung von Karins Eltern. Nach deren Scheidung lebte Karin S. vier Jahre mit ihrer Mutter allein hier, bis sie schwanger wurde und heiratete. Die Mutter machte den jungen Leuten damals ein großzügiges Geschenk: Sie überließ ihnen diese preiswerte Wohnung und suchte sich eine andere, die wesentlich teurer war.

Der Anfang ihres neuen Familienlebens war nicht einfach. Karin hatte keine Ahnung von Haushaltsdingen. Das war stets Sache der tüchtigen und energischen Mutter, die ohnehin immer alles erledigt und managt. Sie hatte im übrigen keinerlei Einwendungen, als die Tochter ohne Schulabschluß heiratet und ein Kind bekommt. Vielleicht will sie sich nun auf ihr eigenes Leben besinnen, auf ein neues Glück. Sie hat einen Freund gefunden und möchte die Tragödie ihrer Ehe endlich vergessen.

 

* Name geändert

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Karin S. hat sich immer eine Tochter gewünscht. Und sie wünscht sich, daß das Kind auf dem Land aufwachsen kann, wie sie selber die ersten acht Jahre ihres Lebens. Das ist die einzig glückliche Zeit ihrer Kindheit gewesen. Sie lebte damals bei der Großmutter, einer strengen, aber liebevollen Frau, in einem kleinen Dorf bei Nürnberg. Ein Kinderbuchidyll. Die Eltern kamen dann und wann zu Besuch. Auf den Vater freute sie sich nie, denn nichts war ihm recht, was sie tat. Dafür sagte er ihr immer wieder, er habe sich eigentlich einen Jungen gewünscht. Dann strengte sie sich an, irgend etwas zu tun oder zu sagen, was ihm gefiel, aber umsonst.

Als sie acht Jahre alt ist, entscheidet der Vater, sie müsse jetzt bei ihm und der Mutter in Hamburg leben. Die Großmutter verwöhne sie zu sehr, und das müsse ein Ende haben. Die Trennung ist eine Tragödie, das neue Leben ist es noch mehr. Sie hat nicht gewußt, wie die Eltern miteinander leben. Die Mutter, eine intelligente, tüchtige Frau, ist Chefsekretärin in dem Betrieb, wo der Vater als Fahrer arbeitet. Er leidet schwer unter seinem sozialen und ökonomischen Manko, und wenn er zuviel getrunken hat, versucht er seine Minderwertigkeitsgefühle mit seiner körperlichen Überlegenheit zu kompensieren. Dann schlägt er Frau und Tochter, bis die aus der Wohnung flüchten und nachts stundenlang auf der Straße herumirren.

Und er trinkt immer mehr. Während der Woche versagt er sich den Alkohol. Aber wenn es Freitagabend wird und er von seiner Schicht nach Hause kommt, sehen Mutter und Tochter einem furchtbaren Wochenende entgegen. Noch am gleichen Abend wird er zu trinken beginnen. Die Mutter kann das Kind vor den brutalen Ausfällen des Vaters nicht schützen. So wird das gehen, bis er Montag früh wieder abfährt. Dann herrscht für fünf Tage Ruhe in der Wohnung, im Alltag des Mädchens. In ihrer Not macht die Mutter sie zu ihrer Vertrauten, und das Kind erfährt viel zuviel über die Bestialität der Erwachsenen.

Nach 18jähriger Ehehölle läßt sich die Mutter scheiden. Da ist Karin S. vierzehn Jahre alt — ein Mädchen ohne viel Selbstvertrauen, eine heranwachsende junge Frau, der für ihr späteres Leben eine unendlich wichtige Grunderfahrung fehlt: daß sie es wert ist, geliebt zu werden, und daß ein Vater ein liebender und kein zerstörender Mann ist, wenn er diesen Namen zu Recht trägt. Trotz allem ist sie eine gute Schülerin und lebt jetzt in Ruhe mit ihrer Mutter allein in der Wohnung. Sie möchte später gern studieren, aber ihr sehnlichster Wunsch ist es, bald eine Familie zu haben, einen freundlichen Ehemann.

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Den lernt sie mit Siebzehn kennen. Sie ist ein bildschönes junges Mädchen, er stammt aus einer Familie mit adliger Herkunft. Sie haben sich Hals über Kopf ineinander verliebt. Das ist 1964, als in Deutschland erstmals die Antibabypille eingeführt wird. Aber davon raunt man nur. Die Kirchen warnen vor dem moralischen Absturz der Frauen, der Gesellschaft, der Preisgabe der christlichen Moral. Es erscheinen böse Artikel darüber, daß Frauen nun hemmungslos und ohne Folgen ihre Lüsternheit ausleben könnten, daß sie sich jetzt straflos wegwerfen würden an Männer, die Frauen ohnehin nur verachteten, wenn sie »es« ohne Trauschein zuließen. Nun würde nicht einmal mehr die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft die Frauen in eine bürgerliche Moral zwingen können. In allen Artikeln ist auch die Angst der Männer vor der sexuellen Befreiung der Frauen zu spüren. Doch so weit ist es noch lange nicht, schon gar nicht für unverheiratete Frauen oder junge Mädchen. Wer traute sich damals schon als Minderjährige zum Frauenarzt, um sich die Pille verschreiben zu lassen, und welcher Arzt war überhaupt dazu bereit?

Karin S. wird bald schwanger. Die künftigen Schwiegereltern, vor allem die Schwiegermutter, sind von ihr nicht gerade begeistert. Die Herkunft, die schüchterne Art, die zarte Konstitution ... Aber Karin und Achim heiraten, sie bekommt ihr Kind. Eine riesige Umstellung, doch sie leben gut miteinander. Karin S. schaut zu ihrem Mann auf. Was er sagt, gilt. Als er ihr seinen Wunsch mitteilt, noch einmal zu studieren, und sie fragt, ob sie sich zutraut, während der drei Studienjahre das Geld für die Familie zu verdienen, was hätte sie sagen können außer: Ja. Denn die gutsituierten Eltern des Mannes weigern sich, die junge Familie des Sohnes, vor allem die ungeliebte Schwiegertochter, finanziell zu unterstützen.

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Karin S. absolviert eine Ausbildung zur Sekretärin und sucht sich eine Stelle. Sie will allen zeigen, was sie zu leisten vermag. Nun beginnt ein hartes Leben. Karin S. arbeitet den ganzen Tag im Büro, das Kind wird von einer Tagesmutter betreut. Wenn sie nach Hause kommt, macht sie den Haushalt, versorgt die Tochter. Sie haben schrecklich wenig Geld, ernähren sich von Konserven und Eintöpfen. Abends kommen die Kommilitonen des Mannes, bringen etwas zu trinken mit; dann wird erzählt, gelacht und diskutiert. So trifft sie andere Menschen als bisher, doch jeden Morgen ist sie todmüde und weiß kaum, wie sie den Tag, die Arbeit bewältigen soll. Der Mann ist glücklich mit seinem Studium und dem Studentenleben. Und so ist sie es auch.

Nach drei Jahren haben sie es geschafft. Der Mann besteht sein Examen und findet bald eine gut bezahlte Anstellung. Jetzt soll endlich alles so werden wie erträumt. Sie ziehen in eine geräumige, komfortable Wohnung mit großem Badezimmer, zwei Baikonen, Parkettboden, Einbauküche. Sie kaufen neue Möbel, das Kind bekommt viele Spielsachen, Karin S. arbeitet nur noch halbtags. Der Mann liebt das Kind sehr, und das Mädchen ist geradezu auf den Vater fixiert. Man kann sich etwas leisten, und Karin bewundert ihren Mann für den erreichten Erfolg. Gut zwei Jahre leben sie so.

Dann kauft sich der Mann einen Sportwagen, lernt Tennis spielen, geht abends mit Kollegen aus. Da kann sie natürlich nicht mit, jemand muß bei dem Kind bleiben. Manchmal ahnt sie, daß er mit anderen Frauen unterwegs ist, aber sie läßt sich nichts anmerken. Er scheint jetzt nachholen zu wollen, was er so lange entbehrt hat, und sie versucht mit aller Kraft, es ihm nachzusehen. Doch sie ist sehr viel allein. Ab und zu besuchen sie ehemalige Kommilitonen des Mannes. Aber bald fühlt sie sich so einsam wie früher.

Eines Tages sagt ihr der Mann die Wahrheit. Das ist 1971. Er hat ein Verhältnis mit seiner Sekretärin, und er bittet seine Frau, ihm vorübergehend die Freiheit zu geben. Er will eine Zeitlang mit jener Frau leben, aber er sagt, das sei nicht endgültig. Er komme ganz bestimmt wieder zu seiner Familie zurück, wenn Karin ihn jetzt nur nicht fessele.

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Erst als er mit seinem Koffer die Wohnung verlassen hat, bricht sie in Tränen aus, ist einem Zusammen­bruch nahe. Sie kommt nicht auf die Idee, daß sie ihn hätte bitten oder ihn drängen können, bei ihr und dem Kind zu bleiben. Sie hat nicht geschrien, nicht geweint, keine Szene gemacht. Sie fügt sich und wartet. Wenn sie sich noch mehr aufopfert als bisher, wenn sie sich jetzt völlig tolerant und selbstlos verhält und ihn durch keine Eifersuchtsszene verärgert, dann wird er bestimmt zurückkommen, dann wird er sehen, wie sehr sie ihn liebt. Das hat sie ihm nur noch nicht ausreichend bewiesen, glaubt sie.

Natürlich kehrt er nicht zurück. Aber er trifft auch keine Entscheidung. Gelegentlich kommt er vorbei und bringt Geld für sie und das Kind. Aber das reicht nicht aus. Das Kind hingegen holt er regelmäßig ab. Wenn Silke zurückkommt, schwärmt sie von den Unternehmungen, die sie mit dem Vater gemacht hat. Er bietet ihr viel mehr, als die Mutter es kann, denn ihr Geld ist knapp. Spannungen zwischen ihr und der kleinen Tochter bleiben nicht aus.

Karin S. versucht, Heimarbeit zu finden, Aufträge für Schreibarbeiten, die sie zu Hause erledigen kann. Denn sie will das Kind, das jetzt in die Schule kommt, nicht in einen Hort geben. Es ist ohnehin völlig verstört durch die Trennung vom Vater und die Verzweiflung der Mutter. Eines Tages entdeckt sie eine Zeitungsannonce. Ein Schriftsteller sucht eine Sekretärin, die seine besprochenen Bänder abtippt. Sie meldet sich und bekommt den Job.

Peter F., ein unauffälliger Mann Ende Dreißig, bringt ihr laufend Bänder vorbei und holt die getippten Seiten ab. Es sind vor allem Texte über Tiere. Daraus sollen Tierbücher werden, sagt Peter F. Sie hat ihm angeboten, die Tonbänder bei ihm abzuholen, aber das scheint er auf keinen Fall zu wollen. Bald kommt er fast täglich, plaudert mit ihr, hört ihr zu. So erhält er Einblick in das Familiendrama, das sich hier abspielt. Manchmal ist Karin S. so verzweifelt, daß sie sich ihm anvertraut. Bis auf ihre Mutter hat sie niemanden, mit dem sie sprechen kann.

Einmal ist Peter F. Zeuge einer besonders häßlichen und demütigenden Szene. Der Noch-Ehemann kommt vorbei, um eine seiner unregelmäßigen Geldlieferungen zu bringen.

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Aber er gibt seiner Frau die Scheine nicht in die Hand, sondern läßt sie wie unabsichtlich zu Boden fallen, so daß sie sie auf Knien einsammeln muß. Sie fühlt sich halb ohnmächtig vor Scham.

Als Karin S. ein paar Wochen später nach Hause kommt, findet sie ihren Mann mit seiner Freundin in ihrer Wohnung. Er hat immer noch einen eigenen Wohnungsschlüssel, denn die Trennung ist ja angeblich nur auf Zeit. Die beiden hatten sich gerade Kaffee gemacht. Ihre Nachfolgerin lädt sie ein, eine Tasse mitzutrinken. Karin S. fühlt sich in ihrer eigenen Wohnung als Besucherin behandelt. Sie ist wie gelähmt von dieser Demütigung. Trotzdem wehrt sie sich nicht, erduldet alles stumm und ohne Rebellion. Peter F. ermutigt und tröstet sie. Er wird niemals aufdringlich, und die häufigen Gespräche tun ihr gut.

Doch Peter F. ist weder Schriftsteller noch ein vertrauenswürdiger, freundlicher Mann. Er ist ein hochprofessioneller »Tipper« im Auftrag des DDR-Geheimdienstes, ein Spezialist, wenn es darum geht, interessante weibliche Quellen aufzuspüren, die aus psychologischen oder wirtschaftlichen Gründen manipulierbar oder erpreßbar sind. Frauen also, auf die man vielleicht einen Romeo ansetzen könnte. Im Dienst-Jargon nennt man solche Frauen auch »operatives Ausgangsmaterial«.

Peter F. ist konkret auf der Suche nach Sekretärinnen, die sich möglichst in einer bedrängten Lage befinden. Deshalb gab er jene Annonce auf, wonach ein Schriftsteller (Appell an die Ambitionen und den Ehrgeiz entsprechender Frauen) eine Sekretärin (gute Ausbildung) sucht, damit sie in Heimarbeit (also eine Frau in schwieriger persönlicher oder finanzieller Lage) seine Manuskripte abtippt.

Karin S., das weiß er aus Erfahrung, ist ein idealer Tip. Eine einsame, verzweifelte junge Frau ohne Geld und ohne Selbstvertrauen. Ihre beruflichen Fähigkeiten sind hervorragend. Sie ist intelligent, flexibel und schnell, noch dazu sehr schön und macht einen absolut seriösen Eindruck: ideale Voraussetzungen für den Einsatz an einer exponierten Stelle.

Der Tipper hat viel Zeit, umfassende psychologische Beobachtungen anzustellen, und er kennt das Drama ihrer Kindheit. In ihrer Einsamkeit schätzt sie seine Besuche, vor allem seine zurückhaltende Art, ihr zuzuhören. Sie erzählt ihm viel von sich, von ihrer Lebensgeschichte, ihren enttäuschten Hoffnungen. So kann er äußerst detaillierte Berichte an die HVA-Zentrale schicken. Denn je genauer seine Personenbeschreibung ist, je tiefer er die Psyche seines Opfers ausleuchtet, um so präziser kann sich ein potentieller Romeo auf sein Opfer vorbereiten.

Aber all dies wird Karin S. erst Jahre später erfahren. Sie wird entsetzt und mit schmerzhafter Klarheit erkennen, was für ein hervorragender Schauspieler und Beobachter Peter F. gewesen ist, ein Mann mit sezierendem Blick. Noch aber vertraut sie ihm, und so tappt sie schon nach kurzer Zeit blind in die raffinierte Falle, die man ihr stellt. Die Wunden, die sie davonträgt, zeichnen sie für ihr ganzes Leben.

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