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2  -  Rückblick auf den Spanischen Krieg

 Geschrieben 1942, erste vollständige Veröffentlichung 1953

 

 

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Vor allem andern die sinnlichen Erinnerungen: die Geräusche, die Gerüche und das Äußere der Dinge.

Es ist sonderbar, daß mir lebhafter als alles, was später während des Spanischen Krieges kam, die Woche der sogenannten Ausbildung im Gedächtnis geblieben ist, die ich durchmachen mußte, bevor ich an die Front geschickt wurde; die weiträumigen Kavallerie-Baracken in Barcelona mit den zugigen Ställen und den mit Kopfsteinen gepflasterten Höfen, das eiskalte Wasser der Brunnen, in denen man sich wusch, das schlechte Essen, nur durch den Wein aus Krügen erträglich gemacht, die weiblichen Milizsoldaten in Hosen, die Brennholz machten, und der Namensaufruf frühmorgens, bei dem mein prosaischer englischer Name leicht komisch gegen die klangvollen spanischen wirkte, gegen den Manuel Gonzalez, Pedro Aguilar, Ramon Fennellosa, Roque Ballaster, Jaime Domenech, Sebastian Viltron, Ramon Nuvo Bosch. 

Ich erwähne diese Männer besonders, weil ich mich an das Gesicht jedes einzelnen von ihnen erinnere. Außer zweien, ziemlichen Lumpen und sicher guten Faschisten, dürften alle andern heute tot sein. Der älteste wäre jetzt etwa 25, der jüngste 16.

Eine der wesentlichen Erinnerungen an den Krieg hängt untrennbar mit dem widerwärtigen Gestank menschlichen Ursprungs zusammen. 

Latrinen sind ein abgedroschenes Thema der Kriegsliteratur, und ich hätte es auch nicht erwähnt, wenn die Latrinen in unseren Baracken nicht ihr Teil dazu beigetragen hätten, meine Illusionen über den Spanischen Bürgerkrieg erheblich herabzumindern.

Der südliche Typ der Latrine, mit der man zu kämpfen hat, ist schon schlimm genug, aber unsere waren aus einer Art von poliertem Stein, der so glatt war, daß man die größte Mühe hatte, sich auch nur auf den Füßen zu halten. Dazu kam, daß sie immer verstopft waren.

Nun habe ich genug andere abstoßende Dinge in meinem Gedächtnis bewahrt, aber ich glaube, es waren diese Latrinen, die in mir zum ersten Mal den Gedanken aufkommen ließen, der später so oft wiederkehrte: 

»Hier sind wir, Soldaten einer revolutionären Armee, welche die Demokratie gegen den Faschismus verteidigt, und wir kämpfen in einem Krieg, in dem es offensichtlich um etwas geht, um die Umstände, unter denen wir leben, sind so ekelhaft und entwürdigend wie in einem Gefängnis, ganz zu schweigen von einer Armee der Bourgeoise.« 

Meine Eindrücke wurden später noch durch vieles andere verstärkt, die Langeweile zum Beispiel und der tierische Hunger im Schützengraben, die schmierigen Intrigen um ein bißchen Essen, die zermürbenden Zänkereien von Leuten, die, durch Mangel an Schlaf erschöpft, an Einbildungen litten.

Das wirklich Furchtbare am Leben in einer Armee (wer je Soldat war, weiß, was ich meine) hat im Grunde kaum etwas mit dem Wesen des Krieges zu tun, in dem man zufällig kämpft. Disziplin zum Beispiel ist schließlich in jeder Armee dieselbe. Befehle müssen befolgt und notfalls durch Strafen erzwungen werden, das Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaft ist das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen.

Das Bild des Krieges, wie er in Büchern wie <Im Westen nichts Neues>* geschildert wird, ist im wesentlichen richtig. Geschosse verwunden, Leichen stinken, Männer unter feindlichem Feuer sind oft so von Angst gepackt, daß sie in die Hosen machen. Richtig ist, daß der soziale Hintergrund einer Armee ihr auch sein Gepräge geben wird, ihrer Ausbildung, ihrer Taktik und ihrer Schlagkraft.

*  von Erich Maria Remarque

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Und selbstverständlich kann auch das Bewußtsein, für eine gerechte Sache zu kämpfen, die Moral heben, obwohl das mehr für die Zivilbevölkerung gilt als für die Armee. (Es wird immer vergessen, daß ein Soldat irgendwo in Frontnähe viel zu hungrig, von Angst besessen, unter der Kälte leidend, vor allem viel zu müde ist, um sich Gedanken über die politischen Ursachen des Krieges zu machen.) Aber die Naturgesetze sind in einer ›Roten Armee‹ so wenig aufgehoben wie in einer weißen. Eine Laus ist eine Laus und eine Bombe ist eine Bombe, auch wenn die Sache, für die man kämpft, zufällig die gerechte ist.

Warum lohnt es sich, so eingehend über etwas zu reden, das so offensichtlich ist?  

Weil die Mehrzahl der englischen und amerikanischen Intellektuellen diese Dinge damals offenbar nicht zur Kenntnis nahm, genauso wenig wie heute. Unser Gedächtnis ist kurz geworden, aber man braucht nur ein wenig zurückzuschauen, die alten Nummern von New Masses und Daily Worker herauszusuchen und einen Blick auf den romantischen, kriegshetzerischen Stuß zu werfen, den unsre Linken zu jener Zeit von sich gaben. Alle die abgestandenen alten Phrasen! Und die phantasielose Hornhäutigkeit! Das ›sang froid‹, mit dem London über die Bombardierung von Madrid hinwegging!

Ich will mich hier nicht mit der Gegenpropaganda der Rechten auseinandersetzen, den Lunns, Garwick et hoc genus. Das alles versteht sich von selbst. Aber: hier waren die gleichen Leute am Werk, die zwanzig Jahre lang sich nicht genug tun konnten an Spott und Verachtung für den ›Kriegsruhm‹, für Greuelgeschichten, Patriotismus, ja selbst physische Tapferkeit, und die nun einen Blödsinn auftischten, der mit der Änderung von ein paar Namen in den Daily Mall von 1918 gepaßt haben würde. 

Wenn es etwas gab, wozu die englische Intelligenz verpflichtet gewesen wäre, so war es die Verurteilung des Krieges, die These, daß Krieg Leichen und Latrinen bedeutet und niemals zu einem guten Ende führen kann.

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Nun gut, die gleichen Leute, die 1933 mitleidig lächelten, wenn jemand darauf hinwies, daß er unter bestimmten Umständen für sein Land kämpfen würde, bezeichneten einen 1937 als einen trotzkistischen Faschisten, wenn man bemerkte, daß die Berichte in den New Masses über Verwundete, die nichts sehnlicher verlangten, als an die Front zurückgeschickt zu werden, vielleicht übertrieben seien. 

Und die linke Intelligenz vollzog ihren Umschwung von ›Der Krieg ist die Hölle‹ zu ›Der Krieg ist heldenhaft‹ nicht nur ohne jedes Gefühl für die Unlogik ihrer Haltung, sondern auch ohne jeden Übergang. 

Später führte der große Haufe dieser Leute ebenso gewaltsame Kehrtwendungen durch. Es muß viele von ihnen gegeben haben, so etwas wie einen harten Kern von Intellektuellen, die 1935 für die ›König und Vaterland‹-Erklärung eintraten, 1937 nach einer ›festen Haltung‹ gegenüber Deutschland schrien, 1940 die ›People's Convention‹ unterstützten und heute eine zweite Front fordern.

Was die breite Masse der Bevölkerung betrifft, so rühren die erstaunlichen Meinungsumschwünge der heutigen Zeit und die Gefühle, die sich auf- und abdrehen lassen wie ein Wasserhahn, von der Suggestiv­kraft von Zeitung und Radio her. Bei den Intellektuellen, würde ich sagen, hat das mehr mit Geld und der Sorge um die persönliche Sicherheit zu tun. Je nach Lage der Dinge werden sie in einem gegebenen Augenblick ›für den Krieg‹ oder ›gegen den Krieg‹ sein, aber in beiden Fällen fehlt ihnen völlig die reale Vorstellung, was der Krieg ist. Als sie sich für den Spanischen Krieg begeisterten, wußte natürlich jeder, daß dabei Menschen fielen und daß das eine sehr unangenehme Sache war, aber sie meinten, daß das Kriegserlebnis für einen Soldaten in der Republikanischen Armee nichts Herabwürdigendes sei. Die Latrinen stanken irgendwie weniger, die Disziplin war weniger drückend.

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Man brauchte nur in den New Statesman zu schauen, um festzustellen, daß man das wirklich glaubte. Genau der gleiche Unsinn wird in diesem Augenblick über die ›Rote Armee‹ geschrieben. Wir sind zu zivilisiert geworden, um das Augenscheinliche wahrzunehmen. Denn die Wahrheit ist einfach. Um zu überleben, muß man oft kämpfen, und um zu kämpfen, muß man sich besudeln. Der Krieg ist ein Übel, und er ist manchmal das kleinere. 

Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen, und wer das Schwert nicht ergreift, kommt durch stinkende Krankheiten um. Die Tatsache, daß man eine derart banale Banalität niederschreiben muß, zeigt, was die Jahre des Rentier-Kapitalismus aus uns gemacht haben.

 

II

 

In Verbindung mit dem, was ich eben ausgeführt habe, noch eine Randbemerkung über Kriegsgreuel.

Ich habe nur wenig prima facie Beweise für Akte der Grausamkeit während des Spanischen Bürgerkrieges. Ich weiß, daß einige von den Republikanern begangen worden sind und sehr viel mehr von der faschistischen Seite (sie werden noch heute begangen). Aber was mich damals wie heute beeindruckt, ist der Umstand, daß Greuel geglaubt oder nicht geglaubt werden, je nach dem politischen Standpunkt. Jeder glaubt an die Grausamkeiten der Feinde und bestreitet die seiner eigenen Seite, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu machen, Beweise zu untersuchen. 

Kürzlich habe ich eine Liste über Greuel zusammengestellt, die in der Zeit zwischen 1918 und heute (1942) begangen worden sind. Es gibt kein Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt Grausamkeiten verübt wurden, und es gab kaum einen einzigen Fall, an den Linke und Rechte übereinstimmend glaubten. 

Aber noch sonderbarer — jeden Augenblick kann die Lage plötzlich umschlagen: was gestern eine restlos erwiesene Greuelgeschichte war, ist über Nacht eine faustdicke Lüge geworden, nur weil sich die politische Landschaft verändert hat.

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Im gegenwärtigen Krieg sind wir in der seltsamen Lage, daß unsere ›Greuel-Kampagne‹ schon lange vorher in Szene gesetzt worden ist, und zwar hauptsächlich von den Linken, also Leuten, die für gewöhnlich auf ihre Ungläubigkeit stolz sind. In derselben Zeitspanne starrte die Rechte, also die Greuel-Propagandisten von 1914-18, wie fasziniert auf Nazi-Deutschland und lehnte rundweg ab, irgend etwas Böses darin zu sehen. Kaum war jedoch der Krieg ausgebrochen, als die Nazi-Freunde von gestern wieder Greuel-Geschichten auftischten, während die Nazi-Gegner plötzlich daran zu zweifeln begannen, ob es überhaupt so etwas wie eine Gestapo gab. Das war jedoch nicht nur das Ergebnis des deutsch-russischen Freundschafts- und Nichtangriffs­paktes, sondern hing zum Teil damit zusammen, daß die Linke fälschlicherweise geglaubt hatte, England und Deutschland würden niemals Krieg gegeneinander führen.

Das erlaubte ihr, gleichzeitig anti-deutsch und anti-englisch zu sein. Zum Teil hing es auch mit der offiziellen Kriegspropaganda zusammen, die mit ihrer widerwärtigen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit denkende Menschen dazu bringt, mit dem Feind zu sympathisieren. Ein Teil des Preises, den wir für die systematische Lügerei von 1914-18 zu zahlen hatten, bestand in der übertrieben prodeutschen Reaktion, die folgte. In den Jahren 1918-33 wurde man in linksgerichteten Kreisen niedergeschrien, wenn man die Ansicht vertrat, daß auch Deutschland zu einem Bruchteil am Krieg schuld sei.  

In keiner Diskussion über die Erbärmlichkeit des Vertrages von Versailles, die ich in all den Jahren mit anhörte, wurde, wenn ich mich recht erinnere, auch nur ein einziges Mal die Frage aufgeworfen, geschweige denn diskutiert: »Was wäre geschehen, wenn Deutschland gesiegt hätte?« Dasselbe mit den Kriegsgreueln. 

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Die Wahrheit wird zur Unwahrheit, wenn der Feind sich äußert. Kürzlich stellte ich fest, daß die gleichen Leute, die 1937 schlechterdings jede Greuel­geschichte über die Japaner in Nanking schluckten, 1942 rundweg ablehnten, genau die gleichen Geschichten über Hongkong zu glauben. Es bestand sogar eine gewisse Tendenz, Nanking-Greuel, so wie die Dinge lagen, nachträglich für unglaubwürdig zu halten, weil die englische Regierung jetzt die Aufmerksamkeit auf sie lenkte.

Unglücklicherweise sind die wirklichen Kriegsgreuel sehr viel scheußlicher als das, was darüber zusammengelogen wird und was die Propaganda daraus macht. Wahr ist, daß Grausamkeiten begangen werden. Und der Umstand, der so oft für die Unglaubwürdigkeit von Greuelgeschichten angeführt wird, daß sie nämlich immer erst nach Kriegsende auftauchen, macht sie im Gegenteil nur um so wahrscheinlicher. Offenbar entspringen sie weitverbreiteten Phantasie­vorstellungen, und der Krieg bietet die Möglichkeit, sie in die Praxis umzusetzen. Dabei werden — auch wenn die Behauptung gegenwärtig nicht als richtig gilt — von den sogenannten ›Weißen‹ weit mehr und schlimmere Greuel begangen als von den ›Roten‹. 

Es besteht zum Beispiel nicht der geringste Zweifel an den Ausschreitungen der Japaner in China. Und ebensowenig kann man an den in den letzten zehn Jahren von Faschisten in Europa begangenen Verbrechen zweifeln. Der Umfang der Beweise dafür ist erdrückend, und ein Großteil stammt aus Presse und Rundfunk in Deutschland. Diese Dinge sind geschehen, das darf man nicht übersehen. Und sie geschahen, obwohl Lord Halifax erklärte, daß sie geschehen seien. 

Die Verschleppungen und Massenschlächtereien in chinesischen Städten, die Folterungen in den Kellern der gestapo, die in Jauchegruben geworfenen, alten jüdischen Professoren, die an spanischen Landstraßen mit Maschinenpistolen niedergemähten Flüchtlinge, das alles ist wirklich geschehen und wäre nicht weniger geschehen, selbst wenn der Daily Telegraph es nicht plötzlich entdeckt hätte, fünf Jahre zu spät.

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III

Zwei Erinnerungen, von denen die erste nichts besonderes beweist, während ich von der zweiten glaube, daß sie einen gewissen Einblick in die Situation einer revolutionären Zeit gibt.

Eines Morgens in aller Frühe waren ein anderer Mann und ich aufgebrochen, um uns an die faschistischen Schützengräben bei Huesca heranzuschleichen. Ihre und unsere Linien lagen sich etwa in einer Entfernung von dreihundert Yards gegenüber, zu weit, um mit unsern veralteten Gewehren zielsicher schießen zu können. Schlich man sich aber auf hundert Yards heran, so konnte man, wenn man Glück hatte, einen durch eine Lücke in der Verschanzung treffen. Unglücklicherweise war der Boden zwischen beiden Stellungen bis auf ein paar Mulden ein vollkommen ebenes Rübenfeld. Man mußte sich aufmachen, solange es noch dunkel war, und den Rückweg antreten, bevor es hell wurde.

Dieses Mal erschien kein Faschist, und wir blieben zu lange draußen, die Morgendämmerung überraschte uns. Wir lagen in einer Vertiefung, aber hinter uns erstreckten sich bis zu unserm Graben noch etwa zweihundert Yards ebenen Bodens, der kaum einem Kaninchen Deckung bot. Wir waren noch dabei, uns Mut zu einem Sturmlauf nach rückwärts zu machen, als wir in den faschistischen Gräben Lärm und Trillersignale hörten. Ein paar unserer Flugzeuge näherten sich der Stellung. Im gleichen Augenblick sprang ein Mann aus dem Graben, vermutlich um einem Offizier eine Meldung zu machen, und lief in voller Sicht den Grabenrand entlang. Er war nur halb angezogen und hielt im Laufen seine Hosen mit beiden Händen fest.

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Ich schoß nicht auf ihn. Um die Wahrheit zu sagen — ich bin kein guter Schütze und hätte einen laufenden Mann auf hundert Yards vermutlich doch nicht getroffen. Gleichzeitig und hauptsächlich war ich in Gedanken damit beschäftigt, unsern Schützengraben zu erreichen, solange die Aufmerksamkeit der Faschisten durch die Flugzeuge in Anspruch genommen war. Schließlich kam noch etwas dazu — ich schoß nicht wegen der Hosen. Ich war nach Spanien gegangen, um auf ›Faschisten‹ zu schießen, aber ein Mann, der seine Hosen festhalten mußte, war kein ›Faschist‹, sondern offensichtlich ein Mitmensch, mir gleich, und mir war nicht danach, auf ihn zu schießen.

Was beweist dieser Vorgang? Nicht sehr viel, denn so etwas kann jederzeit in einem Krieg vorkommen.

Das zweite Vorkommnis ist anders.  

Ich nehme nicht an, daß es meinen Leser stärker berühren wird, ich bitte ihn nur, mir zu glauben, daß es auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hat, weil es für die moralische Atmosphäre eines bestimmten Augenblicks der Zeit bezeichnend ist.

 

Einer der Rekruten, die zu uns stießen, als ich in den Baracken einquartiert war, war ein wild aussehender Junge aus dem Elendsviertel von Barcelona. Er war barfuß und zerlumpt und außergewöhnlich dunkelhäutig. (Ich würde sagen, arabisches Blut.) Er hatte eine Art zu gestikulieren, die man bei keinem Europäer finden würde. So streckte er zum Beispiel beide Arme aus, die Handflächen nach oben, eine Geste, die für Inder bezeichnend ist.

Eines Tages war in meinem Quartier ein kleines Bündel Zigarren gestohlen worden, die man damals noch um ein Spottgeld kaufen konnte. Ziemlich unsinniger­weise erstattete ich dem Offizier Bericht, und prompt meldete sich einer der beiden Lumpenhunde, die ich bereits erwähnt habe, und erklärte, ihm seien fünfundzwanzig Peseten aus seiner Schlafstelle gestohlen worden. Aus mir nicht erklärlichen Gründen entschied der Offizier, der Junge aus Barcelona sei der Dieb.

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In der Miliz wurde sehr streng gegen Diebstähle vorgegangen, und theoretisch konnte einer deswegen erschossen werden. Der arme Teufel war gleich bereit, sich zur Wachstube führen und dort durchsuchen zu lassen. Am meisten fiel mir auf, daß er nicht einmal seine Unschuld zu beteuern versuchte. Seine fatalistische Haltung verriet die unsägliche Armut, in der er aufgewachsen sein mußte.  

Der Offizier befahl ihm, sich auszuziehen. Mit einer Demut, die für mich etwas Entsetzliches hatte, legte er seine Kleider ab, bis er nackt war. Dann wurden seine Kleider durchsucht. Natürlich fanden sich weder die Zigarren noch das Geld. Tatsächlich hatte er nichts gestohlen. Am peinlichsten war, daß er nicht weniger beschämt schien, auch nachdem sich seine Unschuld herausgestellt hatte. Am gleichen Abend nahm ich ihn zu einem Film mit und traktierte ihn mit Brandy und Schokolade. Aber auch das — ich meine den Versuch, ein Unrecht mit Geld wiedergutzumachen — war entsetzlich.

Nun gut — einige Wochen später hatte ich an der Front Schwierigkeiten mit den Leuten meiner Abteilung. Zu jener Zeit war ich ›cabo‹ oder Korporal und hatte zwölf Mann unter meinem Kommando. Aus dem Bewegungskrieg war ein Stellungskrieg geworden, es war sehr kalt, und meine Hauptarbeit bestand darin, Wachtposten zu finden, die nicht einschliefen.

Eines Tages weigerte sich plötzlich ein Mann, einen bestimmten Posten zu beziehen, weil dieser, wie er ganz richtig bemerkte, dem feindlichen Feuer ausgesetzt war. Es war ein schwächliches Kerlchen, und ich packte ihn und wollte ihn zu seinem Posten zerren. Das führte bei den übrigen zu einem leidenschaftlichen Proteststurm, da Spanier, wie ich glaube, gegen jede körperliche Berührung empfindlicher sind als wir. Im Nu war ich von einem Kreis schreiender Männer umgeben. »Faschist, Faschist! Laß den Mann los! Hier ist keine Bourgeois-Armee! Faschist!« etc. So gut ich mit meinem schlechten Spanisch konnte, schrie ich zurück, daß Befehle befolgt werden müßten.

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Der Aufruhr ging in eine der weitschweifenden Diskussionen über, durch die jede Disziplin in Revolutions-Armeen Schritt für Schritt abgebaut wird. Die einen sagten, ich hätte recht, die andern, ich hätte unrecht. Die Pointe der Sache aber war, daß der eine, der am wärmsten meine Partei nahm, der dunkelhäutige Bursche der Diebstahlsgeschichte war. Sobald er sah, was vor sich ging, bahnte er sich einen Weg in den Kreis und fing an, mich leidenschaftlich zu verteidigen. Mit seinen seltsamen, wilden, indischen Gesten erklärte er: »Er ist der beste Korporal, den wir je gehabt haben.« (No hay cabo como el!) Später beantragte er, in meine Abteilung versetzt zu werden.

Warum rührt mich dieser Vorgang besonders? 

Weil es unter normalen Umständen unmöglich gewesen wäre, jemals wieder aufrichtig gute Beziehungen zwischen dem Jungen und mir herzustellen. Ihn, wenn auch nicht ausdrücklich, als Dieb verdächtigt zu haben, wäre vermutlich durch die nachträglichen Bemühungen, es wiedergutzumachen, nicht behoben, sondern eher verschlimmert worden. Eine der Auswirkungen eines gesicherten, zivilisierten Lebens besteht in einer ungeheuerlichen Überempfindlichkeit, die alle ursprünglichen Gefühle als abstoßend erscheinen läßt. Großmut ist ebenso peinlich wie Gemeinheit, Dankbarkeit so hassenswert wie Undankbarkeit. 

Aber im Spanien des Jahres 1936 lebten wir in keiner normalen Zeit. Großmütige Gefühle und große Gesten fallen einem in einer solchen Zeit leichter als in einer normalen. Ich könnte noch von einem Dutzend ähnlicher Vorkommnisse berichten, die nicht unbedingt mitteilenswert, aber in meiner Erinnerung untrennbar mit jener Zeit verknüpft sind, die schäbige Uniform, die revolutionären Plakate mit ihrer fröhlichen Buntheit, der allgemeine Gebrauch des Wortes ›Genosse‹, die anti-faschistischen Gedichte auf schlechtem Papier, die für einen Penny feilgeboten wurden, die Schlagworte wie ›internationale proletarische Solidarität‹ die von ahnungslosen Menschen pathetisch wiederholt wurden, weil sie glaubten, sie müßten auch etwas bedeuten. 

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Konnte man sich freundlich jemandem gegenüber benehmen und in einem Streit sogar dessen Partei ergreifen, nachdem man in seiner Gegenwart schamlos nach Dingen durchsucht worden war, die man ihm angeblich gestohlen haben sollte? Nein, man konnte es nicht, und dennoch war es denkbar, wenn beide etwas erlebt hatten, das zu einer Erweiterung ihrer Gefühlswelt geführt hatte. Das ist so ein Nebenprodukt der Revolution, obwohl man damals nur vom Beginn einer Revolution sprechen konnte und ihr Scheitern mit Sicherheit vorauszusehen war.

 

IV

Über die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Parteien der spanischen Republikaner möchte ich nicht sprechen, sie waren unselig und liegen weit zurück. Ich erwähne sie nur, um zu sagen: Glaube nichts, oder so gut wie nichts von dem, was Du über die internen Angelegenheiten der Regierung liest! Von welcher Seite es auch kommt, es ist alles Parteipropaganda, das heißt gelogen. 

Im großen und ganzen ist die Wahrheit über den Krieg ganz einfach. Die spanische Bourgeoisie sah ihre Chance gekommen, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und nahm sie wahr, mit Unterstützung der Nazis und aller reaktionären Kräfte der ganzen Welt. Es ist fraglich, ob sich jemals mehr darüber wird feststellen lassen. 

Ich erinnere mich, daß ich einmal zu Arthur Koestler sagte: »Die Geschichtsschreibung hat 1936 ihr Ende gefunden«, worauf er sofort zustimmend mit dem Kopf nickte. Ganz allgemein dachten wir beide an den hereinbrechenden Totalitarismus, im besonderen aber an den Spanischen Bürgerkrieg. 

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Schon früh in meinem Leben hatte ich festgestellt, daß kein Ereignis in einer Zeitung wahrheitsgemäß wiedergegeben wird, aber in Spanien las ich zum ersten Mal Zeitungsberichte, die mit den Tatsachen überhaupt nichts mehr zu tun hatten, nicht einmal soviel wie für gewöhnlich mit einer Lüge verbunden ist. Ich las Berichte über große Schlachten an Orten, wo es nie zu Kämpfen gekommen war, während Kämpfe, bei denen Hunderte gefallen waren, totgeschwiegen wurden. Ich erlebte, daß Soldaten, die sich tapfer geschlagen hatten, als Verräter und Feiglinge beschimpft wurden, und daß Verräter und andere, die nie Pulver gerochen hatten, als Helden nie stattgefundener Schlachten gefeiert wurden. 

In London sah ich Zeitungen, welche diese Lügen nachdruckten, während beflissene Intellektuelle Ereignisse emotionell übersteigerten, die nur in der Phantasie existierten. Es bestätigte mir, daß Geschichtsschreibung nicht mehr darin besteht, festzuhalten, was sich ereignet hatte, sondern, was sich je nach der >Parteilinie< hätte ereignen sollen. Trotzdem, so abstoßend das alles war, in gewisser Weise war es unwichtig. Es betraf zweitrangige Fragen, wie zum Beispiel den Kampf um die Macht zwischen der Regierung und den spanischen Linksparteien und die Bemühungen der russischen Regierung, eine Revolution in Spanien zu verhindern.

Aber das Bild des Krieges, das die spanische Regierung der Welt in großen Umrissen bot, war nicht unwahr. Die wesentlichen Probleme waren wirklich die, die sie nannte. Dagegen konnten die Faschisten und ihre Hintermänner niemals der Wahrheit auch nur annähernd so nahe kommen. Wie hätten sie auch ihre wirklichen Absichten darlegen können? Ihre Version des Krieges war ein reines Phantasieprodukt und hätte unter den gegebenen Umständen auch nichts anderes sein können.

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Für die Nazis und Faschisten bestand die einzige Propagandamöglichkeit darin, sich selbst als christliche Patrioten hinzustellen, die Spanien vor einer russischen Diktatur retten wollten. Im Zusammenhang damit gaben sie vor, das Leben unter der republikanischen Regierung in Spanien sei nichts als ein einziges andauerndes Massaker gewesen (Catholic Herald oder Daily Mail — aber das war noch ein Kinderspiel gegen die faschistische Presse auf dem Kontinent und die ungeheuer übertriebenen Angaben über das Ausmaß der russischen Intervention). 

Aus der Riesenpyramide von Lügen, welche die katholische und reaktionäre Presse überall aufgebaut hatte, greife ich nur eine heraus, — die angebliche Anwesenheit einer russischen Armee in Spanien. Ergebene Anhänger Francos glaubten steif und fest daran. Die Schätzungen über die Truppenstärke gingen bis zu einer halben Million Mann. Nun, es gab keine russische Armee in Spanien. Es mag eine Handvoll Flieger und Techniker gegeben haben, im Höchstfall nicht mehr als ein paar Hundert, aber keine Spur von einer Armee. Tausende von Ausländern, die in Spanien gekämpft haben, ganz zu schweigen von den Millionen Spaniern selbst, können das bezeugen. Ihr Zeugnis blieb ohne den geringsten Eindruck auf die Propagandisten Francos, von denen keiner den Fuß auf das unter Kontrolle der Regierung stehende Gebiet gesetzt hatte. Gleichzeitig weigerten sich diese Leute mit äußerster Hartnäckigkeit, die Tatsache einer deutschen und italienischen Unterstützung Francos zuzugeben, obwohl die deutsche und italienische Presse sich ganz offen mit den Heldentaten ihrer ›Legionäre‹ brüstete. Ich habe nur diesen einen Punkt herausgegriffen, aber in Wirklichkeit stand die ganze faschistische Kriegspropaganda auf demselben Niveau.

Diese Art Dinge flößen mir Angst ein, denn ich habe oft das Gefühl, daß der Begriff der objektiven Wahrheit selbst in dieser Welt im Verschwinden ist. Es besteht alle Aussicht, daß ähnliche Lügen in die Geschichte eingehen werden. 

Wie wird die geschichtliche Beschreibung des Spanischen Bürgerkrieges aussehen? Wenn Franco an der Macht bleibt, wird die Geschichtsschreibung von seinen Beauftragten besorgt, und (um auf mein Beispiel zurückzukommen) die russische Armee, die es niemals gegeben hat, eine historische Tatsache werden.

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Nehmen wir aber an, in Spanien würde in absehbarer Zeit der Faschismus endgültig beseitigt und eine Art demokratischen Regimes wieder errichtet werden, wie wird dann die Geschichte des Krieges aussehen? Welche Dokumente wird Franco zurücklassen? Selbst wenn man annimmt, die Dokumentation auf Regierungsseite sei auffindbar — wie wird in diesem Fall der Krieg dargestellt? Denn auch die Regierung arbeitete, wie ich bereits ausgeführt habe, weitgehend mit Lügen. Vom anti-faschistischen Standpunkt aus könnte man eine großenteils wahrheitsgetreue Schilderung des Krieges schreiben, aber es bliebe doch immer eine parteiische Darstellung, die in allen Einzelfragen unzuverlässig wäre. Und doch, nach allem wird irgendeine Art von Geschichtsschreibung zustande kommen, und wenn dann alle, für die der Krieg eine lebendige Erinnerung ist, tot sein werden, wird man sie allgemein für gültig halten. Und so wird die Lüge zwangsläufig zur Wahrheit werden.

Ich weiß heute, daß die Ansicht üblich ist, die gesamte Geschichte bestehe sowieso aus Lügen. Es blieb aber unserm Zeitalter vorbehalten, den Glauben an eine wahrheitsgetreue Geschichtsschreibung überhaupt aufzugeben. In früheren Zeiten wurde bewußt gelogen oder die Darstellung unbewußt verfälscht, oder man bemühte sich um die Wahrheit, im Bewußtsein, daß man unausweichlich Irrtümern ausgesetzt war. In jedem Fall aber glaubte man daran, daß es so etwas wie ›die Tatsachen‹ gab, und daß sie sich mehr oder weniger genau feststellen ließen. Und tatsächlich lag immer ein beträchtliches Maß an Tatsachen vor, über deren Echtheit sich so ziemlich alle einig waren. Wenn man zum Beispiel in der Encyclopaedia Britannica die Geschichte des letzten Krieges nachliest, so wird man finden, daß ein großer Teil des Materials aus deutschen Quellen stammt. 

Zwischen einem englischen und einem deutschen Historiker gibt es tiefgehende Meinungsverschiedenheiten auch in grundsätzlichen Fragen. 

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Trotzdem bleibt noch immer jener große Komplex, sagen wir, neutraler Fragen, die für beide nicht strittig sind. Es ist gerade diese gemeinsame Basis mit ihrer übereinstimmenden Auffassung, daß menschliche Wesen ohne Ausnahme ein und derselben Tiergattung angehören, die der Totalitarismus zerstört.

Besonders die Ideologie der Nazis stellt in Abrede, daß es so etwas wie ›die Wahrheit‹ gibt. 

Ebenso wenig gibt es so etwas wie ›Wissenschaft‹. Es gibt eine ›deutsche Wissenschaft‹ eine ›jüdische Wissenschaft‹ etc. Am Ende steht eine gespenstische Welt, in der ein Führer oder sonst eine herrschende Clique nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit kontrolliert. Wenn der Führer in bezug auf irgendein Ereignis bestimmt: »Das hat es nie gegeben« — gut, dann hat es das nie gegeben. Wenn er bestimmt, daß zwei und zwei gleich fünf sind — gut, dann sind zwei und zwei gleich fünf. Diese Aussicht ist für mich erschreckender als Bomben — und nach unsern Erfahrungen der letzten fünf Jahre ist das kein leichtfertig dahergedachter Satz.

 

 

........ ein Alptraum ist, der niemals Wirklichkeit werden kann, sollte man sich erinnern, daß einem im Jahr 1926 die Welt von heute ebenfalls als Alptraum vorgekommen wäre, der nie Wirklichkeit werden könnte. Gegen diese schwankende Phantasmagorie von Welt, in der schwarz morgen weiß, und das Wetter von gestern durch Dekret in ein anderes verwandelt werden kann, gibt es nur zwei Sicherheiten. Die eine ist, daß die Wahrheit, so hartnäckig man sie auch ableugnen mag, nicht zu beseitigen ist, und ihren Weg fortsetzt, als ob sie Dir auf den Fersen folgte und Du sie daher nicht vergewaltigen kannst, nur um die militärische Schlagkraft nicht zu schwächen. 

Die andere besteht darin, daß sich, solange es auf der Erde noch freie Gebiete gibt, die liberalen Traditionen lebendig erhalten lassen.

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Läßt man hingegen zu, daß der Faschismus oder möglicherweise sogar eine Kombination mehrerer faschistischer Systeme die ganze Welt erobert, so werden damit auch diese beiden Sicherheiten verschwinden. Wir in England unterschätzen die Gefahr einer solchen Entwicklung, weil uns unsere Tradition und die Geborgenheit unseres früheren Lebens in den sentimentalen Glauben gewiegt haben, daß alles schließlich ein gutes Ende nehmen wird und die Dinge, die man am meisten fürchtet, in Wahrheit nie eintreten. 

Hunderte von Jahren hindurch mit einer Literatur gefüttert, in der das Gute im letzten Kapitel unabänderlich den Sieg davontrug, glauben wir halb instinktiv, daß das Böse auf die Dauer sich selbst zu Grunde richtet. 

Aber warum sollte es das? Wo sind die Beweise dafür? Wann und wo ist je ein moderner Industriestaat zusammengebrochen, sofern er nicht von außen mit militärischen Mitteln erobert worden ist?

Man nehme zum Beispiel die Wiedereinführung der Sklaverei. Wer hätte sich vor zwanzig Jahren träumen lassen, daß in Europa die Sklaverei wieder eingeführt werden könnte? Dabei ist sie vor unseren Augen wiedererstanden. Die Zwangsarbeitslager in ganz Europa und Nord-Afrika, wo Polen, Russen, Juden und politische Gefangene aller Rassen im Schweiß ihres Angesichts Straßen bauen oder Sümpfe trocken legen müssen für ihre tägliche Ration, sind nichts als Sklavenpferche. Man kann höchstens konstatieren, daß der Kauf und Verkauf von Sklaven durch Einzelpersonen noch nicht erlaubt ist.

Andererseits — zum Beispiel das Auseinanderreißen von Familien — sind die Verhältnisse wahrscheinlich schlimmer als seinerzeit auf den amerikanischen Baumwollplantagen. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß sich diese Dinge ändern werden, solange es totalitäre Staaten gibt. Wir sind nicht imstande, diese Zustände in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, weil wir immer noch in dem mystischen Glauben befangen sind, daß ein auf Sklaverei begründetes Staatswesen zusammenbrechen muß.

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Es lohnt sich, die Dauer der auf Sklaverei beruhenden Imperien der Antike mit der eines modernen Staates zu vergleichen. Auf Sklaverei beruhende Zivilisationen haben Zeiträume von viertausend Jahren überdauert.

Was mich am meisten bedrückt, wenn ich an die Antike denke, ist der Umstand, daß diese Hunderte von Millionen Sklaven, auf deren Rücken ganze Zivilisationen generationenlang beruhten, nichts über sich hinterlassen haben. Wir kennen nicht einmal ihre Namen. Wie viele Namen von Sklaven sind einem aus der gesamten griechischen und römischen Geschichte bekannt? Ich weiß nur von zwei oder drei. Der eine ist Spartakus und der andere Epiktet. 

In dem Saal des Britischen Museums für römische Geschichte befindet sich ferner ein Glaskrug mit der Namensinschrift des Herstellers im Boden: Felix fecit (eines Galliers mit roten Haaren und einer Kette aus Metall um den Hals), aber vielleicht war er gar kein Sklave. Also bleiben nur zwei Namen übrig, die mir mit Sicherheit bekannt sind, es dürfte nur wenige Menschen geben, die sich an mehr erinnern. 

Alle andern sind im Schweigen der Vergessenheit versunken.

 

V

Das Rückgrat der Widerstandsbewegung gegen Franco war die spanische Arbeiterklasse, insbesondere die Gewerkschaften der Industriearbeiter. Auf lange Sicht ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß auf die Dauer die Arbeiterklasse der einzig zuverlässige Gegner des Faschismus ist, und zwar einfach deshalb, weil sie am meisten beim Aufbau einer anständigen gesellschaftlichen Ordnung zu gewinnen hat. Im Gegensatz zu anderen Klassen oder Gruppen kann man sie nicht unausgesetzt bestechen.

Das auszusprechen heißt nicht, die Arbeiterklasse zu idealisieren.

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Auf den langen Kampf, der der russischen Revolution folgte, waren die Werktätigen die Besiegten, und keiner kann leugnen, daß es ihre eigene Schuld war. Von Epoche zu Epoche und von Land zu Land ist die Arbeiter­bewegung immer wieder durch offene illegale Gewaltanwendung zerschlagen worden, und ihre Genossen im Ausland, in der Theorie mit ihnen solidarisch verbunden, haben zugesehen und nichts getan. Dieser geheimen Ursache von so viel Verrat lag die Tatsache zugrunde, daß zwischen weißen und farbigen Arbeitern nicht einmal ein Lippenbekenntnis zur Solidarität besteht. 

Wer ist noch imstande, an ein klassenbewußtes internationales Proletariat nach den Ereignissen der letzten zehn Jahre zu glauben?

Der englischen Arbeiter­klasse erschien die Abschlachtung ihrer Genossen in Vietnam, Berlin, Madrid oder wo immer, sehr viel weniger interessant und weniger wichtig als das Fußballspiel von gestern. 

Das ändert nichts daran, daß die Arbeiterklasse, trotz aller Niederlagen, ihren Kampf gegen den Faschismus fortsetzen wird. Ein überraschendes Element bei der Eroberung Frankreichs durch die Nazis war das erstaunliche Versagen der Intellektuellen, einschließlich einiger Vertreter des linken Flügels. Die Intellektuellen sind die Leute, die am meisten gegen den Faschismus wettern. Wenn es aber hart auf hart geht, bricht ein großer Teil von ihnen zusammen und nimmt eine defätistische Haltung ein. Sie sehen weit genug voraus, um zu begreifen, daß die Chancen gegen sie sind — und außerdem sind sie käuflich. Ganz offensichtlich halten die Nazis es für lohnend, Intellektuelle zu bestechen.

Bei der arbeitenden Bevölkerung liegen die Dinge anders. Sie ist nicht schlau genug, um die Machenschaften des Faschismus ihr gegenüber zu durchschauen, und schluckt nur zu willig alle lockenden Versprechungen. Und doch nimmt sie immer, früher oder später, den Kampf wieder auf. Sie muß es tun, weil sie am eigenen Leibe spürt, daß der Faschismus seine Versprechen nicht halten kann. 

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Um die Arbeiter auf die Dauer niederzuhalten, müßten die Faschisten den allgemeinen Lebensstandard heben, was sie nicht können und sicher auch gar nicht beabsichtigen. Der Kampf der Arbeiterklasse ist wie das Wachstum einer Pflanze. Die Pflanze ist blind und unwissend, aber sie weiß genug, um sich aufwärts gegen das Licht zu richten und wird dieses, allen Hindernissen zum Trotz, unablässig tun. 

Um was kämpft die Arbeiterschaft? 

Einfach um ein menschenwürdiges Dasein, das, wie ihr immer bewußter wird, technisch möglich ist. Ihre Zielstrebigkeit dabei kommt und geht wie Ebbe und Flut. In Spanien handelte das Volk eine Zeitlang ganz bewußt und bewegte sich auf das angestrebte Ziel zu, in dem Glauben, es erreichen zu können. Das war der Grund für die gehobene Stimmung der Volksmassen im republikanischen Spanien während der ersten Kriegsmonate. Das einfache Volk fühlte zutiefst, daß die Republik sein Freund und Franco sein Feind war. Es wußte, daß die gerechte Sache auf seiner Seite war, weil es für das kämpfte, was die Welt ihm schuldete und imstande war, ihm zu geben.

Daran muß man denken, wenn man den spanischen Krieg in der richtigen Perspektive sehen will. Wenn man an die Grausamkeit und in diesem besonderen Fall an die Intrigen, Verfolgungen, Lügen und Mißverständnisse denkt, liegt die Versuchung nahe, zu sagen: Die eine Seite ist ebensowenig wert wie die andere. Ich bleibe neutral. 

In Wirklichkeit kann man nicht neutral bleiben, und es gibt keinen solchen Krieg, bei dem es keinen Unterschied macht, wer gewinnt. Fast immer tritt eine Seite mehr oder weniger für den Fortschritt, die andere für die Reaktion ein. Der Haß, den die spanische Republik bei Millionären, Herzögen, Kardinalen, Playboys, Tagedieben und wem sonst noch alles erweckte, wäre an sich schon Beweis genug dafür, wo das Land stand. Im Grunde war es ein Klassenkrieg. Wäre er gewonnen worden, so hätte das die Sache des arbeitenden Volkes auf der ganzen Welt gestärkt. Er ging verloren, und die Aktionäre rieben sich die Hände. 

Das war es, um was es ging. Alles andere war Schaum auf der Oberfläche.

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VI

Der Ausgang des Spanischen Krieges wurde in London, Paris, Rom und Berlin entschieden — jedenfalls nicht in Spanien. Nach dem Sommer 1937 sah jeder, der Augen im Kopf hatte, daß die Regierung gewinnen konnte, es sei denn, ein entscheidender Wandel in der internationalen Lage hätte sie dazu bestimmt, den Krieg fortzusetzen. Negrin und die andern mögen sich zum Teil von der Vorstellung haben beeinflussen lassen, daß der Weltkrieg, der tatsächlich 1939 ausbrach, bereits 38 ausbrechen würde. 

Die immer wieder angeführte Uneinigkeit im Lager der Regierung war nicht die eigentliche Ursache der Niederlage. Die Regierungsmiliz war überstürzt aufgestellt, schlecht bewaffnet und einfallslos in der operativen Führung. Das wäre genauso gewesen, wenn von Anfang an in der Regierung vollständige politische Einigkeit geherrscht hätte. Bei Kriegsausbruch wußte der durchschnittliche spanische Fabrikarbeiter nicht, wie er ein Gewehr abfeuern sollte (in Spanien hatte es keine allgemeine Wehrpflicht gegeben). 

Dazu war der traditionelle Pazifismus der Linken ein großes Hindernis. Die Tausende von Ausländern, die in Spanien dienten, stellten eine gute Infanterie, aber es gab kaum Spezialisten irgendwelcher Art unter ihnen. Die Trotzkistische These, der Krieg wäre sicher gewonnen worden, wenn die Revolution nicht sabotiert worden wäre, ist vermutlich falsch. Durch die Verstaatlichung aller Betriebe, die Zerstörung von Kirchen und die Herausgabe von revolutionären Manifesten wären die Armeen nicht schlagkräftiger geworden. Die Faschisten blieben Sieger, weil sie stärker waren, über moderne Waffen verfügten, die die andern nicht hatten.

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Das war auch nicht durch eine andere politische Strategie zu ändern.

Das Erstaunlichste während des Spanischen Krieges war das Verhalten der Großmächte. Der Krieg wurde für Franco von den Deutschen und Italienern gewonnen, bei denen der Beweggrund auf der Hand lag. In bezug auf Frankreich und England sind die Motive ihres Verhaltens weniger leicht verständlich. 1936 war jedem klar, daß eine englische Unterstützung der republikanischen Regierung in Form von Waffenlieferungen für ein paar Millionen Pfund zum Zusammenbruch Francos und zu einer durchgreifenden Änderung der deutschen Strategie geführt hätte. Man brauchte damals kein Hellseher zu sein, um vorauszusagen, daß es zum Krieg zwischen England und Deutschland kommen würde. Man hätte sogar so weit gehen können zu sagen, daß es in einem oder zwei Jahren soweit wäre. Aber die herrschende Klasse in England tat in der gemeinsten, feigsten und heuchlerischsten Weise alles, um Spanien an Franco und die Nazis auszuliefern. Warum? Die Antwort ist einfach — weil sie pro-faschistisch war. Daran besteht kein Zweifel, und doch, als es dann zu der endgültigen Auseinandersetzung kam, hat sich England für den Kampf gegen Deutschland entschieden. Es ist noch immer unklar, welchen Plan England verfolgte, als es Franco stützte, und vielleicht gab es überhaupt keinen festen Plan. Ob die herrschende Klasse in England bösartig oder nur dumm ist, das ist eine der schwierigsten Fragen unserer Zeit und in bestimmten Augenblicken eine der wichtigsten.

Was die Russen betrifft, so waren ihre Motive im Spanischen Krieg völlig undurchsichtig. Haben sie, wie Schwachköpfe glauben, eingegriffen, um die Demokratie zu verteidigen und die Nazis zurückzudrängen? Warum haben sie dann ihre Unterstützung auf ein so schäbiges Maß beschränkt und schließlich Spanien seinem Schicksal überlassen? Oder haben sie, wie die Katholiken behaupten, eingegriffen, um in Spanien die Revolution zu schüren? 

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Warum aber haben sie dann alles in ihrer Macht Stehende getan, um die spanische revolutionäre Bewegung zu zerschlagen, das Privateigentum zu schützen und den Mittelstand, den Feind der Arbeiterklasse, an die Macht zu bringen? Oder stimmt, was die Trotzkisten behaupten, daß die Russen in Spanien nur einfach deshalb eingegriffen haben, um den Ausbruch einer echten Revolution zu verhindernd? Warum haben sie dann nicht gleich Franco unterstützt? Tatsächlich läßt sich ihr Verhalten sehr einfach erklären, wenn man annimmt, daß sie aus verschiedenen, einander widersprechenden Beweggründen gehandelt haben. Ich glaube, wir werden in Zukunft lernen müssen, daß Stalins Außenpolitik nicht diabolisch schlau, wie immer behauptet wird, sondern in Wirklichkeit opportunistisch und dumm ist.

Auf jeden Fall hat der Spanische Bürgerkrieg gezeigt, daß die Nazis wußten, was sie taten und ihre Gegner nicht. Der Krieg wurde auf einem technisch sehr niedrigen Niveau ausgetragen, und die ganze Strategie war höchst einfach. Die Seite, die modern bewaffnet war, mußte siegen. Die Nazis und die Italiener lieferten ihren faschistischen Freunden diese Waffen, während die westlichen Demokratien und die Russen denen, die ihre Freunde hätten sein müssen, keine Waffen lieferten. So ging die Spanische Republik zugrunde, nachdem sie »gewonnen hatte, was keiner Republik fehlt«.

Ob richtig war, was die gesamte Linke in allen Ländern tat, nämlich die Spanier zu ermutigen, einen Kampf fortzusetzen, den sie nicht gewinnen konnten, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Meiner Meinung nach war es sehr richtig, weil ich der Überzeugung bin, daß es, selbst unter dem Gesichtspunkt des Überlebens, besser ist zu kämpfen, als sich kampflos zu ergeben. Die Auswirkungen auf die große Strategie im Kampf gegen den Faschismus lassen sich noch nicht übersehen. Die zerlumpten, waffenlosen Armeen der Republik haben zweieinhalb Jahre ausgehalten, sehr viel länger also, als ihre Gegner erwartet hatten. Aber ob das den faschistischen Zeitplan in Unordnung gebracht hat oder lediglich den großen Krieg hinausschob und dadurch den Nazis zusätzlich Zeit gab, ihre Kriegsmaschinerie auf den höchsten Stand zu bringen, bleibt offen.

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VII

Ich kann nie an den Spanischen Krieg denken, ohne daß mir zwei Vorfälle in den Sinn kommen.

Der eine bezieht sich auf den Samariter im Hospital von Lerida und der andere auf die traurigen Stimmen der verwundeten Milizionäre, die ein Lied mit folgendem End-Refrain sangen:

Una resolucion
Luchar hast' al fin!

Ja, sie hatten bis zum Ende tapfer gekämpft. Die letzten achtzehn Kriegsmonate haben die republikanischen Armeen fast ohne Zigaretten im Feld gestanden und mit verdammt wenig zu essen. Als ich Mitte 1937 Spanien verließ, waren Brot und Fleisch knapp, Tabak eine Seltenheit und Kaffee und Zucker so gut wie nicht zu haben.

Die zweite Erinnerung gilt dem italienischen Milizsoldaten, der mir am Tage, als ich in die Miliz eintrat, in der Wachstube die Hand schüttelte. Ich habe über diesen Mann am Anfang meines Buches über den Spanischen Bürgerkrieg1 geschrieben und will nicht wiederholen, was ich dort gesagt habe. Wenn ich mich an seine schäbige Uniform und sein stolzes, leidenschaftliches, unschuldiges Gesicht erinnere — mein Gott, wie lebhaft —, verblassen alle die vielfältigen Nebenfragen des Krieges, und ich sehe klar, daß es trotz aller Machtpolitik und journalistischen Lügen keinen Zweifel geben kann, wer im Recht war. 

Homage to Catalonia (Mein Katahnien), erschienen 1958.

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Die zentrale Frage des Krieges war der Versuch, Menschen wie jenem ein anständiges Dasein zu erkämpfen, auf das der Mensch ein angeborenes Recht hat. Es fällt einem schwer, an das wahrscheinliche Ende des Mannes ohne tiefe Bitterkeit zu denken. Als ich ihn damals in den Lenin-Baracken traf, war er vermutlich Trotzkist oder Anarchist, und solche Leute werden unter den besonderen Zeitumständen, wenn nicht von der Gestapo, dann von der GPU umgebracht. Das berührt die Grundfrage auf lange Sicht nicht. Das Gesicht eines Mannes, das ich nur eine oder zwei Minuten gesehen habe, steht vor meinen Augen als lebendige Mahnung, um was es in diesem Krieg wirklich ging. Es ist mir ein Symbol für die Blüte der europäischen Arbeiterklasse, alle diejenigen, die von der Polizei aller Länder gejagt, die Massengräber der spanischen Schlachtfelder füllt und heute zu Millionen in Zwangsarbeitslagern verfault.

Wenn man an all die Menschen denkt, die den Faschismus unterstützen, so ist man immer wieder überrascht über ihre Verschiedenartigkeit. Was für ein zusammengewürfelter Haufen. Man stelle sich das Programm vor, das wenigstens eine Zeitlang Hitler, Pavelich, Montagu Norman, Petain, William Randolph Hearst, Streicher, Buchman, Ezra Pound, Juan March, Thyssen, Cocteau, Father Coughlin, den Mufti von Jerusalem, Arnold Lunn, Antonescu, Spengler, Beverly Nichols, Lady Houston und Marinetti alle in dasselbe Boot zu bringen imstande war. Es sind alles Leute, die etwas zu verlieren haben, oder Leute, die sich nach einer hierarchischen Gesellschaftsordnung sehnen und sich vor der Aussicht auf eine Welt freier und gleicher Menschen fürchten.

Was bestimmte Leute über das ›gottlose‹ Rußland oder den ›Materialismus‹ der Arbeiterklasse faseln, verrät ganz einfach den Wunsch, sich das Geld oder die Privilegien zu erhalten. Dasselbe gilt, auch wenn es ein Körnchen Wahrheit enthält, für das Gerede über die Wertlosigkeit eines ›sozialen gesellschaftlichen Wiederaufbaus‹ ohne eine ›Änderung des Herzens‹.

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Die Frommen, vom Papst bis zu den kalifornischen Yohis, legen größten Wert auf die ›Änderung des Herzens‹, weil er von ihrem Standpunkt aus mit weniger Risiko verbunden ist als eine Änderung des Wirtschaftssystems. 

Petain schreibt die Schuld an dem Zusammenbruch Frankreichs »der Vergnügungssucht der breiten Massen« zu. Man sieht das erst im richtigen Licht, wenn man sich nicht darüber wundert, wie vergnügungsreich das Leben der breiten Massen der französischen Bauern oder Werktätigen im Vergleich zu Petains ist. 

Welch verdammte Unverschämtheit dieser Politiker, Geistlicher, Literaten und was sonst noch für Leuten, die einen Sozialisten der Arbeiterklasse wegen ›seines Materialismus‹ abkanzeln. 

Alles, was der Werktätige verlangt, ist das, was diese Herrschaften als das ›unbedingt erforderliche Lebensminimum‹ bezeichnen, ohne welches das Dasein des Menschen überhaupt nicht denkbar ist. 

Genug zu essen, Befreiung von der drückenden Angst vor der Arbeitslosigkeit, die Gewißheit, daß ihre Kinder eines Tages eine anständige Chance im Leben haben, täglich einmal ein Bad, oft genug saubere Wäsche, ein Dach, durch das es nicht durchregnet und eine Verkürzung der Arbeitszeit, so daß man abends noch über ein bißchen Energie verfügt. 

Keiner von denen, die gegen den >Materialismus< wettern, würde ein Leben ohne diese Dinge für lebenswert halten. Und wie leicht ließe sich dies Minimum schaffen, wenn wir auch nur zwanzig Jahre lang unsere Aufmerksamkeit darauf richten würden. Den Lebensstandard der gesamten Welt auf das Niveau des englischen zu bringen, wäre kein größeres Unternehmen als der Krieg, den wir gegenwärtig führen. Ich behaupte nicht, und mir ist nicht bekannt, daß sonst jemand es tut, daß damit alles an sich bereits gelöst wäre. Es geht mir nur darum, daß Entbehrung und Knochenarbeit abgeschafft sein müssen, ehe man an die eigentlich menschlichen Probleme herangehen kann. Das größte unter ihnen ist heutzutage der Verfall des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit. 

Damit kann man sich nicht auseinandersetzen, solange menschliche Wesen sich wie Ochsen abschinden oder vor einer Geheimpolizei zittern müssen. Wie recht hat die Arbeiterklasse mit ihrem Materialismus! Wie richtig ist ihre Überzeugung, daß erst der Bauch und dann die Seele kommt, nicht hinsichtlich ihres Stellenwertes, aber in der zeitlichen Reihenfolge. Das muß man begreifen, und all das Furchtbare, dem wir unterworfen sind, wird zum mindesten verständlich. 

Alle Einwände, die geeignet sind, einen zum Nachgeben zu verleiten — die Sirenentöne eines Petain oder Ghandi, die unausweichliche Tatsache, daß man, um zu kämpfen, sich erniedrigen muß, die moralisch fragwürdige Haltung Englands mit seinen demokratischen Phrasen und seinem Kuli-Empire, die düstere Entwicklung in Sowjet-Rußland, die Schmierenkomödie der linken Politik, das alles fällt in sich zusammen, und man sieht nur den Kampf des langsam erwachenden Volkes gegen die Lords des Privateigentums mit ihren gekauften Lügnern und Arschleckern. 

Die Frage ist sehr einfach. Sollen Menschen wie jener italienische Soldat ein anständiges, volles menschliches Leben führen dürfen, was heute technisch möglich ist, oder nicht?

Ich selbst glaube, daß der einfache Mann früher oder später seinen Kampf gewinnen wird, mein Wunsch wäre früher und nicht später — sagen wir, innerhalb der nächsten hundert Jahre und nicht innerhalb der nächsten zehntausend Jahre. Darum ist es im Spanischen Bürgerkrieg in Wahrheit gegangen, und darum geht es auch in diesem Krieg und in den vielleicht noch kommenden.

Den italienischen Milizsoldaten habe ich nie wieder gesehen, ich habe auch nie erfahren, wie er hieß. Es dürfte ziemlich sicher sein, daß er gefallen ist.

Fast zwei Jahre später, als der Krieg offensichtlich verloren war, schrieb ich die folgenden Verse zu seinem Gedächtnis:

 

 

The Italian soldier shook my hand
Beside the guard-room table;
The strong hand and the subtie hand
Whose palms are only able

To meet within the sounds of guns,
But oh! what peace I knew then
In gazing on this battered face
Purer than any woman's!

For the flyblown words that make me spew
Still in his ears were holy,
And he was born knowing what I had learned
Out of books and slowly.

The treacherous guns had told their tale
And we both had bought it,
But my gold brick was made of gold —
Oh! who ever would have thought it?

Good luck go with you, Italian soldier!
But luck is not for the brave;
What would the world give back to you?
Always less than you gave.

Between the shadow and the ghost,
Between the white and the red,
Between the bullet and the lie,
Where would hide your head?

For where is Manuel Gonzales,
And where is Pedro Aguilar,
And where is Ramon Fenellosa?
The earthworms know where they are.

Your name and your deeds were forgotten
Before your bones were dry,
And the lie that slew you is buried
Under a deeper lie;

But the thing that I saw in your face
No power can disinherit:
No bomb that ever burst
Shatters the crystal spirit. 

Der italienische Soldat schüttelte mir die Hand neben dem Tisch des Wachraums; die starke und die feine Hand, deren Daumen sich nur im Gewehrfeuer treffen können. 

Aber ach! welch einen Frieden gab es mir, in dieses zerschlagene Gesicht zu schauen, reiner als nur je das Gesicht einer Frau! 

Denn die abgestandenen Worte, die mich speien machen, sind noch heilig in seinen Ohren, und er wußte schon bei der Geburt, was ich erst langsam aus Büchern lernte. Die verräterischen Gewehre hatten ihre Geschichte erzählt, und wir hatten sie beide geschluckt, aber ich habe wirklich etwas gewonnen — Oh! wer hätte das jemals geglaubt? 

Glück sei mit dir, du italienischer Soldat, aber Glück ist nicht für den Tapferen; was würde die Welt dir zurückgeben? Immer weniger als du ihr gabst.

Zwischen einem Schatten und einem Geist, zwischen weiß und rot, zwischen der Kugel und der Lüge, wo würdest du deinen Kopf verstecken? Denn wo ist Manuel Gonzales, und wo ist Pedro Aguilar, und wo ist Ramon Fenellosa? Die Regenwürmer wissen es. 

Dein Name und deine Taten werden vergessen sein, bevor deine Knochen getrocknet sind; und die Lüge, die dich erschlagen hat, ist unter einer noch größeren Lüge begraben. 

Aber was ich in deinem Gesicht gesehen habe, kann keine Gewalt mir nehmen: keine jemals gezündete Bombe zerreißt den kristallenen Geist.

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