Gabriele Oertel und Karlen Vesper

Das eigene Leben leben

Kinder berühmter Eltern
von Brandt bis Seghers

2002 in der Tageszeitung ND
2004 im Militzke-Verlag, Leipzig

  Gabriele Oertel und Karlen Vesper (2004) Das eigene Leben leben : Kinder berühmter Eltern von Brandt bis Seghers -- mit Andrej Bahro, Florian Havemann 

2004  256 Seiten

DNB.Buch  

Ortel:*1953  Vesper:*1959

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detopia:

Andrej Bahro    O.htm 

Pankowbuch   Bahrobuch 

Flori.Havemann    Gregor Gysi

Gestattung von Andrej für detopia liegt vor.

Sohn und Vater 1990

Kapitalismus mit Präservativ Andrej Bahro über Subbotnik, Timur-Trupp, das Unternehmen Deutschland und 'seine' <Alternative>

 

Wie der Vater, so der Sohn. Auch Andrej Bahro ist ein origineller Zeitgenosse, Vertreter einer gebeutelten Nachkriegsgeneration, die den Spagat zwischen Ost und West wagte, im Sozialismus aufgewachsen und im Kapitalismus nicht heimisch geworden ist. Er probierte schon vieles aus und ist in seiner Experimentierfreude nicht erlahmt. 

 

Der am 18. April 1962 in erster Ehe Geborene war als Schüler Mitglied der »Studiobühne Animation Berlin«, einem freien Schauspielensemble in Berlin-Prenzlauer Berg. Nach seinem Schulabschluss lernte er Kraftwerksanlagen-Elektromonteur. Gemeinsam mit seinem nach zwei Jahren Haft in Bautzen amnestierten Vater wurde er 1979 aus der DDR ausgewiesen. In der Bundesrepublik Deutschland schlug er sich mit diversen Jobs durch. 

Der Vater von vier Kindern lebt in Bremen und arbeitet als Sozio-Technopologe - ein Beruf, den es eigentlich noch nicht gibt, der aber, wie Andrej Bahro betont, wichtig für die Zukunft ist, denn »er gleicht zwischen Natur- und Menschen­anspruch« aus.

 

Seite 15 bis 27 im Buch

Wann haben Sie <Die Alternative> - das berühmte Buch Ihres Vaters - gelesen? 

Im Jahr, als es erschien, 1977. Ich habe 15 Seiten gelesen, dann wurde es mir zu kompliziert. Ich war 15. Zudem kannte ich den Inhalt in etwa. Es war ja Gesprächsthema am Abendbrottisch der Familie.

Ihre Mutter soll nicht sehr angetan gewesen sein von dem, was Ihr Vater da tat?  

Vom Inhalt war sie sehr angetan. Aber nicht von den Folgen für die Familie, die sie eher erahnt hat als er. Ihm war das egal, er hat nur für sich gedacht.

Ein egoistischer Mann?

Nein, das ist eine andere, größere Form von Liebe. Ihn kümmerte nicht das Einzelschicksal. Er wusste, wenn er nichts für alle unternimmt, ist dem Einzelnen nicht gedient. Meine Mutter wollte ihn nur lieben. Und dass wir Kinder ungestört groß werden. Für meinen Vater war es wichtig, dass wir uns frei entfalten, durch nichts unterdrückt in der Seele. Wir wurden antiautoritär, sprich: gar nicht erzogen.

Mein Vater war ein sehr liebevoller Typ. Zugegeben: Er war Blutgruppe »Räuber«, hat immer von anderen Energie gesogen. Zugleich war er ein ängstlicher Typ, was Gefühle betraf. Und ein sehr bedürftiger Mensch, der viel Liebe brauchte. Und er war ein Schöngeist. Er hörte den ganzen Tag klassische Musik und trällerte dazu. Rudolf Bahro war ein freudiger Mensch. Und ein freier. Wenn ihm die Hose zwickte, hat er sie erst einmal gerichtet, egal wo und egal, wer anwesend war. Wenn ein Popel störte, hat er den in diesem Moment bearbeitet. Das hat nix mit Unkultur zu tun, er fühlte sich nur in diesem Augenblick nicht wohl und wollte sich von dem Unwohlsein befreien.

Rudolf Bahro wurde am 23. August 1977 verhaftet, nachdem er in Interviews mit westdeutschen Journalisten seine Kritik am Realsozialismus erläutert hatte. Wie erlebten Sie seine Verhaftung? 

Er hatte sich kurz zuvor scheiden lassen, um die Familie rauszuhalten. Kurz bevor er verhaftet wurde, zeigte er mir aber noch das Versteck, wo er ein Exemplar der »Alternative« deponiert hatte.

Und haben Sie es da später rausgeholt?

Dazu kam ich nicht. Wir wurden observiert. Und nach der Ausweisung meines Vaters wurde auch ich aus der DDR komplimentiert.

Das klingt nach freundlichem Akt?

Es ging freundlich zu, nur nicht nach meinem Geschmack. Sie haben mich aus der Wohnung meiner Freundin rausgeklingelt: »Kommen Sie mit!« Dann sind wir in das Stadtbezirksamt gefahren. Da war ein Richtertisch: »Guten Tag, wir legen Ihnen nahe, einen Ausreiseantrag zu stellen.« Da habe ich gesagt: »So nahe waren wir uns noch nie, aber so nah wollte ich Sie mir gar nicht kommen lassen.«

War das frech oder mutig? Sie waren 17 Jahre jung. 

Ich war schon in der Schule aufsässig, wenn ich merkte: Die erzählen mir da etwas, was so nicht stimmt. Als ich zur Jugendweihe das Buch »Der Sozialismus - Deine Welt« erhielt, wusste ich, wie mein Leben bis zum Ende weitergeht, weitergehen sollte. Das wollte ich aber gar nicht wissen. Ich sagte mir: Das kann es nicht sein. Und ich beschloss, mich keinesfalls und in keiner Weise anzupassen.

Wie waren Ihre Schulnoten?

Im Durchschnitt Drei, in Geschichte und Staatsbürgerkunde hatte ich eine Eins.

Ausgerechnet in diesen Fächern?

Ausgerechnet in diesen wollte ich immer das Stundenziel erreichen.

Also doch Anpassung?

Nein! Taktik. Wer vorprescht, um der eigenen Eitelkeit willen, der bewirkt nichts, dessen Aktionsradius wird im Gegenteil begrenzt. Man muss nicht gleich alles, was man im Kopf hat, herausposaunen, sondern auf eine Situation warten können, die günstig ist für die Formulierung und Umsetzung der eigenen Gedanken.

So konnte ich denn auch den Leuten, die mir die Ausreise »nahe legten«, erwidern: »Wieso? Ich war vorbildlicher Jung- und Thälmannpionier. Und Sie wollen mich in den Westen schicken, wo der »Zwanziger« mit dem Webrahmen, Ausbeutung und Unterdrückung auf mich warten! Was würde Thälmann dazu sagen?« Da haben die gesagt: »Lassen Sie die Polemik.«

Ihr Vater hat nicht gewartet, bis die Situation reif war für seine Ideen, und wurde zu acht Jahren Haft verurteilt.

Mein Vater hat den Angriff immer wieder versucht. Ich bin eher langmütig. Rudolf Bahro hat aber auch nicht, was ich manchem Intellektuellen vorwerfe, gesagt: »Arbeiter, stehe auf und wehre dich!« Ohne diesem zugleich zu sagen, welche Konsequenzen ihn erwarten, dass auf ihn gegebenenfalls auch geschossen werden könnte. Letztlich hat er sich so kompliziert ausgedrückt, dass ihn sowieso kaum ein Arbeiter verstehen konnte.

Er wollte die »Revolution von oben«.

Wie andere auch. Es gab ja in der DDR nicht nur »Arschlöcher« - entschuldigen Sie diesen deftigen Ausdruck. Und Rudolf Bahro hat - als Chefredakteur der Studentenzeitschrift »Forum« - 1967 den »Kipper Paul Bauch« von Volker Braun veröffentlicht, obwohl er im System stand. Das hat ihm die Partei übel genommen. Es gab in der DDR nicht wenige Kommunisten, die wie er überlegten: Wie können wir eine Reform des Systems initiieren?

Haben Sie Ihren Vater im Gefängnis in Bautzen besucht?

Einige Male im Kopf. Denn er wollte das nicht. Er war allerdings sauer, dass ich an dem Tag, an dem er entlassen wurde, nicht zur Stelle war. Wir hatten nach einer Theatervorstellung noch gefeiert. Und ich musste mich mit meiner Freundin versöhnen.

Ein braver Sohn lässt den Vater aber auch nicht warten - zumal diesem zu jener Zeit die Freunde rar geworden sein dürften.

Sie hatten sich bereits verflüchtigt, als er verhaftet wurde. Es war ein Glück, dass wir die Gysis hatten. Gabriele Gysi und Emine Sevgi Özdamar, integre Menschen, kamen nach der Inhaftierung meines Vaters zu uns: »Ihr habt jetzt keine Freunde mehr, wir haben noch ein paar für euch.«

Gregor Gysi hat Ihren Vater verteidigt. Und dieser jenen gegen Stasi-Anwürfe nach 1990 - auch das integer. Aber warum wollte Rudolf Bahro damals gar eine Verteidigungsrede für den verhafteten und angeklagten Erich Honecker halten, der als Staats- und Parteichef in der DDR 1977 zehn Jahre Haft für ihn gefordert hatte? War Ihr Vater groß im Verzeihen? Mahatma Bahro? Die Große Seele? 

Mit Verzeihen hat das nichts zu tun, sondern mit Anständigkeit. Die ich im übrigen bei vielen Linken vermisse. Es hat in den vergangenen Jahren keine Solidarität der Linken mit ihren Reformern gegeben. Das betrifft nicht nur Rudolf Bahro, auch Wolfgang Harich, Robert Havemann und viele andere.

Es gibt ein Bahro-Archiv. Da sitzt ein ehemaliger Mitarbeiter und hält das Zeug zusammen. In zehn/zwanzig Jahren ist nicht mehr genug Geld da, um überhaupt jemanden damit zu betrauen und herauszufinden, was man jetzt schon wissen könnte. In 100 Jahren vielleicht buddeln Archäologen nach dem alten Bahro. Noch sind Menschen da, Freunde, Mitstreiter, Kinder, die wissen, wo er liegt, wer er war, was er uns zu sagen hatte. Aber man hat mich nicht einmal zum Bahro-Kongress, zum 25. Jahrestag des Erscheinens der »Alternative« in Berlin eingeladen.

Das klingt verbittert.

Das bin ich nicht. Aber ich habe Bauchschmerzen, wenn eine Partei Rudolf Bahro zum Programm erhebt und sagt: »Wir machen Sozialismus im Bahro'schen Sinne.« Rudolf Bahro hat nur eine Reparaturanleitung geliefert. Es gilt zusammenzutragen, was erhaltenswert wäre am so genannten realen Sozialismus und was von Bahros Kritik an diesem noch zeitgemäß ist. Dies ist zu durchdenken und geistig auszuprobieren. Jeder Waschmittelkonzern hat einen Testmarkt - nur die Linken nicht.

Trifft dieser Vorwurf auch die einst kämpferischen Jungsozialisten und Straßenaktivisten Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Jürgen Trittin?

Die Herren Fischer, Trittin und Schröder waren Fans von Rudi Dutschke und haben Solidaritätsbekundungen für Rudolf Bahro geschrieben. Aber heute interessiert sie nicht einmal, was aus deren Familien geworden ist. Etwa, dass Gretchen Dutschke keine Rente in Amerika kriegt. Die Vermarktung einer selbst nicht wirklich gemachten Vergangenheit findet permanent statt, eine Aufarbeitung der eigenen - zeitnah und mit allen Härten - nicht.

Weil man mittlerweile in weichen Amtssesseln sitzt.

Und in bequemen Flugzeugsesseln. Nun sind aber einige der Herren Politiker und Parlamentarier mit ihren Vielfliegermeilen ziemlich unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Ich kann ein wenig Schadenfreude nicht verhehlen. Da brausen sie jahraus, jahrein über mein Haus hinweg, lassen ihr stinkiges Kerosin über den Köpfen meiner Kinder ab, um irgendwo etwas zu klären, was sie noch nicht einmal hier bei uns geklärt haben. Das scheint ihnen einziger Sinn und Zweck der Politik. Ich kann es nicht verstehen, warum unsere Politiker irgendwohin düsen, um anderen Völkern Kultur beizubringen. Wo wir doch selbst nicht kulturvoll miteinander umgehen. Nicht nur Palästinenser und Israelis gehen kulturlos miteinander um. Auch uns ist die Sozialität abhanden gekommen. Wir wollen die Welt retten, anderen Sozialität vermitteln, die wir selbst nicht erleben. Rufen zum großen Dialog auf und reden in unserer Gesellschaft selbst aneinander vorbei.

Ich habe einmal ein linkes Blättchen gemacht, eine Bremer Stadtillustrierte. 130 Seiten immerhin und vielfarbig. Aber wir haben das Unternehmen wie eine Manufaktur im Manchester-Kapitalismus geführt. Wir wollten den Menschen etwas von einer besseren Welt, gerechterem Leben und Arbeiten erzählen und konnten es selbst nicht vorleben. Das Blättchen ist Pleite gegangen.

Sie haben vieles gemacht, scheinen nicht gerade bodenständig und beständig?

Da sind Bahro junior und Bahro senior gleich. Auch mein Vater war immer Neuem gegenüber aufgeschlossen, neugierig. So hat ihn die Verbannung nach dem Sturz als stellvertretender Chefredakteur vom »Forum« in ein Gummi-Kombinat nicht kränken können. Er lebte in einem Ashram bei Oregon, um Spiritualität zu erleben. Und hat ein Landgut in Pommritz gegründet, um sich als »Biobauer« auszuprobieren.

Ich wiederum habe einmal einen Solarkollektor entwickelt und war damit auf vielen Messen. Herr Stieble von Stieble Eltron wollte ihn mir abkaufen. »Machen Sie sich selbstständig«, sagte er mir. Aber ich wollte doch der Menschheit nur einen Solarkollektor schenken und nicht gleich Unternehmer werden.

Dann wollte ich wissen, wie Kapitalgesellschaften wirklich funktionieren. Da habe ich mich bei General Electric beworben. Als Kind fand ich Thomas Alva Edison toll. Schließlich habe ich mich aber auch dort wieder verabschiedet: »Danke, ich wollte nur mal sehen, wie es bei euch zugeht.«

So wie in unserer Gesellschaft?

Wir reden uns ein, in einer Demokratie zu leben. Aber wir leben in einem kapitalistischen Unternehmen namens Deutschland. Die Demokratie ist nur das Präservativ, das über den Kapitalismus gestülpt ist.

Wenn es heißt, der Kanzler regiert Deutschland, dann höchstens zu zehn Prozent. Der Rest sind die berühmten »Sach-zwänge«, von der Wirtschaft diktiert. Es geht nicht darum, den Menschen neue schöne Häuser zu bauen, sondern um Aufträge für Bauunternehmen. Es geht nicht darum, die Menschen mit Autobahnen zu beglücken, sondern um die Gewinne der Asphaltindustrie. Die Menschen essen für McDonalds, fahren für die Bahn und wählen die Politiker, damit die sich subventionieren.

Sogar die linken Politiker.

So ist es. Menschen, die in die Politik gehen, tauchen in eine neue Wirklichkeit ein, entfremden sich selbst. Der linke Volksvertreter braust in Staatskarossen durch die Straßen, der Arbeiter wird an den Straßenrand gedrückt und darf sich die Pfützenspritzer vom Mantel rubbeln - so er diese nicht als schönes Andenken behalten will.

Diese Einsicht habe ihn zum Rücktritt bewogen, sagt Gregor Gysi.

Und das glaube ich ihm. Er hat sich eingestanden: Das kleine Stück, das ich zu weit gegangen bin, war zu weit. Viele Menschen haben ihn verstanden, nur die Medien nicht. Sie zetern.

Was ist an Rot-Grün noch sozial und ökologisch?

Nichts im Sinne von Bahros sozial-ökologischer Alternative. Aber ich bin ein optimistischer Mensch und vertraue auf die Zeit.

Den Menschen, denen es heute dreckig geht, ist damit nicht geholfen.

Wem sagen Sie das. Ich habe vier Kinder, einen Schuldenberg und kriege mit 40 keine Arbeit mehr. Deshalb meine ich, die Linke sollte sich endlich fragen: Was wäre denn mal ein konkretes Arbeitsmodell?

Ja, was wäre denn ein solches?

Zunächst ist zu eruieren, was war der letzte Ansatz von Sozialgefüge in Deutschland, der funktioniert hat. Den gab's bis zu den massenhaften Kirchenaustritten.

Mit der Kirche hatten die Leute eine Form von gehaltvoller Moral. Als sie feststellten, dass sie durch das Weglassen der Kirchensteuer Geld sparen und sich dafür eine eigene Konsummoral und Ersatzreligion schaffen können, haben sie vergessen, dass, wenn sie dann Kinder haben, der Kindergarten nicht mehr da ist, den die Kirche finanziert hat.

Es gibt auch andere Kindergärten.

Ja, aber der Staat hat für Kindergärtnerinnen nichts übrig. Sie haben einen hohen moralischen Anspruch zu vertreten. Sie haben schlecht erzogene Kinder mit vielen Marotten. Und ihnen werden die Mühen und der Stress schlecht entgolten.

Und was wäre Ihrer Meinung nach nun die Alternative?

Wir brauchen den Zehnten wieder, und das meine ich in einer ganz christlichen Art und Weise. Ich meine aber nicht den Kirchenzehnten, sondern, dass jeder von uns sich mit zehn Prozent Zeit und Kapital eigenverantwortlich für sein Umfeld einsetzt. Was ich bisher dem Staat an Steuern zahlte, zahle ich jetzt an den Kindergarten um die Ecke, den meine Kinder besuchen. Ich kaufe den Bollerwagen selbst, öle ihn auch selber. Kein Geld an irgendeine Verwaltung, in der es verschwindet.

Das ist anarchistisch. Soll ich dem Gefängnis 100 Euro spenden, damit es den »bösen Nachbarn« weiter einsitzen läßt? Der Staat wird wohl noch gebraucht, auch wenn er mitunter Willkür und Selbstbedienung nicht verhindert.

Der Staat hat sich doch schon selbst abgeschafft. Er ist nicht in der Lage, die mit Pilzen und Sporen verseuchten Kindergärten zu sanieren. Die Eltern würden das ja bezahlen, wenn sie nicht schon mit hohen Steuern an den Staat belastet wären, der nichts wirklich tut.

Wäre etwa da die DDR Vorbild? Hohe Steuern, aber dafür staatlich subventionierte Kindergärten, öffentlicher Verkehr etc.

Das hat funktioniert. Die Frauen konnten arbeiten gehen. Sie konnten sich zwar dadurch nicht immer selbst verwirklichen, weil sie zu Hause weiter arbeiten durften, abwaschen, staubsaugen, Kinder erziehen. Der Papa kam nach Hause, erschöpfter als sie: »Uff.« Er hatte ja die ganze Verantwortung, die Mama nur die doppelte Arbeit. Und wer nur arbeitet, kann nicht denken.

Heißt das, die an Heim und Herd verbannte Frau ist besser dran als die werktätige?

Nein, sie ist sogar ärmer dran, weil ihr ein ganzes Stück Sozialität fehlt. Die fehlt allerdings auch in Familien, wo beide Elternteile 70 Stunden in der Woche schuften, nebenbei Kinder wegschaffen und abends wieder abholen: von der Arbeit zum Spielspaßklub, zur Autoreparaturwerkstatt und zu Aldi, dann an den Esstisch und ins Bett. Die Familie ist nur noch ein Logistikunternehmen. Keine Erziehung, keine Sozialisation. Die Familie ist nicht die Keimzelle der Gesellschaft, sondern eine verkeimte Zelle.

Und was wäre dagegen zu tun?

Freier und ungezwungener leben. Die Frau soll ohne extra Erlaubnis arbeiten dürfen. Dazu muss das Umfeld stimmen. Wenn der Staat dieses nicht schafft, darf er dem Bürger kein Geld abpressen. Und hat er kein Geld mehr, kann er auch keine neuen Panzer und Militärflugzeuge kaufen. Alle Kriegsspielereien sind verboten.

Sie träumen.

Nein. Schröder ist schon jetzt in der Situation, sich mit Bush anlegen zu müssen.

Ihr Vater war Mitbegründer der GRÜNEN, hat sich aber abgewandt, als er bemerkte, dass diese nur noch »Putzarbeiten auf der Titanic« verrichten. Verratene Ideale? Was sagt der Sohn? 

Das war kein Verrat. Als ich in den Westen kam, haben sie Häuser besetzt und sich vor Wasserwerfer geworfen. Jetzt verwalten sie das, was sie durchgesetzt haben. Und das ist einiges. Wir bauen keine neuen Atomkraftwerke und lassen uns nicht jedes stinkige Fleisch vorsetzen. Und dass ein schwuler Sozialdemokrat in Deutschlands Hauptstadt Bürgermeister werden und ein Kommunist jüdischer Herkunft in den Gesamt-Berliner Senat einziehen konnte - das hätte doch vor 25 Jahren niemand geglaubt. Allerdings, einiges haben die Jusos und Grünen auf ihrem Marsch durch die Institutionen verbummelt. Ihr Protestpotenzial ist nun abgegolten. Es kommt wieder eine Generation. Die wird Neues durchsetzen. Und auch sie wird eines Tages nur das verwalten, was sie an Problemen gelöst hat. Jetzt wird Rio Reiser im Bundestag gehört, irgendwann einmal Techno. Das ist Dynamik.

Was nicht gleich Fortschritt ist.

Was ist Fortschritt? Fortschritt ist nicht, einen Abstand zu verkleinern oder auszuweiten, sondern, dass man etwas schafft, woraus man Nutzen zieht. Die Hausfrau hat nun einen Mixer, aber die fünf Minuten, die sie an Zeit gewonnen hat, nutzt sie nicht, um ein gutes Buch zu lesen. Unser Fortschritt führt nicht zurück zu einer Selbstbesinnung - vor allem nicht zu einer Gemeinschaftsverantwortung. Ich habe mindestens einmal in der Woche das Bedürfnis, ähnlich alten sozialistischen Normen Subbotnik zu machen. Da ist vor meinem Haus ein großer Platz mit vier alten Bäumen. Meine Nachbarn verstehen nicht, dass ich aufräume und Unkraut rupfe. In einer der vier Akazien aber wohnt eine Taube, auf der Bank davor sitzen Liebespaare. Warum soll ich es denen nicht behaglich machen und mich selbst dabei erholen und erfreuen.

Sie bleiben ein Kind der DDR! Rudolf Bahro selbst hat einmal über sich gesagt: »Der denkt in der DDR.« Sie auch? Sie preisen Kindergärten und Subbotniks, die doch, wie man oft hört, der Heranziehung und Disziplinierung der sozialistischen Untertanen dienten.

Der Subbotnik wurde nicht zur Dressur entwickelt, sondern aus einer Notwendigkeit heraus. Natürlich gab es da auch die Pulle Schnaps: »Prost, wir machen Subbotnik.« Aber es ist etwas geschaffen und Sozialität erreicht worden. Oder die Timur-Trupps: Da sind wir mit dem Bollerwagen durch die Straßen gezogen und haben gesungen: »Hab'n 'se nich noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa ...« Jetzt sind subventionierte Arbeitslose gezwungen, Altpapier einzusammeln. In der DDR hatte die einsame Oma im dritten Stock mindestens einmal in der Woche Besuch, die Kinder hockten nicht allein vorm Fernseher. Und die Volkswirtschaft hatte auch etwas davon. Es war sogar ökologisch. Und es gab viel zu lesen in der DDR ...

Schluss mit der Nostalgie. Zu Lesen gibt's heute massenhaft, uneingeschränkt und unzensiert...

Ja, ich habe heute morgen sechs Zeitungen gekauft - alle mit Gregor Gysi auf der ersten Seite, wegen seines Rücktritts vom Amt des Berliner Wirtschaftssenators. Aber ich habe keine Literatur vorgefunden. Ja, ich kann viele Bücher kaufen. Zum Beispiel das Lexikon über merkwürdige Körperprozesse. Warum juckt's, wenn man gestochen wird? Ich habe in der DDR pro Tag ein halbes Buch gelesen, seit ich im Westen bin ein halbes Buch im Jahr.

Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass es nur in der DDR gehaltvolle Lektüre gab?

Nein, aber es gab mehr Gründe, ein Buch zu lesen.

Wenn alles so prima war in der DDR, warum gab es dann die Revolution 1989?

Es war nicht alles prima. Und das war keine Revolution, sondern ein <Jacobs-Kaffee>-Aufstand. Man wollte zum Kaffeetrinken in den Westen. Und es gab gerade mal wieder einen Engpass, diesmal nicht an Toilettenpapier. Plötzlich war keine Regierung mehr da und das Land unregierbar. So konnte die Mauer eingerissen werden und Kohl sich mit seinem fetten Arsch so schnell auf dieses kleine Ländle setzen.

Nach dem Mauerfall kehrte Rudolf Bahro in die DDR zurück, erhielt eine Professur, ja sogar ein eigens für ihn gegründetes Institut für Sozialökologie an der Humboldt-Universität. Seine Vorlesungen waren stark besucht, doch seine Ideen erreichten die Menschen nicht. Ja, er wurde sogar von vielen belächelt und als Spinner abgetan.

Er war ein Visionär. Visionäre werden zu allen Zeiten verkannt und ausgelacht - bis es den Leuten so dreckig geht, dass sie den Visionär anbetteln: Hilf uns!

 

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Von links: Gundula Bahro (Mutter), Sylvia Henning (Andrejs Halbschwester), Rudolf Bahro, Andrej Bahro seine Braut Sabine Jahn; Hochzeit 1990; [ganz rechts vermutlich Klein-Hannah; deto]

Der Sohn über den Vater:

Empfinden Sie es als eine Last, einen berühmten Vater zu haben?
Nein.

Welche Stärken schätzen Sie an ihm?
Ausdauer und Fleiß.

Welche Schwächen von ihm lehnen Sie ab?
Soziale Unverantwortlichkeit; er hat ein Chaos in der Familie hinterlassen. Und Praxisferne.

Welche seiner Eigenschaften würden Sie gern selbst besitzen? 
Optimismus.

Welche auf keinen Fall? 
Dogmatismus.

Hatten Sie eine glückliche Kindheit? 
Ja.

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neues-deutschland.de/artikel/22335.kapitalismus-mit-praeservativ.html

23.08.2002

Fluch oder Segen? Kinder berühmter Eltern - wie fühlen sie sich? Inwieweit wurde ihr Lebensweg von dem der Väter und Mütter befördert oder überschattet? Nehmen sie das große Erbe an, tragen sie es weiter oder lehnen sie es ab? Können sie je mündig werden, gelingt ihnen die Emanzipation von der Aura der Eltern? ND befragt Kinder von Persönlichkeiten, die linkes Geistesleben und linke Politik in Ost- und Westdeutschland prägten.

Der am 18. April 1962 geborene Sohn von Rudolf Bahro (1935-1997) war schon als Schüler Mitglied der »Studiobühne Animation Berlin«, einem freien Schauspielensemble in Berlin-Prenzlauer Berg. Nach seinem Schulabschluss lernte er Kraftwerksanlagen-Elektromonteur. Gemeinsam mit seinem nach zwei Jahren Haft amnestierten Vater wurde er 1979 aus der DDR ausgewiesen. In der Bundesrepublik schlug er sich mit diversen Jobs durch. Er lebt in Bremen und arbeitet als Sozialtechnopologe - ein Beruf, den es noch nicht gibt, der aber, wie A. B. betont, wichtig sei für die Zukunft, denn »er gleicht zwischen Natur- und Menschenanspruch« aus.

Mit Andrej Bahro sprach Karlen Vesper.


 

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Gabriele Oertel und Karlen Vesper (2004) Das eigene Leben leben : Kinder berühmter Eltern von Brandt bis Seghers -- mit Andrej Bahro, Florian Havemann, und anderen