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105  Entscheidungen im November  

 

 

 

  1. Der 4. November 1989  

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Die Demonstrationen im Lande hatten die SED immer mehr zum Rückzug gezwungen. Höhepunkt wurde die Demonstration am 4. November in Berlin, zu der mehr als eine halbe Million Menschen kamen. Die Vorgeschichte dieser Demonstration begann mit einer Initiative des NF am 14. Oktober.  

Da es in Berlin seit dem 7. und 8. Oktober keine Demonstration mehr gegeben hatte, sollte versucht werden, über die aktiven kritischen Künstler einen Aufruf zu einer Demonstration zustande zu bringen. Jutta Seidel schlug der Schauspielerin Jutta Wachowiak dafür den 4. November vor. Die Berliner Theaterschaffenden nahmen diese Anregung auf und begannen umgehend mit den Vorbereitungen. Sie gingen legalistisch vor und stellten am 17. Oktober über den Vertrauensmann der Gewerkschaftsgruppe des Berliner Ensembles, Wolfgang Holz, einen Antrag auf Genehmigung einer Demonstration »für die Inhalte der Artikel 27 und 28 der Verfassung« (Holz 1989), also für die Meinungsfreiheit. Der Antrag wurde veröffentlicht. 

 

Ohne die Künstlerdemonstration abzuwarten, hatte sich in Berlin schon am Tag nach der Wahl von Krenz zum Staatsratsvorsitzenden am 24. Oktober eine große spontane Demonstration entfaltet, die gegen den neuen SED-Chef gerichtet war. Der SED wurde klar, daß sie die Künstlerdemonstration nicht verhindern konnte, obwohl auch dieses über ihre zuverlässigen Genossen versucht wurde. Die Vorbereitungsgruppe vereinbarte eine »Sicherheitspartnerschaft« mit der Polizei. So wurden für Ordner auch aus den Reihen der Opposition Schärpen mit der Aufschrift »Keine Gewalt« ausgegeben. 

Mielke, der noch im Amt war, und der gesamte Sicherheits- und SED-Apparat unternahmen Anstrengungen, die Demonstration zu benutzen, um die Krenz-Wende zu stabilisieren. So waren die Reden auf der Demonstration von dem Widerspruch zwischen der Dynamik des Aufbruchs der Menschen einerseits und Kanalisierungsbestrebungen andererseits geprägt. Christa Wolf warnte vor den »Wendehälsen«, die die Bewegung für ihre Zwecke nutzen und blockieren könnten. Christoph Hein rief: »Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Begeisterung täuschen. (...) Die Kuh ist noch nicht vom Eis«, und Stefan Heym mahnte, ein »Sozialismus — nicht der Stalinsche, der Richtige« sei aufzubauen, in dem die »Herrschaft des Volkes« garantiert wäre. Ihnen war Beifall sicher. Als der SED-Politiker Schabowski versprach, daß das »Aktionsprogramm der SED« die Erneuerung festschriebe und davor warnte, »Scheiterhaufen« mit den Errungenschaften der DDR zu errichten, sowie die Menschen damit tröstete, daß es zum »Schulterschluß zwischen Krenz und Gorbatschow« gekommen sei, wurde er ausgepfiffen. 

Der ehemalige Spionagechef Markus Wolf versicherte, daß »hunderttausende Kommunisten« ebenfalls auf Klarheit warteten und bat, das MfS nicht »zum Prügelknaben der Nation« zu machen. Seine Abkunft kaum verleugnend, stellte er fest: Die »Gegner der Erneuerung, die müssen wir überall dort suchen, wo sich Dunkel« breitgemacht hätte. Damit kein Blut mehr flösse, solle die »Vernunft Oberhand« (Texte 1989) gewinnen. Auch er wurde ausgepfiffen. Die Redner der Opposition, Marianne Birthler von der IFM, Konrad Eimer von der SDP und Friedrich Schorlemmer für den DA forderten konkrete Schritte zur Demokratisierung. Jens Reich verlangte für das NF eine Zeitung und Zugang zu den elektronischen Medien.


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Die Spontaneität und Energie der sich befreienden Bevölkerung drückte sich vor allem in Sprechchören und in hunderten selbstgemachten Plakaten aus. Die Losungen richteten sich u.a. gegen Krenz, die Wahlfälschungen, den Führungsanspruch der SED und gegen das MfS. Sie plädierten für die Forsetzung der Revolution, Meinungsfreiheit, freie Wahlen, Reisefreiheit. Die Oppositionsorganisationen zeigten sich mit vielen Plakaten. Die Originalität der Transparente beflügelte die Menschen. Viele schrieben die Losungen ab. Die Junge Gemeinde aus Schildow bei Berlin fertigte eine Sammlung der Losungen an, die sie später in Samisdatmanier verbreitete. Dort stand: »Zirkus Krenz — Die Vorstellung ist aus!« — »Krenz Xiaoping? Nein Danke!« — »Wenn Egon von Reformen spricht, vergeßt die sieben Geißlein nicht!« (Junge Gemeinde 1989) 

Auf der riesigen Demonstration vermittelte sich den Beteiligten die Gewißheit, daß es keine Umkehr mehr geben würde. Die verfliegende Angst und das gewonnene Selbstbewußtsein schlugen sich in einer Volksfeststimmung nieder. Auf der Kundgebung reagierten die Demonstranten politisch hellwach auf die Anbiederungen von Günter Schabowski und Markus Wolf, den neuen Hoffnungsträgern der SED, und pfiffen sie aus. Das Aktionsprogramm der Krenz-SED, das den Führungsanspruch noch einmal befestigen sollte, war damit überholt, auch wenn dies die SED zunächst noch nicht wahrhaben wollte.

Die Opposition schätzte die große Demonstration fast durchweg als Zwischenphase ein. So erklärte Bärbel Bohley unmittelbar danach, daß dies noch nicht ganz ihren Erwartungen entsprochen hätte. Der Vorstand des DA sah in der Demonstration vor allem eine Kundgebung gegen Krenz und seinen Versuch, die SED zu retten. Das wichtigste Ergebnis der Demonstration vom 4. November war, daß nun mit der »Sicherheitspartnerschaft« eine erste demokratische Institution installiert war. 

Nachdem die SED schon im Oktober zum friedlichen Dialog gezwungen worden war, mußte sie sich nun selbst auf die Bedingungen der Akteure der Revolution einlassen und sah ihre Macht in vereinbarten Regeln begrenzt. Der Versuch, sich aus der Machtposition heraus zum Vorreiter der Reform aufzuschwingen, war gescheitert. Zwei Tage später riefen die Demonstranten in Leipzig dem gerade neu gewählten und reformbereiten Bezirkschef der SED Roland Wötzel entgegen: »Zu spät, zu spät!« (Zwahr 1993,136) Nur in Dresden gelang es Berghofer und Modrow, an der Spitze eines großen Demonstrationszuges zu marschieren. Am 7. November mußte die SED mit dem Rücktritt der Stoph-Regierung dem absoluten Vertrauensverlust Rechnung tragen.

 

  2. Der Fall der Mauer am 9. November 1989  

 

Krenz stand seit dem 4. November derart unter innenpolitischem Druck, daß eine schnelle Lösung des Reiseproblems unerläßlich geworden war. Am 6. November wurde ein Gesetz zur Reisefrage veröffentlicht, das wieder zahlreiche Einschränkungen enthielt und den Widerstand der Opposition und des Volkes herausforderte. Zudem war die zugespitzte wirtschaftliche Lage kaum noch zu kaschieren, als am selben Tag Alexander Schalck-Golodkowski der SED-Spitze die prekäre Verschuldungssituation der DDR eröffnete. Zwar war die Opposition über die internen Vorgänge nicht informiert, doch forderte auch sie nun klare Auskunft über die wirtschaftliche Lage der DDR.


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Die Bundesregierung nutzte den Druck der Opposition und der Demonstranten und trat erstmals seit Jahrzehnten mit direkten politischen Forderungen an die SED-Führung heran. Bundeskanzler Kohl erklärte am 8. November vor dem Bundestag, daß wirtschaftliche und finanzielle Hilfe für die DDR erst möglich sei, wenn die Opposition in der DDR zugelassen sei, freie Wahlen zugesagt würden und die SED auf ihren Führungsanspruch verzichte.

Am 8. und 9. November tagte das ZK der SED und beschloß zunächst die Zulassung der Oppositions­gruppen und danach die Durchführung freier Wahlen. Am Nachmittag des 9. November wurde auch eine Regelung für Reisen in westliche Länder und die ständige Ausreise aus der DDR beschlossen. Danach sollten Reisen und Ausreise »ab sofort« ohne »Voraussetzungen« möglich sein. Damit war der umstrittene Reisegesetzentwurf überholt. Die Regelung enthielt den Hinweis, daß »Genehmigungen« kurzfristig erteilt würden. So sehr mit den Beschlüssen den Forderungen von Volk und Opposition entsprochen wurde, hoffte die SED-Führung zugleich, der finanziellen Überlebenshilfe durch die Bundesrepublik nähergekommen zu sein. Von der Reiseregelung versprach sich die SED-Führung eine Entlastung. Krenz hatte schon bei der Beratung erklärt: »Wie wir es machen, machen wir es verkehrt.« (Hertle 1995,840) Doch um den Preis der verlorenen Handlungsfähigkeit hatte die SED-Führung eine Papierbrücke über die Mauer gebaut.

Als kurz vor 19 Uhr Schabowski auf einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen der ZK-Tagung von dem italienischen Journalisten Riccardo Ehrman nach der Reiseregelung befragt wurde, kam es zu einem historischen Mißverständnis: Schabowski erklärte, daß die Regelung »sofort, unverzüglich (...) über alle Grenzübergangsstellen« (Hertle 1995, 840) erfolgen könne. Als die westlichen Nachrichtenagenturen und Fernsehanstalten dies wenige Minuten später meldeten, wurde das Regulierungsverfahren nicht mehr genannt. Schon um 20 Uhr berichtete die ARD-Tagesschau, daß die Grenzen offen seien. Aber bereits kurz nach 19 Uhr hatten die ersten DDR-Bürger die Nachricht von der Grenzöffnung gehört und nahmen das »sofort« wörtlich. An den Grenzübergangsstellen in und um Berlin strömten Tausende von Menschen zusammen und erzwangen deren Öffnung. Alle Versuche der Behörden, den Ansturm zu regulieren, scheiterten. Glückliche Menschen feierten in Berlin ein spontanes Massenfest und tanzten auf der Mauer.

Die SED hatte mit der von den Demonstranten erzwungenen Grenzöffnung endgültig die Handlungsinitiative verloren, auch wenn sie in den folgenden Wochen versuchte, wieder Tritt zu fassen. Obwohl sie dabei auch einige Erfolge zu erzielen vermochte, konnte sie nicht verhindern, daß die innere Logik des Aufstandes in der DDR offensichtlich wurde und sie selbst der Entwicklung nur noch hinterherhinkten Die Reaktion der Bevölkerung auf die Schabowski-Erklärung folgte dieser Logik, noch bevor die Politiker diese Möglichkeit ins Kalkül genommen hatten. 

Überrascht wurden die Großmächte wie auch beide deutsche Regierungen und der Westberliner Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper. Kaum jemand einschließlich der DDR-Opposition hatte erkannt, wie stringent die DDR-Revolution auf dieses Ziel zulief, obwohl es Anzeichen dafür gegeben hatte. Als Vera Wollenberger am 9. November vormittags an eine Berliner Grenzübergangsstelle ging, um ihre Einreise aus dem Exil zu verlangen, wurde sie von den Grenzbeamten abgewiesen. Als sie sich weigerte zurückzugehen, solidarisierten sich die westdeutschen Besucher und riefen im Chor: »Reinlassen! Reinlassen!«. Die Beamten gaben nach.


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Die DDR-Bürger waren zu diesem Zeitpunkt so politisiert, daß sie sich nicht mehr allein mit der Grenzöffnung begnügten. Ihre revolutionäre Energie ließ nicht nach. Die Demonstrationen gingen weiter und erreichten mancherorts erst ihren Höhepunkt. Jetzt verwandelte sich die Losung »Wir sind das Volk« in die politische Aussage »Wir sind ein Volk«.

So verheerend die Folgen der Grenzöffnung für die SED waren, so verwirrt war die Opposition, die noch mit strukturellen Schwächen zu kämpfen hatte und vollständig auf die Auseinandersetzung mit der SED fixiert war. Es entstand die paradoxe Situation, daß ein Teil derer, die den jahrelangen Kampf gegen die SED getragen und vor wenigen Wochen den Aufstand politisch gestaltet hatten, sich nun politisch an den Rand gedrängt sah. Dies drückten vor allem kritische Äußerungen zur Maueröffnung von Bohley aus. Sie fragte: »40 Jahre haben diese Leute in der DDR geschlafen. Vor acht Wochen haben wir alle noch geschlafen und heute ist alles anders. Haben wir jetzt noch die Kraft, eigene Perspektiven zu entwickeln?« Und zur Art der Maueröffnung sagte sie: »In einem Nebensatz fällt die Mauer, hinter der ich ein Leben lang gelebt habe. Das kränkt mich, weil mir bewußt geworden ist, daß ich jahrelang ein Objekt gewesen bin.« Als Perspektive für die DDR müsse »zwischen Kapitalismus und Sozialismus nach einem neuen Weg« (Schlicht 1989) gesucht werden. 

Wie traumatisierend die politische Entwicklung zunächst auf die Opposition wirkte, zeigten auch einige interne Vorgänge. Ullmann war derartig nervös geworden, daß er am 13. November um Mitternacht mit Matthias Artzt in der Wohnung von Neubert erschien, um zu erörtern, ob die Opposition nicht zur Grenzschließung aufrufen solle, da die DDR ansonsten wirtschaftlich schnell an ihr Ende kommen würde, eine Idee, die schließlich verworfen wurde, auch die von Uhlmann angesprochenen Vertreter der SDP wiesen das Ansinnen zurück. Ein großer Teil von Oppositionellen hat ohnehin die Maueröffnung begrüßt.

In der Volksfeststimmung wurde zunächst übersehen, daß nicht nur die SED von der Öffnung der Grenze politisch getroffen war, auch für manche jüngere Intellektuelle, die in der DDR erzogen worden waren, kündigte sich damit das Ende einer Flucht aus der tristen DDR-Wirklichkeit in die moralisch gesättigten Visionen einer besseren Welt an. Noch konnte bei der Maueröffnung gedichtet werden: »Wir tanzen auf den Mauern, die gestern uns getrennt und haben eine Hoffnung, die keine Grenzen kennt.« (Arbeitsgemeinschaft 1990,106) Wenig später, in die bisher verdrängte Realität versetzt, hieß es jedoch: »deutschland nach dem mauerfall / deutschland deutsche überall, deutschland deutsche - fett und feist / deutschland neuer größenwahn / deutschland ich hab Angst um dich / deutschland schweig und wahre dich.« (Arbeitsgemeinschaft 1990,154)

 

  3. Vorschlagsdemokratie und Selbstorganisation  

 

Im November kam es zu einer Inflation von Erklärungen, Vorschlägen und Initiativen, die die Suche der Gesellschaft nach einer neuen Identität ausdrückten. Später wurde diese Bewegung als »Herbstgesellschaft« bezeichnet.

 wikipedia  Wolfgang_Ullmann  1929-2004


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Die meisten Vorstöße erledigten sich durch den raschen Ablauf der Ereignisse. Fast immer wurden sie von Intellektuellen unternommen, die nicht zur Opposition gehörten oder nur an ihrem Rande standen. Sie übernahmen die Demokratisierungsforderungen, ergänzten sie eigenwillig um spezielle Reformen, suchten nach Überlebensmöglichkeiten der DDR und boten neue politische Gemeinschaftsmodelle an.

Zu den zahlreichen Initiativen gehörte die Magdeburger Freie Initiative '89 -Volksentscheid, die am 18. November mit einer Unterschriftensammlung bis Februar 1990 beginnen wollte, die das Ziel verfolgte, in der Verfassung das Prinzip der »Direkten Demokratie« durch die Einführung von Volksentscheiden zu verankern (Hartmann 1989). Aus Rostock kam am 26. November ein »Aufruf zu vereinten Bürgerinitiativen für einen neuen Sozialismus«, der aus dem humanistischen Erbe, »ob christlicher, marxistischer oder anderer Ausprägung«, neue Grundlagen für die »Gesellschaftsgestaltung« erschließen wollte, um »die Gefahr eines gesellschaftlichen Chaos« (Bachmann 1989) zu bannen. Im Dezember wurde der »Appell der 89« veröffentlicht, der eine Volksabstimmung anregte, durch die in der DDR »eine totale militärische Abrüstung« erreicht werden sollte, »damit unser Land sich aus seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Krise befreien, (...) eine Kultur entwickeln« könne, »die das Leben reicher macht ohne den nur auf Gewinnstreben ausgerichteten Gesellschaften verfallen zu müssen«. Zu den 89 Erstunterzeichnern gehörten Heinrich Fink, Johannes Schönherr, der den Aufruf mitinitiiert hatte, Stefan Heym und zahlreiche Künstler.

Ende Oktober begann der ideologische Befreiungsprozeß der Wissenschaften, und es erhob sich erster Protest gegen das »Reise-, Nomenklatur- und Nachwuchskadersystem« (Furkeet 1989) in den Wissenschaften. Rasch formierte sich eine große Zahl von Vereinigungen und Berufsvertretungen, die entweder völlige Neugründungen darstellten oder sich aus dem Organisationsgefüge der SED lösten. Am 19. November wurde z.B. in Berlin zur Gründung eines Berufsverbandes der Soziologen aufgerufen und damit eine Leipziger Initiative aufgenommen. Überall kamen nun auch Bürgerinitiativen in Gang, die oft lange unterdrückte kommunale Probleme in Angriff nahmen. So gründete sich am 13. November die Bürgerinitiative für die Bewahrung der Spandauer Vorstadt, die den großflächigen Abriß des letzten Berliner Altstadtgebietes verhindern konnte.

 

  4. Zerfall des politischen Systems der SED   

 

Nach dem Rücktritt der DDR-Regierung am 7. November und der Maueröffnung am 9. November nahm der Druck auf Krenz und die SED noch einmal kräftig zu. Der neue SED-Chef versuchte vergeblich, die gesellschaftliche Bewegung auf die Mühlen der SED umzuleiten. Die Bevölkerung war skeptisch geworden und verhinderte im Zusammenwirken mit der Opposition alles Bemühungen der SED, ihre Macht zu stabilisieren und eine neue »Offensive« zu starten. Das schon vor dem 4. November avisierte Aktionsprogramm der SED wurde auf der 10. Tagung des ZK vom 8. bis 10. November ausgearbeitet und erschien kurz nach der Maueröffnung. Doch kaum aus der Druckpresse gekommen, war es schon Makulatur. 


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Es zeigte schon in seiner Sprache lediglich eine Neuauflage der alten Parolen, die direkt nach der Ablösung Honeckers verkündet worden waren. Trotz einer Reihe von Versprechungen zur Demokratisierung begrenzten sich die großspurig als »radikale Reformen« angekündigten Veränderungen schon durch die Festlegung auf die DDR-Verfassung, die noch den Führungsanspruch der SED enthielt.

Statt Nationaler Front und Demokratischem Block sollte nun eine »Koalitionsregierung« installiert werden und »das Wirken neuer politischer Vereinigungen auf dem Boden der Verfassung« in einem gesuchten »Konsens« (ZK der SED 1989, 4) möglich sein. Selbst innerhalb der SED kam es jetzt zu einer Massenbewegung, die sich zunächst gegen Krenz und die kaum erneuerte Parteiführung richtete. Schon während der ZK-Tagung demonstrierten Tausende SED-Mitglieder am 8. und 9. November und schließlich 150 000 am 10. November. Versuche der Krenz-Regierung, die Demonstrationen zur Stärkung des Apparates umzufunktionieren, scheiterten. Die Mitglieder bzw. die Meinungsführer der Parteiopponenten wollten einen Parteitag erzwingen, der zu einer umfassenden Neuformierung und Demokratisierung der SED führen sollte. Am 13. November gab das ZK nach, doch der innerparteiliche Druck und die sich immer noch steigernde Kraft der Revolution führten schließlich zum Rücktritt der gesamten Parteiführung und des Zentralkomitees am 3. Dezember, drei Tage später trat Krenz auch als Staatsratsvorsitzender zurück.

 

Die schon im Oktober einsetzende Rücktrittswelle kam im November auf ihren Höhepunkt und wurde von der Bevölkerung sarkastisch quittiert. Allerdings zeigte sich auch, daß die Kader blieben, wenn sie nicht ins öffentliche Schußfeld geraten waren. Der dramatische Zerfall der SED-Strukturen im November mit erstmals massenweisen Parteiaustritten, Autoritätsverlusten der Parteigliederungen und ihrer Funktionäre im ganzen Land war allerdings weniger auf die rebellierende Parteibasis zurückzuführen, die zunächst nur verärgert über die Unzulänglichkeiten und mangelnden Initiativen ihrer Führung war, als auf den politischen und gesellschaftlichen Druck, der die gesamte SED in die Defensive drängte. Sowohl die Demonstranten auf den Straßen als auch die Opposition ließen sich von keinem der taktischen Züge täuschen. In immer neuen Erklärungen haben die Oppositionsgruppen gegen die Krenz-Wende Stellung bezogen und zu weiteren Demonstrationen aufgefordert, da von Reformen erst gesprochen werden könne, »wenn das Machtmonopol der SED aufgehoben« (Hilsberg 1989) worden sei. Der DA und andere Gruppen forderten im November die Enteignung der SED und der Blockparteien. Bereits am 10. November hatte Konrad Weiß gefordert, daß Krenz abgelöst und Christa Wolf Staatsratsvorsitzende werden sollte, die darauf freilich nicht einging.

 

   5. Wettlauf um die Neuorientierung   

5.1 Die SED in der Maske Staat

Mit der Öffnung der Grenzen und dem Verfall der SED-Macht war ein radikaler politischer Paradigmenwechsel eingetreten. Die Unumkehrbarkeit des Prozesses verlangte endgültig die Beantwortung der Frage, ob in der DDR eine irgendwie geartete sozialistische Gesellschaft bestehen bleiben könne oder ein radikaler Systemwechsel anstünde, der auf eine Vereinigung mit der Bundesrepublik zulaufen würde. 


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Zu diesem Zeitpunkt, im November, entwickelte die SED eine Doppelstrategie: Einerseits blieb ihr nichts anderes übrig, als sich allmählich in das entstehende demokratische Parteiensystem einzuordnen. Dabei konnte auch die geschwächte Partei auf der Grundlage vergleichsweise bester Voraussetzungen handeln, denn noch verfügte sie über ihren riesigen Apparat, ungeheuere finanzielle und technische Ressourcen und über einen großen Mitgliederbestand. 

Andererseits konnte die SED mit der Regierungsübernahme durch Modrow am 13. November weiter entscheidenden Einfluß auf die Verwaltung des Landes nehmen. Systematisch wurde der propagandistisch als »Premier« betitelte Modrow (vgl. 50) aufgebaut, der sich als Bezirks-Chef der SED in Dresden einige Sympathie erworben hatte und im Westen als Reformer angesehen wurde. Der Aufsteiger in der SED sollte als vertrauenerweckender Biedermann nun in der Maske des Staatsmannes Sicherheit und Zuversicht ausstrahlen. Die Professorin für sozialistische Außenwirtschaft Christa Luft sollte als Stellvertreterin von Modrow für die Wirtschaft zuständig sein und die ökonomischen Probleme der DDR lösen. Die Volkskammer, zuvor ein willfähriges Akklamationsorgan der SED, gebärdete sich plötzlich wie ein demokratisch gewähltes Parlament und wollte ihre mangelnde Legitimation ausgleichen, indem sie sich an die Spitze der Wende zu setzen versuchte. Sie wählte Modrow in geheimer Abstimmung, während Mielke in der Volkskammer ausgelacht wurde.

Am 1. Dezember strich sie den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung und gab detaillierte Informationen über die Korruption der früheren SED-Spitze bekannt. Allerdings wurde auch sie von der Opposition und der Straße weitergetrieben. Immer noch gingen Hunderttausende auf die Straßen. Die Opposition gab sich mit keiner der angebotenen Lösungen zufrieden. Das NF in Karl-Marx-Stadt forderte am 3. Dezember den Generalstreik. In verschiedenen Städten kam es zu Warnstreiks. Kaum zu durchschauen war, daß Modrow den Rückzug der SED so organisierte, daß deren Verantwortung kaschiert wurde. Er ging am 21. November insgeheim einen neuen Pakt mit der MfS-Nachfolgeeinrichtung, dem Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), ein und versicherte sich damit weiterhin deren konspirativer Zersetzungserfahrung gegen die Opposition. Gleichzeitig versuchte er, eine partielle Einbindung der Opposition in die Verantwortung zu organisieren und damit deren oppositionelle Energie zu kanalisieren.

Teils bewußt geplant, teils dem Instinkt ihrer machterfahrenen Kader folgend, hat die SED in einem gewissen Umfang neuen Rückhalt in der von ihr jahrzehntelang korrumpierten Gesellschaft gefunden. Schon mit dem Beginn ihres Rückzuges hatte sie die Gewaltlosigkeit der Wende beschworen und malte das Gespenst von Racheexzessen an die Wand. Dabei wurde sie von all jenen gehört und bestätigt, die ihre Anteile an der Herrschaftsausübung hatten. 

Mit allen Mitteln, die ihr noch zu Gebote standen, suchte sie die Zustimmung der Bevölkerung zu erringen. Monatelang gab sie Ergebnisse von Meinungsumfragen bekannt, die ihr durchweg günstige Daten attestierten. Am 12. Dezember verkündete etwa die Berliner Zeitung zusammen mit dem Programmvorschlag für den SED-Parteitag, daß »fast 90 Prozent der Befragten für modernen Sozialismus« votiert hätten und nur 9,8 Prozent für einen »modernen Kapitalismus« wie in der BRD. Außerdem stände in der »Sympathie-Wertigkeitsliste« der »Ministerpräsident Modrow mit Abstand an erster Stelle« (Berliner Zeitung vom 12. Dezember 1989).


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Zu den taktischen Mitteln der SED gehörte die Aktualisierung des alten Feindbildes Bundesrepublik. Diesmal setzte sie das Motiv des Sozialneides ein, um eine latente Antihaltung zu erzeugen. Die sozialen Errungenschaften gelte es zu verteidigen. Das Neue Deutschland veröffentlichte pausenlos Horrormeldungen über Arbeitslosigkeit und Not im Westen. Die SED bemühte sich mit hergeholten Argumenten, von den Ursachen der wirtschaftlichen Katastrophe abzulenken. Sie denunzierte ihren treuen Devisen-Beschaffer Schalck-Golodkowski und erfand die Legende vom bevorstehenden Ausverkauf der DDR. Außerdem instrumentalisierte sie die mentalen Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen. In großer Aufmachung wurde berichtet, daß Autos von DDR-Besuchern im Westen angezündet worden wären.

Und noch einmal bemühte sie in mißbräuchlicher Weise den antifaschistischen Konsens, um ihre schwer angeschlagene Legitimation aufzubessern. Jetzt klagte sie unaufhörlich über etwas, das es in den Vorjahren angeblich in der DDR gar nicht gegeben hatte, die neofaschistischen Tendenzen und das Auftreten von Neonazis und Republikanern bei den Demonstrationen und in der Öffentlichkeit. Die Rechtsradikalen zeigten allerdings außer ihrem verbalen Nationalismus keine Initiativen gegen die SED. Als Kehrseite dieser Strategie versuchte die SED, Ressentiments gegen Ausländer und vor allem gegen Polen (vgl. 48.1) zu schüren. Das Neue Deutschland zeigte Bilder von verhafteten Schiebern, und Polen mußten beim Einkauf ihre Ausweise zeigen.

Der formale Rückzug der SED aus der früheren Rolle im Staat ermöglichte es der Partei, den Wandel von der SED zur SED-PDS zu inszenieren. Nach dem Rücktritt der Parteispitze hatte ein Arbeitsausschuß vorläufig die Macht übernommen. Auf dem Parteitag, der ab 8. Dezember in Berlin tagte, wurde Gregor Gysi zum Vorsitzenden gewählt. Er und seine Stellvertreter, Berghofer und Modrow, sollten die Demokratisierung symbolisieren. Vom umfangreichen Vermögen der SED wollte sich die Partei allerdings nicht trennen.

 

5.2 Blockparteien

In der Novemberkrise versuchten die Blockparteien, nun rasch ein demokratisches Profil zu entwickeln. Auch bei ihnen setzte eine Flucht in den Staat ein. Gelegenheit gab ihnen Modrow, der seine Regierung als Koalitionsregierung firmierte und das Gewicht der Blockparteien stärkte. Diese befanden sich in einer ähnlichen Situation wie die SED. Viele ihrer Funktionäre waren durch Demonstrationen aus ihren Ämtern verjagt worden. So demonstrierten in Weimar die Bürger gegen den CDU-Bürgermeister Gerhard Baumgärtel, der dann kurz nach seinem Rücktritt in Berlin als Bauminister in der Modrow-Regierung reüssierte. 

Wie diese Regierung ihre Legitimation aufbessern wollte, ohne wirkliche Machtpositionen zu räumen, war auch an dem Umstand zu erkennen, daß Modrow den Konsistorialpräsidenten Stolpe als Minister für Kirchenangelegenheiten in sein Kabinett nehmen wollte, was Bischof Forck verhinderte. Mit dem Zerfall des Machtapparates der SED verloren auch die Nationale Front und der Demokratische Block ihre Funktion. Kurz vor der Installation des Runden Tisches verließen am 4. Dezember die CDU und einen Tag später die LDPD den Demokratischen Block. Am Runden Tisch wollten sich die ehemaligen Blockparteien nicht mehr auf ihre Vergangenheit festlegen lassen und sich als unabhängig darzustellen.


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In der Frage, ob das MfS vollständig aufgelöst werden sollte, blieben sie aber halbherzig. Bei den Blockparteien begann eine allmähliche Absetzbewegung von der Sozialismus-Idee, die im Dezember abgeschlossen war. Schon am 1. Dezember beantragte die CDU in der Volkskammer auch die Sozialismusformel aus dem Artikel 1 der Verfassung zu streichen. Sie kam damit allerdings nicht durch.

Die Blockparteien verfügten über große politische Apparate, die in den Wendemonaten noch mit staatlichen Mitteln finanziert wurden. Sie hatten eigene Medien, waren mit Informationen aus dem Machtapparat ausgestattet und konnten daher weit effektiver eine professionelle Politik betreiben, als es den oppositionellen Organisationen möglich war. Bei der Lösung von der SED wurden auch Orientierungen wirksam, die in der Mitgliedschaft der Blockparteien trotz aller Gleichschaltung noch vorhanden war. Davon konnten aber nur die CDU und die LDPD profitieren, da die DBD und die NDPD wesentlich stärker SED-abhängig waren. Die zögerliche Wende der Blockparteien, die sich zunächst nur von wenigen belasteten Funktionären trennten, wurde auch von Schwächen der Opposition begünstigt. Ab November traten auch neue Mitglieder den früheren Blockparteien, vor allem der CDU, bei. Mit der zunehmenden Orientierung an der West-CDU schlössen sich auch Oppositionelle, vor allem aus dem NF, dieser Partei an.

 

5.3 Die Krise der Opposition in der zweiten Formierungsphase

5.3.1  Vertrauensschwund  

Die im November absehbare Unumkehrbarkeit der Demokratisierung und die Schwächung der SED war ein Höhepunkt der revolutionären Entwicklung und in gewisser Weise auch ein Triumph der oppositionellen Politik. Fast alle ihrer jahrelang vorgetragenen Forderungen waren erfüllt oder konnten nun schrittweise durchgesetzt werden, sie waren von nahezu allen gewendeten politischen Parteien übernommen worden. Die einzelnen oppositionellen Gruppen und Parteien konnten ihre Strukturen im November noch ausbauen und festigen. Da sie nun überall im ganzen Lande offiziell in Erscheinung treten mußten und in zahlreiche Aktivitäten einbezogen waren, konnten sie diesen Anforderungen nur schwer gerecht werden. 

Zudem löste sowohl die Öffnung der Grenzen als auch die prinzipiell eingeleitete Demokratisierung eine schwere Orientierungskrise in allen Oppositionsgruppen aus. Vor allem mußten Strategien und Positionen gefunden werden, um auf die Herausforderung der Modrow-Regierung und die Besetzung des Staates durch die alten politischen Kräfte reagieren zu können. Bisher konnten die bewährten Konzepte der Opposition gegen den totalen SED-Staat greifen. Nun mußten rasch politische Antworten auf eine bisher noch nicht dagewesene, offene Situation gefunden werden. Die Opposition stand daher ähnlich wie die SED und die Blockparteien vor einer Neuorientierung und mußte diese unter ungleich schwierigeren finanziellen und technisch-organisatorischen Bedingungen bewerkstelligen.

Der Verlust des traditionellen Gegners bzw. dessen Entgleiten hinter einer demokratischen Fassade führte dazu, daß Oppositionelle im Herbst immer wieder versuchten, die SED und die Blockparteien auf ihre vormaligen Positionen festzulegen.


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So ergaben sich Schwierigkeiten aus den selbst geschaffenen politischen Fakten. Die vielfältigen politischen Ansätze und Orientierungen in der Opposition (vgl. 93), die jahrelang nebeneinander gestanden hatten und durch die gemeinsame Gegnerschaft zur SED zusammengehalten worden waren, konnten nur bedingt nutzbar gemacht werden, da sie alle in einer anderen politischen Situation entstanden und formuliert worden waren. Jetzt führte dies zu neuerlichen Differenzierungskämpfen.

Sehr früh war das NF von dieser Krise betroffen. Tschiche gestand am 15. November angesichts der Ratlosigkeit über Ziele und Strukturbildung des NF ein: »Im Moment herrscht Spannung, was wir tätsächlich wollen.« (Tschiche 1989) Doch den anderen Gruppen ging es nicht viel besser, und schnell vermittelte sich in der Öffentlichkeit der Eindruck einer zerfahrenen und unsicheren Opposition. Diese Einschätzung wurde dadurch verstärkt, daß die ehemaligen Außenseiter in einer korrumpierten Gesellschaft ihr subversives Image in der Zeit nach der Wende teilweise nicht loswerden konnten.

Unaufhaltsam schwand mit den Differenzierungskämpfen im November das Vertrauen der Bevölkerung in die Opposition. Auf den Straßen wurde die Zustimmung zur Opposition immer weniger skandiert. Dies war nicht nur für die Oppositionsbewegungen schmerzlich, sondern wurde von der politisierten Bevölkerung selbst als tragisch empfunden. Mit sicherem Gespür nahm sie wahr, daß die Opposition die gewonnene und noch instabile Freiheit nicht pragmatisch ausfüllte. In öffentlichen Versammlungen schlug sich diese Enttäuschung nieder. In vielen Orten traten Handwerker, kleine Geschäftsleute, Arbeiter und Vertreter der technischen Intelligenz den Oppositionsgruppen entgegen und forderten sie, häufig vergeblich, auf, ihre Interessen wahrzunehmen.

Schon am 20. November schrieb eine Bürgerversammlung in Hennigsdorf bei Berlin, die dort seit Oktober regelmäßig zusammenkam, einen »Aufruf an die Vorstände der neuen demokratischen Parteien und Bewegungen«, um sie zu bitten, »sich nicht in endlosen Debatten über einzelne intellektuelle Spielarten zu verlieren, die Demokratie damit zu zerreden, zu zersplittern und letztlich zu töten.« Der immer noch herrschenden Macht müsse ein »gleichwertiger Partner, (...) eine zielbewußte demokratische Opposition« entgegentreten. Die Hennigsdorfer schrieben: »Wir haben auf diese Opposition gehofft und vertraut. Nun aber beginnt unsere Hoffnung zu schwanken und unser Vertrauen zu sinken, weil wir sehen müssen, daß die demokratischen Gruppierungen offenbar nicht in der Lage sind, eine gemeinsame Basis und einen gemeinsamen, gangbaren Weg aus dem herrschenden Chaos zu finden.« 

Die Opposition wurde aufgerufen: »Wen sollen wir wählen, wenn ihr unser Vertrauen nicht rechtfertigt? Eine der Blockparteien, deren Parteiapparat in 40jähriger sklavischer Hörigkeit erstarrt war - und vielleicht immer noch ist? (...) ordnet Profilierungssucht und ideologische Richtungskämpfe diesen gemeinsamen Zielen unter, gebt uns, den Bürgern dieses Landes, die dringend notwendige Perspektive mit einem klaren und umsetzbaren Programm. Riskiert nicht den Untergang der Demokratiebewegung«. (Bürgerversammlung 1989)

So deutete sich schon früh an, daß die späteren Erfolge der Blockparteien nicht deren Attraktivität selbst zu verdanken waren, sondern aus der Schwäche der Opposition resultierten.


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5.3.2 Antifaschismus und Links-Rechts-Schema

Der von der SED im Herbst angebotene Antifaschismuskonsens blieb eine ernstzunehmende moralische Falle. Die abtretende Partei versuchte damit, eine gemeinsame Identität unter ihrer Definitionshegemonie zu formulieren. Aber Bevölkerung und Opposition fanden darauf eine eigene Antwort. Bei Demonstrationen auftretende Rechtsradikale wurden zumeist isoliert, und ihre Provokationen fanden keine Akzeptanz. Vielerorts wurde vermutet, daß sich unter ihnen von der SED gelenkte Provokateure befänden. Tatsächlich gab es auch Rechtsradikale, die in der Orientierungslosigkeit sozialistisch Erzogener nun eine neue Gegenidentifikation suchten. Von Oktober bis in den Dezember hinein bombardierten die SED-Medien die DDR-Bevölkerung mit Nachrichten über das Erstarken des Neonazismus im Westen und über den vorbildlichen Antifaschismus in der DDR.

Die oppositionellen Gruppen unterliefen wie schon in früheren Jahren den SED-Antifaschismus, indem sie in zahlreichen Stellungnahmen ihren antifaschistischen und antinationalistischen Ansatz betonten. Außerdem entwickelte sich die jugendliche oppositionelle Antifa-Bewegung (vgl. 96.4.1) der Vorjahre rasch und trat im Herbst bei zahlreichen Aktivitäten hervor. Am 9. November veranstaltete das NF in Leipzig einen Schweigemarsch zum Gedenkstein der Reichspogromnacht. Hier und in vielen anderen Städten fanden aus dem gleichen Anlaß Gottesdienste statt.

Vom Spätherbst bis Anfang 1990 gab es in zahlreichen Orten, etwa in Frankfurt an der Oder, Schwerin und Weimar, Demonstrationen gegen den Rechtsradikalismus. Demonstranten wendeten sich zugleich gegen die Nutzung dieser Erscheinungen durch die SED-PDS und wehrten sich dagegen, daß ihr Verlangen nach der deutschen Einheit mit Rechtsradikalismus gleichgesetzt wurde. Ein letzter großer Versuch der SED-PDS, die antifaschistische Front zusammenzuschmieden und dabei auch noch das MfS/AfNS zu retten, fand nach nationalistischen und antisowjetischen Beschmierungen des Treptower Ehrenmals für die gefallenen sowjetischen Soldaten am 28. Dezember 1989 statt. 

Die SED-PDS trommelte am 3. Januar 1990 eine große Demonstration zusammen, um die behauptete faschistische Gefahr zu bannen. Dabei wurde auch wieder gefordert, einen staatlichen Sicherheitsdienst zu erhalten. Die Täter blieben im Dunkeln. Als während des »Donnerstagsgespräches«, der ersten Live-Talkrunde im DDR-Fernsehen, erstmals Oppositionelle auftraten, versuchten die Moderatoren ebenfalls, die Anwesenden auf den Antifaschismus der SED-PDS festzulegen, worauf Joachim Gauck vom NF erklärte, daß die DDR-Bevölkerung das MfS/AfN mehr fürchte als die wenigen Rechtsradikalen.

Auch das Gegenstück zum SED-Antifaschismus, der mobilisierte Chauvinismus, fand heftigen Widerspruch in der Bevölkerung, in den Kirchen und der Opposition. Das NF gab am 30. November einen Aufruf gegen diese Ablenkungsmanöver heraus: »Mit großer Besorgnis verfolgen wir die Kampagne gegen die Ausländer in der DDR. (...) Laßt Euch nicht für dumm verkaufen! (...) Wer versucht, durch Hetzkampagnen Schuld von sich auf Ausländer zu schieben? Wer versucht uns vom politischen Kampf abzulenken?« (Udelew 1989)

Wesentlich schwieriger war es für große Teile der Opposition, sich gegen das moral- und wertbesetzte Links-Rechts-Schema zu wehren, denn die SED-PDS versuchte sofort, sich als authentische Linke auszugeben und Ideen und Programme, die nichtsozialistische Wirtschaftsweisen oder die Einheit Deutschlands protegierten, als rechts zu definieren.


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Diese Strategie war nicht ganz erfolglos. Gerade im kirchlichen Bereich wirkte sich erneut das Schuldtrauma aus, und »rechts« geriet bisweilen auch in der Opposition als anrüchig in Verdacht. Als es auf dem Parteitag des DA am 16. und 17. Dezember zu schweren Auseinandersetzungen um die Einheitsfrage kam, wollten selbst einige erfahrene Oppositionelle eine »faschistische Unterwanderung« ausmachen. Um den ideologischen Kämpfen im DA entgegenzuwirken, formulierten Anfang Januar 1990 Nooke und Richter im Vorstand des DA: »Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links! Wir sind rational!« (DA 1990) Gauck formulierte angesichts der Flügelkämpfe im NF: »Wir sind nicht links, nicht rechts. Wir sind geradeaus!«

 

5.3.3  Gesellschaftskonzeption als Politikersatz

Ein wesentlicher Faktor bei der Formierung der Opposition und ein wichtiger Grund für die anfängliche Zustimmung der Bevölkerung war ihre politisch-programmatische Alternative zur SED-Diktatur gewesen. Mit der anlaufenden Demokratisierung und der Grenzöffnung entstand ein enormer Orientierungsbedarf, der eine intensive programmatische Arbeit auslöste. Bis Ende Oktober mußte ein Gegengewicht zum totalitären SED-Sozialismus geschaffen werden. Dafür war es auch nötig, alternative Gesellschaftskonzeptionen zu entwickeln. Der DA hatte noch Ende Oktober erklärt: »Wir beteiligen uns am Streit um die Konzeption des Sozialismus. (...) Unser Ziel ist der demokratische Aufbruch in eine leistungsfähige Industriegesellschaft mit ökologischer und sozialer Grundrichtung« (DA 1989). Aus diesen Grundsatzerklärungen waren aber kaum Entscheidungen für die Tagespolitik abzuleiten. Die geistigpolitische Mitgift langjähriger Oppositionsarbeit erreichte deswegen kaum noch den aktuellen Kontext, wenn es über die reine Auseinandersetzung um Machtfragen hinausging.

Zwischen der Emanzipation von der SED-Diktatur und der Transformation von traditionellen Inhalten oppositioneller Politik ergab sich eine Lücke. Die Opposition verstrickte sich in interne Orientierungskämpfe um globale gesellschaftliche Konzeptionen. Trotz gegenteiliger Erklärungen und früherer Ansätze wurde eine mangelnde Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft sichtbar. Unklar blieb, was der Sozialismusbegriff bedeuten sollte, da sich die Sozialismusvorstellungen der Opposition, abgesehen von einem harten Kern von Utopisten, faktisch auf Fragen sozialer Sicherheit und einer ökologischen Orientierung mit asketischer Grundhaltung reduzierten. Obwohl dieser Sozialismusbegriff ausdrücklich von einer radikalen Kritik der SED-Herrschaft ausging und alle oppositionellen Konzeptionen gegen die SED gerichtet waren, blieb dieser sozialethische Ansatz in der Bevölkerung politisch kaum vermittelbar. Während Teile der Opposition gegen die sozialistischen Illusionen der SED noch mit idealistischen Utopien kämpften, wollte die Bevölkerung Antworten auf die politischen Tagesfragen. Sozialethische und moralische Konzepte von Oppositionellen wurden kaum politisch konkretisiert. Die pragmatischeren Programme der SDP und des DA vom 16. Dezember führten in der Opposition häufig zu schweren Auseinandersetzungen um die Grundwerte der politischen Orientierung.


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Zu den typischen Versuchen, eine Konzeption zu entwickeln, gehörte das Papier »Zukunft durch Selbstorganisation« einer unabhängigen Forschungsgruppe, das Anfang November entworfen und Mitte November verändert in Umlauf gesetzt wurde. An der Ausarbeitung waren Gerhart Gebhardt und Matthias Artzt von Dj beteiligt. Es verstand sich als »Modell einer neuen Gesellschaftsstruktur der DDR« und fußte auf der physikalischen Selbstorganisationstheorie, die auf soziale und politische Prozesse angewendet wurde. Diese originelle und die meisten Leser damals intellektuell überfordernde Studie wollte die »Erneuerung der DDR« als einen Entwicklungsprozeß »aus der Erstarrung verwalteter Objekte im Subjektmonopolismus zur Selbstorganisation in Subjektpluralität« aufzeigen. Sie enthielt eine radikale Kritik der sozialistischen Organisationsgesellschaft, die das Individuum in eine »Objektrolle« zwinge, so daß es die eigenen Interessen nicht wahrnehmen könne. Demgegenüber bestände nun die Notwendigkeit, bei autonomer Wahrung eigener Interessen eine »Integration der DDR in das Globalsystem einer entstehenden Weltgesellschaft« zu ermöglichen und dabei im Inneren die »Autonomie an die pluralen Handlungssubjekte« weiterzugeben. Dies sei durch eine Symbiose möglich: »Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist die singulare welthistorische Leistung des Sozialismus und sollte auf eine höhere evolutionäre Integrationsebene unter neuen Modalitäten (...) übernommen werden, aber dort verknüpft werden mit der ebenso singulären Leistung des Kapitalismus, die Produktivkraftentwicklung maximiert und die wissenschaftlich-technische Revolution entfesselt zu haben«. Eliminiert werden sollten dabei die »Negativmomente beider Varianten«, die in »Subjektmonopolisierung« einerseits und »Monopolisierung des Kapitalbesitzes« andererseits bestünden. »Die neue sozialistische Gesellschaft würde sich (...) einer postindustriellen, kapitalistischen Ökonomie ohne Eingriffsanmaßung in deren rational sich selbst bestimmenden Teilprozesse bedienen: Ein kapitalistischer >Motor< in einem sozialistischen Fahrzeug.« Die freigesetzte und sich selbstorganisierende Ökonomie stände aber einer von dieser »entkoppelten (...) gesellschaftlichen und politischen Struktur« gegenüber, einer »Solidargemeinschaft«, die »autonom über Gewinnverwendung« entscheiden würde. Zur Sicherung dieser Aufgaben müsse bei allem »Wertepluralismus« ein »Wertekodex« wirken, der Individualrechten und »ökologischen Existenz- und Zukunftsvoraussetzungen« gerecht würde. Eine Wiridentität müsse unter diesen Voraussetzungen auf einem hohen Integrationsniveau aufbauen. Konsensfindung würde durch vielfältige »demokratische Gesellschaftsstrukturen« (Gebhardt 1989) erfolgen.

Die Studie spiegelte den breiten, wenn auch nicht vollständigen Konsens in der Opposition zum Erhalt einer selbständigen DDR wider, wobei die Zukunftsfähigkeit des Landes unter bestimmten Bedingungen postuliert wurde. Daß die Autoren dieses Konzept, das trotz einiger Inkonsequenzen und der umständlichen Begründung anderswo als soziale Marktwirtschaft bezeichnet wurde, ein sozialistisches Modell nannten, lag vor allem in der Motivation begründet, den Befreiungsprozeß der DDR-Gesellschaft politisch weiterzuentwickeln. Wie ernst es den Autoren mit der Freisetzung von Ökonomie und Individualität war, ließ sich auch an ihrer Polemik gegen den sowjetischen Perestroika-Sozialismus ablesen.


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Die Versuche in der Opposition, noch im November politische und ökonomische Überlebenskonzepte für die DDR zu entwickeln, unterschieden sich diametral von der Politik der SED und der SED-Reformer, die ihre Macht mit Hilfe westlichen Kapitals zu stabilisieren suchten. Artzt von Dj verbreitete im November als weiteres Diskussionspapier in der Opposition »Sofortmaßnahmen, um die letzte Chance zu erhalten, die die DDR-Gesellschaft hat, einen Weg zum demokratischen Sozialismus zu gehen.« Er schrieb: »Nur jetzt, d. h., für ein paar Wochen, ist die einmalige Chance gegeben, über verschiedene Wege in die Zukunft entscheiden zu können.« In der gegenwärtigen »Instabilität« würden »Strukturkeime« entstehen, die verstärkt werden könnten. Wenn jener, der die »Subjekthaftigkeit« der DDR ausmacht, gestärkt werden solle, müßten nach »Einberufung des Runden Tisches« unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden. »Die alte - neue Führung« sollte ihren »totalen Bankrott zugeben und jeden Störversuch aufgeben, der eine wirkliche und grundlegende Neustrukturierung der DDR-Gesellschaft in allen Bereichen hindert«. Deshalb sei »die unverschleierte Valutaverschuldung sofort bekannt zu geben«. Dem westlichen Kapital sei »klar zu machen, daß ein Verkauf von Grund und Boden bzw. eine Reprivatisierung gesellschaftlichen Eigentums ausgeschlossen bleibt und die DDR nicht als Konkursmasse zur Disposition steht«. DDR-Bürger sollten sofort »ohne besondere Genehmigungsverfahren (...) Kleinbetriebe« gründen können. Die Subventionen sollten sofort an die »Bedürftigen und nicht an die Produzenten« gezahlt werden. Das Ganze sollte durch »Finanzprogramme der Bundesregierung und nicht durch das nach Gewinnmaximierung trachtende Privatkapital« (Artzt 1989) ermöglicht werden.

Diese und ähnliche Vorschläge erlangten angesichts der wirklichen Verhältnisse keine Bedeutung, zumal in der Öffentlichkeit nicht verstanden wurde, daß es der Opposition um eine politische Gestaltung des inneren Demokratisierungsprozesses und des Verhältnisses beider deutschen Staaten ging, in der nicht mehr die SED, sondern die demokratischen Kräfte die handelnden Subjekte sein sollten. Übersehen wurde, daß es in der Opposition stets die weitestgehenden deutschlandpolitischen Vorstellungen (vgl. 72.2.5,86.5) gab, während die etablierte westdeutsche Politik erst nach dem Mauerfall den Konföderationsgedanken aufnahm und zunächst ebenfalls noch an der Selbstständigkeit der DDR festhielt.

Die Lebensfähigkeit einer demokratisierten DDR wurde im Herbst 1989 nicht nur von der Opposition, sondern auch von allen anderen politisch Handelnden überschätzt. Für Außenstehende überhaupt nicht zu vermitteln waren die tiefen emotionalen Erfahrungen unzähliger Menschen, die an der Befreiungsbewegung beteiligt waren. Entgegen allen Prognosen und politischen Einschätzungen, entgegen allem, was die Verwalter von Einfluß und Macht in Ost und West ins Kalkül genommen hatten, war die Diktatur der SED ins Wanken geraten. Eine Utopie hatte sich realisiert. Dies hinterließ bei vielen, vornehmlich bei den Akteuren der Opposition, tiefste Spuren. Die ignorierte und verfolgte Minderheit hatte einen politischen Prozeß eingeleitet, der für die DDR-Gesellschaft eine radikal veränderte Zukunft ermöglichte. Diese Zukunft konnte in der Vorstellung der Akteure zunächst nur in der Logik des Prozesses selbst gedacht werden. Aus der Euphorie der Befreiung und dem gewonnenen Selbstvertrauen wuchsen die Vorstellungen und Ziele der sich verselbständigenden Revolution. Bischof Leich bezeichnete diesen Vorgang unmittelbar nach der Maueröffnung als eine sich abzeichnende »neue Identität aus erlebter Volksbewegung« (Besier 1995 b, 455).


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5.3.4 Differenzierungskämpfe um die deutsche Frage

Die tiefe Krise des politischen Systems der SED forderte seit Mitte November eine Grundsatzentscheidung in der deutschen Frage heraus. Als Bundeskanzler Kohl am 28. November im Bundestag einen »Zehn-Punkte-Plan« zur Entwicklung der Beziehungen beider Staaten vorlegte, die in einen Bundestaat münden sollte, erhielt die Einheitsfrage politische Kontur. Daß Krenz diese Vorschläge ablehnte, verwunderte nicht, nun aber meldeten sich auch Kritiker der SED wie Stefan Heym und Kirchenleute wie Günter Krusche zu Wort und sprachen sich für den Erhalt einer sozialistischen DDR aus. 

In der Opposition entzündete sich sofort eine harte Auseinandersetzung. Sie hatte in unzähligen Papieren ihre traditionellen Antworten gegeben, trat für unbeschränkte Reisefreiheit ein, strebte eine Konföderation oder Föderation der deutschen Staaten an und wollte die Einheit mit der Blockfreiheit Deutschlands verbinden. Überwiegend waren die Oppositionellen auf eine künftige Einheit Deutschlands festgelegt. Dabei sollte der Vereinigungsprozeß politisch im europäischen Zusammenhang gestaltet werden. Voraussetzung für diesen Prozeß sollte eine demokratisierte DDR sein. Abgesehen von einzelnen Stimmen und kleineren Gruppen in der Opposition, die sich grundsätzlich gegen eine Vereinigung aussprachen, sahen große Teile der SDP, des DA, von Dj und auch des NF und der GP die Erhaltung der DDR unter diesen Gesichtspunkten. Typisch dafür war die »Erklärung der SDP zur deutschen Frage«, die am 3. Dezember vom Vorstand der SDP herausgegeben wurde: »Die Sozialdemokraten in der DDR bekennen sich zur Einheit der Deutschen Nation.« Nachfolgend wurde aber eine »Wiedervereinigung im Sinne eines Anschlusses an die BRD« aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gründen abgelehnt. Eine »Konföderation« solle gebildet werden, wobei die schnelle »Einsetzung einer demokratisch gewählten Regierung« den Vorrang haben müsse, um »unsere Interessen (...) kraftvoll vertreten« zu können (Vorstand SDP 1989).

Wie innerhalb der Oppositionsgruppen - das NF war besonders betroffen - um diese Frage gestritten wurde, zeigte sich, als am 2. Dezember die Programmkommission des DA in Berlin tagte und dabei die Initiative Kohls ansprach. Die Kommission erklärte: »Was in eine ferne Zukunft gerückt schien, ist auf die Tagesordnung gesetzt: Die Einigung der Deutschen Nation.« Der DA sah im Kohl-Plan »einen beachtlichen Beitrag zur Verwirklichung auch seiner deutschlandpolitischen Vorstellungen. Wir gehen von einer einheitlichen deutschen Nation aus. Für uns ist die Zweistaatlichkeit historisch bedingt und kann deshalb nicht von Dauer sein.« Es gälte, »sofort Formen und Wege einer gesamtnationalen Verständigung zu finden« und eine »Deutsche Nationalversammlung« müsse einberufen werden (Programmkommission 1989). Diese Erklärung, die den Eindruck einer Willenskundgebung des gesamten DA machte, wurde im DA und anderen Oppositionsgruppen sofort heftig kritisiert. Der Kreisverband Berlin-Friedrichshain des DA protestierte am 5. Dezember energisch gegen die Aussagen der Programmkommission, da sie die »Positionen der vorläufigen Grundsatzerklärung verlassen« (Brenning 1989) würden. So kam es schließlich im DA besonders in der deutschen Frage zu einer Zerreißprobe, und auf dem Leipziger Parteitag am 16. und 17. Dezember wurde unter tumultuarischen Umständen ein mühseliger Kompromiß ausgehandelt.


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Am 14. Dezember legte Dj »Deutschlandpolitische Thesen« vor, die einen »Dreistufenplan der nationalen Einigung« enthielten. Auch dieser Plan erinnerte an die deutsche Schuld, sah die Grenzen von 1945 als unantastbar an und wollte die »neue politische Einheit« in einem Reformprozeß verwirklichen. Dabei sollte erstens der Demokratisierungsprozeß in der DDR mit sozialen und gesellschaftspolitischen Reformen im Westen verbunden sein und politisch zur Bildung einer »Deutschen Nationalversammlung« führen. Zweitens sollte ein »Nationalvertrag« zwischen beiden Staaten abgeschlossen werden, der einen »Staatenbund« mit ersten Schritten einer »wirtschafts-, Steuer- und finanzpolitischen Einheit« ermöglichen würde. Drittens solle im Rahmen einer Entmilitarisierung, des Rückzuges der Alliierten ein »Bund Deutscher Länder« gegründet werden, der sich einer »solidarischen Weltwirtschaftsordnung« verpflichtet fühle (Initiativkreis DJ 1989). Die Demonstranten auf den Straßen, die immer entschlossener die Einheit forderten, sahen in den differenzierten Haltungen der Opposition eher eine Verschleppungstaktik als einen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung der Einheit.

 

5.3.5 Selbstrettungsversuche

Als sich abzeichnete, daß die DDR nicht mehr lange bestehen würde, gab es eine Reihe von Versuchen, dem politischen Trend entgegenzuwirken. Die Rettungsversuche für die DDR kulminierten in dem Appell »Für unser Land«, der am 29. November im Neuen Deutschland abgedruckt wurde und in dem es hieß: 

»Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.«

Mit der Veröffentlichung des Appells wurde eine große Unterschriftensammlung organisiert. Zunächst hatten prominente Schriftsteller, wie Christa Wolf und Stefan Heym, Kirchenleute wie Bischof Demke und einige Oppositionelle, wie Friedrich Schorlemmer und Ulrike Poppe, diesen Appell unterschrieben. Später folgte auch die SED-Spitze, voran Egon Krenz. Der Appell erneuerte noch einmal die Gründungslegende der DDR und berührte das Trauma der unaufgearbeiteten deutschen Schuld, an dem Intellektuelle und Künstler, die Kirche und Teile der Opposition litten. 

Damit war der metaphysische Schirm über der ostdeutschen Gesellschaft noch einmal aufgespannt. Während Teile der geistigen Elite sich wieder unter diesen Schirm begaben, setzte die Opposition den Kampf um die Entmachtung der SED fort. Sie geriet aber in einen geistigen Zwiespalt zwischen ihrer absoluten SED-Ferne einerseits und der Vision von einer erneuerten DDR andererseits, die sich von der SED befreit hat. Der Appell führte umgehend zu einer Polarisierung der politischen Kräfte, auch in der Opposition. Es wurde in kurzer Zeit deutlich, daß es drei Unterstützergruppen gab.


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Einige Oppositionelle hatten sich nicht rechtzeitig von ihren früheren Konzepten, die auf einen demokratischen Sozialismus gezielt hatten, getrennt, so daß sie blind für die Inhalte des Appells gewesen sind. Manche haben später eingeräumt, dies nicht überblickt zu haben. Schorlemmer erklärte, er hätte einem anderen als dem abgedruckten Text zugestimmt, ohne seine Unterschrift aber öffentlich zurückzuziehen. Die zweite Gruppe wurde von kritischen Künstlern angeführt. Sie waren in den alten Sprachmustern befangen und immer noch von der Faszination der »revolutionären Erneuerung« beseelt und meinten, aus der Entstalinisierung des Sozialismus eine dauerhafte Position entwickeln zu können. Die dritte Gruppe zählte zu den Anhängern der SED und ihrer neuen Führung, sie instrumentalisierte den Appell, um ihre eigene Macht zu stabilisieren.

Diese Strategie wurde in der Öffentlichkeit rasch erkannt. Keine der Oppositionsbewegungen hat insgesamt den Appell unterstützt, der nicht einmal ihre Position vom September widerspiegelte. Es kam vielmehr zu harten Gegenäußerungen. Auch nahmen zahlreiche unabhängige Personen des öffentlichen Lebens Stellung, die sich bezeichnenderweise bisher nicht in der Opposition engagiert hatten. Der Theologieprofessor Wolf Krötke polemisierte gegen die Verdächtigungen gegenüber den »einflußreichen Kreisen« im Westen, die den »Ausverkauf« organisieren wollten: 

»Hat denn niemand bemerkt, daß das genau die alten stalinistischen Propagandatöne sind? (...) Erinnert sich denn niemand mehr daran, daß einmal ein ganzes Volk unter den Verdacht gestellt wurde, mit seinem Geld die Deutschen auszukaufen, ja auszusaugen? (...) Es darf darum nicht verschleiert werden, daß die sozialistische Alternative< erst auf dem Grunde riesiger Anleihen bei den geistigen Werten rechtsstaatlicher Demokratien, zu denen auch die Bundesrepublik gehört, eine Art Glaubwürdigkeit bekommt (um von den riesigen Anleihen materieller Art zu schweigen). Mit dem Geist der Abgrenzung und des Angstmachens muß es ein Ende haben.« (Krötke 1989) 

Der katholische Theologe und zeitweilig bei Dj engagierte Heinz-Josef Durstewitz schrieb: »Was wir brauchen, ist nicht Moralität auf dem Kontrast von Worthülsen und alten Feinbildern.« Zur Entwicklung des Landes bedürfe es »unbedingt der Hilfe von außen, auch der Bundesrepublik Deutschland«, die nicht schon wieder »verteufelt«(Durstewitz 1989) werden dürfe.

Der Appell ging schließlich trotz einiger hunderttausend Unterschriften unter, da das Volk ihn ignorierte und sich die Opposition mehrheitlich von ihm distanzierte, nachdem deutlich geworden war, in welchem Maße er als Hebel der Instrumentalisierung genutzt werden sollte. Noch während der Appell propagiert wurde, forderten die Menschen auf der Straße die Einheit Deutschlands.

 

  6. Der Runde Tisch   

 

Alle Planungen für einen geregelten Dialog mit der SED, einschließlich der Überlegungen aus der Vorwendezeit (vgl. 84.3), zielten auf die Machtbegrenzung der Partei. Als die SED mit ihrer Dialogpolitik im Oktober 1989 versuchte, die Lage wieder zu beruhigen, mußte die Opposition ein Verfahren suchen, das nicht nur die bisherige Gewaltfreiheit sicherstellte, sondern auch eine höchstmögliche Verbindlichkeit und die Unumkehrbarkeit im Demokratisierungsprozeß garantierte.


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In Berlin hatten die Oppositionellen im Oktober einen Dialog zu Bedingungen der SED entschieden verweigert (vgl. 104.5). Nun kam es darauf an, die Bedingungen der Demokratisierung selbst zu formulieren und durchzusetzen. Die Idee eines Runden Tisches als Vermittlungsinstanz drängte sich auf und wurde intern verschiedentlich erörtert. Die größte öffentliche Resonanz hatte Dj, als die Initiatoren am 27. Oktober in der Gethsemanekirche während eines Forums die Forderung nach einer Volksabstimmung über die führende Rolle der SED erhoben und einen Runden Tisch anmahnten. Auf Grund einer Vereinbarung zwischen Ullmann und Neubert kam es am 30. Oktober zu einem Treffen der Kontaktgruppe mit Vertretern aller Gruppierungen, um dieses Thema zu erörtern. 

Aus der SDP und dem DA wurde seit Anfang November immer energischer die Einberufung des Runden Tisches öffentlich gefordert. Das Treffen der Kontaktgruppe am 3. November befaßte sich nur mit der geplanten Großdemonstration am folgenden Tag und führte zur Verständigung, daß die Führungsrolle der SED beseitigt werden müsse. Am 10. November kam es nach vielen Einzelgesprächen zu einem weiteren Treffen der Kontaktgruppe. Im Anschluß gaben Gerhard Bächer (GP Grüne Partei), Martin Gutzeit und Stephan Hilsberg (SDP), Heinz Küchler (Dj), Klaus Ihlau (VL) und Ehrhart Neubert (DA) eine »Gemeinsame Erklärung« heraus, in der es hieß: »Angesichts der krisenhaften Situation in unserem Land, die mit den bisherigen Macht- und Verantwortungsstrukturen nicht mehr bewältigt werden kann, fordern wir, daß sich Vertreter der Bevölkerung der DDR zu Verhandlungen am Runden Tisch zusammensetzen, um Voraussetzungen für eine Verfassungsreform und für freie Wahlen zu schaffen« (Bächer 1989). Beteiligt sollten vor allem die Gruppen werden, aber auch die Kirche, die Initiativen in einigen Großbetrieben und Künstler, die sich seit September für die Wende eingesetzt hatten. Das NF hatte an diesem Treffen nicht teilgenommen. In der Initiativgruppe NF hatte u. a. Henrich darauf bestanden, die Führungsrolle der SED nicht in Frage zu stellen, weil die Opposition das Machtvakuum nicht ausfüllen könne - eine Einschätzung, die die Strategie der Kontaktgruppe kurzfristig in Frage stellte.

Am 17. November traf sich die Gruppe zur Vorbereitung des Runden Tisches (RT) in der Wohnung Hilsbergs mit Ullmann, Küchler, Singelstein, Fischer, Gutzeit, Neubert und anderen. Dabei wurde vereinbart, daß außer den oppositionellen Organisationen doch nur die in der Volkskammer vertretenen Parteien teilnehmen sollten. Als Tagungsort wurde das Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin vorgeschlagen. Dies erschien für das Verfahren besonders wichtig, um die zahlreichen SED-abhängigen Massenorganisatonen auszuschließen. Noch am selben Tag sprach Ullmann auch mit Bischof Forck über die moderierende Beteiligung der Kirchen. Offenbar wurden die Absprachen der Kontaktgruppe von Zuträgern bereits an die SED weitergeleitet. So überraschte das Neue Deutschland am 21. November die Leser mit der Behauptung, daß die SED den Runden Tisch angeregt hätte, um so eine Eigeninitiative der Partei vorzutäuschen. Am gleichen Tag wurde aber durch die Kirchen bekanntgemacht, daß sie den Vorschlag der Kontaktgruppe aufgegriffen hätten. Am 24. November wurden die Kirchen von der Kontaktgruppe offiziell gebeten, die Einladung zum RT auszusprechen, nachdem es nochmals Gespräche zwischen Kirchenvertretern der Berlin-Brandenburgischen Kirche und der Opposition in den Räumen der Sophiengemeinde gegeben hatte. 


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Zum 7. Dezember lud das Sekretariat des BEK in Abstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und dem Sekretariat der Berüner Bischofskonferenz zum ersten RT-Gespräch in das Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin ein. Auf der letzten Sitzung des zerfallenden Blocks am 28. November nahmen auch die Altparteien das Angebot an. Allerdings versuchten sie die paritätische Zusammensetzung des RT durch eine zusätzliche Beteiligung von Massenorganisationen zu verändern - eine Strategie, die später teilweise erfolgreich war.

Während der Vorbereitungsphase gab es zwischen den Oppositionsgruppen zahlreiche weitere Zusammenkünfte und Absprachen. Am 15. November organisierte das Aspen-Institut eine Gesprächsrunde in Ostberlin, die den Gruppen eine Möglichkeit bot, strategische Überlegungen abzustimmen. Zu dieser Zeit war die Auffassung verbreitet, daß die Opposition im Sinne ihrer Erklärung vom 4. Oktober auf Dauer gemeinsam handeln müsse. Auf Einladung von Gerd Poppe fand am 23. November in seiner Wohnung ein erstes Gespräch über ein mögliches gemeinsames Wahlprogramm statt. Gemeinsames Handeln schien notwendig, weil die personell schwachen Gruppen nur durch enge Zusammenarbeit den angestrebten Einfluß auf den Demokratisierungsprozeß im Lande nehmen konnten. Der eigentliche politische Zusammenhalt basierte aber auf dem Willen aller Oppositionellen, die Bedingungen für einen Dialog mit den Machthabern selbst zu bestimmen. Als der RT auf der ersten Sitzung am 7. Dezember sein »Selbstverständnis« formulierte, wurde die veränderte Situation seit den ersten Planungen Ende Oktober deutlich.

Inzwischen waren die SED-Strukturen weithin geschwächt und die administrative Macht ging von der Regierung Modrow aus: »Die Teilnehmer des Runden Tisches treffen sich aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung. Sie fordern die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation in unserem Land. Obwohl der Rundtisch [! ] keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben kann, will er sich mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise an die Öffentlichkeit wenden. Er fordert von der Volkskammer und der Regierung, rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen informiert und einbezogen zu werden. Er versteht sich als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in unserem Land. Geplant ist, seine Tätigkeit bis zur Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen fortzusetzen«. (BEK 1989, 2) 

Mit dieser Erklärung, die als Kompromiß mit den an der Regierung beteiligten Parteien ausgehandelt worden war, wurde die Machtkontrolle der Opposition erstmals institutionalisiert. Auf der ersten Sitzung des RT wurden weitere wichtige Weichen gestellt. Eine neue Verfassung sollte ausgearbeitet werden, ein Wahl- und Parteiengesetz erarbeitet und die MfS-Nachfolgeeinrichtung AfNS unter ziviler Kontrolle aufgelöst werden. Als Wahltermin wurde der 6. Mai 1990 vereinbart.

Im Fortgang des RT unter der Moderation von Oberkirchenrat Martin Ziegler, Monsignore Karl-Heinz Ducke und Pfarrer Martin Lange zeigte sich, daß damit ein Verfahren gefunden war, den Demokratisierungs­prozeß voranzutreiben, indem die dafür erforderlichen rechtlichen Regelungen erörtert und vorbereitet wurden. Dabei vollzog sich allmählich ein Wechsel der politischen Schwerpunkte, da die Notwendigkeit eines Krisenmanagements nun auch für die Opposition zu einem wichtigen Motiv wurde. Das Konfliktpotential zwischen Opposition und Regierungsvertretern nahm ständig ab, und schließlich wurde der RT mitsamt der Oppo-


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sition zur Stütze der Regierung, an der sie schließlich seit 28. Januar 1990 formal als »Regierung der nationalen Verantwortung« beteiligt war, obwohl man im Krisen-mangement auch weiterhin unterschiedliche Prioritäten setzte: Die Opposition wollte in erster Linie sicherstellen, daß der Demokratisierungsprozeß unumkehrbar blieb. Während die Regierung in der Endphase vor den Wahlen als Garant des demokratischen Wandels gestützt wurde, mußten andere Institutionen, vor allem die Volkskammer, delegitimiert werden. Der Opposition ging es zeitgleich um die Zerschlagung der repressiven Strukturen. Zum eigentlichen Konfliktstoff wurde dabei der Kampf um die Auflösung des AfNS, der erst im Januar 1990 erfolgreich beendet wurde. Die andere Seite, vor allem die SED, war bestrebt, im Krisenmanagement die revolutionäre Energie sowohl der Opposition als auch des Volkes zu bremsen und zu kanalisieren, ohne jedoch freie Wahlen verhindern zu können. Aber sie wollte sich eine gute Ausgangsposition verschaffen, die Herauslösung ihrer Kader aus der Gesellschaft verhindern und schließlich den Rückzug sichern, um ein Mindestmaß an Ressourcen und Positionen behaupten zu können. Sie nutzte den Vorbehalt der Opposition gegen Fremdbestimmung und leitete ihn partiell erfolgreich gegen den immer stärker werdenden westdeutschen Einfluß und den Willen der Menschen zur Einheit um. Die lange Zeit von manchen Oppositionsgruppen befürwortete Selbständigkeit der DDR konnte von den alten Kräften instrumentalisiert werden, und sei es nur, um die Entfremdung der Bevölkerung von der Opposition zu fördern.

Zur Schwäche der Opposition am RT gehörte, daß sie im Gegensatz zu den Altparteien keine festen Organisationsstrukturen hatte, daß sich der inhaltlichpolitische Klärungsprozeß innerhalb des oppositionellen Spektrums zu spät und in zu großer Hast vollzog, Kraft und Potentiale band, so daß die Opposition zu keiner Zeit über die Informationen verfügte, die für realistische Entscheidungen notwendig gewesen wären. Manche der Schwächen konnten erst nach der Wende teilweise aufgeklärt werden. Mit der nachträglichen Besetzung des RT durch eine Reihe alter und neuer Organisationen geriet das Gleichgewicht zwischen alten Machtträgern und der Opposition aus dem Gefüge. Vor allem aber wurde erst Jahre später deutlich, daß unter den Hauptakteuren des RT eine große Anzahl, oft die Mehrheit der anwesenden Mitglieder, IM des MfS waren. Dazu gehörten auch prominente Vertreter der Opposition. Selbst wenn nicht mehr in jedem Fall eine direkte Anleitung durch das MfS erfolgte, hat deren Korrumpierung zum Verlauf und den Ergebnissen des RT beigetragen.

Eine seiner zentralen Aufgaben, die Entflechtung des Staates und der Gesellschaft von der Beherrschung durch die SED, hat der RT nicht erfüllen können. Hier konnten vielerorts die seit Dezember installierten regionalen Runden Tische mehr erreichen, aber auch dort kam es oft zu einer Stagnation des Prozesses. In den Regionen arbeiteten die Oppositionsgruppen weitgehend zusammen. Die ehemaligen Blockparteien CDU und LDPD versuchten, sich zunehmend bei der Entmachtung der SED zu profilieren und zugleich ihre Anteile am System zu kaschieren. Die Erneuerung kam somit mancherorts nur sehr langsam voran. Erst am 24. Januar 1990 beschloß etwa der RT Stadt und Kreis Fürstenwalde weitreichende Maßnahmen zur »Durchsetzung der Trennung von Schule und Parteien/politischen Organisationen. D. h. Pionierorganisation, FDJ, GST, Jugendweiheausschüsse«. (Schreiter 1990)


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Da der RT nicht durch Wahlen legitimiert war, mußte er seine Legitimität aus der Bewegung schöpfen, die ihn hervorgebracht hatte. Dies kam zum Ausdruck, als die von ihm ausgehandelte Verfassung nicht mehr durch das kommunistische Hammer-und-Zirkel-Emblem der DDR-Fahne, sondern durch das Zeichen »Schwerter zu Pflugscharen« der Friedensbewegung auf Schwarz-Rot-Gold symbolisch dargestellt werden sollte. Tatsächlich fanden solche Fahnen inoffiziell Verwendung.

 

  7.  Die Kirchen in der Wende  

 

Zu einer letzten Verbindung zwischen den Kirchen und der Opposition kam es, als die Opposition die Kirchen bat, am Runden Tisch die Moderation zu übernehmen. Zweifellos haben die Kirchen in der Wende eine notwendige Vermittlungsfunktion erfüllt und mit dazu beigetragen, daß die Wende friedlich verlaufen konnte. Doch die jahrelangen, intensiven offiziellen und inoffiziellen Gesprächskontakte mit Staatsvertretern, SED-Funktionären und MfS-Offizieren hatten auch eine eigenartige Vertraulichkeit geschaffen, die viele Kirchenvertreter im Herbst 1989 emotional beeinflußte. Daß mit der Entmachtung der SED auch die Kirche befreit worden war, ist nicht immer deutlich verstanden worden. Kurz nach der Einberufung des Runden Tisches gab die KKL ein Wort zur gegenwärtigen Lage heraus, in dem zur Versöhnung aufgerufen wurde.

Im ersten Bericht des RT-Moderators, dem Vorsitzenden des Sekretariats, Martin Ziegler, äußerte er sich über die Opposition: »Der überzogene Anspruch der Gruppen >wir sind das Volk< wird durch die Realität nicht abgedeckt.« Die neuen Gruppierungen seien noch wenig kompetent, uneindeutig und ohne Organisationsstruktur. »Kirchliche Kopiergeräte und technische Materialien werden den Gruppierungen nicht generell zur Verfügung gestellt, um den Eindruck einer Parteinahme im anlaufenden Wahlkampf zu vermeiden.« (KKL 1989, 4) Der CDU-Vorsitzende, stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Kirchenangelegenheiten de Maiziere bedürfe der Fürbitte. Daß die Kirchen selbst zur strukturellen Schwäche der Opposition beigetragen hatten, war den Kirchenfunktionären offensichtlich nicht bewußt.

Der gesellschaftliche Erneuerungsprozeß hat die Kirchen im Herbst nur unvollständig erfaßt. Auch die mentale Umstellung vieler Kirchenleute auf die demokratischen und pluralistischen Verhältnisse ging nur zögerlich voran. Selbst die eigenen Interessen wurden nur zurückhaltend vertreten. Immerhin konnte nun nach Jahrzehnten der Blockade am 15. November ein Gespräch mit der Regierung über Volksbildungsfragen erreicht werden. Auch wendete sich die Kirche im Dezember gegen Tendenzen, den Staatsbürgerkundeunterricht zu reaktivieren. In der deutschen Frage gab es eine gemeinsame Erklärung des BEK und der EKD, die eine Intensivierung der kirchlichen Gemeinschaft bekundete. Insgesamt überwogen in der evangelischen Kirche die distanzierten Stimmen gegenüber dem politischen Umgestaltungsprozeß. Die erzwungene gesellschaftliche Ausgrenzung war tief ver-innerlicht. Die katholische Kirche dagegen, die sich bis Oktober sichtlich politisch zurückgehalten hatte, ermunterte ab November ihre Mitglieder, sich politisch aktiv zu beteiligen.


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  8. Zerschlagung des MfS  

 

Kontinuität Und Geschlossenheit zeigte die Opposition, trotz einiger taktischer Unterschiede, bis zur ersten freien Volkskammerwahl 1990 und darüber hinaus vor allem im Kampf gegen die gesellschaftliche Macht der SED und ihr wichtigstes repressives Instrument, das MfS bzw. das AfNS. Die Opposition verfügte über eine lange Erfahrung in der Abwehr der konspirativen Aktivitäten, wenn sie auch den offenen Kampf erst im Herbst 1989 wagen konnte. Das MfS war für die Opposition die Verkörperung der nichtöffentlichen Politik, der Menschenrechtsverletzungen und des zynischen Umgangs mit der Menschenwürde. In der MfS-Frage gab es in den Revolutionswochen eine lange anhaltende Übereinstimmung mit der Mehrheit der Bevölkerung. Zu den ersten Forderungen der Demonstrationen gehörte die Auflösung des MfS. »Stasi in die Produktion!« skandierten die Menschen. Und selbst noch im Januar 1990, als die Opposition schon deutlich an Einfluß verloren hatte, standen die Menschen in dieser Frage auf ihrer Seite.

Seit dem 6. November 1989 hatte Erich Mielke die ersten Aktenvernichtungen angeordnet, damit begann die Verwischung der papierenen Spuren des MfS. Im Laufe des November setzte mit dem allmählichen Machtverfall der SED auch ein interner Zerrüttungs- und Demoralisierungsprozeß im MfS ein. Der moralische Druck auf MfS-Angehörige war ein Faktor seiner Auflösung.

Am 17. November hatte Modrow in seiner ersten Regierungserklärung den Umbau des Ministeriums für Staatssicherheit in ein Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) angekündigt. Das umbenannte MfS versuchte nun, sich auf die Wende einzustellen. Doch alle Konsolidierungsversuche lösten nur neue Protestwellen aus, da schnell erkannt wurde, daß es sich um ein Tauschungsmanöver handelte. Keine Entlastung brachte auch die Ankündigung der Auflösung der Kreisdienststellen des AfNS/MfS.

Die im großen Stil einsetzende Aktenvernichtung erbitterte die Menschen. Nach dem Rücktritt der SED-Führung am 3. Dezember spitzte sich die Lage erneut zu. Jetzt bestand die Gefahr einer unkontrollierbaren Eskalation bei Demonstrationen. An diesem Tag riefen deshalb mehrere Oppositionsgruppen die Bevölkerung auf, »Kontrollgruppen« zu bilden, um die »Verschleierungsversuche« (Süß 1994, 55) zu verhindern. Es sollte dabei keine Gewalt ausgeübt werden. Am folgenden Tag begann die Besetzung der Bezirks- und Kreisdienstellen des AfNS/ MfS im großen Maßstab. In zahlreichen Orten bildeten sich Bürgerkomitees, die die verbliebenen Aktenbestände sicherten und die Arbeit der Ämter beendeten. Die erste Besetzung fand in Erfurt statt. Der Vorgang war geradezu typisch für die Revolution. Mehrere Frauengruppen, eine mit Kerstin Schön und eine andere mit Almuth Falcke, hatten unabhängig voneinander die Besetzung mit Hilfe von Demonstranten in den Morgenstunden organisiert und durchgeführt. Propst Falcke hatte zunächst allein mit seinem Auto die Zufahrt blockiert, bis ihn Müllfahrer ablösten. Überall gelang es Oppositionellen, die Besetzung der verhaßten Zwingburgen friedlich zu gestalten. Nur in Suhl versuchten die Mitarbeiter des AfNS wie befohlen, die Besetzung mit Gewalt, aber ohne Schußwaffen zu verhindern. Auch hier mußten sie schließlich trotz Tränengaseinsatz nachgeben. Ein Offizier erschoß sich selbst.


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Am 7. Dezember forderte der Runde Tisch die Auflösung des AfNS. Nach langen Hinhaltemaßnahmen der Regierung wies Modrow eine Woche später die Bildung eines Verfassungsschutzes an. Wieder kam es zu spontanen Demonstrationen, am 27. Dezember erneuerte der RT die Forderung zur Auflösung des Geheimdienstes. Die Regierung suchte Ausflüchte. Auch weitere Forderungen der Opposition am 8. Januar 1990 ignorierte Modrow. Als er am 11. Januar wiederum auf der Bildung eines Geheimdienstes beharrte, gab es in Berlin weitere Demonstrationen, kleinere Streiks und Streikandrohungen. Auch die Opposition drohte nun mit dem Aufruf zu einem Generalstreik. Zum 15. Januar hatte das NF zu einer Demonstration vor der Zentrale des MfS aufgerufen. Dabei kam es zum dramatischen Sturm auf den Gebäudekomplex. Bei den Zerstörungen in der MfS-Zentrale wurde jedoch lediglich die Kantine beschädigt. Damit war das Projekt, das MfS in Gestalt eines neuen Geheimdienstes wiederzubeleben, endgültig gescheitert, die wichtigste Stütze der innenpolitischen Macht der SED war zerbrochen.

Wie wichtig die Lahmlegung des Staatssicherheitsdienstes war, zeigte sich Anfang Januar 1990, als ein Putschaufruf der Bezirksverwaltung des MfS in Gera vom 9. Dezember bekannt wurde. Der »Aufruf zum Handeln« mit der Warnung »Heute wir - morgen Ihr« sollte »zum noch möglichen Handeln« mobilisieren, da dem SED-Staat »Stück für Stück alle Machtinstrumente aus der Hand« genommen würden. Unter Berufung auf Lenins Erkenntnisse von der Macht sollten sich die »Genossen, Bürger und Patrioten an der unsichtbaren Front im In- und Ausland« zusammenfinden. Es hieß: »Sollte es uns allen gemeinsam nicht kurzfristig gelingen, die Anstifter, Anschürer und Organisatoren dieser haßerfüllten Machenschaften gegen die Machtorgane des Staates zu entlarven und zu paralysieren, werden diese Kräfte durch ihre Aktivitäten einen weiteren Teil der Bevölkerung gegen den Staat, die Regierung und alle gesellschaftlichen Kräfte aufbringen.« (Herles 1990, 50)

Der Aufruf zeigte nicht nur die latente Gefahr für den Demokratisierungsprozeß und vor allem für die Oppositionellen, sondern bestätigte auch, wie notwendig es gewesen war, die SED-PDS in ein geregeltes und kontrolliertes Verfahren zur Aufgabe der Macht zu zwingen. Der Unterschied zwischen den Geraer Putschisten und der Politik der Modrow-Regierung bestand in der Einsicht, daß der Machtverlust für die SED unaufhaltsam war. Die Geraer Putschisten hätten sich und auch viele andere Menschen in eine Katastrophe gestürzt. Die klügeren kommunistischen Kader zogen sich unter dem Zwang der Verhältnisse in die Gesellschaft zurück. Dort hatten sie Verbündete in jenem Personenkreis, der während der SED-Diktatur in allen öffentlichen Bereichen korrumpiert worden war. Tausende IM haben bis zum letzten Moment für das MfS gearbeitet, und als dies nicht mehr möglich war, wußten sie immer noch, daß sie in einem Boot mit den alten Machthabern saßen. Die in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eingeschleusten hauptamtlichen Mitarbeiter und die »Offiziere im besonderen Einsatz« (OibE) konnten ihr Treiben oft noch lange fortsetzen. In Magdeburg arbeitete der OibE »Detlef«, der Konsistorialpräsident Detlef Hammer, noch über die Wende im Bürgerkomitee zur Sicherung der Aktenbestände mit. Gegen solche Machenschaften war die politische Opposition zunächst machtlos.

Während in der deutschen Frage und in gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen eine Entfremdung zwischen Opposition und Bevölkerung eingetreten war, blieben sie Verbündete im Kampf gegen die Machtmittel der SED. So konnten Gruppen des NF und anderer Organisationen Anfang Dezember in Plauen und anderen Städten Warnstreiks ausrufen, um den Rückzug der SED aus den Betrieben zu erzwingen. 

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Unveröffentlichte Quellen:

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