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2.3.  Richtlinie  1/58 

 

 

 

33-45

Die "Richtlinie 1/58 für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik" wurde am 1. Oktober 1958 erlassen. Sie löste die Richtlinie 21 ab. In die sechs Jahre, die zwischen der Verabschiedung dieser beiden Grund­satz­dokumente liegen, fielen politische Ereignisse, die für die Arbeit des MfS von grundsätzlicher Bedeutung waren und den Inhalt der Richtlinie mitbestimmten.

Weithin prägend, auch für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern, war der 17. Juni 1953, der das Scheitern des Versuches eines raschen Übergangs zum "Aufbau des Sozialismus" dokumentierte. Die Arbeiterklasse hatte ihrer selbsternannten "Vorhut" die Gefolgschaft verweigert, die fehlende demokratische Legitimation der SED-Herrschaft war offen zutage getreten.

Maßnahmen wie die vorrangige Entwicklung der Schwerindustrie und die Schaffung militärischer Streitkräfte hatten erhebliche, in den Plänen zum Teil nicht berücksichtigte Kosten verursacht und die Versorgungslage verschärft.112 Das MfS hatte die Vorboten dieser Entwicklung registriert und auf seiner 1. Partei­aktivtagung im Januar 1953 eine weitere Konzentration der IM auf die Volkswirtschaft beschlossen.113 Auch der nun einsetzende Aufbau Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und die Zunahme der Repression, in deren Folge es zu Massenfluchten kam, verschlechterten das innenpolitische Klima.

Als Reaktion darauf wies die nach Stalins Tod neu zusammengesetzte sowjetische Führung Ende Mai 1953 die SED an, einen "Neuen Kurs" einzuschlagen. Das Tempo beim "Aufbau des Sozialismus" sollte zurückgenommen werden, um eine innergesellschaftliche Entspannung, gleichsam ein "Tauwetter", einzuleiten.114 Die SED-Führung entsprach dieser Forderung und nahm insbesondere jene Beschlüsse zurück, die auf eine "Verschärfung des Klassenkampfes" zielten. An der Heraufsetzung der Arbeitsnormen hielt sie jedoch fest. Daran entzündete sich schließlich der spontane Arbeiterprotest am 16./17. Juni 1953. Das MfS wurde davon völlig überrascht, wie es später in der Dienstanweisung 3/54 offen eingestand:

"Vor Beginn der Provokation sowie auch in den Tagen der aktiven Auftritte des Feindes kannten die Organe für Staatssicherheit die Orte der Konzentrierung feindlicher Elemente nicht und konnten deshalb auch die von Feinden am meisten verunreinigten Abschnitte nicht rechtzeitig feststellen."115

Mit der zitierten Dienstanweisung trug das MfS Beschlüssen des SED-Politbüros vom September 1953 Rechnung, die von grundlegender Bedeutung für den Staatssicherheitsdienst waren. Ihr zentraler Ausgangs­punkt war die Fixierung auf den äußeren Feind, der im Inneren der DDR den "faschistischen Putschversuch" ausgelöst habe. Diese Fiktion führte zur Suche nach den vermeintlichen "Organisatoren der Provokationen", die nun zu Hunderten inhaftiert wurden. Die bisher "gleichmäßig auf alle Objekte" verteilten inoffiziellen Mitarbeiter sollten nunmehr auf Schwerpunkte konzentriert eingesetzt werden, vor allem zur Bekämpfung von "faschistischen und anderen feindlichen Elementen" und zum Schutze der Volkswirtschaft.

 

112)  Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Armin Mitter und Stefan Wolle (Hrsg.): Der Tag X. 17. Juni 1953. Die "innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995; Gerhard Beier: Wir wollen freie Menschen sein - Der 17. Juni 1953, Köln 1993; Torsten Diedrich: Der 17. Juni in der DDR - bewaffnete Gewalt gegen das Volk, Berlin 1991; Arnulf Baring: Der 17. Juni 1953, Stuttgart 1983.
113)  Vgl. Geschichte. Studienmaterial. Teil III (Anm. 71), S. 70.
114)  Helmut Müller-Enbergs: Der Fall Rudolf Herrnstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni, Berlin 1991, S.171-184.
115)  Dienstanweisung 3/54 vom 7.12.1953 [sie!] über die Einführung einer einheitlichen Richtlinie für die Organisierung der operativen Erfassung in den Organen des Staatssekretariats für Staatssicherheit des Ministeriums des Innern der DDR; BStU, ZA, DSt 100891, S.2.

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 Der "Informationsapparat", der 1953 vermutlich eine nominelle Stärke von 15.000 IM hatte, wurde vom SED-Politbüro als "außerordentlich schwach" eingestuft, insbesondere galt die inoffizielle Mitarbeiter­schaft in Berlin als "zahlenmäßig sehr klein" (vgl. Tabelle 3).116

 

Tabelle 3:
Neu und umregistrierte IM in den Landesverwaltungen,
Bezirksverwaltungen und Verwaltungen des MfS117

1952

1953

1954

1955

1956

1957

1958

MfS-Zentrale

2.830

5.120

2.647

3.012

1.927

2.814

2.580

Berlin

489

837

2.272

2.018

2.105

*

*

Dresden

1.697

1.701

2.943

1.659

2.126

1.776

2.761

Erfurt

1.055

421

537

680

904

636

673

Frankfurt/Oder

769

465

1.313

893

764

791

844

Gera

427

716

1.518

899

858

514

495

Halle

1.325

1.854

3.545

2.115

1.960

1.563

1.535

Karl-Marx-Stadt

1.760

1.966

3.934

2.087

1.405

1.246

1.201

Leipzig

186

662

3.501

1.816

1.913

1.064

1.000

Magdeburg

1.437

1.297

2.173

1.161

1.359

1.246

1.547

Neubrandenb.

871

770

1.528

1.346

1.045

765

1.020

Rostock

1.138

877

1.766

1.598

2.030

2.259

1.847

Suhl

236

742

979

480

933

474

480

Wismut

906

1.329

1.322

1.026

548

492

475

15.126

18.757

29.978

20.790

19.877

15.640

16.458

* 1957 und 1958 wurden die IM der Verwaltung Groß-Berlin durch das MfS in Berlin erfaßt. IM-Registrierbücher der MfS-Bezirksverwaltungen von Cottbus, Potsdam und Schwerin liegen nicht vor.

 

Als Konsequenz strebte der Staatssicherheitsdienst eine Vergrößerung des IM-Bestandes an.118 Eine zusätzliche Ausweitung des Ausforschungs­potentials erhoffte sich die MfS-Führung von "Geheimen Hauptinformatoren" (GHI), die weitere inoffizielle Mitarbeiter anzuleiten hatten.

 

116  Auszug aus dem Beschluß des Politbüros vom 23.9.1953; BStU, ZA, DSt 102272, o. Pag. [S. 2 und 5].
117  Vgl. zur Problematik dieser Zahlen Anm. 93. Hinzu kommt, daß mit der Gebietsreform die bei den Landesverwaltungen und Verwaltungen registrierten IM den neu entstandenen Bezirksverwaltungen zugeordnet wurden. Da diese Umregistrierung in den bisherigen IM-Registrierbüchern keinen Niederschlag fand, dürften in den Angaben für das Jahr 1952 Doppelzählungen enthalten sein. Überwiegend jedoch sind Neurekrutierungen durch die Bezirksverwaltungen anzunehmen.
118  Vgl. Studienmaterial zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit. Teil IV: 1955-1961, hrsg. von der JHS, 1980; BStU, ZA, JHS 134/80, S. 64.

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Sie wurden durch die Dienstanweisung 30/53 eingeführt, die zugleich eine vollständige Überprüfung der inoffiziellen Basis forderte.119 Darüber hinaus beschloß das Politbüro, die Spionage im westlichen Ausland wesentlich zu verstärken und auch die inoffizielle Arbeit in den "bürgerlichen Parteien" und den gesellschaft­lichen Organisationen zielstrebig auszubauen.120 Diese Vorgaben führten zu Massenwerbungen.

Im August 1954 kamen die leitenden Tschekisten schließlich zu der selbstkritischen Erkenntnis, bei anhaltend gleichem Werbungstempo würde bis zum Jahre 1963 "jeder 2. Bürger der DDR" einmal IM gewesen sein.121) Das war übertrieben, doch lag die Zahl der neu rekrutierten inoffiziellen Mitarbeiter, die 1952 vermutlich 15.000 betragen hatte, 1953 immerhin bei schätzungsweise 20.000 und ein Jahr darauf bei 30.000. Der Appell, die Rekrutierungen zu drosseln, scheint gewirkt zu haben, denn sie fielen 1955 auf ca. 20.000 ab (vgl. Tabelle 3, S. 35).

Eine weitere Konsequenz des Aufstandes war der Sturz von Minister Zaisser im Vorfeld der 15. Tagung des SED-Zentral­komitees im Juli 1953.122 Auf dieser Sitzung wurde die Verantwortung für den 17. Juni dem MfS zugeschoben. Faktisch wurde Zaisser, der zugleich Mitglied des Politbüros war, abgesehen von dem konstruierten Vorwurf "fraktioneller Tätigkeit", persönlich haftbar gemacht für die operative Tätigkeit eines Ministeriums, dessen Arbeit maßgeblich von sowjetischen Beratern bestimmt wurde, die aber von der SED schlechterdings nicht zu kritisieren waren.

Mit der Behauptung, im MfS habe es Tendenzen gegeben, sich "über die Partei zu stellen",123 und das dürfe sich nicht wiederholen, gelang es Ulbricht, seine taktischen Vorstellungen innerhalb des MfS stärker durchzusetzen und seine Position gegenüber den sowjetischen Beratern zu stärken.

In der inoffiziellen Arbeit zielte Zaisser, der beinahe 25 Jahre nachrichtendienstlich tätig gewesen war, vor allem auf strategische Erfolge. Ulbricht aber war insbesondere nach dem 17. Juni an kurzfristigen Resultaten interessiert und karikierte Zaissers grundsätzliche Herangehensweise als die einer "Studiengesellschaft".124

 

119  Vgl. Dienstanweisung 30/53 vom 3.9.1953; BStU, ZA, DSt 100874, S. 2-4.
120  Auszug aus dem Beschluß des Politbüros vom 23.9.1953; BStU, ZA, DSt 102272, o.Pag.[S.5].
121  Vermerk über die Dienstbesprechung im Ministerium am 13.8.1954; BStU, ZA, SdM 1921,81.166-172, hier 169.
122  Vgl. Armin Mitter und Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993; Nadja Stulz-Herrnstadt (Hrsg.): Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, Reinbek 1990.
123  Der neue Kurs und die Aufgaben der Partei. Entschließung der 15. Tagung des Zentralkomitees. Anlage Nr. 2 zum Protokoll der 15. Tagung des ZK vom 24.-26.7.1953; SAPMO-BA, DY 30, IV/2/1/119, Bl. 81-112, hier 87.
124  Referat von Hermann Matern auf der Dienstbesprechung des MfS am 11.11.1953; BStU, ZA, DSt 102272, o. Pag. [S. 11].

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Diesen Gedanken nahm Hermann Matern, Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission, bei einem Vortrag vor dem MfS im November 1953 auf: "Wir müssen hart und rücksichtslos zuschlagen. Für knieweiche Pazifisten oder Mondgucker ist in unseren Reihen kein Platz."125

Der Zwang, unmittelbar Erfolge vorzuweisen, blieb in den nächsten Jahren die bestimmende Maxime: Im Sommer 1954 wurden schlagartig 547, im April 1955 521 und im Mai 1956 130 "Agenten" festgenommen.126

Die harte Kritik an der Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern förderte Überlegungen, die Richtlinie 21 zu überarbeiten. Insofern war die Richtlinie 1/58 eine Spätfolge des Aufbegehrens im Juni 1953. Bereits bei der ersten Auswertung des 17. Juni sprach die MfS-Führung eine klare Schuldzuweisung aus: In der "abstrakten Behandlung" der Richtlinie 21, hieß es im August 1953, läge der Hauptmangel in der operativen Arbeit.127

Doch die Normen sollten, wie die Dienstanweisung 30/53 anwies, in der Praxis auch wirklich "beachtet" werden. Die Kritik führte vorerst nicht zur Neufassung der Richtlinie. Statt dessen kam die Dienstanweisung 30/53 heraus. Sie veranlaßte die Überprüfung des IM-Netzes und – wie erwähnt – die verstärkte Rekrutierung von IM sowie die Einführung der Geheimen Hauptinformatoren.128 Wie erste Überprüfungen ergaben, war diese Anweisung nur von geringer Wirksamkeit, so daß schon kurz darauf die Dienstanweisung 3/54 erging, die u.a. einen zielgerichteten Einsatz der IM anstrebte.129

Die Akzentverschiebungen in der Arbeit mit IM kamen auch auf dem IV. SED-Parteitag, der im Frühjahr 1954 stattfand, zum Ausdruck. Dort wurde nochmals auf den 17. Juni 1953 und die Rolle des MfS eingegangen. Ernst Wollweber, der neue Chef des Staats­sicherheitsdienstes, legte den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf die Entlarvung von "Agenten" und rief zur "Wachsamkeit aller Werktätigen" auf.130 Minister Willi Stoph, nominell Vorgesetzter Wollwebers nach der Eingliederung des MfS als Staatssekretariat in das Ministerium des Innern, unterstrich die vorrangige Bedeutung der Spionageabwehr und lobte den unterdessen eingetretenen Wandel in der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes.131

 

125  Ebenda, [S. 10].
126  Geschichte. Studienmaterial. Teil III (Anm. 71), S. 98 und 104; Geschichte. Studienmaterial. Teil IV (Anm. 118), S. 25.
127  Protokoll der Dienstbesprechung mit den Leitern der Bezirksverwaltungen und den Abteilungsleitern am 21.8.1953; BStU, ZA, SdM 1921, Bl. 203-228, hier 224.
128  Dienstanweisung 30/53 vom 3.9.1953; BStU, ZA, DSt 100874, S. 4.
129  Vgl. Dienstanweisung 3/54 vom 7.12.1953 [sie!] über die Einführung einer einheitlichen Richtlinie für die Organisierung der operativen Erfassung in den Organen des Staatssekretariats für Staatssicherheit des Ministeriums des Innern der DDR; BStU, ZA, DSt 100891, S. 2.
130  Ernst Wollweber: Diskussionsbeitrag, in: Protokoll der Verhandlungen des IV. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 30. März bis 6. April 1954 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin 1954, Bd. 2, S. 702-710, hier 708.
131  Vgl. Willi Stoph: Diskussionsbeitrag, in: Protokoll der Verhandlungen des IV. Parteitages (Anm. 130), Bd. l, S. 485-495, hier 491 f.

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Tatsächlich war die MfS-Führung darum bemüht, die Arbeit mit IM zu verbessern, doch bereitete es Mühe, genügend GHI zu rekrutieren. Die Berichte der Kontrollinspektionen enthielten fast durchgehend Hinweise auf "wesentliche Mängel und Schwächen" der inoffiziellen Arbeit.132 So konnte es nicht überraschen, daß im November 1955 in der MfS-Leitung die Absicht geäußert wurde, die Richtlinie bis zum Ende des Jahres zu überarbeiten.133

Ein weiterer Grund dafür ist in einer Forderung Wollwebers vom August 1955 zu sehen, die operative Tätigkeit zur Hälfte auf die "Verstärkung zum Eindringen in die feindlichen Agenten­zentralen im Westen" zu konzentrieren.134 Dazu bedurfte es konkreter Festlegungen für die inoffizielle Arbeit, die in der Richtlinie 21 noch nicht enthalten waren. Dennoch verzögerte sich die Überarbeitung der Richtlinie. Im Februar 1956 wurde daher im Kollegium135 darauf gedrängt, daß die von Mielke persönlich geleitete Redaktionskommission die bereits vorliegenden Veränderungsvorschläge bis zum folgenden Monat auswerten solle.

Der Redaktionskommission gehörte auch Generalmajor Markus Wolf an, dessen Beteiligung als Verantwortlicher für die Aufklärung darauf hinweist, daß der Erlaß einer gemeinsamen Richtlinie für Abwehr und Aufklärung angestrebt wurde.136 Zur gleichen Zeit wurden Brigaden eingesetzt, die vor Ort die Arbeit mit IM anzuleiten hatten.137 Dazu erging eigens die Dienstanweisung 10/56, die darüber hinaus die Überprüfung aller inoffiziellen Mitarbeiter verlangte.138 Im August 1956 beschloß das Kollegium, die erste – bereits für März 1956 geplante – Beratung über die neugefaßte Richtlinie 21 im September durchzuführen.139 Dieser Beschluß wurde nicht realisiert, obwohl seit dem 31. August 1956 ein neuer Entwurf vorlag.140

 

132  Vermerk über die Dienstbesprechung im Ministerium am 14.6.1955; BStU, ZA, SdM 1921,81.90-103, hier 91.
133  Vgl. Protokoll der Kollegiumssitzung am 9.11.1955; BStU, ZA, SdM 1550, Bl. 100-107, hier 101.
134  Referat Wollwebers in der Dienstbesprechung am 5.8.1955; BStU, ZA, SdM 1921, Bl. 43-77, hier 57.
135  Kollegien waren Beratungsgremien leitender Mitarbeiter, die auf der Grundlage eines Ministerratsbeschlusses vom 17.7.1952 gebildet worden waren. Das Kollegium des MfS setzte sich aus dem Minister, seinen Stellvertretern und dem l. Sekretär der Kreisleitung der SED im MfS zusammen. Vgl. Geschäftsordnung vom 6.7.1954 für das Kollegium beim Staatssekretär des Staatssekretariats für Staatssicherheit; BStU, ZA, SdM 1574, Bl. 3-6.
136  Vgl. Protokoll der Kollegiumssitzung am 15.2.1956; BStU, ZA, SdM 1551, Bl. 18-20, hier 19.
137  Vgl. Vorlage für das Kollegium am 6.12.1955; BStU, ZA, SdM 1550, Bl. 109-110, hier 109; Protokoll der Kollegiumssitzung am 6.12.1955; BStU, ZA, SdM 1550, Bl. 111-117, hier 112:
138  Dienstanweisung 10/56 vom 6.3.1956; BStU, ZA, DSt 100970.
139  Protokoll der Kollegiumssitzung am 10.8.1956; BStU, ZA, SdM 1551, Bl. 59-71, hier 69.
140  Vom Entwurf der neuen Richtlinie 21 gab es zwei, von der überarbeiteten Fassung der neuen Richtlinie zwölf Exemplare. Sie wurden am 22. Januar 1959 vernichtet; Büro der Leitung: Vernichtung der Entwürfe der Richtlinie 1/58, 3.1.1959; BStU, ZA, DSt 101113, o. Pag.

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Ursache der Verzögerung waren Entwicklungen, die der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 ausgelöst hatte, jene tiefe Zäsur in der Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung. Mit seiner Geheimrede hatte Nikita S. Chruschtschow die Entstalinisierung eingeleitet und zugleich die "strenge Einhaltung" der Gesetze gefordert. Auch ging die Führung der KPdSU nicht mehr von einer akuten Kriegsgefahr aus, sondern sprach jetzt von der "friedlichen Koexistenz zwischen den Staaten der beiden Systeme".141

Die SED-Führung zögerte, die Entstalinisierungspolitik zu übernehmen. Das zeigte sich auf der 3. SED-Partei­konferenz im März 1956, auf der der zweite Fünfjahrplan (1956 bis 1960) beschlossen wurde. Die These von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus, die bisher zur Legitimation der innerstaatlichen Repression herangezogen worden war, interpretierte Ulbricht nun dahingehend, daß sich der Klassenkampf stärker gegen die "amerikanischen und westdeutschen Kriegstreiber, die vom Boden der Bundesrepublik und Westberlins" aus arbeiten würden, konzentrieren müsse.142  

Er bestätigte damit indirekt die Anweisung Wollwebers vom August 1955, die inoffiziellen Mitarbeiter vorrangig in der Westarbeit einzusetzen. Konsequenzen aus den Beschlüssen des XX. KPdSU-Parteitages und der 3. SED-Parteikonferenz für den Staatssicherheitsdienst zog Ulbricht im Mai 1956, als er auf einer Parteiaktivtagung des MfS eine moderatere, aber konsequente Linie empfahl, bei der zukünftig zu gewährleisten sei, daß in der DDR eine "Atmosphäre der demokratischen Gesetzlichkeit" entstünde.143 Seine Kurskorrektur in Anpassung an die sowjetische Entwicklung führte zu zahlreichen Rehabilitierungen und zur Entlassung politischer Gefangener.

Eine besondere Rolle in der Perzeption der SED-Führung kam den Auswirkungen des "Tauwetters" in Polen und Ungarn zu, das dort zu Veränderungen führte, die auch auf die DDR überzugreifen drohten.144) Erst nach der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn festigte sich Ulbrichts Stellung, die ernstlich gefährdet gewesen war. Der Erste Sekretär versuchte nun, die Orientierung des Staatssicherheitsdienstes wieder primär auf die innere Sicherheit festzulegen und dabei den Akzent auf die Verfolgung intellektueller Dissidenz zu verschieben, zu deren Protagonist Wolfgang Harich145) werden sollte.146)

 

141  Hermann Weber: DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990, Hannover 1991, S. 76.
142  Walter Ulbricht: Der zweite Fünfjahrplan und der Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 24. März bis 30. März 1956 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, l. bis 4. Verhandlungstag, Berlin 1956, S. 14-205, hier 75.
143  Rede Walter Ulbrichts auf der Parteiaktivtagung des MfS am 11.5.1956; BStU, ZA, SdM 2366, Bl. 20-34, hier 31.
144  Vgl. Peter Christan Ludz: Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung, 2. Aufl., Köln/Opladen 1968, S. 56.
145  Vgl. Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur national-kommunistischen Opposition in der DDR, Berlin 1993; Der Prozeß gegen Walter Janka und andere. Eine Dokumentation, Reinbek 1990; Walter Janka: Spuren eines Lebens, Berlin 1991; Gustav Just: Zeuge in eigener Sache, Frankfurt/M. 1990.

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Begrifflich faßte der Staatssicherheitsdienst dies als "politisch-ideologische Diversion", worunter "Aufweichungs- und Zersetzungs­versuche" des Gegners verstanden wurden.147

Im Kontext eines Machtkampfes in SED und MfS, der bereits zu einer schleichenden Entmachtung Wollwebers geführt hatte, kam es zu Auseinandersetzungen über die grundsätzliche Orientierung der IM-Arbeit und deren Defizite. Von besonderer Bedeutung war die Dienstkonferenz im MfS am 26. April 1957, die sich mit der "Untergrundtätigkeit der feindlichen Agenturen" befaßte. Auf Basis von Erkenntnissen, die sich aus einem Brigadeeinsatz im Februar und März 1957 ergeben hatten,148 wurde Kritik an der inoffiziellen Arbeit geübt, die in der Forderung mündete, die IM-Tätigkeit wieder stärker auf die DDR zu konzentrieren, um die innere Sicherheit zu gewährleisten.149 Damit wurde die von Wollweber im August 1955 ausgegebene Orientierung verstärkter Westarbeit revidiert.

In Auswertung der Dienstkonferenz 1957 faßte das Kollegium einen Monat später ein weiteres Mal den Beschluß, einen Entwurf für eine neue IM-Richtlinie vorlegen zu lassen, der binnen dreier Wochen zu erarbeiten war und auf der Ende Mai 1957 stattfindenden Dienstkonferenz vorgelegt werden sollte.150 Offensichtlich gab es Probleme bei der Ausarbeitung, vielleicht auch Widerstände gegen die Richtlinie, deren nähere Hintergründe gegenwärtig noch nicht zu klären sind. Jedenfalls wurde dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt. Statt dessen erging am 30. Mai 1957 die Dienstanweisung 16/57, die eine "grundlegende Verbesserung" der Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern anstrebte.151

 

146  Vgl. Roger Engelmann und Silke Schumann: Kurs auf die entwickelte Diktatur. Walter Ulbricht, die Entmachtung Ernst Wollwebers und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes 1956/57, hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung (BF informiert 1/95), Berlin 1995, S. 10.
147  Geschichte. Studienmaterial. Teil IV (Anm. 118), S. 59.
148  Bericht über den Brigadeeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit zur Überprüfung einiger Hauptfragen der operativen Arbeit in den Bezirksverwaltungen Potsdam und Magdeburg in der Zeit vom 18.2-2.3.1957, o. D. [ca. März 1957]; SAPMO-BA, DY 30, IV 2/12/115, Bl. 139-156.
149  Vgl. Protokoll der Dienstkonferenz am 26.4.1957; BStU, ZA, ZAIG 5604, Bl. 216-235, hier 218 und 225.
150  Vgl. Protokoll der Kollegiumssitzung am 7.5.1957; BStU, ZA, SdM 1552, Bl. 141.
151 Dienstanweisung 16/57 vom 30.5.1957 über die Maßnahmen zur Verbesserung der operativen Arbeit in den Betrieben, Ministerien und Hauptverwaltungen, Universitäten, Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten sowie in den Objekten der Landwirtschaft; BStU, ZA, DSt 100996, S. 1-A.
152  Vgl. Roger Engelmann und Silke Schumann: Der Ausbau des Überwachungsstaates. Der Konflikt Ulbricht-Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43(1995)2, S. 341-355; Karl Schirdewan: Aufstand gegen Ulbricht. Im Kampf um politische Kurskorrektur, gegen stalinistische, dogmatische Politik, Berlin 1994; Jan von Flocken und Michael F. Scholz: Ernst Wollweber. Saboteur - Minister - Unperson, Berlin 1994; Ernst Wollweber: Aus Erinnerungen. Ein Porträt Walter Ulbrichts, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 32(1990)3, S. 350-378.

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Die Neuorientierung der operativen Arbeit auf die innere Herrschaftssicherung, die nach dem Sturz von Wollweber152 forciert wurde, bestimmte auch die Diskussion über ein neu zu schaffendes Regelwerk für die IM-Arbeit, die bald darauf einsetzte. Spezifische Festlegungen, die allein für die konspirative Arbeit im "Operationsgebiet" notwendig waren, sollten nach einer Entscheidung des Kollegiums in einer "besonderen Richtlinie" getroffen werden.153

Tatsächlich entwickelte die Hauptverwaltung Aufklärung, die für die Spionage im "Operationsgebiet", speziell in der Bundesrepublik, zuständig war, eine solche Richtlinie.154 Der im Dezember 1957 im Kollegium erörterte Entwurf vom August 1956 enthielt diese Unterscheidung noch nicht und genügte deshalb auch nicht den veränderten Anforderungen.

Im Januar 1958 lag schließlich ein neuer Entwurf "unterschriftsfertig" vor.155 Falls bis zum 30. Januar 1958 keine weiteren Verbesserungen gefordert würden, beabsichtigte die MfS-Führung, die Richtlinie 1/58 zu erlassen.156 Doch sie sollte schließlich erst acht Monate später in Kraft treten. Auf der SED-Kreisdelegiertenkonferenz des MfS am 3./4. Juni 1958, auf der diese Verzögerung gerügt wurde, räumte Minister Mielke ein, daß die Kritik zutreffend sei. Zur Begründung der Verzögerung führte er an, er habe beim "tonnenweisen Verbrauch" von Papier "ein wenig sparsam" sein wollen.157 Vermutlich aber wollte er die Ergebnisse des V. SED-Parteitages im Juli 1958 abwarten.

Tatsächlich faßte der Parteitag auch Beschlüsse, die für die IM-Arbeit wichtig waren. In seinem Grundsatzreferat hob Ulbricht besonders das "sozialistische Recht" hervor, das nach der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus nun auch eine "höhere Qualität der Staatsorgane" verlange, weshalb die "Rolle der gewählten Organe des Staates" zu erhöhen sei.158

 

153  Protokoll der Kollegiumssitzung am 10.12.1957; BStU, ZA, SdM 1553, Bl. 270-281, hier 270f.
154  Bisher ist lediglich ein 3. Entwurf vom 17.6.1959 bekannt; BStU, ZA, SdM 1872, Bl. 58-145.
155 Der Entwurf der Richtlinie 1/58 vom Januar 1958 wurde in 15 Exemplaren angefertigt. Die Exemplare 2 bis 14 wurden am 22. Januar 1959 vernichtet. Das erste Exemplar konnte ermittelt werden; BStU, ZA, DSt 101113,0. Pag.
156  Vgl. Protokoll der Kollegiumssitzung am 10.12.1957; BStU, ZA, SdM 1553, Bl. 270-281, hier 270.
157  Referat Mielkes auf der SED-Kreisdelegiertenkonferenz des MfS am 3./4.6.1958; BStU, ZA, ZAIG 6505, Bl. 44. Dieses Argument ist nicht so abstrus, wie es zunächst wirken mag, denn auch 1958 galt noch die parteiliche Devise vom "Sparsamkeitsregime".
158  Walter Ulbricht: Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat, in: Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 10. bis 16. Juli 1958 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, 1. bis 5. Verhandlungstag, Berlin 1959, S. 22-221, hier 50 und 56.

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Auf das Strafrechts­ergänzungsgesetz, das "strenge Maßstäbe gegen feindliche Tätigkeit" enthielt, wurde im Bericht des Zentralkomitees an den Parteitag ausdrücklich Bezug genommen.159 Auffällig war die Berücksichtigung des "sozialistischen Rechts" auch in Mielkes Diskussionsbeitrag, der darüber hinaus neben den üblichen Formen der "Feindtätigkeit" die "ideologische Diversion" besonders herausstellte. Sie habe zum Ziel, "im Bewußtsein" der Menschen die "klare Perspektive des Sozialismus zu verwischen". Er wünschte sich eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der "Agenten" es nicht wagen würden, Bürger der DDR zu werben, weil sie Gefahr laufen müßten, sogleich dem MfS überstellt zu werden.160

Mielke befahl mit Bezug auf den V. SED-Parteitag die "konsequente Durchsetzung" der bisher erlassenen Richtlinien als Voraussetzung dafür, zur "Veränderung und Verbesserung des Arbeitsstils und der Arbeitsmethoden" zu kommen. Dazu seien die von seinen Vorgängern Zaisser und Wollweber verantworteten dienstlichen Bestimmungen einer Überprüfung zu unterziehen und bis zum 1. Oktober 1958 durch neue zu ersetzen.161 Die Richtlinie 1/58, die an diesem Tag in Kraft trat, sollte denn auch, wie Mielke bei ihrer Einführung betonte, zu einem "wirklichen Instrument" gemacht werden. Zugleich schwang die Abwehr früherer Kritik an einem Dokument, das er schließlich selbst unterzeichnet hatte, mit, als er hervorhob, die Richtlinie 21 habe "uns nicht gehindert, unsere Arbeit um 100% zu verbessern".162

Die Richtlinie 1/58 verarbeitete die politischen Veränderungen und die Erfahrungen, die das MfS seit Verabschiedung der Richtlinie 21 gemacht hatte. Sie verallgemeinerte, nach dem Urteil der MfS-Historiographie, die "wichtigsten Kampferfahrungen des MfS aus den Klassenauseinandersetzungen der Jahre 1953, 1956 und 1957" und galt als "Dokument von zentraler Bedeutung".163 Der gravierendste Unterschied zur Richtlinie 21 besteht darin, daß sich die Legitimation für die Arbeit mit IM nicht primär aus der feindlichen "Agententätigkeit" herleitete. Ausdrücklich wurde in der Präambel auf den gesetzlichen Auftrag verwiesen, der dem MfS bei seiner Gründung erteilt worden sei.

 

159  Bericht des Zentralkomitees an den V. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: ebenda, Bd. 2, S. 1417-1625, hier 1548.
160  Erich Mielke: Diskussionsbeitrag, in: ebenda, Bd. 1, S. 547-556, hier 550 und 555.
161  Befehl 255/58 vom 23.8.1958; BStU, ZA, DSt 100223, S. 1.
162 Referat [Mielkes] auf der zentralen Dienstkonferenz am 30.9.1958; BStU, ZA, ZAIG 6505, Bl. 68. Die Endredaktion der Richtlinie 1/58 lag in Mielkes Händen. Dem von ihm durchgesehenen Entwurfsexemplar ist zu entnehmen, daß er lediglich Kapitelbezeichnungen von einer alphabetischen zu einer numerischen umgearbeitet hat. Streichungen nahm er nicht vor, hingegen eine Reihe stilistischer Veränderungen, von denen nur eine zu erwähnen ist: Im Entwurf findet sich die Bezeichnung "Strafergänzungsgesetz". Da man dort das "Recht" vergessen hatte, korrigierte Mielke das Wort zu "Strafrechtsergänzungsgesetz" um; Entwurf der Richtlinie 1/58; BStU, ZA, DSt 101113, o. Pag.
163  Geschichte. Studienmaterial. Teil IV (Anm. 118), S. 63.

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Die in der Richtlinie aufgestellte Behauptung, in dem Gesetz zur Bildung des MfS sei eine Bestimmung enthalten, wonach es für die "Gewährleistung der Sicherheit" zu sorgen habe,164 war allerdings frei erfunden.165 An der Rolle des MfS änderte sich nichts, wie aus einer weiteren Formulierung in der Präambel hervorgeht. Die Grundlage für die operative Arbeit des MfS – man beachte die Reihenfolge – ergebe sich aufgrund der von "Partei und Regierung gefaßten Beschlüsse und der vom Volke gegebenen Gesetze". Daraus wurde der Auftrag abgeleitet, "alle Versuche, den Sieg des Sozialismus aufzuhalten oder zu verhindern [...], vorbeugend und im Keime zu ersticken".166

Zu den auffälligsten Veränderungen gehört eine zusammenfassende Auflistung der Aufgaben der Staatssicherheit. Sie richtete sich nach der grundsätzlichen Festlegung vom April 1957, die der SED-Parteitag bestätigt hatte, wonach die "gesamte Tätigkeit des MfS auf die Gewährleistung der inneren Sicherheit" auszurichten sei. Als vordringlichste Aufgaben wurden die Sicherung der DDR und aller bedeutenden Objekte genannt, erst an dritter und vierter Stelle die Aufklärung der Geheimdienste im "Operations­gebiet" und, allgemein, geplante Aktivitäten gegen das Land. Über all das waren Partei und Regierung "umfassend" zu informieren.167

Die Erfüllung dieser Aufgaben hatte sich am Strafrechtsergänzungsgesetz und an der Verfassung zu orientieren. "Alle" dort definierten Straftaten waren zu bekämpfen, wozu die "ideologische Diversion" und die Republikflucht als "vorherrschende Methode des Feindes" gerechnet wurden. Als "Hauptmittel" sollten inoffizielle Mitarbeiter eingesetzt werden, denn der Kampf gegen westliche "Agenten" verlange die "Ausschöpfung aller operativen Möglichkeiten". In der Präambel wurde sogar auf ein "Recht" verwiesen, das es dem MfS gestatte, mit IM zu arbeiten. Wer es verliehen hatte, blieb zwar unerwähnt – es kann sich nur um die Parteiführung gehandelt haben –, deutlich wird aber, daß das MfS um eine Rechtfertigung seiner inoffiziellen Tätigkeit bemüht war.168

Die Grundelemente der Erfassungsrichtlinie und der Richtlinie 21 findet man in der Richtlinie 1/58 wieder. Lediglich in thematischen Teilbereichen berücksichtigte sie neue Erkenntnisse und Erfahrungen. Die wichtigsten Veränderungen seien hier zusammenfassend genannt: In den Katalog der IM-Kategorien wurden nun die Geheimen Hauptinformatoren (GHI) aufgenommen und die Aufgabendefinitionen für die IM zur Bekämpfung des "Feindes" um eine Nuance erweitert. Bei den GHI berücksichtigte die Leitung des MfS, daß die Vorschriften über die Zahl der von einem Führungsoffizier zu führenden IM in der Regel nicht erfüllt worden war,169 und senkte sie deshalb ab.170

 

164  Dokument 4, S. 195.
165  Vgl. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1950, Nr. 15, S. 95.
166  Dokument 4, S. 195.
167  Ebenda, S. 196.
168  Ebenda, S. 196f.

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Vor allem aber wurde die Arbeit mit den GHI angesichts der unbefriedigenden Ergebnisse der zurück­liegenden Jahre jetzt weitaus umfangreicher geregelt.171 Der dienstlichen Notwendigkeit, IM zeitweilig auch außerhalb ihres Wohnortes einzusetzen, entsprach die MfS-Führung durch die Einführung einer neuen Kategorie, der "Geheimen Mitarbeiter im besonderen Einsatz" (GME).172

Die Handlungsanweisungen zur IM-Werbung wurden verfeinert und um Kontrollmechanismen erweitert. So bedurfte die Prüfung eines Kandidaten der Genehmigung des Vorgesetzten, und die Bedeutung der Kontaktphase wurde besonders hervor­gehoben.173 Die Rekrutierungsmethoden ergänzte das MfS um das bereits gebräuchliche "allmähliche Heranziehen" von Personen zur inoffiziellen Arbeit.174 Auf die noch in der Richtlinie 21 eingeführten Bestimmungen zu den "Selbstanbietern" nahm man nicht mehr Bezug. Hinsichtlich der administrativen Seite sollte die Personalakte nicht erst nach der Werbung des Kandidaten angelegt werden, sondern bereits bei dessen Überprüfung. Der gestiegene bürokratische Aufwand wird auch an der Zunahme der Formblätter deutlich.

Die Aktenübergabe zwischen Diensteinheiten hingegen gestaltete man unkomplizierter. Sie war der für die Registrierung verantwortlichen Abteilung XII lediglich durch ein Formblatt anzuzeigen.175 Die normativen Bestimmungen zur Arbeit mit IM wurden dagegen zahlreicher, z.T. auch strenger. So waren IM-Treffs nun "in der Regel" – nicht mehr nur "am besten" – in konspirativen Wohnungen durchzuführen.176 Die Verbindung zu den IM sollte "ständig" gegeben sein; zuvor war das nicht definiert gewesen.177 Daß diese Richtlinie insgesamt professionelleren Charakter trug als ihre Vorgängerin, erkennt man auch daran, daß die in der Richtlinie 21 noch enthaltenen, etwas unbeholfen wirkenden didaktischen Empfehlungen weggelassen waren.

 

169  Vgl. Protokoll der Dienstbesprechung im Ministerium am 31.12.1953; BStU, ZA, SdM 1921, Bl. 195-199, hier 196.
170  Vgl. Dokument 4, S. 201.
171  Vgl. ebenda, S. 200-202.
172  Ebenda, S.202f.
173  Vgl. ebenda, S. 205-215, hier 207f.
174  Ebenda, S.212.
175  Vgl. ebenda, S. 216-218.
176  Ebenda, S.223.
177  Ebenda, S.235.

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2.4. Richtlinie 1/68

 

Im Januar 1968 setzte Minister Mielke die <Richtlinie 1/68 für die Zusammenarbeit mit Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit und Inoffiziellen Mitarbeitern im Gesamtsystem der Sicherung der Deutschen Demokratischen Republik> in Kraft.178 Auch in diesem <Grundsatzdokument> spiegeln sich politische Ereignisse und Erfahrungen von zehn Jahren, die seit dem Erlaß der Richtlinie 1/58 vergangen waren, wider.

Zu einschneidenden Veränderungen der Rahmenbedingungen operativer Arbeit führte selbstverständlich der Bau der Mauer am 13. August 1961. Das MfS, das eine wichtige Rolle bei der Grenzsicherung eingenommen hatte, registrierte gewiß mit Genugtuung, daß die "Möglichkeiten der Unterwanderung der DDR und die Aktionsfähigkeit der Feindzentralen erheblich eingeschränkt" worden waren.179

Die neue Lage führte zu einer Verschiebung der Schwerpunkte operativer Arbeit. Größere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Verhinderung feindlicher Spionage, die Bekämpfung einer – wie das MfS unterstellte – vom Westen ausgehenden "psycho­logischen Kriegsführung" und der von dort wirkenden "Menschenhändler­banden".

Die bereits in der Richtlinie 1/58 angedeutete "vorbeugende Tätigkeit" wurde noch stärker hervorgehoben und als Auftrag verstanden, durch erzieherische Maßnahmen Personen für die Gesellschaft "zurückzugewinnen".180 An die "Stelle des Zwanges", so forderte die Justizministerin Hilde Benjamin auf dem VI. SED-Parteitag im Januar 1963, sollte die "Erziehung durch die Gesellschaft" treten.181 Der Staat hatte durch den Mauerbau an innerer Stabilität gewonnen. Unter dem Eindruck der zweiten Entstalinisierungsdebatte in der Sowjetunion nach dem XXII. Parteitag der KPdSU beschloß die SED auf ihrem VI. Parteitag, für ihre Herrschaft künftig die Zustimmung der Bevölkerung zu suchen und offenen Zwang zu vermindern.182

Nach dem Bau der Mauer und dem Abschluß der Kollektivierung in der Landwirtschaft 1960 entwarf Ulbricht in seiner Partei­tagsrede eine eher pragmatische gesellschaftspolitische Konzeption, die primär auf wirtschaftliche Reformen setzte. Seine Hauptthemen waren die wissenschaftlich-technische Revolution und die Erziehung der Menschen.183  

Den Kern...............

 

 

178)  Dokument 6, S. 242-282.
179)  So Erich Mielke, zitiert nach: Geschichte. Studienmaterial. Teil IV (Anm. 118), S. 110.
180)  Geschichte. Studienmaterial. Teil V, hrsg. von der JHS, 1980; BStU, ZA, JHS 135/80, S.17-20.
181)  Hilde Benjamin: Diskussionsbeitrag, in: Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 15. bis 21. Januar 1963 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin 1963, Bd. III, S. 57-63, hier 58.
182)  Vgl, Ludz: Parteielite (Anm. 144), S. 69.
183)  Vgl. Walter Ulbricht: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verhandlungen des VI. Parteitages (Anm. 181), Bd. I, S. 28-251, hier 29 und 181.

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