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  Ackermann

Blick zurück im Zorn - eine neue historische Debatte: 

Warum sich die Verbrechen von Kommunisten und Nationalsozialisten vergleichen, aber nicht gleichsetzen lassen

 

Von Joachim Käppner, <Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt>, 19.06.1998

 

 

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Was haben sich deutsche Intellektuelle amüsiert! Unvergessen ist die Rede, in der US-Präsident Ronald Reagan Anfang der achtziger Jahre den kommunistischen Teil der Welt das »Reich des Bösen« nannte. Reagans in der Bundesrepublik viel­verspotteter Satz war sicher naiv und doch, normativ betrachtet, zutreffend.

Was heute nach Politbüro- und Mauerschützenprozessen, Aktenöffnung und Zeitzeugenberichten als selbstverständliches Wissen gilt - die Verbrechen des Kommunismus -, war damals Richard Löwenthals düsterem »ZDF-Magazin« vorbehalten. Oder den Büchern des CSU-Politikers Hans Graf Huyn. Die politische Rechte hatte das Thema besetzt, aber einen aufgeklärten, demokratisch begründeten Antikommunismus bot sie nicht. 

In den achtziger Jahren interessierte sich die liberale bis linke Öffentlichkeit kaum noch für den Kommunismus. Er hatte, anders als die Konservativen fürchteten, zwar kaum noch Anziehungs­kräfte, aber auch im Bösen interessierte man sich kaum für ihn.

Friedensdemonstranten ängstigten sich öffentlich vor der atomaren Nachrüstung der NATO. Und die östliche Vorrüstung? Sie geschah irgendwo da drüben in einer fernen Welt. In der verfaßten Studentenschaft dominierten DDR-hörige Gruppen, aber die Studenten interessierten sich ohnehin nicht für ihre eigenen Vertreter. Wenn es das Wort »political correctness« schon gegeben hätte, dann war es in der SPD mächtig »pc«, die »Zentrale Erfassungsstelle« für DDR-Straftaten in Salzgitter als »Relikt des Kalten Krieges« zu schmähen und ihre umgehende Schließung zu verlangen. Helmut Kohl empfing Erich Honecker wie einen Staatsgast. Damals also, in den achtziger Jahren, wäre ein Schwarzbuch des Kommunismus eine Sensation gewesen.

Heute könnte es noch immer eine Bereicherung sein. Es könnte den Horizont erweitern für die Verbrechen eines Systems, mit dem man sich nolens volens in friedlicher Koexistenz eingerichtet hatte. Das Schwarzbuch ist das beklemmende Kompendium einer aus den Fugen geratenen Zeit. Und dennoch wirkt es wie ein Ärgernis.

Schuld daran ist Stephane Courtois, ehemaliger Maoist, Forschungsdirektor am Centre nationale de la recherche scientifique, Koordinator des Schwarzbuch-Projekts - und ein Mann, der sich von seinem Glauben gelöst hat. Er wollte das radikal Neue, den Tabubruch, die Provokation.

Mit dem Furor des Renegaten – und ohne Wissen seiner Koautoren – stellte Courtois dem Buch ein Vorwort voran, über das jetzt die meisten reden, ohne das über 900 Seiten dicke Gesamtopus gelesen zu haben. Seine These: Der Terror war »ein Grundzug des modernen Kommunismus«. Weil das so war, errechnet Courtois, verschuldete der Kommunismus zwischen 1917 und 1989 »100 Millionen Tote« – »während es im Nationalsozialismus rund 25 Millionen waren.«

Und schließlich, sagt Courtois, sei es nicht einfach, der Welt diese Wahrheiten ins Gesicht zu schreiben. Nach 1945 nämlich »erschien der Genozid an den Juden als das Paradigma moderner Barbarei, und zwar so sehr, daß er allen Raum für die Wahr­nehmung von Massenterror im zwanzigsten Jahrhundert beanspruchte«. Die Kommunisten hätten »diese Besonderheit« (den Holocaust) raffiniert für »die Mobilisierung des Antifaschismus« genutzt. Wer neuerdings die »Einzigartigkeit« des Mordes an den Juden betone, betreibt in dieser Logik die rote Ablenkungsstrategie fort, er »behindert ebenfalls die Wahrnehmung vergleich­barer Tatsachen in der kommunistischen Welt«.

Doch Courtois ist kein neuer Solschenizyn. Eher spielt er den Goldhagen des Kommunismus. Es scheint, als provoziere das Ende der Ideologien und weltanschaulichen Tabus den künstlich inszenierten Tabubruch. Courtois relativiert den Nationalsozialismus und den Holocaust, um als Enthüller noch schlimmerer Verbrechen dazustehen.


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In Frankreich gelang die Provokation leicht. Der Kommunismus als das absolut Böse – das mußte die letzte westeuropäische KP von Gewicht treffen. Zwar hatten die französischen Kommunisten Stalin gehuldigt, aber an seinen Verbrechen fühlten sie sich unschuldig. Sie leben vom Mythos der Resistance und der Gloire des antifaschistischen Kampfes. Mörder und Terroristen, hätte man sie je zur Macht kommen lassen? Niemals, dekretierte der sozialistische Premierminister Lionel Jospin: Er sei »stolz« auf die kommunistischen Minister seiner Regierung.

Das ist, in ihren ideologischen Gegensätzen, eine geradezu altmodische Frontstellung. In Deutschland, wo die kommunistische Idee seit dem Ende des Mauerstaates endgültig diskreditiert ist, hätte die Aufregung kaum gelohnt. Wäre da nicht das ominöse Vorwort.

Darum dreht sich jetzt alles. Das ist gut für den Verkauf des Buches und nicht illegitim, aber ziemlich unergiebig für die historische Erkenntnis. Courtois' Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus verhindert geradezu, daß sich die Debatte tatsächlich um die Verbrechen des Kommunismus dreht. Es geht wieder um uns. Um Vergangenheit, die nicht vergeht, um Selbstbespiegelung und die ermüdenden rhetorischen Rituale von links und rechts.

Für die Konservativen ist die Sache einfach: Jetzt wird den Linken der Spiegel vorgehalten. »Schwatzbuch« höhnt dagegen die Frankfurter Rundschau, »Windei 98« die Zeit. Rudolph Walther bescheinigt in der taz ganzen Teilen des Buches »propagand­istisches Niveau«. Selbst ein so renommierter Historiker wie Hans-Ulrich Wehler sieht im Streitgespräch mit Courtois »die Gefahr der Apologetik« heraufziehen. Dabei geht es in erster Linie gar nicht um das Schwarzbuch, sondern um einen Mann, den sich Courtois zum Vorbild nahm: Ernst Nolte.

Der Berliner Faschismusforscher hatte 1986 den »Historikerstreit« ausgelöst mit der These vom »kausalen Nexus« zwischen Sowjetterror und Holocaust. Seither ist Nolte der Held einer dubiosen rechtslastigen Anhängerschar. Sie haben verstanden, was er sagen wollte: Der Holocaust war nicht einzigartig, kein Grund zur Schuldbeladenheit, andere haben auch und vor uns Verbrechen begangen. Obwohl sich Nolte im Historikerstreit überhaupt nicht durchsetzen konnte, fürchten ihn viele liberale Historiker, als sei er die Speerspitze einer rechtsnationalen Gegenrevolution und nicht ein in seinen Thesen versponnener alter Mann.


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Die Erinnerung an Nolte und an die späten Identitätsdebatten der alten Bundesrepublik machen den deutschen Streit um das Schwarzbuch so fruchtlos. Nolte bestritt die »Einzigartigkeit« des Holocaust, um den Deutschen die Last dieses dunklen Teils ihrer Geschichte leichter zu machen. Courtois tut es für sich selbst, um die eigene These zu überhöhen. Seine Behauptung, wer auf der »Einzigartigkeit« des Mordes an den Juden beharre, verdunkle die Erinnerung an die Opfer des Kommunismus, grenzt an Apologie.

Diese Argumentation ist noch immer die des marxistischen Dogmatikers, nun aber als Negativ. Früher lehnten es die Kommunisten ab, sich mit dem Holocaust näher zu beschäftigen, weil das nur vom Kampf der Antifaschisten ablenke. Heute will Exkommunist Courtois nichts vom Mord an den Juden mehr hören, weil die Verbrechen des Antifaschismus das wichtigere Thema seien. In einem Interview spricht er sogar vom Schlußstrich, der endlich nötig sei.

Einzigartig war nicht der »technische Vorgang der Vergasung« (Nolte), das »Ingangsetzen eines industriellen Prozesses« (Courtois). Die Mordmethode ist es nicht, die den deutschen Versuch einer »Endlösung« so einzigartig macht. Es ist ihr Ziel, ihr Programm: eine Bevölkerungsgruppe aus ideologischen Motiven restlos und ohne jede Ausnahme auszulöschen, gleich wie deren Mitglieder sich verhalten. Diese Erkenntnis ist auch ein Produkt des Historikerstreites. »Das biologisch verfaßte Konzept von Mensch, Politik und Gesellschaft«, sagt Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, »macht den Aussonderungs­prozeß so gnadenlos. Das ist eine neue Qualität.«

Das macht den Terror der Kommunisten nicht besser. Es tut auch wenig zur Sache, daß der Kommunismus das Gute wollte, aber das Böse tat. Die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit ist nur um so erschreckender. Der Erinnerung an die Opfer der Kommunisten hilft es auch nicht, die Einzigartigkeit des Mordes an den Juden zu bestreiten, mit der sich die Deutschen als Teil ihrer Geschichte eben beschäftigen müssen. Sie ist ein Schlüsselbegriff bei der Erforschung des Holocaust.

Die dogmatische Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus im Stile der simpelsten Totalitarismustheorie ist die große Schwache des Schwarzbuches und nicht allein seines Vorwortes. Das Buch blendet fast aus, wie sehr sich die Sowjetunion nach Stalins Tod veränderte. Der Kommunismus dort blieb zwar ein gewalttätiger und missionarischer Gegenentwurf zur freien Welt, doch die Jahre des großen Schreckens waren vorüber.


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Dennoch markiert das Schwarzbuch einen erheblichen wissenschaftlichen Fortschritt. Vor allem gilt das für den Beitrag von Nicolas Werth über die UdSSR. Sorgfältig belegt er, wie die Bolschewiken von Beginn an jede Freiheitsregung durch äußerste Gewalt erstickten, belegt er Phasen und Ziele des Staatsterrors unter Lenin und Stalin »als Mittel der wirtschaftlichen und sozialen Umwandlung«. Interessant ist eine Parallele zur westlichen Debatte über die Entstehung des Plans zur Ermordung aller Juden - jene nämlich, daß auch das große Töten unter Stalin nicht selten Folge von Chaos und Hierarchiekämpfen in den Institutionen des Terrors war statt stets die Verwirklichung zentraler Planung. Am Ende entstand eine solche Dynamik, »daß die Macht sich nur über eine wachsende Radikalisierung der Terrorpraktiken in der Illusion wiegen kann, diese zu kontrollieren«.

Auch für die deutsche Diskussion bietet das Buch weiteren Stoff – vor allem für jene, die den Kommunismus lange Jahre verharmlosten, nicht nur jenen in der DDR oder im Ostblock. Wer einst rührselige Lobgesänge auf Nordkorea hielt oder die linken Einparteiendiktaturen der Dritten Welt im Zeichen der internationalen Solidarität bejubelt, sollte heute das Schwarzbuch lesen. Es eignet sich als Gegengift – gegen den Wahrnehmungsverlust der Wirklichkeit. 

 

Quelle: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19. Juni 1998

 


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VOLKHARD KNIGGE

»Die große Vereinfachung macht dumm.«

Ein Gespräch mit Joachim Käppner

Quelle: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19. Juni 1998

 

Herr Knigge, was halten Sie von folgendem Zitat, das von Stephane Courtois stammt, dem Herausgeber des Schwarzbuchs: »Der Hungertod eines ukrainischen Kulakenkindes gilt genausoviel wie der Hungertod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto«?

Volkhard Knigge: Über diesen Satz müssen wir im Zusammenhang des Buches sprechen. Und das Buch ist ebenso glücklich wie unglücklich. Das Unglücklichste daran ist das Vorwort. Ein Leben wiegt so viel wie das andere und ein Tod so schwer wie der andere. Der Satz blendet aber etwas aus, weil er den Tod als solchen in den Mittelpunkt stellt. Er beschäftigt sich nicht genau mit den konkreten historischen Bedingungen, die zu diesem Tod führten.

Das Buch geht von 80 bis 100 Millionen kommunistisch verschuldeter Toter aus, denen die »25 Millionen« des Nationalsozialismus gegenübergestellt werden.

Knigge: Es fällt auf, daß die Zahl im Buch selber erheblich variiert. Das liegt daran, daß es sich aus unterschiedlich gut dokumentierten Untersuchungen zusammensetzt. Das Kapitel von Nicolas Werth über die Sowjetunion ist solide Forschung, vorsichtig und zurückhaltend in ihren Einschätzungen. Auf der anderen Seite steht mit Stephane Courtois, dem Verfasser des Vorworts, ein Eiferer.

Courtois stellt dem »Rassen-Genozid« einen »Klassen-Genozid« gegenüber. Lassen sich die Verbrechen auf diese Art gleichsetzen?

Knigge: Ich unterscheide zwischen einer ideologischen Kommunismuskritik und einer aufgeklärten, rationalen. Die erstere hat in Deutschland eine lange und schlechte Tradition. Gerade in den fünfziger Jahren hatten doch Konstrukte wie Klassenmord gleich Rassenmord, rote Konzentrationslager gleich braune Konzentrationslager Konjunktur. Diese Tradition fand mit Ernst Nolte geradezu ihr Symbol. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr skeptisch gegenüber solchen Gleichsetzungen.


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Was unterscheidet »Rassenmord« und »Klassenmord«?

Knigge: Der rassenbiologisch fundierte Antisemitismus der Nationalsozialisten lief auf ein stringent durchzuführendes Ausrottungsprogramm hinaus. Es zielte darauf ab, daß kein Jude dieses Programm überlebt.

Courtois argumentiert, der Kommunismus wolle ebenso konsequent ganze Klassen auslöschen.

Knigge: Ich will das gar nicht verharmlosen. Aber das sowjetische Modell brachte selten diesen stringenten Willen zum Töten zum Vorschein. Im sowjetischen Speziallager Buchenwald starben Tausende von Häftlingen, vor allem im Winter 1946/47 an Hungerfolgen. Aber eine gezielte Tötungsabsicht läßt sich bisher nicht belegen. In der Sowjetunion unter Lenin und Stalin existierte eine Mischung aus gezieltem Klassenkampf, aus Hunger und ökonomischen Katastrophen, aus, wie wir heute sagen würden, ethnischen Säuberungen und außenpolitischer Pragmatik. Die sowjetische Politik konnte sich ändern, selbst unter Stalin. Die nationalsozialistische nicht.

Der sowjetische Kommunismus hat sich nach Stalin verändert.

Knigge: Ja. Es ist ein erstaunliches Phänomen, daß der Gulag nach Stalins Tod aufgelöst wird, daß Politikwechsel möglich sind ...

... anders als im NS-Staat.

Knigge: Das eben macht den Nationalsozialismus so fürchterlich: Pragmatische Überlegungen funktionieren nicht mehr. Ein Jude im Ghetto Lodz kann sich so nützlich durch Reparatur von Wehrmachtsuniformen machen, wie er will - das rettet ihn nicht vor dem Tod. Dieses biologistisch verfaßte Konzept von Mensch, Politik und Gesellschaft macht den Aussonderungsprozeß so gnadenlos. Das ist eine neue Qualität.

Im Historikerstreit hat Ernst Nolte die Einzigartigkeit des Holocaust bestritten.

Knigge: Ich will nicht dogmatisch am Begriff der Einzigartigkeit festhalten. Aber es gibt keinen vergleichbaren Fall, in dem die Ausrottung so radikal war. Auch bei den kommunistischen Verbrechen darf eines nicht vergessen werden: Die Doktrin - und sei es der Terror - wurde immer in spezifischen Gesellschaften praktiziert, vor spezifischen Traditionshintergründen und in bestimmten innen- und außenpolitischen Kontexten. Wer das nicht sauber untersucht, ist nicht präzise genug in der Beschreibung der Entstehung von Unrecht. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Moskau und Pol»


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Die große Vereinfachung macht dumm.« 

Pot, den Säuberungen im Spanischen Bürgerkrieg und dem sogenannten sowjetischen Speziallager in Buchenwald. Das alles über einen Leisten zu schlagen, macht dumm.

Sie haben über das sowjetische »Speziallager« in Buchenwald, das dem Konzentrationslager der Nazis folgte, eine Ausstellung eingerichtet. Welche Rolle innerhalb des Stalinschen Terrors spielten solche Lager für nach 1945 inhaftierte Deutsche?

Knigge: Sie waren weder Teil des Gulag noch normale Internierungslager wie in den Westzonen. Sie waren mehr oder weniger ein eigener, von spezifischer Rechtlosigkeit gekennzeichneter Archipel in einer Art Niemandsland zwischen den großen sowjetischen Lagerbürokratien. Schließlich wurden die Lager doch von der Gulag-Verwaltung übernommen. Von der Logik des Schwarzbuches her müßte man glauben, daß es jetzt noch schlimmer wird. Nein, im Gegenteil. Die sowjetischen Beamten sind erstaunt über den Unterschied zum Gulag: Die Gefangenen arbeiten ja gar nicht, was sind das eigentlich für Lager? Schließlich wurden die Speziallager aufgelöst. Mit der Ausstellung wollten wir differenzieren und aus diesem alten Gleichsetzen der Verbrechen zweier Systeme herauskommen.

Versucht das Schwarzbuch eine Neuauflage der Totalitarismustheorie?

Knigge: Auf der deutschen Totalitarismusforschung liegt ein Schatten: In vielem hatte sie die Funktion, andere Formen des Terrors als deckungsgleich mit dem Naziterror zu beschreiben. Auf politischer Ebene war diese Theorie nicht selten ein Kampfangriff gegen die sorgfältige Befassung mit NS-Unrecht. Es ist aber nicht klug, historische Forschungen zu beginnen durch die Festschreibung des Forschungsziels. Das macht blind.

Über/ordert die Beschreibung komplizierter Wahrheiten nicht viele Menschen?

Knigge: Vor- und Nachwort unternehmen den Versuch einer absoluten Vereinfachung. Beide sind historisch nicht haltbar. Zu den Autoren des Schwarzbuches gehören ehemalige Kommunisten, die offenbar feste Wahrheiten brauchen. Jetzt haben sie genau die gleichen Weltgewißheiten wie zuvor, nur von der negativen Seite her gesehen. Vorher sagten sie: Der Kommunismus wird alles richten und alles lösen, von der Frauenfrage zur Kindererziehung, vom Antisemitismus /ur weltlichen Gerechtigkeit. Und jetzt sagen sie: Der Kommunismus hat das alles gar nicht gelöst! Er ist böse.


210 Volkhard Knigge

Mit welcher Folge?

Knigge: Man ist nicht frei. Ein freier Historiker ist ein einsamer Historiker. Er gewinnt an Wissen, aber verliert an historischen Gewißheiten. Das muß er aushallen.

Ist das Schwarzbuch ein französisches Phänomen?

Knigge: Auch in Westdeutschland gibt es viele Autoren dieser Generation und politischen Vergangenheit. Es fällt auf, worüber sie nicht forschen: über die Geschichte des Linksradikalismus in der Bundesrepublik. Da müßten sie eigentlich anfangen. Sie wollen sich nicht Rechenschaft über ein Stück Lebensgeschichte ablegen. Im Namen der KZ-Befreiung, des Antifaschismus, wäre man möglicherweise zum Lagerwächter geworden, wenn man politisch gewonnen hätte.

Was bleibt angesichts der im Schwarzbuch beschriebenen Verbrechen vom kommunistischen Widerstand?

Knigge: Seine eigene Würde. Es gab keine Widerstandform, welche die Bundesrepublik, wie wir sie kennen, zum Ziel hatte. Die Kommunisten im Widerstand träumten genausowenig alle von der späteren DDR. Es bleibt die Entscheidung von Menschen, sich einem Unrechtsregime entgegengestellt zu haben. Das nur vom Ergebnis her zu berurteilen ist der Hochmut der Nachgeborenen. Das kommunistische Unrecht muß in seinem historischen Kontext beurteilt werden, dann, wenn es begangen wurde, auch von ehemaligen Widerstandskämpfern.

Die Verbindung vom Widerstand und späterem Unrecht in dessen Namen ist schwer zu vermitteln.

Knigge: So ist es. Viele Menschen kommen mit dieser Sehnsucht in die Gedenkstätte, dort auf die positiven Helden der Geschichte zu treffen. Auf Berichte über Menschen, mit denen man sich identifizieren kann, wie kleine säkulare Heiligenbilder.

Statt dessen treffen sie »rote Kapos« ...

Knigge:... und gebrochene Helden. Geschichtshelden sind immer gebrochen - weil das Leben gebrochen ist.

Quelle: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 19. Juni 1998

 


  

RICHARD HERZINGER

Angst vor dem letzten Menschen.

Bertold Brecht, Ernst Bloch und die apokalyptische Faszination des Kommunismus

 

Das Schwarzbuch des Kommunismus dokumentiert zum erstenmal umfassend das ungefähre Ausmaß der Untaten, die im Zeichen der Utopie einer weltrevolutionären Befreiung der Menschheit begangen wurden. Wie genau die von Stephane Courtois und seinen Mitautoren festgestellten Opferzahlen sind, ist unter Historikern umstritten. Doch methodische Einwände gegen Courtois' Forschungen berühren nicht die Tatsache, daß kommunistische Führer, allen voran Lenin, Stalin und Mao Tse-tung, neben Adolf Hitler zu den mit Abstand größten Massenmördern des 20. Jahrhunderts zählen. 

Bei allen gravierenden Unterschieden ist dem marxistisch-leninistischen und dem nationalsozialistischen System gemeinsam, daß sie eine bis zu ihrem Auftauchen ungeahnte Vernichtungsenergie freisetzten. Sie gründeten auf Ideologien, die die Ausrottung bestimmter Klassen oder Rassen als Voraussetzung für die Errichtung einer idealen Weltordnung betrachteten. Systematischer Terror bis hin zur planmäßigen Auslöschung großer Teile der eigenen und der Bevölkerung eroberter Länder gehörte daher zum Wesensmerkmal beider Systeme; solcher Terror war - nach der Maßgabe ihrer pervertierten Moral - ethischer Imperativ dieser totalitären Ideologien.

Manchem Linksintellektuellen fällt es immer noch schwer, diese besondere Qualität nicht nur des nationalsozialistischen, sondern auch der kommunistischen Mordmaschinerie anzuerkennen. Peter O. Chotjewitz, Lothar Baier und Michael Scharang bieten in ihren Beiträgen zur ZEIT-Diskussion (siehe ZEIT, Nr. 24,25 und 26/98) ein ganzes Arsenal von Argumenten an, die spezifische Merkmale kommunistischer Verbrechen verwischen. 


Richard Herzinger  212

Hat es Massenmord und staatlichen Terror nicht schon immer gegeben? Könnte man nicht ebensogut auch Schwarzbücher des Sklavenhandels und der Kolonialkriege schreiben, wie Chotjewitz bemerkt? Ist es nicht ganz einfach so, daß der Mensch als solcher, weil er den Gedanken an seine Endlichkeit nicht ertragen kann, immer in irgendein Ideengebäude flüchtet, »dessen Dach Unsterblichkeit verheißt, religiöse, völkische oder kollektive«, wie Scharang resümiert?

Wenn derartige geschichtsrelativistische Platitüden gegen die Erforschung des spezifischen Charakters des NS-Terrors ins Feld geführt werden, gibt es (nicht nur) auf der Linken zu Recht einen Aufschrei der Empörung. Wenn es um die Verbrechen des Kommunismus geht, glauben sich viele Linke jedoch noch immer einen Vermeidungsdiskurs der krudesten Sorte leisten zu können. Abgesehen davon, daß die zeitgenössische Demozidforschung sehr wohl auch die Opfer nichtkommunistischer inklusive demokratischer Systeme zählt - wäre ein Versäumnis in dieser Hinsicht ein Argument, auf die Erfassung der Opferzahlen zu verzichten, die von der spezifischen Systematik kommunistischen Terrors produziert wurden? 

Chotjewitz, Baier und Scharang stellen das Unternehmen Schwarzbuch a priori unter einen verschwörungstheoretischen General verdacht: Die ganze Opferzählerei ziele doch bloß darauf, ein »Autodafe der Glaubensreinigung« (Chotjewitz) zu veranstalten, will heißen: »der heutigen Linken den Prozeß zu machen« (Scharang).

Dabei hat doch die Linke selbst am meisten Grund, sich dem niederschmetternden Fazit der monströsen Epochenillusion des Kommunismus ohne Wenn und Aber zu stellen. Nicht etwa, um sich reumütig an die eigene Brust zu schlagen. Sondern weil die Geschichte des Kommunismus zugleich auch eine eigentümliche Faszinationsgeschichte der intellektuellen Linken ist, deren Erforschung erst am Anfang steht.

Dieser Faszination sind nicht nur einige wenige dogmatische Sektierer erlegen. Die Befürchtung, dadurch könnte die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus relativiert werden, hat auch gemäßigte Linke und selbst Liberale davon abgehalten, sich das ganze Grauen zu vergegenwärtigen, das die marxistisch-leninistische Ideologie verursacht hat. Das vermeintliche »humane Anliegen«, das trotz allem im Kommunismus verborgen sei, hat dieser Ideologie bei wohlmeinenden Humanisten, von Maurice Merleau-Ponty (Humanismus und Terror, 1947) bis zu – in heutigen Tagen – Walter Jens, im Vergleich zum Nationalsozialismus immer wieder mildernde Umstände eingetragen.


Angst vor dem letzten Menschen  213

Am stärksten wirkt dieser Kredit für die »linke« Totalitarismusvariante heute noch in der ästhetischen Debatte nach. Linke Autoren wie Bertold Brecht, die sich der marxistisch-leninistischen Ideologie verschrieben hatten, werden von der Kulturkritik meist unverdrossen als aufklärerische Humanisten betrachtet. Ihr Eintreten für die sowjetische Diktatur wird als eine Art äußerliche Verirrung angesehen, der sie in bester idealistischer Absicht verfallen seien. Anders als bei rechten Autoren wie Ernst Jünger und Martin Heidegger wird bei Brecht und Ernst Bloch selten nach dem konstitutiven Zusammenhang zwischen ihrer totalitären Neigung und ihren ästhetischen und philosophischen Ansichten gefragt. Dabei läßt sich gerade an den Beispielen Brecht und Bloch zeigen, daß ein bestimmter Typus des ästhetischen Modernismus eine immanente Affinität zum politischen Totalitarismus besaß.

»Unsere Gegner sind die Gegner der Menschheit. Sie haben nicht <unrecht> von ihrem Standpunkt aus: das Unrecht besteht in ihrem Standpunkt. Sie müssen vielleicht so sein, wie sie sind, aber sie müssen nicht sein. [...] <Güte> bedeutet heute, wo die nackte Notwehr riesiger Massen zum Endkampf um die Kommandohöhe wird, die Vernichtung derer, die Güte unmöglich machen.« 

Diese Sätze stammen nicht etwa aus der Kriegserklärung eines größenwahnsinnigen Diktators, der seine Invasion ins Nachbarland mit einer apokalyptischen Erlösungsbotschaft zu legitimieren versucht. Es sind die Worte eines ganz und gar unmilitärischen Dichters, dessen Lieblingswort »Freundlichkeit« war. Sie stammen aus einer Antwort, die er einigen Theaterkritikern verpaßte, nachdem sie die Uraufführung eines seiner Stücke verrissen hatten.

In diesem Stück, so hatten die Kritiker moniert, beziehe der Autor einen einseitigen Standpunkt, und es fehle seinen Figuren an Güte. Grund genug für unseren Dichter, diesen Kritikern zu erklären, daß sie und alle anderen, die mit der Tendenz seines Werkes nicht übereinstimmen, ihr Existenzrecht verwirkt hätten. Eine Theaterdebatte aus dem Jahre 1932, ein Feuilletonstreit um ein Lehrstück namens Die Mutter. Das Zitat stammt von Bertolt Brecht.


Richard Herzinger  214

Womit Brecht uns hier konfrontiert, ist keine einfache Amoral oder Unmoral. Brecht spricht von einem hochmoralischen Anspruch aus; man könnte sagen, daß er im Namen einer Über- oder Hypermoral argumentiert. Angesichts der bevorstehenden apokalyptischen Entscheidungsschlacht ist es von diesem übermoralischen Standpunkt aus unmoralisch, Erbarmen oder Güte gegenüber einzelnen einzufordern. Brechts Gestus hat etwas von der Pose des Bürgerschrecks, der die konventionellen Moralvorstellungen als Ausdruck spießiger Angst vor den großen Schicksalsfragen der Menschheit vom Tisch wischt. 

Und sein Hypermoralismus ist dem ästhetizistischen Antimoralismus insofern verwandt, als er sich kleinliches Gemäkel von unbegabten Kritikern an seinem großen Kunstwerk verbittet. Aber Brechts genialischer Künstlergestus sichert sich durch die Anrufung eines Verbündeten ab, der noch viel größer ist als das geniale Kunstwerk selbst. Vor der Geschichte muß das Werk des Künstlers bestehen, nicht vor bürgerlichen Kritikern, deren Klasse historisch ja längst zum Aussterben verurteilt ist.

Man findet den übermoralischen Gestus ganz ähnlich bei den radikalen Schriftstellern der Weimarer Rechten wieder. Auch bei Ernst Jünger verbirgt die Attitüde mitleidsloser Kälte einen Impetus tiefer moralischer Empörung. Ist es bei Brecht die Entrüstung über das Los der Ausgebeuteten in einer Welt der Ausbeutung, so bei Ernst Jünger die Empörung über die angebliche Demütigung des deutschen Volkes durch die westlichen Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Wie Brecht sieht auch Jünger in der »einfachen«, der humanistischen Moral kein Mittel gegen das epochale Unrecht, das er anprangern will. Um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen, muß zuerst die alte Moral entlarvt werden. Am besten ist es, wenn sie sich durch Repression gegen die Unterdrückten selbst demaskiert. Das kostet Opfer, und die Opfer müssen bejaht werden. »Vorzüglich«, rief Ernst Jünger 1929 den Westmächten zu, die er für das Elend des deutschen Volkes verantwortlich machte, »nur kein Mitleid mit uns! Dies ist eine Position, aus der sich arbeiten läßt. Dieses Maßnehmen an dem geheimen, zu Paris aufbewahrten Urmeter der Zivilisation - das bedeutet für uns, den verlorenen Krieg zu Ende verlieren, bedeutet die konsequente Durchführung eines nihilistischen Aktes bis zu seinem notwendigen Punkt. Wir marschieren seit langem einem magischen Nullpunkt zu, über den nur hinwegkommen wird, der über andere, unsichtbare Kraftquellen verfügt.«


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Der Urvater dieser Denkfigur ist Friedrich Nietzsche. Sein Zarathustra geht aus der Einsamkeit der Berge hinunter in die Ebene, um dem Volk vom »Übermenschen« zu künden. Dieser Übermensch werde erscheinen, wenn alle alten Werte, die nach dem Tod Gottes und der Metaphysik nur noch lebensfeindliche Hüllen darstellten, zerschmettert sein würden. Die Ankunft des Übermenschen werde die Krise der Moral beenden, denn er werde neue Werte stiften -Werte, die im Einklang mit dem Leben stehen und auch dessen schreckliche Seiten, aus einem Überschuß an Lebenskraft heraus, bejahen. Wer dem Übermenschen den Weg bereiten wolle, der müsse ein kompromißloser Zerstörer aller bestehenden Werte sein, die den Menschen von seiner Wiedervereinigung mit dem schöpferischen Leben trennen. 

Die Alternative zum Übermenschen, so warnt Zarathustra, werde die Herrschaft des »letzten Menschen« sein, des - um es aktuell auszudrücken - willenlosen Zombies der Konsumgesellschaft, der kein Gefühl mehr für Größe, für die Gefahr, für die Qualen des großen Schaffensaktes habe. »Die Erde ist dann klein geworden«, ruft Zarathustra aus, »und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.«

Nietzsches Zarathustra ist so etwas wie der Geburtsschrei des künstlerisch-literarischen, apokalyptischen Modernismus. Dessen Movens ist die Angst vor der Herrschaft des »letzten Menschen«, vor der Verflachung des Geistes in der liberalen Massengesellschaft. Der avantgardistische Künstler ist der Künder einer Größe, die niemand, der nicht selbst ein Künstler ist, mehr wahrnehmen oder ahnen kann. Nur die Kunst habe noch Zugang zu den geheimen Kraftquellen authentischen Lebens. Als die radikalen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts selber avantgardistisch werden und offen die Zerstörung predigen und feiern, erkennen Schriftsteller wie Brecht und Jünger ihre Geistesverwandtschaft mit ihnen.

Beide waren von der Angst getrieben, sie könnten in die ohnmächtige, hilflose Moral eines jammernden Humanismus zurückfallen, der immer nur die Opfer beklage, ohne Einsicht in die tieferen Gründe zu gewinnen, die all diese Opfer zur Notwendigkeit machen. Die großen Schriftsteller Brecht und Jünger fürchteten sich vor dem Rückfall in die von ihnen verachtete Jammerlappenmoral des Humanismus vor allem um ihres Werkes willen. Wenn sie nicht dicht und mit eiskalten Nerven am Puls der Geschichte blieben, dann würde ihr großes Werk an Kraft verlieren. »Lieber noch mit diesem stürzen als mit jenen leben, die die Furcht im Staub zu kriechen zwingt«, ruft der Ich-Erzähler in Jüngers Auf den Marmorklippen (1939) angesichts eines verwegenen »Capitanos« aus, der sich schwärmerisch an die Nacht erinnert, »da wir Sagunt zu Asche brannten«.


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So könnte auch Ernst Bloch gedacht haben, als er 1937 zu seiner Verteidigung der Moskauer Schauprozesse ausholte. Blochs Rechtfertigung des stalinistischen Terrors war keine bloße, durch die Zwänge der politischen Verhältnisse bedingte Verirrung. In ihr kommt ein essentieller Kern seiner Philosophie, seines Utopismus zum Ausdruck. Blochs chiliastischer Marxismus schließt sich explizit an die christliche Apokalypsetradition an, namentlich an die der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament. Diese Johannesoffenbarung ist die Beschreibung einer entfesselten Vernichtungsphantasie. Johannes kündigt der gotteslästerlichen Welt den Untergang in einem göttlichen Strafgericht an. Feuer fällt vom Himmel, die Erde öffnet sich, und die Toten stehen auf, freilich nur, um vom himmlischen Richter in Gute und Böse, Sündige und Gerechte geschieden zu werden. Ernst Bloch nennt in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung diese Apokalypseschilderung einen »erzutopischen Archetyp«, der »so manche geschlagene Revolution begleitet hat.«

Mit wütendem Unverständnis antwortet Ernst Bloch auf dem Höhepunkt der Stalinschen Säuberungswellen den kritischen Einwänden bis dahin loyaler prokommunistischer Intellektueller gegen die Moskauer Schauprozesse. Diese Zweifelnden schalt Bloch »Renegaten«, die nicht darüber hinwegkämen, »daß der zwanzigjährige bolschewistische Staat sich so vieler Feinde zu entledigen hat und sich ihrer oft gehetzt und schreckend blutig entledigt«. Die abtrünnigen Intellektuellen von 1937 vergleicht er mit Klopstock und Schiller, die nach anfänglicher Begeisterung für die Französische Revolution vor der Praxis der terreur erschraken und sich von der revolutionären Idee abwandten. 

In diesen schreckhaften Humanisten kann Bloch nur Kapitulanten erkennen, die der gegenrevolutionären Strategie der Bourgeoisie auf den Leim gekrochen seien. Die Zweifel an den aberwitzigen Anklagen der Moskauer Prozesse erklärt Bloch zu Einflüsterungen des bourgeoisen Teufels, denn selbst wenn diese Zweifel berechtigt wären: Gäbe man ihnen nach, würde der Fortgang des weltgeschichtlichen Strafgerichts aufgehalten. Hier ging es ja nicht um »bourgeoise« Rechtsdetails, sondern um die Bejahung oder Verneinung des Anbruchs heilsgeschichtlicher Endzeit. »Die alte Welt«, schreibt Bloch 1937, »ist verroht und verteufelt wie nie, die neue vollstreckt außer dem geschichtlichen ein sittliches Urteil, wenn sie niederschlägt und siegt.«

Daß die von den »Capitanos« des 20. Jahrhunderts veranlaßten Vernichtungsorgien exorbitant hohe Opfer kosteten, beglaubigte in der Sicht apokalyptischer Übermoralisten wie Brecht, Bloch und Jünger, daß es sich bei diesem Gemetzel tatsächlich um den Anbruch des endzeitlichen Entscheidungskampfes handelt. Ihre Entschlossenheit, sich von dieser historischen Gewalt auf keinen Fall zu isolieren, entsprang der Furcht, am Ende zu den »letzten Menschen« gehören zu müssen.

Quelle: Die Zeit, 25. Juni 1998

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ULRIKE ACKERMANN

Feindliche Nähe.

Deutscher und französischer Historikerstreit

Merkur (Berlin), Juli 1998

 

Das Leben hat gegen den Tod verloren, 
aber die
Erinnerung gewinnt in ihrem Kampf gegen das Nichts. 
Tzevetan Todorov

 

Der letztes Jahr verstorbene Historiker Francois Furet — berühmt für seine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos der Französischen Revolution — legte 1995 sein fulminantes Werk über die Faszination der kommunistischen Idee in diesem Jahrhundert vor.1 Es wurde binnen kürzester Zeit in Frankreich ein Bestseller und eröffnete aufs neue die Debatte über die Vergleichbarkeit von Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus und Kommunismus, über die Wechselwirkungen und Bedingungsverhältnisse totalitärer Ideologien und ihrer politischen Folgen.

1  Francois Furet, Das Ende der Illusion. München: Piper 1996.

Furet vertritt in seinem Werk die These von der »konfliktuellen Komplizenschaft« der Nazis und der Kommunisten; ihr Verhältnis sei komplementär und von Rivalität gezeichnet. Er sieht im Kommunismus und Nationalsozialismus zwei feindlich-verwandte Ausgeburten des Ersten Weltkrieges und des bürgerlichen Selbsthasses; beider Feind ist die Demokratie. Selbst in seiner Jugend vom Kommunismus fasziniert, kündigte er 1954 seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei auf.

Gleich zu Anfang des Werkes findet sich eine ausführliche Anmerkung des Autors, die Ernst Nolte als Kronzeugen des Historiker­streits gewidmet ist: 

»Seit zwanzig Jahren, vor allem jedoch seit der Auseinandersetzung über die Interpretation des Nationalsozialismus, die im Jahr 1986/87 die deutschen Historiker entzweite, wurde Ernst Noltes Auffassung in Deutschland und im gesamten Westen derart einhellig verdammt, daß sie mir eines besonderen Kommentars würdig erscheint.

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Ihm kommt unter anderem das Verdienst zu, bereits sehr früh das Verbot eines Vergleichs von Kommunismus und Nazismus durchbrochen zu haben ... In Wahrheit verhindert das Veto gegen solche Ansatzpunkte eine Aufarbeitung der Geschichte des Faschismus; es entspricht im historischen System der Wirkung, die der Antifaschismus sowjetischer Prägung im politischen System hatte. Indem er die Kritik am Antifaschismus verbietet, verhindert dieser Typus historiographischen Antifaschismus auch das Verständnis des Faschismus.« 

»Schockierend und falsch« hingegen sind für ihn Noltes Schlußfolgerungen, die in einer Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen münden. In einem Briefwechsel setzten die beiden Historiker mit solch unterschiedlicher politisch-intellektueller Biographie ihren Diskurs ohne ideologische Scheuklappen und jenseits des hierzulande üblichen Lagerdenkens fort.1

Das pünktlich zum achtzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution im Herbst 1997 in Paris erschienene Livre noirdu communisme liefert das empirische Material für die begonnene Auseinandersetzung und spitzt sie politisch zu.2 An Stelle von Furet, wie es vorgesehen war, schrieb der Herausgeber Stephane Courtois das Vorwort zu dem Buch. Innerhalb weniger Wochen erklomm es den ersten Platz der Bestsellerlisten, abendfüllende Fernsehdebatten waren ihm gewidmet. Es provozierte nicht zuletzt einen Eklat im französischen Parlament, der in einer Ehrenerklärung des Premierministers für die Kommunisten gipfelte.

Neben dem renommierten Kommunismusforscher Courtois waren fünf weitere Historiker, die in Fachkreisen hohes Ansehen genießen, an dem Werk beteiligt. Auf rund 900 Seiten liefern die Autoren erstmalig ein umfassendes Kompendium über die Verbrechen, die in diesem Jahrhundert im Namen des Kommunismus begangen wurden. Ihre weltweite Opferbilanz beläuft sich auf 80 bis 100 Millionen Menschen, die mit dem Leben bezahlt haben: durch Genickschuß oder Kampfgas, während der Zwangsarbeit oder der Deportation und Vertreibung, anläßlich politisch geplanter Hungersnöte und auf Todesmärschen. Akribisch rekonstruieren die Autoren zum Teil auf der Grundlage neuen Archivmaterials, daß der Terror nicht erst mit Stalin begann, sondern seine Wiege die Oktoberrevolution selbst war.

 

1  Vgl Francois Furet /Ernst Nolte, Feindliche Nahe Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert. Herbig 1998.
2   Stephane Courtois u.a. (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror München' Piper 1998.


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An der aufgeführten Opferbilanz bestehen in Fachkreisen keine Zweifel. Der Streit entzündete sich vielmehr daran, ob Nationalsozialismus und Kommunismus in ihren Ideologien und ihrer Gewaltherrschaft vergleichbar seien. Anlaß der Debatte war denn auch hauptsächlich das Vor- und Nachwort von Courtois. Der Herausgeber der Zeitschrift Communisme gilt aus ausgewiesener französischer Fachmann des Kommunismus. Selbst vier Jahre lang, nach 1968, strammer Berufsrevolutionär in der maoistischen Organisation »Vive la Revolution« betont er heute: »Hätte die Linke vor 20 oder 30 Jahren Vergangenheitsbewältigung betrieben gegenüber den Verbrechen des Stalinismus, dann könnte Le Pen heute nicht unser Buch für seine Zwecke ausschlachten.« (Zeit, 21. November 1997)

In seinem provozierenden Vorwort des Schwarzbuchs plädiert Courtois für den Vergleich von Hitlers »Rassen-Genozid« und Stalins »Klassen-Genozid«; die Gemeinsamkeiten seien größer als die Unterschiede. Er spricht von der verbrecherischen Dimension, »die für das gesamte kommunistische System charakteristisch war, solange es existierte... Die kommunistischen Regimes haben das Massenverbrechen zu einem wahrhaften Regierungssystem erhoben, um ihre Macht zu begründen.« In der Analyse dieser Verbrechen verwendet Courtois Begriffe, die er der juristischen und historischen Bewältigung des Nationalsozialismus entlehnt. Viele dieser Massenverbrechen entsprächen allen Kriterien der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, wie sie für die Nürnberger Prozesse formuliert wurden. Im Gegensatz zu Le Pen weist er allerdings jegliche Idee eines solchen Prozesses für den Kommunismus zurück. Ebenso widerspricht er Ernst Noltes These, die Hitlerschen Verbrechen seien eine Folge der Stalinschen gewesen und betont statt dessen die Singularität der Shoah.

Courtois' Vorwort provozierte bereits die Kritik seiner Koautoren: Jean-Louis Margolin betonte, im Unterschied zum National­sozialismus habe der Stalinismus die »Ausmerzung der Klassenfeinde« vorgenommen, nicht jedoch jene von Individuen oder ganzen Bevölkerungsschichten. Auch der aus Prag emigrierte Historiker Karel Bartosek – bekannt durch seine Aufdeckung der stalinistischen Vergangenheit Artur Londons – ging auf Distanz zu seinem Herausgeber.


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Die weltweit erste Synthese der Verbrechen des Kommunistmus bewertete er umstandslos positiv, wendete sich aber strikt dagegen, die Leiden der Opfer ideologisch und politisch zu betrachten.

Nicolas Werth, dem der umfangreiche Beitrag über die Sowjetunion zu verdanken ist, bedauerte, daß das Buch in das politische Spiel geraten sei, »das war nicht Ziel der beteiligten Historiker«. Der Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus ist legitim, er sei jedoch nicht Gegenstand ihres Buchs gewesen. »Es gibt eine grundlegende Ähnlichkeit, eine Art harten Kern der Totalitarismen, der ihnen gemeinsam ist. Gleichwohl hatte der Kommunismus von seinem Ursprung her ein Ideal, das in die Irre geführt hat. Deshalb zeichnet ihn eine extreme und konstante Spannung aus, zwischen den >Gefallenen< des Regimes und ihren >orthodoxen< Genossen. Man hat nie reumütig Bekehrte das Nazismus gesehen, ehemalige militante Nazis, die das System von innen her kritisiert hätten oder es reformieren wollten. Im Nazismus stimmen Doktrin und Realität völlig überein; im Kommunismus fallen sie demgegenüber total auseinander«. (L'Histoire, Nr. 217, Januar 1998)

Im linken Lager brach nach Erscheinen des Buchs erwartungsgemäß ein Sturm der Entrüstung los. Auch wenn man die Stalinschen Verbrechen einräumte – so auch der Generalsekretär der französischen KP Robert Hue –, geriet die wütende Kritik am Schwarzbuch häufig zu einer Verteidigung der »guten« Idee des Kommunismus gegenüber seiner pervertierten Praxis. Der ehemalige Chefredakteur der kommunistischen Humanite, Roland Leroy, hielt in einer Fernsehsendung Courtois entgegen: »Am Anfang des Nationalsozialismus war der Haß auf die Menschen, am Anfang des Kommunismus war die Liebe zu den Menschen.«

Maurice Nadeau, der 87jährige renommierte Schriftsteller und Chefredakteur der Zeitschrift La Quinzaine litteraire bezeichnete die Autoren des Schwarzbuchs als Betrüger. »Der Betrug besteht in dem, was das Autorenkollektiv >Kommunismus< nennt und was genau sein Gegenteil ist«: nämlich Stalinismus, Maoismus oder die Politik der Roten Khmer. Gilles Perrault, ebenfalls Schriftsteller, verknüpfte den Vorwurf des Betrugs mit dem Hinweis auf die humanitäre Dimension des Kommunismus. Die Kommunisten kämpften schließlich für ein Projekt, »das universelle und befreiende Züge hegte. Daß diese Ideale vom Wege abkamen, ändert nichts an den ursprünglichen Motiven, durch die allein sie sich schon hinreichend vom na-


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tionalsozialistischen Gegner unterschieden.« (Le Monde diploma-tique, 12. Dezember 1997) Perraults Attacke gipfelte in der Forderung nach einem »Schwarzbuch des Kapitalismus«, das die Realität bereits schreibe: »Ganze Bevölkerungen krümmen sich unter der Diktatur der Finanzmärkte.«

Sehr häufig wird in dieser Debatte die Kritik am Schwarzbuch mit der Kritik am real existierenden Kapitalismus verknüpft, der Anti-kapitalismus in der Tradition des Antifaschismus fortgeschrieben. Jean-Marie Colombani, Chefredakteur von Le Monde, warf den Autoren »ideologische Voreingenommenheit« vor: Seine Zeitung habe bereits seit den vierziger Jahren alles Relevante zu den Verbrechen des Stalinismus geschrieben, das Schwarzbuch böte an Fakten und Einsichten nichts Neues. Im Editorial vom 5. Dezember 1997 plädierte er folgerichtig für das Ende der Debatte.

Richtet sich die Kritik einiger Mitautoren des Schwarzbuchs vornehmlich gegen Courtois' Vorwort, das ihnen zu politisch-polemisch geraten ist, so attackierten Intellektuelle der Linken das gesamte wissenschaftliche Unterfangen. Die im Namen des Kommunismus begangenen Verbrechen seien kontingenten Umständen geschuldet. Im Duktus eines klassischen Antifaschismus sehen sie in dem Werk eine Verhöhnung der Resistance und der Opfer des Nationalsozialismus. In dem Vorschlag, anstelle des vorliegenden Werks sei ein Schwarzbuch des Kapitalismus vonnöten, treffen sich orthodoxe und moderate Linke: Auch der moderne Antifaschismus zehrt noch von der Kontinuitätsthese, der Faschismus sei die höchste und entwickeltste Form des Kapitalismus.

Unter den Verteidigern des Schwarzbuchs finden sich viele ehemalige Linke, die vor Jahrzehnten mit ihrer kommunistischen Vergangenheit gebrochen haben. Unter dem Titel Lenin retten? verteidigte Laurent Joffrin, Chefredakteur der Tageszeitung Liberation, die These der Schwarzbuch-Autoren, das Verbrechen sei bereits im Herzen des kommunistischen Projekts angelegt. Den Kritikern, die nicht müde werden, in der Debatte auf die Verbrechen des Kapitalismus hinzuweisen, hielt er entgegen, damit die kommunistischen relativieren zu wollen. »Der Kommunismus an der Macht hatte klar zu identifizierende politische Ziele und Zwecke, vereinigt unter einem Banner, unter ein und derselben Strategie, Ideologie und Organisation. Seine Opfer sind alle freiwillig dem Altar derselben Revolution erbracht worden, durch direkte Massaker oder Hungersnöte.


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Der Kapitalismus ist aber ein ökonomisches System ... Es gibt keine kapitalistische Partei, keine kapitalistische Fahne, keine kapitalistische Tscheka. Die >Verbrechen des Kapitalismus< sind von Liberalen, von Monarchisten, von Radikalsozialisten, von den Nazis, von den Faschisten oder wem auch immer begangen worden.« (Liberation, 17. Dezember 1997)

Die Bolschwiken kombinierten ihre militärische Parteiorganisation mit einem utopischen Projekt der Umwandlung der Gesellschaft, das sie gewaltsam gegen die Gesellschaft durchsetzten, bis hin zum Massaker. Ohne diese Verbrechen hätten die Bolschwiken ihren Plan einer totalen Reorganisation der Gesellschaft nicht ins Werk setzen können. So gesehen waren die Verbrechen in der Utopie angelegt. Der Historiker und Politologe Jacques Juilliard fragte sich im Nouvelle Observateur (20. November 1997): »Angenommen, der Kommunismus sei von seinem Wesen her gut, während der Nazismus vom Wesen her pervers sei, weswegen ist dann das Verbrechen, das im Namen des Guten begangen wurde, weniger verdammenswert als jenes, das im Namen des Bösen verübt wurde? Warum bedeuten die 25 Millionen Toten des Nazismus dessen Substanz, hingegen die 85 Millionen Toten des Kommunismus nur einen Unfall?«

Andre Glucksmann kommentierte im Sud-Ouest Dimanche (26. November 1997): »Heute stellte sich bezüglich des Kommunismus in Europa nicht die Frage nach der Anzahl der Opfer, sondern wie Demokraten so lange der kommunistischen Propaganda aufsitzen konnten. Das eigentliche Problem liegt nicht in der Vergleichbarkeit der Verbrechen, sondern darin, daß wir sie nicht sehen wollten ... Diese Kapazität der Lüge ist die eigentliche Originalität des Kommunismus, im Gegensatz zum Nazismus. Im Namen des Guten schloß man die Augen angesichts der Verbrechen des Kommunismus.«

Bernard-Henri Levy hob in Le Point (13. Dezember 1997) die Notwendigkeit eines Vergleichs beider Totalitarismen hervor und warnte vor dessen Verbot auf seiten der Linken. »Am Anfang steht das löbliche Bemühen, die Singularität von Auschwitz zu wahren. Und am Ende gibt es ein komisches Ding, das, wenn es nicht mehr zur Geschichte der Menschheit gehört, ins Reich des absoluten Bösen, Obskuren, auch Zweifelhaften abdriftet. Das jüdische Leiden wird undenkbar. Es entzieht sich dem Diskurs und wird zum Mythos.« 


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Den Versuch, das Grauen zu enthistorisieren, es aus der Welt herausfallen zu lassen, hat allerdings auch der KP-Vorsitzende Robert Hue unternommen. Er räumte zwar die Verbrechen des Stalinismus ein, bezeichnete sie jedoch als Monstrosität. Der Gulag gerät so zur ungewollten Perversion des Kommunismus, realisiert von Monsterhand und menschlicher Verantwortung entzogen.

Der Streit ist alt. Man erinnere sich an die wütenden Reaktionen Jean-Paul Sartres und Maurice Merleau-Pontys 1950 auf David Rous-sets Kampagne gegen jegliche Lager. Der letztes Jahr verstorbene Rousset, selbst von den Nazis deportiert, war einer der ersten, der in seinem Buch L'Univers concentrationnaire 1946 über den Gulag schrieb und Vergleiche zwischen National­sozialismus und Kommunismus anstellte. Er sei zum politischen Feind übergelaufen, warf man ihm daraufhin vor. Albert Camus erging es nicht viel besser: 1955 beschied ihm Sartre: »Ich finde wie Sie diese Lager unzulässig: doch ebenso unzulässig den Gebrauch, den die bürgerliche Presse davon macht.«

Falsch wäre es indes, den Streit als einen französischen zu deklarieren. Es handelt sich schließlich um ein europäisches Phänomen, im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Verbrechen die des Kommunismus lange Zeit verharmlost oder gar geleugnet zu haben. Gleichwohl wurde in Paris heftiger gestritten. Im Unterschied zu Deutschland sind die Protagonisten dieses Historikerstreits allerdings keine Rechtsintellektuellen, sondern ehemalige Linke, die mit ihrer eigenen Vergangenheit selbstkritisch gebrochen haben. Mitte der siebziger Jahre war der sogenannte Gulag-Schock Anlaß für die Herausbildung einer öffentlich vernehmbaren, wenn auch minoritären front antitotalitair in Frankreich. Gemeinsamer Bezugspunkt war nicht nur die Auseinandersetzung mit der KPF und der Bruch mit einem jakobinischen Revolutionsverständnis, das in der Sowjetunion die zeitgenössische Fortsetzung des universalen revolutionären Projektes sah, sondern ebenso das Engagement für die Bürgerbewegungen und Dissidenten in Osteuropa und der Sowjetunion. Die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus war verbunden mit der Kritik der eigenen politischen Vergangenheit. Dieser Bruch war sozusagen konstitutiv für den antitotalitären Blickwinkel und die aufmerksame Analyse der Entwicklungen in den realsozialistischen Ländern und später des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Von deutscher Seite wurden die französischen antitotalitären Intellektuellen des Renegatentums bezichtigt oder als »Bistro-Maoisten« verunglimpft; Anti-Antikommunismus der bekannten Art.


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Bereits 1986, anläßlich des deutschen Historikerstreits hielt Jörge Semprun der deutschen Linken entgegen: »Wer vom Stalinismus nicht reden will, der sollte vom Faschismus schweigen.« Semprun attackierte damit einen weitreichenden Konsens der Linken: nämlich mit dem beschwörenden Rekurs auf die Einmaligkeit von Auschwitz jeglichen Versuch zu unterbinden, Nationalsozialismus und Kommunismus, rechten und linken Totalitarismus zu vergleichen. Der Historiker Ernst Nolte entfachte den damaligen Streit mit seiner These, Hitlers Rassenmord sei eine Folge des Stalinschen Klassenmords gewesen, das heißt die »linken« Verbrechen seien den »rechten« ursächlich vorausgegangen. Nolte konnte sich mit dieser Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen zu Recht nicht durchsetzen. Ebensowenig ließen sich jedoch die Sieger des Historikerstreits von Sempruns Einwurf aus der Ruhe bringen.

Die totalitäre kommunistische Erfahrung war im westdeutschen Denkraum sozusagen exterritorialisiert; in Figur der DDR lag sie hinter der Mauer. Der »antifaschistische Schutzwall« war jedoch als Gebot auch in den Köpfen präsent: Die Gegner Noltes waren – drei Jahre vor der Wiedervereinigung – auch Verteidiger der deutschen Teilung.1) Unterschwellig lag in ihrer Argumentation eine selten ausgesprochene Prämisse: die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands als Strafe für Auschwitz. Die Hinnähme der Mauer war sozusagen das Sühneopfer für die deutschen Menschheitsverbrechen, konstatierte Heinrich-August Winkler. Bis heute noch scheint die Ausblendung beziehungsweise Verharmlosung der Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, identitätsstiftende Klammer im linken Diskurs zu sein: in der Figur des Antifaschismus. Daran haben der Zusammenbruch des Kommunismus und die Öffnung der Archive, die heute den Blick in seine Abgründe ermöglichen, kaum etwas geändert.

In einigen deutschen Reaktionen auf den französischen Historikerstreit scheint die alte Lagermentalität wieder aufzuleben. Stephane Courtois wird ebenso wie vor ihm Francois Furet in die Nähe von Ernst Nolte gezerrt. Beharrlich verwechselt man den historischen Vergleich zweier totalitärer Systeme – der ja notwendig ist, um ihre jeweilige Besonderheit und Einmaligkeit herauszudestillieren – mit deren Gleichsetzung.

Für eine auf die Singularität nationalsozialistischer Verbrechen mühsam aufgebaute negative deutsche Identität hat das »absolute Böse« nur einen Ort: Auschwitz; eine Identität, die ihre eigene Brüchigkeit ahnt und deshalb diese Ausschließlichkeit um so vehementer verteidigt.

Erst wenn jedoch der Antifaschismus nicht mehr als Legitimationsfigur das Schweigen über die Verbrechen des Kommunismus perpetuiert, kann sich der Blick auf beide Totalitarismen öffnen. Und dies hätte gerade der politische Diskurs in Deutschland, das beide totalitäre Erfahrungen des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat, bitter nötig. Denn in Teilen der deutschen Linken mangelt es bis heute an einem generalisierten antitotalitären Impuls, der auch den Umgang mit dem zweiten totalitären Regime von Denkverboten befreien könnte. Der gerade von französischen Historikern ins Land getragene Streit sollte das lange Zeit beschworene deutsche Monopol auf das absolut Böse entmachten und den Blick darauf europäisch vergleichend öffnen. Dies wäre der Analyse, dem Verständnis und der Erinnerung an das Jahrhundert totalitärer Gewalterfahrung zuträglicher.

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1)  Vgl. Hans Mommsen, Suche nach der verlorenen Geschichte. In: Historikerstreit. München: Piper 1987.

 

Quelle: Merkur (Berlin), Juli 1998

 

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