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   Teil 3  Die politische Debatte  

 

 

 

Jospins Stolz auf seine kommunistischen Partner    Von  Thankmar von Münchhausen   FAZ, 14.11.1997

Die Schwierigkeiten mit dem Erbe von Marx, Lenin und Stalin

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Der Historiker Francois Furet, der im vergangen Juli gestorben ist, machte sich keine Illusion über die Zeitgenossen. In den kommunistischen Parteien der Gegenwart sah er diejenigen am Werk, die »am alten Erscheinungsbild hängen«, wie auch die­jenigen, die ihrer Partei zu einer »zweiten Jugend« zu verhelfen trachten. 

Orthodoxe und Neuerer verbindet nach Furets Auffassung die Feindseligkeit gegen alle, die die kommunistische Vergangenheit schlechtmachen oder einen Neuanfang verhindern wollen. »So erklärt sich auch, warum der Kommunismus zwar hier und da weniger fanatische Anhänger hat, der Antikomm­unismus jedoch mehr denn je als verdammenswerte Ketzerei gilt«, schrieb Furet in seinem letzten Buch Das Ende der Illusion (Piper, München) über den Kommunismus im zwanzigsten Jahrhundert.

Wie sonst läßt sich die Aufregung verstehen, die ein anderes Buch in Frankreich hervorgerufen hat, das rechtzeitig zum achtzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution erschienen ist: Le livre noir du communisme. Crimes, terreur, repression (Robert Laffont)? 

Streit gab es schon um den Titel: zwischen dem Herausgeber Stephane Courtois und einigen Verfassern der einzelnen Beiträge, die die Auswirkungen kommunistischer Gewaltherrschaft von der Sowjetunion über China bis Kuba und Afghanistan beschreiben. Der vorgesehene Buchtitel »Die Verbrechen des Kommunismus« erschien manchen zu kraß. Nach unbrauchbaren Gegenvorschlägen in der Art von »Marx' Albtraum« oder »Die Hölle der roten Schrecken« einigte man sich auf die Benennung Schwarzbuch des Kommunismus.

Unwillen erregen auch das Vorwort, das Courtois dem Gemeinschaftswerk vorangestellt hat, und seine abschließende Zusammenfassung.

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Die Ansicht des ausgewiesenen Kommunismusgegners Courtois, die kommunistischen Regime hätten zwecks Machterhalt »das Massenverbrechen zu einem wahren Regierungssystem gemacht«, paßt dem und jenem nicht ins Weltbild. Manche werfen dem Herausgeber vor, er habe die Zahl der Todesopfer des Kommunismus in aller Welt aufrunden wollen, um auf einprägsame hundert Millionen Tote zu kommen. Dabei wirkt die Bilanz von mehr als achtzig Millionen Toten zurückhaltend, wenn in Moskau die Iswestija in ihrer Schlagzeile zum Revolutionsgedenken von 110 Millionen Getöteten spricht.

In den Diskussionen über das Buch, die in der Presse oder im Fernsehen und nun auch in der Nationalversammlung stattfinden, wird deutlich, daß vor allem der Vergleich des Kommunismus mit dem Nationalsozialismus - totalitäre Diktaturen der eine wie der andere - für viele anstößig ist. Denn dadurch wird die Hoffnung auf einen Sozialismus »mit menschlichem Gesicht« ad absurdum geführt. Plötzlich steht auch die kommunistische Diktatur unter der Anklage, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Für den ehemaligen Chefredakteur des Parteiorgans L'Humanite, Roland Leroy, ist die Gegenüberstellung einfach: »Am Beginn des Nazismus steht der Haß gegen die Menschen. Am Beginn des Kommunismus steht die Liebe zu den Menschen.« Der Parteichef Robert Hue kommt um »die Verurteilung des Stalinismus und seiner Verbrechen« nicht herum, hält aber daran fest, daß der Kommunismus »gleichzeitig auch ein Ideal« war.

In der Nationalversammlung führte die Auseinandersetzung um Wesen und Wirkungen des Kommunismus zum Eklat. In der Fragestunde begehrte der UDF-Abgeordnete Michel Voisin, der bisher wenig hervorgetreten ist, von Premierminister Jospin zu wissen, was dieser zu tun gedenke, daß »diese Verbrechen als solche erkannt und anerkannt« würden. »Und was werden Sie tun, daß die Verantwortlichkeit derjenigen, die diese Greuel unterstützt haben, festgestellt wird, wer und wo sie auch sein mögen?« Die Frage richtet sich an den sozialistischen Regierungschef, in dessen Regierung drei Kommunisten sitzen.

Jospin wies zu Beginn seiner kurzfristig vorbereiteten Antwort darauf hin, daß sich Staatspräsident Chirac in diesem Augenblick im kommunistischen Vietnam aufhält und daß er unlängst das kommunistische China besucht hat.


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Die Revolution von 1917 nannte Jospin eines der großen Ereignisse des Jahrhunderts, von dem die Schulbücher zeugten und auf das sich Tausende und aber Tausende von Intellektuellen und Künstlern in vielen Ländern berufen hätten, einschließlich einiger Mitautoren des Schwarzbuches als ehemalige Kommunisten. »Es ist bezeichnend, daß diese Frage von einem Mitglied der UDF-Fraktion gestellt wird und nicht von einem gaullistischen Abgeordneten«, bemerkte Jospin. 1945, »als die Verbrechen Stalins völlig bekannt waren«, hätten französische Kommunisten zu einer Regierung der Resistance unter General de Gaulle gehört, »und was mich betrifft, so habe ich niemals den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus gleichgesetzt«. Der Nationalsozialismus, eine »zutiefst perverse« Ideologie, habe zu Fall gebracht werden müssen.

Im Gegensatz dazu gebe es Unterschiede der Analyse und der Praxis zwischen Marxismus, Kommunismus, Leninismus und Stalinismus, sagte Jospin unter Mißfallensäußerungen der Opposition. »Francois Furet vertrat die Auffassung, daß der Marxismus unvermeidlicherweise zum Kommunismus führe, aber andere Historiker machen eine Unterscheidung zwischen der stalinistischen Abweichung und dem kommunistischen Ideal.« Er, Jospin, habe zur Zeit des Ungarn-Aufstandes 1956 mit »jeder derartigen Abweichung« gebrochen und berufe sich auf die demokratische Tradition des französischen Sozialismus. Die Kommunistische Partei Frankreichs habe sich mit der Verurteilung des Stalinismus vielleicht zuviel Zeit gelassen, habe sie aber nichtsdestoweniger geleistet.

Teil des »Kartells der Linken« und der Volksfront in der Zwischen-kriegszeit, der Resistance und der Linksregierungen 1945 und 1948, habe die KPF »niemals die Hand auf die Freiheiten gelegt, sie hat die Lehren aus der Geschichte gezogen, sie ist in meiner Regierung vertreten, und ich bin stolz darauf«, sagte Jospin. Der kommunistische Parteichef Hue, der am nächsten Tag die Strategie der Regierungsbeteiligung vor der eigenen Parteiführung zu verteidigen hatte, konnte für die Ehrenrettung dankbar sein. Die Abgeordneten der UDF verließen nach dieser Antwort des Regierungschefs den Sitzungssaal. Ihre Kollegen vom neogaullistischen RPR blieben ruhig sitzen.

Es finden sich immer Historiker und Politologen, die die innenpolitische Strategie zur Schonung des Kommunismus in die Sprache der Wissenschaft kleiden.


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Der Forscher Courtois ist über die Reaktionen auf das Buch, das unter seiner Verantwortung entstanden ist, nicht überrascht. Er weiß, daß Widersacher der Wirkung neuer Veröffentlichungen, die unter Benutzung der sowjetischen Archive entstanden sind, systematisch entgegenarbeiten: »Wir beobachten eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen Trotzkisten und ehemaligen Stalinisten. Viele von ihnen sind vom Inhalt dieser Archive selber betroffen. Ihre Akten befinden sich in Moskau, in der ehemaligen DDR, in Rumänien und andernorts. Lenins >Waisenkinder< sind mit ihrer Trauerarbeit noch nicht zu Ende.«

In Frankreich scheint man sich mit dem Aufarbeiten der kommunistischen Vergangenheit besonders schwer zu tun. Dabei liegt die Zeit, da die Kommunistische Partei als stärkste politische Kraft bewundert und gefürchtet wurde, weit zurück. Nach einer Meinungsumfrage sehen 20 Prozent der Franzosen im Kommunismus noch immer Positives. 66 Prozent Negatives. Und fast 40 Prozent halten es für einen guten Gedanken, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen - nur anders, als dies bisher in anderen Ländern ausprobiert worden ist. Noch immer tragen in den Gemeinden des »roten Gürtels« um Paris Straßen, Plätze oder Sportanlagen den Namen Lenins, der den bolschewistischen Terror nach dem Vorbild der großen Französischen Revolution praktizierte.

In einer dieser Gemeinden, in Aubervilliers, trafen sich in der vergangenen Woche Nostalgiker des Marxismus-Leninismus, um an die Oktoberrevolution zurück- und an einen Neuanfang vorauszudenken. Von der Stirnwand grüßte ein Lenin-Bild zwischen roten Fahnen. Zu den ausländischen Gästen gehörten Irma Gabel-Thälmann, die 77 Jahre alte Tochter des in Buchenwald ermordeten Kommunistenführers Ernst Thälmann, und Vertreter des »Solidaritäts-Komitees für Erich Honecker«. 

Einer der deutschen Teilnehmer erläuterte die Lage in der Bundesrepublik mit einem Zitat des Komintern-Chefs Dimitroff: »Das Finanzkapital ist der Faschismus.« Dagegen müsse man sich durch den Zusammenschluß unter der roten Fahne zur Wehr setzen. Der nicht anwesende Generalsekretär Hue kam in den Reden nicht gut weg. Die französische Kommunistische Partei hat diesmal vom Jubiläum der bolschewistischen Revolution nicht viel Aufhebens gemacht. Sie bereitet sich lieber auf die 150-Jahr-Feier der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests im Mai 1998 vor. 

 Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. November 1997

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HEINRICH AUGUST WINKLER

Wider die linken Tabus.

Der Historikerstreit zum Schwarzbuch des Kommunismus - Rückblick auf ein Jahrhundert des Schreckens

 

Das Fin de siecle klopft seit einiger Zeit immer kräftiger an die Tür - vor allem an die Tür der Historiker. Schon als 1986 der deutsche »Historikerstreit« um die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmords ausgefochten wurde, ahnte man, daß die Jahrhundertbilanzen im Kommen waren. 

Der Berliner Historiker Ernst Nolte, der den Anstoß zu der Kontroverse gab, wollte rechtzeitig klargestellt sehen, daß Deutschland nicht die Rolle des einzigen Schurken im Drama des 20. Jahrhunderts zufiel, ja nicht einmal die des schrecklichsten. Der Archipel Gulag war Nolte zufolge »ursprünglicher« als seine angebliche, wenn auch verzerrte Kopie, der Holocaust; es gab einen »kausalen Nexus« zwischen beiden Menschheitsverbrechen; Lenin und Stalin verkörperten die revolutionäre Drohung, auf die Hitler antwortete. Auschwitz ein Fall von Putativnotwehr: Auf diese Deutung lief und läuft Noltes Geschichtsdeutung hinaus.

Jetzt ist die Debatte um das Verhältnis von Bolschewismus und Nationalsozialismus neu entbrannt, ausgelöst durch das vor kurzem in Paris erschienene Schwarzbuch des Kommunismus, ein Kompendium kommunistischer Verbrechen auf drei Kontinenten. Die Autoren, an ihrer Spitze Stephane Courtois, sind ehemalige Linksradikale, meist Ex-Maoisten. Schon das unterscheidet sie von Ernst Nolte, der zur raren Spezies deutscher Rechtsintellektueller gehört. Keiner der Beiträger versucht, den Rassenmord der Nationalsozialisten aus dem Klassenmord der Bolschewiki »abzuleiten«. Manche von ihnen haben sich sogar von Courtois distanziert, der die Parallelen zwischen »linken« und »rechten« Verbrechen in der Einleitung des Bandes plakativ (und mit fragwürdigen Berechnungen der Opferzahlen) aufzuzeigen versucht hat. Doch in einem berührt sich der französische mit dem deutschen Historikerstreit: Es geht in beiden Debatten um den historischen Ort der Menschheitsverbrechen dieses Jahrhunderts und um ihre Vergleichbarkeit.


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Der deutsche Historikerstreit endete wissenschaftlich und moralisch mit einem Sieg der Kritiker Noltes. Sein Versuch, die Ermordung der europäischen Juden allein damit zu erklären, daß Hitler Angst vor der Vernichtung des Bürgertums durch die Bolschewiki hatte, mußte scheitern, weil Nolte systematisch alles ausblendete, was gegen diese spekulative These sprach. Gewiß: Für die Bolschewiki waren die Bourgeois dasselbe wie die Juden für die Nationalsozialisten: Parasiten. Aber Hitler brauchte keine kommunistischen Texte zu lesen, um auf diesen Vergleich zu kommen und die Ausrottung der Juden ins Auge zu fassen.

Es genügte ein Blick in die ihm wohlvertrauten Schriften der deutschen Antisemiten des 19. Jahrhunderts, etwa des angesehenen Orientalisten Paul de Lagarde, der eigentlich Paul Anton Böttcher hieß. Schon 1887 hatte dieser vielgelesene Autor die Juden als »wucherndes Ungeziefer« bezeichnet, das es zu zertreten gelte. »Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.« Die Juden gelten schon zu jener Zeit als Drahtzieher der »roten« und der »goldenen Internationale«, als Hintermänner des Marxismus und des Bankkapitals. Die Rolle der Juden in den Reihen der Bolschewiki erleichterte das Geschäft der Judenfeinde. Doch der Antisemitismus war zu jener Zeit längst eine ständig verfügbare Allzweckwaffe: Die Juden galten als die Urheber aller Weltübel.

Was Nolte in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juli 1986 unter der Überschrift »Vergangenheit, die nicht vergehen will« und, sehr viel ausführlicher, 1987 in seinem Buch Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945 vortrug, enthielt eine doppelte Apologie: Der Autor wollte die nationale Ehre Deutschlands und die Klassenehre des europäischen Bürgertums retten. Hätte er sich damit durchgesetzt, wäre jene »vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens« rückgängig gemacht worden, von der Habermas 1986, in einer Replik auf Nolte, gesagt hat, sie sei die »große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte«.


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Die Abwehr von Noltes historischem Revisionismus war so notwendig, wie die Widerlegung seiner Kernthesen einfach war. Am Ausgang des deutschen Historikerstreits gab es in der alten Bundesrepublik einen verbreiteten linksliberalen Konsens, daß, so abermals Habermas, der »einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet«, ein »Verfassungspatriotismus« sei. Eine postume Adenauersche Linke, die es zuvor noch nicht gegeben hatte, war zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt.

Der französische Historikerstreit von 1997 ruft den Deutschen nun etwas anderes ins Bewußtsein: Die Absurdität von Noltes wesentlichen Thesen hat allzu lange den Blick dafür verstellt, daß seine Ausgangsfrage legitim war und nach wie vor eine Jahrhundertfrage ist. Es ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der zeitlich früheren und der zeitlich späteren der beiden Typen von totalitärer Diktatur, die das Novum des 20. Jahrhunderts bilden. Zugespitzt formuliert: Hätte es ohne die Machtergreifung der russischen Bolschewiki im Oktober 1917 die Machtergreifungen der italienischen Faschisten im Oktober 1922 und der deutschen Nationalsozialisten im Januar 1933 gegeben?

Weniger spekulativ ausgedrückt, lautet dieselbe Frage: Welche Rolle spielte die Angst vor dem Bürgerkrieg und der Vernichtung der Bourgeoisie, eine von Lenin, Trotzki und Stalin bewußt hervorgerufene Angst, beim Massenzulauf zu den extrem antikommunistischen Bewegungen der äußersten Rechten im Europa der Zwischenkriegszeit? Die Rolle dieser Angst, so viel steht fest, war sehr erheblich. Neben den Traumata des verlorenen Krieges in Deutschland und des »verstümmelten Sieges« in Italien hat sie wohl den größten Anteil am Triumph beider Faschismen.

Noch immer fällt der Linken das Eingeständnis schwer, daß es eine kommunistische Mitschuld am Aufstieg Mussolinis und Hitlers gibt. Denn der Mythos vom kommunistischen Antifaschismus gerät in höchste Gefahr, wenn die profaschistischen Wirkungen von kommunistischer Rhetorik und Praxis schonungslos freigelegt werden. Doch das ist nicht das einzige linke Tabu. Auch heute noch liest und hört man, zuletzt von Intellektuellen aus dem Umfeld der Kommunistischen Partei Frankreichs, ein Vergleich zwischen kommunistischer und faschistischer beziehungsweise nationalsozialistischer Gewalt verbiete sich schon deshalb, weil die äußerste Linke ursprünglich etwas Gutes, die Emanzipation der unterdrückten Teile der Gesellschaft und damit die Befreiung der Menschheit, angestrebt habe, während die Absichten und das Wesen der äußersten Rechten von Anfang an mörderisch gewesen seien.


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Vergleichen heißt nicht gleichsetzen. Aber sind gute Absichten wirklich ein Alibi für schreckliche Taten? Und waren die Absichten der frühen Kommunisten tatsächlich so edel, wie die Apologeten von links behaupten? Marx hat Ende 1848 den »Weltkrieg« zum revolutionären Programm des folgenden Jahres erhoben und sich 1850 zur rücksichtslosen Unterdrückung der Klassengegner durch die »Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats« bekannt. Engels erhoffte sich Anfang 1849 vom »nächsten Weltkrieg«, er werde »nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien«, sondern auch »ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen«. Lenins Parole vom Februar 1918 »Wer sich widersetzt, ist zu erschießen«, gemünzt auf Männer und Frauen der bürgerlichen Klasse, war, um das mindeste zu sagen, kein absoluter Bruch mit marxistischen Traditionen.

Die »Weltanschauung« des Nationalsozialismus war unendlich viel primitiver als die Ideologie des Marxismus und des Leninismus. Der Holocaust bleibt nicht nur wegen der technischen Perfektion des Massenmordes singulär, sondern auch deshalb, weil er von einem Volk begangen wurde, das auf einen großen Beitrag zur europäischen Aufklärung und eine lange Tradition des Rechtsstaats zurückblicken konnte. Und doch bleibt die bohrende Frage: Erwächst den kommunistischen Verbrechen, die in der Sowjetunion, in China, Kambodscha, Nordkorea und andernorts begangen wurden, daraus ein mildernder Umstand, daß ihre Rechtfertigungen intellektuell anspruchsvoller waren oder sind als die des nationalsozialistischen Rassismus?

Am Ende des 20. Jahrhunderts wird die Geschichte seit 1917 noch immer selektiv wahrgenommen, also selektiv verdrängt. Fran?ois Füret, der durch seinen plötzlichen Tod daran gehindert wurde, das Vorwort zum Schwarzbuch zu schreiben, hat in seinem letzten Buch (Le passe d'une Illusion, Paris 1995; deutsch: Das Ende der Illusion, München 1996) dargelegt, wo die tieferen Gründe der Verdrängungen bei der Linken, nicht zuletzt in Frankreich, liegen: im nachwirkenden Mythos der Französischen Revolution, genauer gesagt: ihrer terroristischen Phase von 1793. Es ist ein Mythos, dem schon Marx und Lenin erlegen sind. Sich endlich von diesem Bann zu befreien, ist überfällig. Denn wie können wir sonst je das 20. Jahrhundert in seinem ganzen, rechten und linken Schrecken erfassen?

Quelle: Die Weltwoche, 18. Dezember 1997

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TONY JUDT

Die Schwarzen Bücher der Geschichte. 

Ein Gespräch mit Christoph Winder

 

Der standard: Herr Professor Judt, die Frage, ob die Formel »Nationalsozialismus gleich Kommunismus« legitim ist, scheint die Gemüter auch zehn Jahre nach dem Historikerstreit immer noch zu erhitzen.
Als der französische Historiker Stephane Courtois in seinem
Schwarzbuch des Kommunismus, das im vergangenen Herbst in Paris erschienen ist, zu dieser Formel gegriffen hat, hat es nicht nur in Frankreich erbitterten Widerspruch und begeisterte Zustimmung gegeben. Der franz
ösische Streit wurde vor allen in Deutschland intensiv wahrgenommen, aber auch in den USA. Dort haben auch Sie sich öffentlich zu dieser Debatte geäußert.

Judt: Das ist richtig. Ich wurde von der New York Times gebeten, einen Artikel zu diesem Thema zu schreiben, um die französische Diskussion einem amerikanischen Publikum zu vermitteln. Wie Sie wissen, präsentiert das Schwarzbuch zum großen Teil Forschungsergebnisse, die auf neuen Archivfunden in der ehemaligen Sowjetunion fußen. Aber es enthält eben auch diese Einleitung von Courtois, die der eigentliche Auslöser der Kontroverse war. Man kann seinen Beitrag vereinfachend auf den Punkt bringen, daß Courtois an die These des deutschen Historikers Ernst Nolte anknüpft, wonach Nazismus und Kommunismus miteinander verglichen werden können.

standard: Wie stellen Sie sich zu dieser These?

Judt: Ich glaube, daß Courtois sehr viele gute Argumente auf seiner Seite hat. Der menschliche Schaden, der durch den Kommunismus angerichtet wurde, war atemberaubend. Ich meine, daß der Kommunismus sowohl unter Lenin als auch Stalin ein terroristisches System war, daß er seine politischen Ziele immer ohne Rücksicht auf menschliche Kosten verfolgt hat, und daß das, was unter Stalin und Pol Pol geschehen ist, keine zufälligen Entwicklungen, keine Betriebsunfälle waren.


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Wenn man den Blick auf die gelebte Erfahrung der Betroffenen richtet, wäre es obszön, eine Unterscheidung zwischen Kommunismus und Faschismus zu treffen. Dennoch gibt es einen elementaren Unterschied zwischen einem System, das, so grotesk immer es gewesen sein mag, Leute ermordet und ausgerottet hat, um seine Projekte durchzusetzen, und einem System, dessen Projekt es war, Leute zu ermorden und auszurotten.

Analytisch ist das eine extrem wichtige Unterscheidung, die man ständig im Gedächtnis haben muß. Wenn man diese Unterscheidung nicht wahrnimmt, verschmiert und verwischt man das historische Bild, und das gesamte 20. Jahrhundert wird zu einer undifferenzierten Horrorgeschichte.

standard: Macht Courtois diese Unterscheidung?

Judt: Er macht sie, aber schlecht. Er trifft die Unterscheidung, geht dann aber leichtfertig über sie hinweg. So macht er sich angreifbar für Kritik und Mißverständnisse.

standard: Einer der großen Streitpunkte der Schwarzbuch-Debatte betraf die Anzahl der Opfer. Viele Kritiker haben sich daran gestoßen, daß Courtois in einer Art Bilanz 25 Millionen Opfer des Nationalsozialismus mit »sechzig bis hundert Millionen« Opfern des Kommunismus aufrechnet.

Judt: Ich habe keine Einwände dagegen, daß Zahlen verglichen werden. Es ist obszön, aber man muß es tun, die Zahlen müssen stimmen. Aber Courtois wirft alles durcheinander.

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Regierungspolitik wie der Maos, aufgrund derer 20 Millionen Leute verhungern, und einer Regierung, die Gaskammern herstellt. Ich wiederhole mich: Das ist ein notwendiger analytischer Unterschied, wenn man die Welt, in der wir leben, verstehen will. Man muß verstehen, daß es nicht nur ein verderbtes System gibt.

Wenn Courtois Pol Pot, Mao, Menghistu und die Schauprozesse der Nachkriegszeit in einen Sack steckt, schwächt er seine Position. Was Pol Pot getan hat, hat er in der Sprache des Kommunismus, die er in Frankreich gelernt hat, vertreten: Tatsächlich aber ist das, was in Kambodscha geschah, weit mehr mit Ruanda vergleichbar. Völkermord ist nicht das gleiche wie die Schauprozesse in der Tschechoslowakei 1952, und wenn man 200 jüdische Kinder in einen Lastwagen steckt und vergast, ist das wieder etwas ganz anderes.


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Wenn man jede dieser entsetzlichen Manifestationen menschlichen Verhaltens über einen Kamm schert, kommt man nur zu einer modernisierten Variante der alten religiösen Weisheit: »Es gibt das Böse in der Welt«. Das hilft uns nicht zu einem tieferen Verständnis. Genauso problemantisch ist es, wenn man die Anzahl der Nazi-Opfer mit 25 Millionen beziffert: Da gibt es Juden, die Polen, die Ukrainer, die Kriegstoten und so fort: Wenn man damit anfängt, meldet sich sofort jemand auf der anderen Seite und sagt »Dresden« und »Hiroshima«, die Sklaverei, der Kapitalismus ...

standard : Wie erklären Sie sich, daß diese Debatte gerade jetzt aktuell wird?

Judt: Ich glaube, man muß zwei Phasen der Vergangenheitsbewältigung unterscheiden. Die eine ist typisch für die 80er Jahre. Es ist nicht so, daß »ehrlicher« über die Zeit zwischen 1933 und 1945 gesprochen wird, aber es werden mit einem Mal härtere Fragen über die moralischen Implikationen von Kollaboration, Besetzung usf. gestellt. Dies hat die paradoxe Konsequenz, daß plötzlich eine neue Generation von jungen Rechten auftritt, die sagt: OK, reden wir offen über den Krieg, sagen wir die Wahrheit. Dann müssen wir aber auch diese Wahrheit sagen: Es war nicht so, daß es einen riesigen linken Widerstand gegen ein paar böse deutsche Burschen gegeben hat, sondern viele Leute haben sich zwischen 1940 und 1944 recht wohl gefühlt. Es hat vierzig Jahre gedauert, ehe man eine auch nur halbkomfortable öffentliche Diskussion über diese Dinge führen konnte. Wenn jetzt eine neue Debatte über den Kommunismus aufkommt, so ist die Öffnung der Archive in Rußland ein Grund dafür.

 

standard: Ist das, was man bisher in diesen Archiven gefunden hat, sehr essentiell für das Verständnis des Kommunismus?

Judt: Nein, nicht sehr. Was die Archive bestätigen, wissen die Historiker schon lange: Daß die kommunistischen Herrschaftsmuster nicht entstanden sind, weil Stalin psychotisch war, sondern daß der Kommunismus rational auf Terror und Gewalttätigkeit aufbaute. Die Frage war nie: »Ist das alles wahr gewesen?«, sondern die Frage war immer: »War es dies wert?« Der Historiker Eric Hobsbawm wurde einmal gefragt: »Wenn Sie wüßten, daß wir an seinem Ende zu einer genuin sozialistischen Gesellschaft kämen, sollten wir noch einmal durch dieses 20. Jahrhundert hindurch?« Hobsbawm hat mit einem Ja geantwortet: Wenn der Zweck gut genug ist, ist das Mittel der Preis, den man eben zu zahlen hat.


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Standard : Diese Nationalsozialismus-Kommunismus-Debatte wurde in Deutschland und in Frankreich geführt. Könnten Sie sich vorstellen, daß es so etwas auch einmal im anglo-amerikanischen Raum geben wird?

Judt: Nein, weil England und die USA in der Hinsicht glückliche Länder sind. Die englischen Kommunisten hatten zu ihren besten Zeiten einen Abgeordneten. Die amerikanische kommunistische Partei war immer ein Witz. Zudem hat es in diesen Ländern nie eine hausgemachte faschistische Regierung gegeben. Das Gefühl, daß sich die Politik zwischen einer inakzeptablen Rechten und einer problematischen Linken abspielt, ist dort unbekannt.

standard : nnte man sagen, daß Faschismus und Kommunismus im angloamerikanischen Raum als zwei Formen des Totalitarismus gleichermaßen verpönt waren ?

Judt: Nicht so generell, auch wenn dieses Denken sicher verbreiteter ist als in Kontinentaleuropa. Als Hannah Arendt ihre Totalitarismustheorie formulierte, erfuhr sie in den USA öffentlichen Zuspruch, als Albert Camus 1951 ein Naheverhältnis von Kommunismus und Nazismus behauptete, wurde er zu einem Paria. Ich denke, daß sich die Einstellung der Amerikaner so umreißen läßt: Gewiß ist Kommunismus übel, aber er ist nicht dasselbe wie Faschismus. Daher reizt die Courtois-These die Amerikaner durchaus zum Widerspruch.

Außerdem hat Amerika die zweitgrößte jüdische Bevölkerung der Welt und die größte Anzahl von Juden, die den Holocaust überlebt haben. Daher ist es natürlich ein heißes Eisen, wenn man Kommunismus und Nationalsozialismus vergleicht. Ich habe nach meinen Artikeln ganz unterschiedliche Briefe bekommen. Manche Leute schreiben: »Wenn Stalin Babies verhungern ließ und Hitler Kinder vergaste: Wo sollte da der Unterschied sein?« Bei anderen hieß es: »Ich habe die Nazis überlebt, weil meine Großmutter nach Rußland fliehen konnte. Das ist der Unterschied.«

 

standard : Der kommunistische Autor Gilles Perrault hat in einer Kritik des Schwarzbuch des Kommunismus den Vorschlag gemacht, ein »Schwarzbuch des Kapitalismus« zu schreiben.

Judt: Ich glaube, daß Perrault da einem Irrtum in den Kategorien unterliegt, weil Kapitalismus kein dem Kommunismus oder Nazismus vergleichbares System ist. »Kapitalismus« meint das Florenz des 14. Jahrhunderts ebensosehr wie das Taiwan der Jetztzeit, Holland im 17. Jahrhundert oder Großbritannien im 19. Das sind doch unglaub-


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lich verschiedene moralische, soziale, politische Systeme. Man kann verschiedene Schwarzbücher des Kapitalismus schreiben, und die sind ja auch geschrieben worden. Aber niemand hat sich hingesetzt und die Ziele des Kapitalismus ausformuliert. Sein Ziel ist einfach, Geld zu machen. Dort, wo dieses Ziel die Tötung von Menschen involviert, was im übrigen sehr selten geschehen ist (etwa im Sklavenhandel), da verschwindet die moralische Unterscheidung natürlich auch.

Vielleicht hat Courtois ein Problem für uns hergestellt, das wir überhaupt nicht brauchen. Wir müssen Kommunismus und Nazismus nicht vergleichen. Vielleicht könnte man zu einem moralischen Begriffsapparat der Vor-Nazi-Zeit zurückfinden und sagen: Kommunismus war ein Übel, eine spezielle Art von Übel, und er wäre auch ein Übel gewesen, wenn Hitler niemals geboren worden wäre.

 

standard : Für die extreme Rechte ist das Schwarzbuch ein gefundenes Fressen.

Judt: Das Recht, antikommunistisch zu sein, ist kein Privileg von Herrn Le Pen, Herrn Haider und ihren Freunden. Je öfter das gesagt wird, um so schwieriger wird es auch für sie zu behaupten, daß das ihre Spezialwahrheit sei.

Im übrigen haben wir es im Grunde mit zwei Debatten zu tun: Eine über die Geschichte des Kommunismus, und eine über die Geschichte von Leuten, die den Kommunismus verteidigten. Und unter diesen Anti-Anti-Kommunisten finde ich viele meiner Freunde. Das sind Leute, die nie bei einer Partei waren und nie davon träumten, in China zu leben, aber die glaubten, daß wenigstens die Ideale von Fortschritt, Gleichheit usf. auf der Seiten der Kommunisten waren. Man kann diese Leute und Leute, die es gut finden, daß man die Juden in Gaskammern brachte, nicht vergleichen. Viele nichtkommunistische Bewunderer des Kommunismus fühlen sich entsetzlich verletzt von Courtois, weil sie merken, daß sie mißbraucht wurden und daß sie sich geirrt haben. Aber der Irrtum ist ein Teil unserer Geschichte, und den können wir nicht einfach wegwaschen.

 

Quelle: Der Standard, Album, 27. Februar 1998

 

 


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CHRISTIAN SEMLER, taz

Das Elend linker Immunisierungsversuche

 

Auf welche politische Konstellation trifft die Veröffentlichung des ins Deutsche übersetzten Schwarzbuch des Kommunismus (im Original: Livre noir du Communisme) Ende dieses Monats? Ohne Zweifel wird sie ein Geschenk an jene schäumenden Wahlkämpfer sein, die in der PDS nichts weiter sehen als eine nahtlose Fortsetzung der SED, die wiederum als Satrapenpartei der Sowjetunion mit deren Geschichte - und damit auch der Geschichte ihrer Verbrechen - verbunden ist. Was einfacher, als dieses voluminöse Werk, das in Form einer riesigen Materialsammlung die Verbrechen »des Kommunismus« in unserem Jahrhundert aufeinanderhäuft, in der innenpolitischen Auseinandersetzung als Waffe zu verwenden.

Aber auch eine um Aufklärung, um das altmodische Verstehen bemühte Sicht sieht sich in diese Auseinandersetzung gestrudelt. Denn sie muß sich mit ebenso eingeschliffenen Abwehrreaktionen aus dem Milieu der Linken herumschlagen.

Zur intellektuellen Erbschaft linker Bewegungen gehört es, bei unangenehmen Sachverhalten nicht zu fragen: »Stimmt das - und welche Konsequenzen sind zu ziehen, falls es stimmt?«, sondern: »Wessen Interessen nutzt die Veröffentlichung der in Frage stehenden Fakten?« Diesem Pseudomaterialismus des »Wem nutzt's?« wird es nicht schwerfallen, das Schwarzbuch als Zulieferbetrieb einer Kampagne der Rechten zu demaskieren.

Nach einem ähnlichen Schnittmuster waren schon viele Publizisten zu Werke gegangen, als das Original im vorigen Jahr in Frankreich erschien. Es galt als Instrument des Kampfs gegen die Linksregierung. Und nicht wenige seiner Kritiker labten sich daran, das Lob der rechtsextremistischen Front National für das Livre noir ins Feld zu führen.

Dabei hätte eine um Fairneß bemühte Kritik von einem unvorhergesehenen Zwischenfall profitieren können. Kurz vor Veröffentlichung des Sammelwerks war es im Autorenkollektiv zum Streit gekommen. 


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Zwei der wichtigsten Autoren, Nicolas Werth und Jean-Louis Margolin, distanzierten sich von dem Verfasser der Einleitung, Stephane Courtois. In öffentlicher Polemik legten Werth und Margolin die kritischen Punkte einer vergleichenden Terrorforschung dar und versorgten so den Leser mit einem nützlichen Einstieg in die Methodik des Buchs und seiner Aufbauprobleme.

Die Einwände der beiden Autoren waren gewichtig. Sie warfen Courtois vor, in der Pose des Staatsanwalts »den Kommunismus des 20. Jahrhunderts« vor ein imaginäres Nürnberger Tribunal zu zitieren. Das generelle Verdikt »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, das umstandslose Aufaddieren (oft nur schätzbarer) Opferzahlen habe Courtois dazu gebracht, die historischen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen, in denen sich der Terror in den verschiedenen realsozialistischen Ländern vollzog.

In der Tat muß man sich nur die Frage stellen, in welcher kausalen Beziehung der Völkermord der Roten Khmer in Kambodscha zwischen 1975 und 1978 zum Jahr des Großen Terrors 1937 in der Sowjetunion steht, um die Berechtigung dieses Einwands zu begreifen. Auch hat nach Werth und Margolin ihr Kollege Courtois keine Anstrengung darauf verwendet, die einzelnen Phasen der Repression in jedem Land gesondert zu untersuchen und ihre jeweiligen Gründe einsichtig zu machen. In Courtois' Perspektive falle vollkommen unter den Tisch, daß beispielsweise die Sowjetunion nach 1954 noch 35 Jahre ohne Massen­repressalien im Stil der zwanziger und dreißiger Jahre existiert habe. Mit einem Satz: Courtois wollte nicht vergleichend verstehen, sondern summarisch verurteilen.

Die Substanz dieser Kritik ist (auch in dieser Zeitung bzw. in der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique) nachlesbar. Jetzt liegt das Schwarzbuch auf deutsch vor, die Karten sind auf dem Tisch, jeder kann sich nun ein Urteil bilden. Aber ist nicht alles schon in bewundernswerter Eile vorsortiert, klassifiziert worden? Wie steht es um die Wirksamkeit der Rezeption vor der Rezeption!

Naheliegenderweise interessiert in dieser Zeitung vor allem, was von linker bzw. linksliberaler Seite in jüngster Zeit hierzu vorgetragen wurde. Und das ist irritierend genug. Es geht um den Versuch einer Immunisierungsstrategie. Wie zu befürchten war, wird das im Schwarzbuch ausgebreitete Material von vornherein durch die Behauptung neutralisiert, es diene als bloße Munition im Kampf gegen ji-de gesellschaftliche Alternative jenseits des Kapitalismus.


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Im besonderen geht es bei diesem Abschottungsversuch darum, die Thesen von Courtois mit denen des deutschen Historikers Ernst Nolte zu identifizieren, zu behaupten, auch beim Schwarzbuch würde der Bolschewismus als ursächlich für die Mordtaten des Nazismus dargestellt. Damit wäre die Entsorgung der deutschen Vergangenheit ein gutes Stück vorangekommen, die Ergebnisse des »Historikerstreits« der achtziger Jahre wären revidiert, das Tor zu einem deutschen Nationalismus »auf der Höhe der Zeit« wäre aufgestoßen.

Überraschenderweise hat hier die PDS vorsichtig taktiert. Sie hat die politischen Auseinandersetzungen in Frankreich um das Schwarzbuch mehr referiert als für ihre Zwecke ausgebaut. Mehr noch: Mit einer Konferenz über »Realsozialistische Kommunisten­verfolgung«, deren Ergebnisse Ende 1997 veröffentlicht wurden, ist die Führung – wenngleich thematisch eingegrenzt – gegenüber den Einsicht wie Reue verweigernden Mitgliedern in die Offensive gegangen.

Die Presse mit radikal linkem Anspruch hingegen wirft sich von konkret bis Jungle World entschieden in die Bresche, vor allem, wo es um die Verortung des Schwarzbuchs innerhalb einer Politik der »Renationalisierung« geht. Aber auch einige liberale Autoren folgen diesem Strickmuster. So konstatiert Rudolf Walther in seiner »Nolte läßt grüßen« betitelten Rezension vom 21. November 1997 in der Zeit, Courtois lehne sich fast wörtlich an die These Noltes an. Der schrieb: »Die Methoden, die Lenin angewandt und die Stalin und seine Nacheiferer systematisiert haben, erinnern nicht nur an die Methoden der Nazis, sondern gehen diesen oft voran. Der >Klassen-Völkermord< ähnelt dem Rassen-Völkermord.«

Bernhard Schmidt, Rezensent für die Zeitschriften ak (»Analyse und Kritik«) und Jungle world, schreibt in der Nummer 47 letzterer Zeitschrift: »Courtois schreckt auch vor Ernst Noltes Vergleich zwischen Kommunismus und Nazismus nicht zurück.« Als Beleg zitiert er folgende Passage aus dem Vorwort von Courtois: »Hier kommt der Klassengenozid dem Rassengenozid gleich. Der Hungertod eines ukrainischen Kulakenkindes, das vom stalinistischen Regime bewußt dem Hunger überlassen wurde, wiegt genauso viel wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das vom Naziregime dem Hunger überlassen wurde.«


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Der Politikwissenschaftler Wolfgang Wippermann schließlich bezeichnet Courtois in Jungle world 49/97 als »Nolte-Fan«. Er bringt Courtois' Thesen in einen engen Zusammenhang mit dem Werk Das Ende der Illusion des kürzlich verstorbenen französischen Historikers Frangois Füret. Diesem unterstellt er, er habe Noltes These übernommen, wonach der Nazismus nur eine Angst­reaktion auf den Kommunismus gewesen sein soll. Besonders verübelt er Furet, daß der es Nolte als Verdienst anrechne, das Verbot eines Vergleichs von Kommunismus und Nazismus durchbrochen zu haben.

Dieser Versuch, das Schwarzbuch, zumindest aber den einleitenden Essay, mit dem »Historikerstreit« im Deutschland der achtziger Jahre in einen Sack zu stecken, eine Linie von Nolte zu Courtois zu ziehen, findet in dem Werk selbst überhaupt keine Stütze. Das Schwarzbuch beschäftigt sich weder implizit noch explizit mit dem Streit, in welcher Beziehung das NS-Regime zu den realsozialistischen Regimes stand. Erst recht enthält es keine Ausführungen über den Nutzen bzw. die Schädlichkeit von Totalitarismustheorien.

Courtois' Bemerkung über die zeitliche Abfolge kommunistischen und nazistischen Terrors begründet eben keinen Kausalnexus der Nolteschen Art. Mit Recht legt Wippermann auf den intellektuellen Einfluß Wert, den Frangois Furet auf die Autoren des Schwarzbuchs ausgeübt hat. Aber gerade hieraus müßte sich die Distanz zu Nolte erschließen. Aus dem Briefwechsel zwischen Nolte und Furet, der jetzt unter dem Titel Feindliche Nähe auch in Deutschland veröffentlicht wurde, gehen die gegensätzlichen Positionen beider Historiker klar hervor.

Füret weist die angeblich »rationalen Beweggründe« für Hitlers Antisemitismus, die nach Nolte in einer berechtigten Angst vor den Bolschewiki liegen, zurück. Er betont die spezifisch deutschen Ursprünge des Nazismus, die älter waren als die Feindschaft gegen die Bolschewiki. »Bevor man die Juden zu Sündenböcken für den Bolschewismus gemacht hat, waren sie bereits diejenigen für die Demokratie gewesen.« Furet konstatiert: »Die Behauptung, daß der Gulag vor Auschwitz existiert hat, ist nicht falsch, sie ist auch nicht irrelevant, aber sie hat nicht die Bedeutung einer Beziehung von Ursache und Wirkung.« Höflich, aber deutlich macht Furet Nolte auch die politischen Implikationen seiner Thesen klar: »Allerdings füge ich hinzu, daß Sie sich, wenn Sie dem Bolschewismus gegenüber dem Faschismus nicht nur eine chronologische, sondern auch eine kausale Priorität zuschreiben, dem Vorwurf aussetzen, den Nazismus in gewisser Weise entschuldigen zu wollen.«


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Courtois betont die »Singularität von Auschwitz«, allerdings charakterisiert er sie in völlig unzulänglicher Weise, indem er sie reduziert »auf die Mobilisierung der modernsten technischen Ressourcen und die Ingangsetzung eines industriellen Prozesses, der Konstruktion einer Vernichtungsfabrik.« Mit solchen Definitionen ist weder der Dimension noch der Dynamik des nazistischen Völkermords beizukommen. Aber mit der Zurückweisung dieser verharmlosenden Auffassung ist noch nicht widerlegt, daß der Massenmord aus Gründen der Rassenzugehörigkeit nicht mit dem aus Gründen der Klassenzugehörigkeit verglichen werden kann. Mehr noch: daß zwischen beiden mörderischen Aktionen die von Courtois behaupteten »Ähnlichkeiten« existieren.

Einer solchen Behauptung ist in der linken Tradition stets mit dem Argument begegnet worden, daß die Rassenzugehörigkeit von Geburt an gegeben sei und niemals abgestreift werden könne – weshalb das Opfer des nationalsozialistischen Massenmords grundsätzlich keine Chance habe, seinem Henker zu entgehen. Hingegen wäre ein Mensch seiner Eigenschaft etwa als Bourgeois oder landbesitzender Bauer ledig, wenn er seiner Produktionsmittel verlustig ginge. Prinzipiell, das heißt nach dem erfolgreichen Ende der revolutionären Umwälzung und der Konsolidierung proletarischer Macht, sei eine zukünftige Existenz als Werktätiger gesichert. Um in dem angeführten Beispiel zu bleiben: Das Kind im Warschauer Ghetto hatte gegenüber den Nazis keine Überlebens­chance. Das ukrainische Bauernkind aber hätte, falls es den Hungertod überlebte, eine Enwicklungsmöglichkeit – als Kolchos­mitglied, oder, falls seine Interessen und Begabungen darüber hinausgingen, innerhalb jeder Funktion der sozialistischen Gesellschaft.

Das Problem dieser Beweisführung besteht nur darin, daß sie mit den historischen Fakten nicht übereinstimmt. Um dies zu erhärten, wird im folgenden vor allem auf den Beitrag von Nicolas Werth im Schwarzbuch – eigentlich eine eigene, abgeschlossene 250-Seiten-Studie – Bezug genommen. Sie faßt über die bekannten Arbeiten der Sowjetologen hinaus auch die neuen russischen Forschungen bis Mitte der neunziger Jahre zusammen, ist strikt empirisch orientiert, vergleicht die Repressions­zyklen miteinander, hält sich aber zurück bei großflächigen Verallgemeinerungen.

Werths Arbeit erhellt, daß schon in den frühen zwanziger Jahren darangegangen wurde, regimekritische oder aufständische Gruppie-


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rungen nicht nur gewaltsam zu »pazifieren«, sondern sie in toto auszulöschen. Zum Beispiel die Kosaken vom Don und vom Kuban. Weil sich viele dem Zaren ergebene Kosaken den »Weißen« im Russischen Bürgerkrieg angeschlossen hatten, wurde aus einer Reihe von Ortschaften die gesamte Bevölkerung deportiert und zur Zwangsarbeit verschickt, die Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Dies geschah, nachdem die Niederlage der »Weißen« besiegelt war. Konnte man die »Entkosakisierung« noch der Gewaltspirale des Bürgerkriegs zurechnen und den gewaltsamen Tod vieler Unschuldiger, so versagen solche Interpretationen bei der »Entkulakisierung« vom Ende der zwanziger Jahre.

Jetzt ist die Staatsmacht gefestigt, die Bauern sind unter Kontrolle des Regimes. Erstmals wird eine riesige Bevölkerungsgruppe, die »Kulaken«, zu Konterrevolutionären erklärt, nach ihrer »Sozialgefährlichkeit« in drei Kategorien eingeteilt und nach festgelegten Kontingenten deportiert bzw. erschossen. Die Stalinsche Führung rechtfertigte diese Massenrepressalien damit, sie habe in einem Akt der Notwehr gehandelt, denn ein großer Teil der Bauern habe die ihm Rahmen der Naturalsteuer auferlegten Getreidelieferungen zurückgehalten. Tatsächlich war die Verweigerungshaltung vieler Bauern das Resultat der Daumenschrauben, die ihnen die Bolschewiki zuvor angelegt hatten. Aber subjektiv erschien vielen der Kommunisten, die sich an den Zwangs­maßnahmen beteiligten, die »Entkulakisierung« als ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der städtischen Revolution und der dörflichen Konterrevolution.

Diese Täuschung und Selbsttäuschung wurden endgültig zunichte gemacht im Jahr des Große Terrors 1937. Der von der Parteiführung abgesegnete operative Befehl Nr. 00477 ordnete die Tötung oder die Verbannung eines Kontingents ehemaliger Kulaken, ehemaliger Angehöriger oppositioneller Parteien und von Kriminellen an, die ihre Strafe verbüßten oder verbüßt hatten.

Dieser Terrorwelle, der in einem Jahr 700.000 Menschen zum Opfer fielen, schlossen sich Verfolgungen der in der Sowjetunion lebenden Ausländer an, denen vor allem die Polen und Deutschen als Gruppe zum Opfer fielen. Obwohl der Befehl die Verfolgung von »antisowjetischen Aktivitäten« abhängig macht, wird in der Praxis die bloße Existenz zum Beweis dieser Aktivitäten. Die soziale Charakterisierung als »Ehemaliger« ist jetzt das Brandzeichen. »Ehemaliger« zu sein wird eine quasi biologische Eigenschaft, sie vererbt sich auf die Kinder und Kindeskinder. 


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Jede individuelle Verantwortlichkeit verschwindet. Diese Fixierung des Gruppenfeindes - gepaart mit äußerster Entschlossenheit, ihn auszurotten - bezeichnet den Punkt der größten Nähe zwischen der nazifaschistischen und der stalinistischen Ausrottungspolitik.

Die Abwehr- und Immunisierungsstrategen sind weit davon entfernt, sich mit dem Tatsachenkern auseinanderzusetzen, der Courtois' Vergleich von Rassenmord und Klassenmord zugrunde liegt. Statt dessen wird den Autoren des Schwarzbuchs unterstellt, sie borgten sich »ihre« Toten bei Hungerkatastrophen aus, um in einem Zahlenvergleich die Kommunisten als die noch größeren Massenmörder darstellen zu können.

So schreibt etwa Hermann L. Gremliza in der letzten Januar-Ausgabe von konkret: »Über die Zahl der Opfer zu rechten erscheint immer zynisch, ist hier aber unumgänglich. 11 der 15 Millionen >umgebrachter< Sowjetbürger und 22 bis 48 (den Spielraum läßt das Schwarzbuch) der 44,5 bis 72 Millionen >umgebrachter< Chinesen sind, sagen die Autoren, verhungert (und das sind möglicherweise weit weniger als in vergleichbaren Zeiträumen der vorkommunistischen Zeit dieser Länder und im Rest der Welt unterm Kapitalismus).«

Ebenso Bernhard Schmidt in ak vom 15. Januar 1998: »Ohne jede Unterscheidung stellt er [Courtois; C. S.] die Opfer von Hungersnöten als >Opfer des kommunistischen Systems< auf dieselbe Stufe wie die Opfer von Zwangsarbeit oder von gezielter staatlicher Repression.« Und auch Schmidt resümiert: »Würde man Courtois' Methode auf die übrige Welt, auf den Kapitalismus und ihm vorausgegangene gesellschaftliche Systeme anwenden, so käme man unweigerlich auf eine zigfach höhere Opferbilanz.«

Dieser Argumentationsstil verdunkelt die historische Beweisführung innerhalb des Schwarzbuchs. Wiederum sei das Gegenargument auf die Sowjetunion beschränkt, weil in ihrem Fall - im Gegensatz zu China - die Faktenbasis unbestritten ist. Die Hungersnöte in der Sowjetunion waren keine »Naturkatastrophen«, deren Folgen rechtzeitiger staatlicher Eingriff zwar hätte mildern, nicht aber abwenden können. Das trifft schon auf die Hungersnot von 1921 zu.


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Trotz der schlechten Ernte von 1920 hielt die Staatsmacht an den vorher hochmanipulierten Ertrags­schätzungen fest. Sie minderte nicht die im Rahmen des »Kriegskommunismus« festgelegten Beschlagnahmungskontingente und nahm deshalb den Bauern das Saatgut und die für deren eigenes Überleben notwendige Getreidemenge weg. Erst recht ist die große Hungersnot von 1932/33 Ergebnis einer vorgängigen Politik – der Zwangs­kollektivierung und »Entkulakisierung«. Werth hat sie als »regelrechten Krieg des Sowjetstaates gegen eine ganze Nation von kleinen Betrieben« qualifiziert.

1930 zog der Staat in der Ukraine 30 Prozent der Getreideernte ein (in der NEP-Phase hatten die Bauern nur 15 bis 20 Prozent in den Handel gebracht). Trotz schlechterer Ernte kletterte der Anteil auf 41,5 Prozent: Unter Drohungen, zum Teil unter Folter wurden die Bauern gezwungen, ihre gesamten Vorräte abzuliefern. Sie verfügten weder über irgendwelche Geldmittel, noch konnten sie in die Städte ausweichen - das verhinderte der Inlandspaß, kombiniert mit einer vollständigen Sperre für Bahnfahr­karten vom Land in die Städte. Während auf dem Land 1933 Millionen von Bauern verhungerten, exportierte der Sowjetstaat 18 Millionen Doppelzentner Weizen, um Investitionsmittel für die Erfüllung der Planvorhaben zu erlangen.

Angesichts dieser – keineswegs erst seit Erscheinen des Schwarzbuchs bekannten – Fakten ist es schlecht möglich, die sowjetische Führung von der direkten Verantwortung für die Hungersnöte zu entlasten. Deshalb führt ein allgemeiner Vergleich mit den Hungertoten, die Kapitalismus und Imperialismus zu verantworten hatten und haben, in die Irre. Dieser Vergleich wäre nur dann legitim, wenn er nicht Systemfolgen, sondern die Folgen einer je konkreten Politik in den Mittelpunkt rücken würde.

Von der Hungersnot im englisch besetzten Irland, vom Aushungern der Indianer Nordamerikas bis zur Verhängung von Hunger­blockaden überhaupt gab es genügend Beispiele solcher von imperialistischen Regierungen gezielt herbeigeführten Hungersnöte. Die Kritiker des Schwarzbuchs aber meinen etwas anderes: Sie buchen sämtliche tödlichen Folgen des kapital­istischen Siegeszugs auf das Konto eines Schuldigen: des »Systems«.

Die Entlastungsabsicht solcher Gegenangriffe sticht ins Auge. Einerseits wird den realsozialistischen Machthabern eingeräumt, daß sie ihr Aufbauwerk nur auf den Ruinen des vorangegangenen kapitalistischen Systems errichten konnten. Diese drückende, ererbte Last hätte ihren Aktionsraum eingeschränkt, sie verwundbar gemacht, ihnen oftmals keine andere Wahl gelassen als gewaltsame Krisenlösungen.


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Diese Art von objektiver Notwendigkeit wird dem Realsozialismus gutgeschrieben und mit den weltweiten Verbrechen des Imperialismus kontrastiert. In Wirklichkeit hat es nie eine »objektive Notwendigkeit« gegeben, die den sowjetischen Macht­habern nur die Waffe des Terrorismus gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung gelassen hätte. Weder war der Terror von 1936 bis 1938 Voraussetzung für den Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, noch hing die Existenz der Sowjetunion zu Beginn der dreißiger Jahre von der Liquidierung des Kulakentums als Klasse ab, noch war die sowjetische Politik gegenüber dem ländlichen Rußland je ohne Alternative gewesen.

Die ganze Struktur solcher Argumentationen ähnelt dem Witz, nach dem ein sowjetischer Funktionär der Stalinzeit auf die Anschuldigung eines amerikanischen Besuchers, in der Sowjetunion herrschten Willkür und Mißwirtschaft, geantwortet hat: »Und ihr unterdrückt die Schwarzen!« Alle Vergleiche helfen nichts: Die Hungersnöte in der Sowjetunion waren intendiert, sie waren Ergebnis einer politischen Linie, die die Bauern in die Knie zwingen wollte. Der Hunger wurde zu einer Waffe im Klassenkampf.

Opferbilanzen aufrechnen heißt: Augen zu, Festhalten an den einmal für richtig erkannten Schemata. In dem schon zitierten konkret-Artikel heißt es: »Je fragwürdiger, je katastrophischer sich der Kapitalismus entwickelt, um so dringender wird die Auslöschung aller richtigen Antworten, des ganzen analytischen Bestandes, dessen Überlegenheit nun nicht mehr zu übersehen ist.«

Tatsächlich haben uns die Widersprüche des Kapitalismus nicht den Gefallen getan, sich zusammen mit den untergegangenen sozialistischen Regimen zu verabschieden. Aber eine gesellschaftliche Alternative muß neu begründet werden. 70 Jahre Realsozialismus haben theoretisch und praktisch die »Beweislast« zwar nicht umgekehrt, aber neu verteilt – hinsichtlich der ökonomischen »Machbarkeit«, mehr aber noch im Hinblick auf die Sicherung von Demokratie und Menschenrechten.

Das Schwarzbuch kann methodisch kritisiert, seine Sichtweisen mögen im einzelnen zurückgewiesen werden, an seinen Fakten führt kein Weg vorbei.

 

Quelle: taz, 30./31. Mai 1998

 


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Deutsche Tagespost, 4. Juni 1998

KONRAD LÖW

Eine Abrechnung mit dem Weltkommunismus.

Deutsche Version des Schwarzbuchs des Kommunismus erschienen — erschütternde Anklageschrift

 

Endlich ist die deutsche Version jenes Buches auf dem Markt, das nicht nur in Frankreich, wo die Originalausgabe erschienen ist, sondern geradezu in aller Welt heiße Diskussionen ausgelöst hat: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Auf neunhundert eng bedruckten Seiten - den Rest füllen die Anmerkungen und das Literaturverzeichnis - wird der kommunistischen Weltbewegung der Prozeß gemacht. Die Anklageschrift ist erschütternd:

»Sowjetunion: 20 Millionen Tote,
China: 65 Millionen Tote,
Vietnam: l Million Tote,
Nordkorea: 2 Millionen Tote,
Kambodacha: 2 Millionen Tote,
Osteuropa: l Million Tote,
Lateinamerika: 150000 Tote,
Afrika: 1,7 Millionen Tote,
Afghanistan: 1,5 Millionen Tote,
kommunistische Internationale und nicht an der Macht befindliche kommunistische Parteien: etwa zehntausend Tote. Alles in allem kommt die Bilanz der Zahl von einhundert Millionen Toten nahe.«

Dieser summarischen Auflistung folgen die Schilderungen und die Beweise, gegliedert in einzelne Weltregionen. Die apokalyptischen Keiler starten im »Vaterland aller Werktätigen«, in der Sowjetunion: »Die Zahl der von 1825 bis 1917 wegen ihrer Meinung oder wegen politischer Personen belief sich auf 6360. Davon wurden 3932 hingerichtet... Diese Zahl hatten die Bolschewiken bereits im März 1918 übertroffen, nach nur vier Monaten Machtausübung.«


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 Wenig später bringen sie Tod und Verderben nach Deutschland, nach Ungarn, insbesondere nach Spanien. Eigene Kapitel sind dem »Erbfeind« Polen sowie Mittel- und Südosteuropa gewidmet. Weitere Stichworte, die ausführlicher abgehandelt werden, sind: China, Nordkorea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Nicaragua, Peru, Äthiopien, Angola, Mocam-bique. Afghanistan bildet den Abschluß, genauer »Die sowjetische Intervention«, noch als, die Geschichte abrundend, der Import der blutroten Revolution aus dem Lande der kommunistischen Erstgeburt.

Es ist unmöglich, hier auf Einzelheiten einzugehen. Nur Kuba, an dessen Spitze immer noch ein Kommunist steht, das durch den Papstbesuch für Tage in den Mittelpunkt der Berichterstattung rückte, sei beispielhaft herausgegriffen. Genau zwanzig Seiten befassen sich mit diesem Inselstaat, den Castro Anfang 1959 erobert. »Vom Augenblick der Machtergreifung an waren das Gefängnis La Cabana in Havanna und das in Santa Clara Schauplatz von Massenhinrichtungen.« Anschließend heißt es: »Seit 1959 haben mehr als einhunderttausend Kubaner die Lager, Gefängnisse oder Arbeitsfronten kennengelernt. Fünfzehntausend bis siebzehntausend Personen wurden erschossen ... Castro, ein Tyrann, der außerhalb der Zeit zu stehen scheint, sagte vor dem Hintergrund des Scheiterns seines Regimes und der Schwierigkeiten in Kuba 1994, daß er lieber sterbe, als die Revolution aufzugeben. Welchen Preis müssen die Kubaner noch zahlen, um seinen Stolz zu befriedigen?«

Am Ende des Originaltextes steht die Frage: »Warum?« Auf 32 Seiten müht sich der Hauptautor, Stephane Courtois, um die Antwort und findet sie in einem Text, den ein Opfer des Roten Terrors hinterlassen hat: »Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der größten Vergewaltigung des Menschen durch den Staat. Aber die Kraft und die Hoffnung der Menschen liegt hierin: gerade das zwanzigste Jahrhundert hat das Hegelsche Prinzip des welthistorischen Prozesses - >alles Wirkliche ist vernünftig< - ins Wanken gebracht ... in der Zeit der totalen Unmenschlichkeit wurde offenbar, daß alles mit Gewalt Geschaffene sinnlos und vergeblich ist, ohne Zukunft lebt, spurlos bleibt.«

Trotz des hohen Lobes, das den Autoren für ihre ebenso mutige wie gründliche Arbeit gebührt, darf Kritik, die sich aufdrängt, nicht unterschlagen werden. Sie betrifft nicht den Hauptteil, auch wenn sie Rückschlüsse nahelegen könnte, sondern das einleitende und das Schluß-Kapitel.


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Unter der Überschrift: »Die Verbrechen des Kommunismus«, stellt der Hauptautor Vergleiche mit den Verbrechen der Nationalsozialisten an und bemerkt zutreffend: »Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das das stalinistische Regime gezielt der Hungersnot ausliefert, wiegt genauso schwer wie der Tod eines jüdischen Kindes im Warschauer Ghetto, das dem vom NS-Regime herbeigeführten Hunger zum Opfer fiel.«

Dann fährt er fort: »Dieser Vergleich stellt die Einzigartigkeit von Auschwitz nicht in Frage - die Aufbietung modernster technischer Ressourcen, das Ingangsetzen eines regelrechten industriellen Prozesses, die Vernichtungsmaschinerie der Vergasung und Leichenverbrennung ...« Hitler hat das Gas zunächst zur Tötung von etwa 100.000 geisteskranken und geistesschwachen »Ariern« eingesetzt. »Insgesamt« - schreibt Courtois - »wurden von 1933 bis 1939 rund 20.000 aktive Linke in den Lagern und Gefängnissen mit oder ohne Gerichtsverfahren ermordet.« Diese Zahl übersteigt bei weitem die Schätzungen des renommierten Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Vielleicht hat Courtois recht; aber leider verschweigt er an dieser Stelle seine Quelle.

Noch schwerwiegender sind die Unzulänglichkeiten des Schlußkapitels, soweit sich Courtois mit Marx beschäftigt. Er will wissen: »Unter Hinweis auf die für die Arbeiterbewegung katastrophalen Erfahrungen der Pariser Kommune und deren außerordentlich harte Unterdrückung (mindestens 20.000 Tote) kritisierte Marx nachdrücklich diese Art von Aktionen.« Auch hier fehlt jede Fundstelle. Wer die ganze literarische Hinterlassenschaft von Marx und Engels gelesen hat, glaubt das Gegenteil beweisen zu können. Marx: »Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in die großen Herzen der Arbeiterklasse.« 

Engels macht den Kommunarden sogar den Vorwurf, sie hätten rücksichtsloser agieren sollen: »Ich kenne nichts Autoritäreres als eine Revolution, und wenn man seinen Willen den anderen mit Bomben und mit Gewehrkugeln aufzwingt, wie in jeder Revolution, dann scheint mir, daß man Autorität ausübt. Es war der Mangel an Zentralisation und Autorität, der die Pariser Kommune das Leben gekostet hat.«

Auch was Courtois sonst von jenen, die die »Geburtsurkunde« des Kommunismus, das Manifest der Kommunistischen Partei verfaßt haben, behauptet, ist anfechtbar:


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»Schon 1872 hatte Marx die Hoffnung geäußert, die Revolution könne in den Vereinigten Staaten, in England und Holland friedliche Formen annehmen.« Damals sagte er in einem Interview tatsächlich: »Wir wissen, daß man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen der verschiedenen Länder berücksichtigen muß, und wir leugnen nicht, daß es Länder gibt, wie Amerika, England und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht auch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können.« Hitler hat sich ebenfalls dazu bekannt, mit dem Stimmzettel die Macht erobern zu wollen. Wofür ist das ein Beweis?

Drei Jahre nach dem Interview bejahte Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms mit aller Entschiedenheit die Diktatur des Proletariats, während Courtois meint: die Bolschewisten nannten ihre Herrschaft »Diktatur des Proletariats« und nahmen damit einen Ausdruck auf, den Marx zufällig in einem Briefwechsel gebraucht hatte.« Doch Marx und Engels haben sich spätestens seit 1850 bis zum Tode von Marx des öfteren klar und vorbehaltlos für die Diktatur des Proletariats ausgesprochen. Hätte Courtois über Marx besser Bescheid gewußt, so hätte seine Genalogie des Bösen nicht erst mit Lenin begonnen. Es war Marxens und der Welt Glück, daß er seine revolutionären Träumereien nicht in die Tat umsetzen konnte, sonst hätte das von Kommunisten vergossene unschuldige Blut nicht erst 1917 zu fließen begonnen. Offenbar kann der ehemalige Marxist Courtois sein Jugendidol (noch?) nicht einer kritischen Prüfung unterziehen.

Auch wenn uns Das Schwarzbuch des Kommunismus nicht prinzipiell Neues auftischt, es ist ein großes, überaus bedeutsames Werk, die erste tiefschürfende, weltumspannende Enzyklopädie der Verbrechen des Kommunismus. Ihr ist weiteste Verbreitung zu wünschen, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, den Courtois klar herausstellt, daß viele »große« und kleine Geister den Massenmördern großen Stils, Lenin, Stalin, Tito, Mao, Pol-Pot bis hin zu Castro gehuldigt, zumindest als »nützliche Idioten« gedient haben.

Gerade Katholiken sollten es wissen und kundtun: Bereits zwei Jahre vor dem Erscheinen des Manifests der Kommunistischen Partei verurteilte Papst Pius IX. in der Enzyklika Quipluribus den Kommunismus als eine »abscheuliche Lehre, die in höchstem Grad dem Naturrecht entgegengesetzt ist und die, einmal zur Herrschaft gelangt, zu einem radikalen Umsturz der Rechte, der Lebens­verhältnisse und des Eigentums, ja der menschlichen Gesellschaft führen muß.«

Von dieser Betrachtungsweise wurden offiziell keine Abstriche gemacht, vielmehr wurde sie mehrmals ausdrücklich wiederholt, so in Quadra-gesimo anno und in Divini redemptoris.

 

Quelle: Deutsche Tagespost, 4. Juni 1998 

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