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Von Alexander Schuller

 

Mythos Mord. Über den Totalitarismus 

 

Merkur (Berlin), August 1998, Nr. 52

 

157-172

Es war so ähnlich wie damals bei Goldhagen. Der Autor zog von Stadt zu Stadt, präsentierte auf einem Podium mit jeweils anderen Gesprächspartnern sein Buch und seine Thesen. Aber die Reaktion des Publikums war anders. Bei Goldhagen war ein triumphaler Stolz darüber, daß die Deutschen noch immer die schlimmsten Mörder aller Zeiten waren. Da ging es nicht um die eine oder andere Zahl, da ging es nicht um Wissenschaft und Wahrheit, da ging es nur um Jubel.

Die Reaktion auf Courtois war: Empörung. Courtois habe die Zahl der Opfer falsch berechnet, das diene nur dazu, den Faschismus zu verharmlosen, die Lektüre der millionenfachen Morde sei langweilig, man habe das alles schon gewußt. Das meinte vor allem der Göttinger Professor Manfred Hildermeier in der Zeit (4. Juni 1998) und kam dann zu der denkfaulen Conclusio: »Wem wäre auch mit der verqueren Logik gedient, daß der Gulag und Pol Pot Auschwitz noch in den Schatten stellten? Den Opfern oder auch nur dem historischen Verständnis?« - »In diesem Punkte nun versagen die politisierenden Intellektuellen völlig.«1

Aber warum versagen sie jetzt und immerdar, warum immer auf die gleiche Weise? Derjenige, der nicht kontrafaktisch an die gute blutige Sache glaubt, wird zum Gegner, 

»zum Ausgeschlossenen. Das Ausschließen läuft fast automatisch auf die Idee vom Auslöschen hinaus. Denn von da an reicht die Freund/Feind-Dialektik zur Lösung des Grundproblems des Totalitarismus nicht mehr aus: des Strebens nach einer vereinten, gereinigten, nicht antagonistischen Menschheit mittels der messianischen Dimension des marxistischen Projekts, die Menschheit im und durch das Proletariat zu vereinen ... So kommt man bald von einer Logik des politischen Kampfs zu einer des Ausschließens, von einer Ideologie des Eliminierens schließlich zu einer des Auslöschens sämtlicher unreiner Elemente. Am Ende dieses Gedankens steht das Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«1

 

1)  Erich Voegelin, Die politischen Religionen. Stockholm: Hermann-Fischer 1939.


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Was ist es also, das diese »verquere« Anhänglichkeit an den Terror ausmacht? Warum schaffen die auch kaum bestrittenen Hinweise auf die millionenfachen Morde keine Einsicht? Kann es sein, daß wir hier auf eine Paradoxie stoßen, die sich nur einer durch und durch verqueren Logik erschließt ? Kann es sein, daß der Kommunismus nicht trotz, sondern gerade wegen seiner vielen Morde so fasziniert, und daß uns, die wir zwischen den Untaten der einen und der anderen nicht zu unterscheiden in der Lage sind, der geheimnisvolle Sog, den der politische Mord auf die Phantasie gerade der Intellektuellen ausübt, entgeht?

Ist es der Zauber jener unbesiegten mächtigen Sowjetunion, der hier fortwirkt und gegen den das armselige besiegte Deutschland mit seinen zwanzig Millionen Morden ein wahres Nichts ist? Vielleicht verfügt die These der Vorrangigkeit der kommunistischen Verbrechen vor den faschistischen über eine ganz andere Wahrheit, als wir es bisher vermutet hatten. Vielleicht gibt es hier eine unentdeckte Parallelität der Nolteschen und der antifaschistischen Positionen. Beide behaupten die Vorrangigkeit des Kommunismus - in einem nur scheinbar kontradiktorischen Sinn. Voegelin: »Jetzt spüren wir schon deutlicher, was auf dem Spiele steht:... es geht um Leben und Tod; mehr noch: es geht um die Frage, ob der Mensch persönlich existieren dürfe oder sich in ein überpersönliches Realissimum aufzulösen habe.«

»Alles stirbt. / Wir nur wissen das und sterben / nun doppelt.« Und definieren damit zugleich den Menschen als das Tier mit dem doppelten Tod. Der Raum zwischen dem einen Tod und dem anderen ist das, was wir Bewußtsein nennen - das Bewußtsein davon, daß wir, die wir sind, nicht sein werden. Dabei war Bewußtsein, als es vor etwa sechzigtausend Jahren aufsprang, ein durchaus bedeutender evolutionärer Gewinn. Steven Mithen, Verfasser von The Prehistory of the Mind, sieht im menschlichen Bewußtsein eine kognitive Strategie des Individuums, das Verhalten der anderen Mitglieder seiner Sozialgruppe einschätzen und vorhersagen zu können. Sozialpsychologisch nennt man das heute Empathie. Aber damit entstand uns auch die gefährliche Fähigkeit der Selbstreflexion – die Erkenntnis unserer Sterblichkeit.

1)  Stephane Courtois (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. München: Piper 1998.


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Bewußtsein ist im Kern und in seiner Dynamik Bewußtsein des eigenen Todes. Dieses Bewußtsein erträgt der Mensch ohne Kompensation nicht. Die Kompensation heißt Gesellschaft. Gesellschaft ist die Antwort auf den Verzweiflungsschrei des Bewußtseins vor seinem Verebben. Gesellschaft macht Bewußtsein – und den Tod – erträglich. Andererseits mobilisiert das Bewußtsein den gesellschaftlichen und damit historischen Prozeß. Durch Bewußtsein wird Gesellschaft möglich, und durch Gesellschaft wird Bewußtsein falsches Bewußtsein – von Anfang an. Falsch in dem Sinn, daß es den Fluch des Geboren-Seins und den Fluch des Sterben-Müssens verdeckt und verdunkelt. Gesellschaft ist die Institutionalisierung dieses falschen, dieses rettenden Bewußtseins. Gesellschaft ist Todesflucht, und Philosophieren ein Rückblick in den Abgrund – einen Gedanken lang.

In dieser doppelten Anstrengung legitimiert und entwickelt sich Gesellschaft: aufdecken und verdecken, verschleiern und enthüllen den Tod. Einerseits kann der Mensch nicht lange in der Kontingenz leben, andererseits kann er sich der Verlockung des Todes, dem Wagnis der Wahrheit auf Dauer nicht entziehen. Wenn Gesellschaft die elaborierte Verschleierung des Todes darstellt, ist sie zugleich das Instrument, das einzige überhaupt, mit dem der Mensch sich mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen kann. Nur Gesellschaft nämlich schafft und ermöglicht Kultur und legitimiert sich damit als der scheinheilige Überwinder des Todes. Scheinheilig deswegen, weil Gesellschaft ihrerseits über ihre eigene Tödlichkeit verfügt. 

»Das ist der kognitive Ausdruck der Grundbedingungen moderner Existenz: Komplexität und Kontingenz. Und weil das wehtut, ja unerträglich ist, werden die genau eingepaßten Heilsversprechen unwiderstehlich: Gegen die Komplexität der Welt schützt uns der Sinn; gegen die Kontingenz der eigenen Existenz immunisiert uns die Selbstverwirklichung.«1) Gesellschaft, die die Unerträglichkeit erträglich macht, generiert nun selbst Ängste und Kontingenzen. Die Flucht vor dem Tod in die Gesellschaft ist ein unendlicher Regreß, Verstrickung ohne Ende.

Daß Geschichte immer auch theologisch zu lesen ist, bedeutet, daß es um den Mythos des Ganzen und des mit sich selbst Versöhnten geht, daß die Sehnsucht darauf zielt, diese immer aufs neue zerbrechende Einheit wiederherzustellen.

 

1  Norbert Bolz, Selbsterlösung. In: Norbert Bolz/Willem van Reijen (Hrsg.), Heilsversprechen. München: Fink 1998.


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Einst kam uns der Mythos aus der Ferne jenseits vom Hier und Jetzt entgegen, als unfaßliches Schicksal, als unbegreiflicher Gott. Aber der Prozeß der Vergesellschaftung, der Verarbeitung, der Domestizierung des Unbegreiflichen begann mit der langsamen Geburt des Bewußtseins und schritt voran mit der Expansion von Gesellschaft. Die Transzendenz, dann die Natur wurden humanisiert. Das kann man Säkularisierung nennen, wenn man darunter nicht Ent-Mythologisierung, sondern Um-Mythologisierung versteht. Denn das ist der Prozeß, den es zu verstehen gilt: Die Macht des Mythos erkennen wir erst im Entschwinden, nie in seiner allumfassenden und blendenden, politisch korrekten Präsenz. Der Mythos hält uns umschlungen, und wir halten ihn fest wie Ertrinkende, ohne je die Augen zu öffnen und ihm ins Gesicht zu blicken.

Unser erster, langst fremd gewordener Mythos heißt Gott. Er war einst das Gegenkonstrukt zur Realität und damit zum Tod. Gott war das Unmögliche, das im Mythos möglich wurde, die Beschwörungsformel zur Bändigung von Verzweiflung, Vergäng­lichkeit und Tod. Indem der Mensch versuchte, im Gehorsam zu Gott zu leben, sich als sein Ebenbild zu definieren, versuchte er auch, dem Tod zu entkommen. Aber von Anfang an war die Gottesmetapher vergiftet: mit Mensch. Alle Götter sind Transformationen und ambivalent. Jenseits und Diesseits in einem, das eine und doch das andere. Der Bewegung des Menschen zu Gott entspricht eine Bewegung Gottes zum Menschen, und nirgends manifester und die volle Paradoxie zum mächtigen Mythos wendend als im Christentum, in der Figur Jesu. Jesus bedeutet die Hinwendung und den Übergang von Gott als dem universalen und einzigen Prinzip Hoffnung zum Menschen. Mit Jesus beginnt die Säkularisierung der Transzendenz, mit Jesus, dem Menschen, beginnt Gott zu sterben.

Von der Vergöttlichung des Staates ist in einem metaphorischen Sinne gesprochen worden, und doch enthält die Formulierung eine historische Wahrheit. Auch wenn der Staat, so wie wir ihn heute erfahren, einem bürokratischen und rationalen Idealtypus folgt, verkörpert er doch zugleich die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Verläßlichkeit und Ordnung – Ansprüche, die auch heute noch an Gott erinnern. Wie Gott einst, so weckt auch der Staat – und je mächtiger er ist, desto mehr – die Hoffnung, daß Kontingenz, Krankheit, Kummer und Tod gewissermaßen auf dem Verordnungswege zu bewältigen seien.


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Was mit Machiavelli begann und mit der Französischen Revolution und Hegel seinen Höhepunkt errang, wurde im Totalitarismus aufgebraucht. Voegelin: »Daß die Staatsmacht ursprünglich oder absolut sei, ist nicht mehr ein Urteil des den Staat Erkennenden, sondern das Dogma eines Gläubigen. Die Existenz des Menschen verliert in seinem Erlebnis an Realität, der Staat zieht sie an sich und wird zum wahrhaft Realen, aus dem ein Wirklichkeitsstrom zurückfließt in die Menschen und sie umschaffend neu belebt als Teile des übermenschlich Wirklichen. Wir sind in das Innerste eines religiösen Erlebnisses geraten und unsere Worte beschreiben einen mystischen Prozeß.«

Warum sollte nicht der Mensch, da das Reich Gottes so lange auf sich warten ließ, sein eigenes regnum hominis schaffen: zu seinem Bilde? Das Instrument dieser Erwartung ist die den Menschen realisierende und den Menschen beherrschende Gesellschaft. Während der Staat ursprünglich charismatische und identitätsstiftende Elemente enthielt, als Instrument der Mobilisierung psychischer und sozialer Ressourcen fungierte, ist der Mythos von Gesellschaft längst befriedet: bedürfnisbefriedet. Die Hoffnungen sind nicht verschwunden, aber sie machen sich fest am Banalen, verdecken ihre explosiven Ängste.

Mit dem Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele setzt der Kampf um die Unsterblichkeit des Körpers ein. Das Ziel ist das gleiche: den Tod zu überwinden. Die Vergesellschaftung von Angst und Hoffnung schreitet unter veränderten Vorzeichen voran. Das Bemühen, das menschliche Bewußtsein gegen die Abgründe abzudichten, geht unter den Bedingungen eines interessen­politisch ausdifferenzierten Gemeinwesens weiter. Die Utopie der göttlichen Allmacht wird durch die der menschlichen Allmacht ersetzt. »Nichts ist unmöglich« verkündet uns selbst die Werbung, und wir glauben es. Natürlich haben wir auch mal Panik, aber wir sagen uns und jedem, der es hören will, daß wir – letztlich – alles im Griff haben. Es geht um Kontrolle.

Sie umschreibt das geheime Zentrum der modernen Angst. Angst vor Kontrolle, Angst vor Kontrollverlust. Erst war es die Natur. Das endete in der ökologischen Krise. Dann waren es die sozialen Verhältnisse. Das endete im Sozialstaat. Jetzt ist es die Technik. Von Gott zum Gerät – beide leugnen den Tod. Nachdem das Konstrukt Gott nicht mehr funktioniert und auch die totalitären Ideologien ermattet sind, bleibt als letzte Hoffnung das Gerät. Und das ersetzt in einer beeindruckenden Weise alle Politik.


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Quer zu den ideologischen Varianten ist Technik der neue Mythos. Die vom Technologischen durchwirkte Moderne geht mit dem Tod konstruktiv um. Im Gegensatz zum Totalitarismus setzt sie auf Leben, auf dessen Verlängerung. Dabei spielt auch ein Element der Verachtung mit, so als sei der Tod Partner in einem mäßig interessanten Spiel. Während der Totalitarismus noch auf das Erscheinen des Todes setzte, hofft die Technologie auf dessen unendliche Verzögerung.

Gott – das hatten wir schon, und auch die Könige heißen jetzt nur noch Ubu. Das mit dem Staat läuft schlecht, und die Ideologien öden. Aber sind wir nicht Gotts genug, uns selbst zu lieben? Warum nicht Mythos Mensch? Aber nicht als Bodensatz des Humanismus, sondern ich für mich und du für wen auch immer. Der real existierende Mensch, das bin ich, der Rest ist Gerede. 

»Nachdem die universellen innerweltlichen Heilsversprechen, die progressivistischen wie die apokalyptischen, zusammengebrochen sind, kann die innerweltliche Erlösung nur noch individuell betrieben werden, durch Selbstverwirklichung, Körperkult oder Therapie«,1) aber auch durch Konsum und Selbstinszenierung. Diese Konfiguration ist – oder genauer gesagt: war – kulturkritische Alltagsmünze. Inzwischen ist der neue Typ, das narzißtische Monster, zum Strukturprinzip postmodernen Wirtschafts­geschehens geworden. 

Bolz: »Es gibt einen neuen Menschenschlag, für dessen Alltagsidentität Religion, Kultur und ethnische Zugehörigkeit kaum noch eine Rolle spielt, der sich vielmehr ökonomisch definiert – durch Produktion und Konsum.« – »In der neuen postmodernen, kapitalistischen Wirtschaft werden Bedürfnisse erzeugt, um das Angebot der Hersteller auszuschöpfen. Die herkömmliche Ökonomie handelte mit harten Waren, die dem Körper dienten. Die neue Ökonomie ruht auf sanften Dienstleistungen für Geist und Seele: <Ich möchte nicht, daß die Kundinnen denken, sie betreten ein Bekleidungs­geschäft>, sagt die Designerin Donna Karan, <sie sollen denken, daß sie eine natürliche Umgebung betreten, daß sie sich verwandeln, aus ihrem Leben heraus und in eine Erfahrung hinein, daß es nicht um Kleider geht, sondern darum, wer sie als Menschen sind.>«

 

1)  Klaus Vondung, Die Absurdität des apokalyptischen Heilsversprechens. In: Heilsversprechen.


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Die Allianz von Narzißmus und Wirtschaft hat noch einen dritten Partner: soft technology. Wir fahren nicht mehr zueinander, wir surfen zueinander. Jetzt, wo die Airbusse noch donnernd auf- und abheben, die Autobahnen weiter ausgebaut werden und demnächst der Transrapid über Kühe und Wiesen hinwegrasen wird, sind sie doch schon, historisch gesehen, obsolet. »Let's come together« sagt ein Werbespruch und dementiert durch die Art der Aussage ihren Inhalt. Wer kommt denn hier eigentlich together? Und was feiern sie hier so feierlich? Der Frohsinn der Konsum­werbung feiert das Glück des triumphalen Selbst.

Bolz: »Es mag Menschen geben, die ohne Religion auskommen – nicht aber Gesellschaften. Deshalb ist die Frage nach dem, was geschieht und möglich ist, wenn Gott tot ist, für die Moderne so zentral... Der Gottesstaat der Atheisten ist vor unseren Augen zusammengebrochen. Wir glauben nicht mehr an die Verheißung des Kollektivs. Deshalb hat das Individuum wieder einmal Konjunktur. Auch wenn Religionssoziologen zeigen können, wie das moderne Individuum schon vor fünfhundert Jahren auf der Suche nach dem eigenen Heil entsteht, wird es als soziale und Heilsrolle doch erst heute unwiderstehlich.«

Der Narziß, der Phänotyp unserer Zeit, ist sich selber Gott und Referenz-System, süchtige Monade, die sich selber segnet, sich selbst erlöst. Unsere Sorge und unsere Fürsorge gilt uns selbst. Nichts fasziniert uns so sehr wie unser Körper, unser Leiden, unsere Erregung, und der Kick ist eine Messe. Das Fitneßcenter ist der heilige Ort, die Übung das Ritual und mein Schweiß der Weihrauch. Es handelt sich um Weihen und Exerzitien, deren Kultzentrum unser »Selbst« ist.

Ich selbst bin mir meine Droge. In dessen Rausch finde ich zu mir. Als Narziß bin ich Selbst-genügsam und harmlos. Ich entwerfe mich nur selbst — wie Foucault es empfohlen hatte. Die Operationalisierung des »Mythos Selbst« ist die Ästhetik. So setzt er sich um. Das, was wir Selbst­inszenierung nennen, hat hier seine anthropologischen Wurzeln. Was Gott der Dom, das ist dem Narziß die Gucci-Schnalle. Der Wille zum self-fashioning, zur ästhetischen Rekonstruktion des Alltags reicht bis in die letzte banale Nische. Bolz: »Nur ästhetisch kann sich der Wunsch erfüllen, nicht so zu sein, wie man ist. Escape heißt ein Duft von Calvin Klein; das ist das große Heilsversprechen der Selbstverwirklichung: Flucht aus der Kontingenz und Komplexität.« 

In der Dynamik des Konsums, aus der Flucht von und nirgends hin wird die Grundstruktur von Gottessuche und Todesflucht in köstlicher Banalität konkret.


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Alle großen Utopien sind rückwärts gewandt: Morus, Campanella, Bacon, später dann Owen und Fourier. Selbst das Kommunistische Manifest schwärmt von Ordnung und Idylle. Aber genau gelesen sind diese Utopien positiv gewendete Angst­phantasien: jede von ihnen eine zur Fluchtburg auftheoretisierte Heimat. Die vermeintlich der Zukunft zugewandten Utopien leben — bis hinein in die Lemscheste Science-fiction-Phantasie — von dem Drama der Gefährdung im Neuen: je neuer das Neue, desto schrecklicher, je vertrauter das vermeintlich Neue, desto schöner.

Die Utopie ist immer konservativ – wie radikal sie sich auch immer geben mag –, wo sie auf Inhalte, auf Fragen, auf Begriffe rekurriert. Daher ist es wichtig, auf Tendenzen zu achten, die sich vom Inhalt trennen und zur reinen Geste werden. Das ist der Anarchismus. Er ist das zentrale Moment revolutionären Denkens in der Moderne. Er ist frei von Sinn und Verstand. Er stößt direkt und ohne ideologische Verbrämung auf die Quelle von Gesellschaft – auf Tod und Kontingenz. Der Anarchismus durchschaut die Gesellschaft als ontologische Lüge. Im Manifest des Futurismus heißt es: »Wozu hinter uns blicken, da wir gerade die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen brechen? Zeit und Raum sind gestern da hinaufgegangen. Wir leben schon im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Schnelligkeit geschaffen ... Wir wollen den Krieg preisen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörende Geste der Anarchisten, die schönen Gedanken, die töten.«

Bedeutsam an diesem Text, den man zu den grundlegenden des 20. Jahrhunderts zählen muß, sind die Radikalität und der Un-Realismus. Für Marinetti und die Futuristen ist die Wirklichkeit, sind Geschichte und Gesellschaft kein Bezugspunkt. Sie wollen die Phantasie lodern lassen, nicht die Wirklichkeit. Sie fordern die Tat und verachten den Gedanken. Sie sprengen Grenze und Gesetz. Das konstituiert auch die Dynamik des Totalitarismus. Auch er ist dazu verdammt, sich selbst verzehrend, immer radikaler zu werden, sich zu entfesseln, sich zu entleeren. Jegliche Stasis würde ihn zerfallen lassen – wie das Schicksal der Sowjetunion uns zeigt. So gesehen ist diese Dynamik auch Flucht: Fliegende Holländer allesamt. Auch wenn sich die verschiedenen Varianten totalitären Denkens in Anspruch und Differenziertheit sehr wohl unterscheiden, ihr Haß auf Gesellschaft und Grenze – nicht nur als je gegebener, sondern überhaupt – ist ihnen gemein.


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Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, wie wenig im Faschismus, wie wenig selbst im theorie­besessenen Marxismus die Parteiprogramme einen Bezug zum jeweiligen politischen Handeln hatten. Vondung: »Auch die innerweltliche Apokalypse hält an der Notwendigkeit fest, daß die alte, defiziente Welt untergehe. Ernst Blochs Verlangen richtete sich 1918 auf >Entrealisierung<, auf die >Wegnahme der physischen Welt<. Zur selben Zeit propagierte Kurt Pinthus die >Auflösung< der Welt, die >Beseitigung< der >Determination der Wirklichkeit<.«

Die Apokalypse ist ein zentrales Leitmotiv abendländischen Denkens. Im Alten Testament wird sie im Buch Daniel, im Neuen in der Apokalypse des Johannes ausformuliert. Seither ist sie Programm, mehr noch: selbstgestellte Aufgabe bis in den Alltag, bis in die Gegenwart hinein. Ihre zentrale Botschaft ist absurd. Sie lautet: Alles neu macht der Tod. Aber obwohl sie sich weder auf Geschichte noch auf Moral berufen kann, ist sie die mächtigste kontrafaktische Hoffnung, über die wir verfügen: »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.« (Offenbarung des Johannes, 21,4)

Nach dem Ritt der apokalyptischen Reiter, nach dem Sieg des bluttriefenden Jesus, nach universalem Massenmord wird süße Seligkeit die Welt und unsere Seelen erfüllen. Vondung: »Die Absurdität des apokalyptischen Glaubens ist das Geheimnis seines Erfolges. Und daß das apokalyptische Heilsversprechen von Anfang an auch eine politische Dimension besaß, begünstigte die Karriere einer innerweltlichen Spielart der Apokalypse in der Moderne.« Deswegen kann auch Ernst Bloch, der am lautesten die apokalyptische Wut des Marxismus herausschreit, in seinem Thomas-Münzer-Buch 1921 schreiben: »Niemals auch wäre über uns die Welt so dunkel, stünde nicht absoluter Sturm, zentrales Licht aller unmittelbarst bevor.«

Die Hoffnung, die auch Liberale, der Demokratie und ihrer Wirrnisse müde, in den Totalitarismus gesetzt hatten, sieht in Hitler, sieht in Stalin einen apokalyptischen Jesus, der mit dem Übel der Welt auch die Welt selbst vom Tische räumt. Was sich bei Stalin als Kampf gegen den Klassenfeind gibt, entdeckt sich als eine archaische Wut auf die Welt: eine Wut, von der der einstige Priesterkandidat Djugaschwili gehört haben dürfte. Die Apokalypse lebt.


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Vondung: »Die Verknüpfung des progressivistischen mit dem apokalyptischen Heilsversprechen bei Marx markiert einen Wendepunkt. In der Folge wurde dem Glauben an die segensreichen Auswirkungen moderner Industrie und Wissenschaft mehr und mehr der Boden entzogen, bis hin zur tiefgreifenden Skepsis unserer Tage. Die apokalyptischen Heilsversprechen liefen den progressivistischen den Rang ab ... Seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Apokalypse Konjunktur; der Erste Weltkrieg verhalf ihr vollends zum Durchbruch und vor allem auch zu neuen politischen Bedeutungen, zumal in Deutschland.«

Aber Vondung ist zu optimistisch, wenn er behauptet, die Apokalypse sei faszinierend als Fiktion, »aber als Anweisung zum Handeln, zumal zu politischem Handeln, das die menschlichen Verhältnisse verbessern könnte, hat sie versagt«. Mehr denn je ist die Apokalypse unter uns. Sie nennt sich jetzt nur Risikogesellschaft. In The Clash of Civilizations hat Samuel Huntington die Apokalypse auch für ein Verständnis der Weltpolitik in Anspruch genommen.

Das viele Morden des Totalitarismus ist weder unfaßbar noch sinnlos, wie unsere Politiker bei gegebenem Anlaß zu behaupten pflegen, sondern sowohl faßbar als auch sinnvoll, wenn man die Kategorien der Täter kennt. Dabei geht es nicht ohne die eine oder andere Paradoxie ab, denn diejenigen, die heute – nach Auschwitz und Katyn – als die Täter, als die enttarnten Mörder gelten, sehen sich selbst als Opfer, die lediglich zurückschlagen, die sich wehren. Und wenn sie töten, nehmen sie heilige Rache. »Rache ist süß«, sagt Ernst Bloch, der blutrünstige Träumer in Das Prinzip Hoffnung, »als bloß vorgestellte, aber auch schäbig. Die meisten Menschen sind zu feig zum Bösen, zu schwach zum Guten; das Böse, das sie nicht oder noch nicht tun können, genießen sie im Rachetraum voraus.« 

Und Goebbels feiert in seinem Tagebuch das Opfer als die apokalyptische Begründung allen politischen Handelns: »Das Opfer ist alles. Es macht uns zu Helden der Tat, vor deren berauschendem Atem das Alte stürzt, das Neue sich formt wie von selbst.« Den gleichen Gedanken formuliert Walter Benjamin in Über den Begriff der Geschichte: »Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt.«

Die totalitäre Kränkung entstammt jener Diskrepanz von Weltbild und Selbstbild, einem gewissermaßen ontologischen Widerspruch, mehr noch: einer Verachtung der Realität. Heinz Kohut, der prominente Vertreter der Narzißmus-Theorie, hat dazu das psychoanalytische Erklärungsmuster geliefert.


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Für ihn entsteht eine Kränkung in der nach außen sichtbar werdenden beziehungsweise vom Individuum empfundenen Verletzung seiner grandiosen Vorstellungen seines Selbst. Diese Kränkung kann eine grenzenlose Wut, eine Unversöhnlichkeit und einen Haß hervorrufen, der durch keine reale Tröstung oder intellektuelle Kompensation ausgeglichen werden kann. Kohut spricht von einem krankhaften Rachebedürfnis. Interessant ist, daß diese Form von Mordlust tiefe archaische Quellen hat. Ein Großteil der von Homer beschriebenen blutrünstigen Taten lassen sich genau nach diesem Modell beschreiben. Wir haben es jedenfalls nicht mit einem der Moderne entsprungenen und für die Moderne spezifischen Phänomen, sondern mit einer bis in die Ursprünge der Gesellschaft reichenden Motivstruktur zu tun. Sie verweist auf jene tödliche Angst vor Identitäts- und Existenzverlust, die am Ursprung aller Geschichte steht.

Die Bewegung von Angst zu Kränkung, von Kränkung zu Wut, von Wut zu Mord ist vergessen, und gerade deswegen politisch mächtig. Der Tschekist Latsis sagt: »Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus.« Aber Latsis ist kein überspannter Einzelfall, sondern die klassisch gewordene Einzelfallstudie. Denn alle Archive und Zeugenaussagen belegen, »daß der Terror von Anfang an ein Grundzug des modernen Kommunismus war«, wie Courtois im Schwarzbuch des Kommunismus konstatiert. 

Dabei sollte man sich hüten, dem Mißverständnis zu folgen, den totalitären Terror nur psychodynamisch erklären zu wollen. Natürlich stabilisiert das Morden des anderen die eigene Identität, verleiht Gefühle von Macht oder Göttlichkeit und drängt die eigene Angst vor dem Tod zurück. Aber das Morden hat auch eine politische Funktion. Wer mordet, beansprucht historische Legitimität. Damit kann eine neue Elite ihren Anspruch auf Macht dokumentieren und realisieren. Durch Tod zum Leben ist ein biblisches Prinzip, aber dialektisch gewendet enthält es auch den Appell, daß nur derjenige zum Leben kommt, der selbst tötet, der das blutige Schwert der Apokalypse führt. Wer andere tötet, partizipiert am Mythos der Unsterblichkeit.

Seit Daniel und Johannes bis zu Röhm und den Moskauer Prozessen dominiert dabei ein scheinbar unschuldiger Begriff: Säuberung. Der Mensch ist so, wie er ist: unrein. Er muß einem neuen Menschen weichen, geopfert werden.


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Aber da der Täter selbst der neue Mensch noch nicht sein kann, schwingt in dem Haß auf das, was lebt und atmet, auch ein schrecklicher Selbsthaß. Die vielen Säuberungen in den totalitären Systemen sind das Ritual einer Selbstreinigung, nur daß hier nicht die Fluten des Ganges oder des Jordan, sondern das Blut der Juden und das der Bourgeoisie die Reinigung herbeiführen sollen.

Der Totalitarismus stellt den Versuch dar, den Tod als anthropologische Dimension wiederherzustellen, den Bezug des Menschen zu seiner Vergänglichkeit, zu seiner Nichtigkeit manifest zu machen. In diesem Sinne ist das Morden des Totalitarismus ein mythischer Akt.

Im archaischen Denken sind die Lebenden nur eine Zwischenstufe zwischen Vorfahren und Nachkommen, alle drei voneinander chronologisch differenziert, vereint durch Kontinuität und Identität. An diesem archaischen Denkmuster partizipiert der Totalitarismus, denn er versteht sich nicht nur als Aufklärung und Auftrag, sondern agiert auch mythisch in den Kammern des Hades. Für den Nationalsozialismus wie für den Kommunismus sind die Toten sowohl Gedächtnis und Erinnerung als auch Legitimation und Hoffnung. Gerade die optimistische Dynamik der beiden Systeme gründet sich in ihrer Vergangenheit, dort, wo ihre Märtyrer und Helden begraben liegen.

Die Reichsparteitage in Nürnberg muß man als Totenfeiern verstehen. Sie beginnen mit Hitlers Gang zu den Heldentoten am Mahnmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und enden auch dort. Dort in der Luitpoldarena ist das mythische Zentrum des Nationalsozialismus. »Eigentlich kommen die Toten mit den Lebenden nur in Berührung, das wissen wir aus Sagen, Volksliedern, Balladen, um diese zu holen. Wenn nun die Lebenden die Toten beschwören, wie in dem bekannten Refrain des Horst-Wessel-Liedes >Kam'raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, / marschier'n im Geist in unsern Reihen mit!< zum Ausdruck kommt, verweist dies auf die Gleichsetzung von Totenheer und Lebendenheer in dem Sinne, daß man die Toten bei sich mitmarschieren läßt.

Sie werden aufgenommen um der Stärkung willen: sich selbst den Toten weihen, um zu siegen und dabei in der Regel den Tod finden. Wenn man dies ertragen kann, ist man gleichsam selbst ein Toter. Die andere, feindliche Seite weiß, daß sie jetzt durch die Beschwörung der Toten gleichsam mit einem Totenheer zu kämpfen hat, was dessen Schlagkraft auf unerhörte Weise verstärkt.


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Die Totenkopfzeichen der SS drücken dies am augenfälligsten und extremsten aus: Wir sind eigentlich ein Totenheer, wir sind immer schon dem Tode geweiht, wir haben die Toten mit uns und sind eigentlich selbst Tote. Dies hilft, die Angst vor dem Tod zu bewältigen, denn Tote haben keine Angst, sie verbreiten aber Angst«.1

Entsprechendes gilt für den Kommunismus. Das Leninsche Mausoleum lehnt sich allerdings weniger an vorchristliche und klassische Motive an als an traditionelle Heiligenkulte. Die Tatsache, daß der Leichnam mit einem geradezu altägyptischen Gestus einbalsamiert, gepflegt und ausgestellt wird, realisiert einen Totenkult, der die Legitimation des Regimes über einen Corpus sanctus herstellt. Der ganze Lenin, eine anbetungswürdige Reliquie.

Vor allem Heiner Müller hat sich über die Bedeutung des kommunistischen Totenkultes Gedanken gemacht. »Mit den Toten kann man nicht diskutieren. Was sich nicht bewegen läßt, ist ewig. Die Toten sind der Archimedische Punkt. Nur mit den Toten kann man die Welt aus den Angeln heben, denn sie selber bewegen sich nicht.« Horst Domdey sieht darin, »in die Konsequenz getrieben, welche Funktion Müller den Toten zuspricht. Sie sollen das unbewegliche Widerlager sein oder die nicht irritierbare Basis, jedenfalls das Schwergewicht, mit dessen Hilfe die Welt verändert wird. Strukturell gesehen nehmen sie eine ähnliche Position ein wie früher das historische Subjekt, nur der Erscheinung nach anders. Zwar sind die Toten im Bild unbeweglich, Müllers Sprache verrät aber, wie sie in dieser Unbeweglichkeit als mithandelnd gedacht sind: von der Überlegenheit der Toten ist die Rede, nur mit den Toten könne man die Welt aus den Angeln heben. Und die Aussage, sie würden sich nicht bewegen, man könne mit ihnen nicht diskutieren, wirkt fast wie Anziehen einer Verweigerungshaltung. Mit anderen Worten, die Toten sind zwar extrem passiv, von äußerster Unbeweglichkeit, zugleich aber beteiligt, wenn die große Veränderung der Welt in Gang gesetzt wird. Aber natürlich muß jemand den Hebel ansetzen und ihn bewegen, die aktive Rolle des historischen Subjekts ist also nicht suspendiert. Doch vorgestellt sind jetzt zwei Kräfte, die Basis und der l Icbel, die nur gemeinsam Geschichte machen können; zwischen Widerlager und Hebel bildet sich eine besondere Beziehung heraus, eine Art Bündnis; Voraussetzung aller Umwälzung sei in Zukunft die Allianz mit den Toten.«1

 

1  Yvonne Karow, Deutsches Opfer. Berlin: Akademie 1997.


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Vor dem Hintergrund der Tabuisierung des Todes in westlichen Industriegesellschaften fällt diese Kultivierung des Todes und der Toten besonders ins Gewicht. Hier wird ein mythisches Gegenprogramm erkennbar. Jenseits irgendeines transzendenten Kontexts, aber aus jenen in guter Erinnerung wird auf Urgründe menschlicher Existenz verwiesen, die wir – aufgeklärte Demokraten, die wir sind – längst vergessen haben.

Immer wieder sind Fragen aufgeworfen worden, die den Realitätssinn totalitärer Politik in Zweifel ziehen. Warum hat Hitler die Juden vernichtet? Sie seien doch ein produktiver Teil des deutschen Volkes gewesen. Warum haben die Sowjets die gesamte intellektuelle Elite Rußlands systematisch vernichtet? Haben sie sich damit nicht selbst geschadet? Warum konnten weder die Kommunisten noch die Faschisten aus ihren Fehlschlägen lernen? Fragen über Fragen – und keine Antwort. Die Fragen sind vernünftig, aber gerichtet sind sie an Systeme, die im Mythos denken. Weder die Ermordung der Juden noch die Ermordung der Bourgeoisie folgt irgendeinem zweckrationalen Sinn. Ein Lieblingswort Adolf Hitlers war das für ihn hochpositiv besetzte »fanatisch«. Trotz all des historisch materialistischen Dekors war auch der Kommunismus weder historisch noch materialistisch, sondern mythisch und idealistisch. Gerade deswegen konnte der Totalitarismus so ungehemmt brutal sein.

»Hitler hat das durchgeführt, und Hannah Arendt hat doch wohl richtig gesehen, >daß es sich hier wirklich um die Herstellung einer rein fiktiven Welt in einer unabsehbaren Zukunft handelt und nicht ... um das rücksichtslose Durchsetzen irgendwelcher Interessent«2 Entsprechend für den Kommunismus stellt Rohrwasser klar: »Den meisten Beschwörungsformeln aus der Nähe und der Ferne ist gemein, daß ihnen das Faktische eine vernachlässigbare Größe war — auch Reisen nach Rußland bewirken nur selten eine Korrektur des Bildes. Es sei die Idee von Rußland und dem Bolschewismus, in der Elemente einer alten Faszination fortlebten ... Gerade der Terror schien Ausweis moralischer Größe und Überlegenheit; nicht der Zweck sollte die Mittel heiligen, sondern die blutigen Mittel, der heilige Terror bewies die Größe des Ziels«.1

 

1  Horst Domdey, Produktivkraft Tod. Köln: Böhlau 1998.
2  Arnold Gehlen, Moral und Hypermoml. Frankfurt: Athenäum 1969.

1  Michael Rohrwasser, Was haben sie verraten, die Renegaten? In: Werner von Morgen/Walter H. Fehle (Hrsg.), Denken im Zwiespalt. Frankfurt: Fischer 1996.


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Und selbst der kluge, westliche, aufgeklärte Walter Benjamin schreibt im Dezember 1936, als Gide die Moskauer Prozesse öffentlich kritisiert, an Margarete Steffin nach Moskau: »Während meiner Abwesenheit ist das Buch von Gide ... erschienen. Erschienen nicht nur in Buchform, sondern in zahllosen Auszügen in der Presse der Faschisten verbreitet. Gelesen habe ich es noch nicht ... Was mich betrifft, so mißbillige ich das Buch, ohne es noch zu kennen. Ohne auch zu wissen, was darinnen steht, zutrifft oder ob es entscheidend ist.«

Wer Kommunist ist oder Faschist, den kümmert die Realität nicht. Jedenfalls nicht die empirische. Kommunisten und Faschisten leben in einer anderen Welt, nah dem Tod, mitten im Mythos, in einer uns nicht zugänglichen geschichtlichen Leidenschaft. Trotzdem haben die großen Terror-Regime unser Jahrhundert tief und auf Dauer geprägt. Auch Frangois Furet, der große Kenner des Kommunismus und des Marxismus, einst Mitglied der KPF, unterliegt einem naheliegenden Mißverständnis, wenn er glaubt, daß der Totalitarismus wegen seines Utopismus wirkungsgeschichtlich bedeutungslos geblieben sei. Zumindest an dem unterschiedlichen intellektuellen Status von Faschismus und Kommunismus wird klar, daß deren Wirkung von ihrem jeweiligen geistigen Umfeld abhängt.

Auch der Faschismus hat einen unverrückbaren Status in der Ikonographie der Moderne erlangt. Die weltweite Erinnerung an den Holocaust hält das Gedächtnis an den Nationalsozialismus wach und rettet ihn vor dem Abgrund des Vergessens. Das Paradox ergibt, daß der Nationalsozialismus vor allem deswegen fortlebt, weil es das Gedenken an den Holocaust gibt. Das Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor, auf den Fundamenten der Hitlerschen Reichskanzlei errichtet, beklagt die jüdischen Opfer, feiert aber zugleich die Wirkungsmacht des Nationalsozialismus. Der Mythos ist stärker als alle Vernunft.

Das Fazit aus dem 20. Jahrhundert ist blutig und schwer. Kehren wir in den Mythos zurück oder haben wir ihn überhaupt nie verlassen? Leben wir in Einpersonenhaushalten die vollendete Aufklärung oder in vollendeter Ahnungslosigkeit? Könnte es sein, daß der Totalitarismus eine Rückkehr zum Tod und zur Todesangst eröffnet hat, zum Ursprung von Gesellschaft?

Und die Frage wird sich nicht vermeiden lassen, ob Gesellschaft sich denn gelohnt habe. Sie hat ihre ursprüngliche Verbindung zur Angst, wie es scheint, verloren: Die Identitäten und die Optionen mutieren schneller als je ein entfesselter HI-Virus. Diese Entfesselung nennt man Säkularisierung. Der Totalitarismus ist eine Antwort auf diese Säkularisierung. Damit wird der Tod zur Utopie von Authentizität. Gegen bodenlose Beliebigkeit wird die Verbindlichkeit des Todes gesetzt. Das Morden ist nicht irgendeine Nebenfolge, sondern das eigentliche Programm des Totalitarismus. Er ist der versuchte Opfergang der Wahrhaftigkeit. Die Rückkehr zum Tode bedeutet eine Rückkehr zum Kern unserer Existenz, eine archaische und schreckliche Frömmigkeit: das Brutale als das Rettende vor dem Banalen. 

In diesem Sinne ist der Totalitarismus tatsächlich ein Humanismus. Er setzt den sterblichen Menschen gegen die den Tod überwuchernde Gesellschaft. Im Morden des Totalitarismus kehren wir zurück zu einem qualvollen Memento mori. Wie damals, als wir es Vanitas nannten, werden wir des Todes als des wahrhaft Ursprünglichen im menschlichen Leben gewahr. Die Frage aber wird uns verfolgen, ob es keinen anderen Weg zurück zum Ursprung gibt.  

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Alexander Schuller

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