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   Teil 1

Ausländische Reaktionen 

 

Das Jahrhundert des Kommunismus in einer Schreckensbilanz      

Von Philippe Cusin 

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Eine ungeheuerliche Anklage, ein mit Beispielen und Fakten untermauerter Bericht und eine blutige Bilanz: Gegenstand ist das knappe Jahrhundert kommunistischer Diktaturen in der Welt. Eine Gruppe von Historikern veröffentlicht unter der Führung von Stephane Courtois, einem Schüler von Annie Kriegel, Das Schwarzbuch des Kommunismus. 

Der Titel ist nicht willkürlich gewählt. Seit Lenins Machtübernahme im Oktober/ November 1917 hat die »bessere Zukunft« weltweit etwa hundert Millionen Menschen das Leben gekostet.

Die Autoren weisen jedoch nachdrücklich darauf hin, daß der Nationalsozialismus und der Holocaust dadurch in ihrer Einmaligkeit und Grauenhaftigkeit nicht im geringsten in Frage gestellt werden.

Angefangen bei Lenin bis hin zu Kim Jong Il, dem derzeitigen Tyrannen Nordkoreas, über Stalin, Walter Ulbricht in der DDR, Fidel Castro in Kuba, Mao Zedong, Ho Chi Minh in Vietnam und Pol Pot in Kambodscha. Das versprochene Paradies auf Erden ist zu einer Hölle geworden.

»Der Kommunismus, von dem wir hier sprechen, ist nicht der einer imaginären Welt, sondern ein ganz realer Kommunismus, der zu einer bestimmten Zeit und in bestimmten Ländern existierte und von berühmten Führerpersönlichkeiten verkörpert wurde: Durch Lenin, Stalin, Mao, Ho Chi Minh, Castro usw. oder – mehr auf unsere nationale Geschichte bezogen – durch Maurice Thorez, Jacques Duclos, Georges Marchais«, erklärt Stephane Courtois in seiner Einführung.

Es handelt sich hier nicht um gewöhnliche Verbrechen, sondern – wie die 800 Seiten dieses Buches beweisen – um wahre Verbrechen gegen die Menschlichkeit, so wie sie während der Nürnberger Naziprozesse definiert worden sind. »Die Verwendung dieses Begriffs scheint uns also für die Beschreibung bestimmter Verbrechen unter den kommunistischen Regimes sehr wohl berechtigt.«

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Es wird von den Autoren des Schwarzbuches ausdrücklich betont, daß die kommunistische Diktatur den Hunger systematisch als Waffe einsetzte, um jeglichen Widerstand der Opposition zu brechen. Lenin machte den Anfang, und Stalin folgte seinem Beispiel. Selbst in Äthiopien und Mozambique, zwei afrikanischen Regimes marxistisch-leninistischer Prägung, war dies der Fall.

Und zwar von Anfang an. »Standrechtliche Erschießung von Zehntausenden von Geiseln oder Gefangenen und die Hungersnot des Jahres 1922 forderten bereits fünf Millionen Opfer.« Damals »regierte« Lenin bereits geschwächt durch einen ein Jahr zuvor erlittenen Gehirnschlag. Er starb jedoch erst 1924 und trägt deshalb trotz seines eingeschränkten Gesundheitszustandes die Verantwortung für das »Massaker an Hunderttausenden von Arbeitern und Bauern, die zwischen 1918 und 1922 revoltiert haben« und teilweise auch für den »Mord an Zehntausenden von Häftlingen, die zwischen 1918 und 1930 in den Konzentrations­lagern gefangengehalten wurden«, ebenso für die »Liquidierung und Verschleppung der Donkosaken im Jahre 1920«.

Wie die Historiker klar zeigen, stützte sich Lenin besonders auf Dserschinski, den Begründer der als politische Polizei fungierenden Tscheka, die später auch GPU, NKWD, MGB oder KGB genannt wurde. Auf Dserschinski folgen weitere Henker: Zunächst Jagoda, der 1936 während der dritten Moskauer Prozeßwelle (die erste – darauf weisen die Historiker hin – kam mit der Unterstützung Lenins zustande) auf Stalins Befehl von Etschow ausradiert wurde. Etschow wiederum wird 1938 – ebenfalls auf Befehl Stalins – von Berija beseitigt, der wie das »Väterchen der Völker« aus Georgien stammt und sofort nach Stalins Tod im Jahre 1953 aus dem Wege geräumt wird.

Auf keinen Fall zu vergessen ist Leo Trotzki, der Begründer der Roten Armee. Er leitete das Massaker gegen die Arbeiter und Soldaten des Marinestützpunktes Kronstadt, die im Frühjahr 1921 gegen die bolschewistische Diktatur revoltiert hatten.

Stalin setzt die blutrünstige Arbeit erbarmungslos fort. Auf ihn geht »die Ermordung von fast 690.000 Menschen während der großen Säuberung von 1937/38« zurück. Stalin nimmt sich auch die Kulaken vor. Dies sind Bauern, denen man unrechtmäßige Bereicherungen vorwirft und die deshalb »in den Jahren 1930 bis 1932 verschleppt werden«, insgesamt etwa zwei Millionen Menschen. Auch die Ukraine wird von Stalin terrorisiert: »1932 und 1933 werden sechs Millionen Ukrainer durch eine absichtlich herbeigeführte und nicht ernsthaft bekämpfte Hungersnot liquidiert«.


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Nicht zu vergessen die Verschleppung ganzer Völkerscharen, die dem Kreml-Chef als potentielle Verräter verdächtig waren: Polen, Ukrainer, Balten, Moldawier und die Wolgadeutschen, die seit dem 18. Jahrhundert an den Ufern der Wolga ansässig waren, ferner die Krimtataren und die im Kaukasus beheimateten Tschetschenen und Inguschen.

Stalin diente den modernen kommunistischen Diktaturen als Modell: Sowohl für die auf Pol Pot zurückgehende »Verschleppung und Liquidierung der städtischen Bevölkerung Kambodschas in den Jahren 1975 bis 1978« als auch für die seit 1950 weiter nördlich durch die Chinesen durchgeführte »langsame Vernichtung der Tibetaner«.

Am meisten bestürzt die Tatsache, daß die Dinge sich wiederholen. Die gleichen Ursachen führen zu den gleichen Wirkungen. »Die Verbrechen des Leninismus und Stalinismus wurden von den Regimes Mao Zedongs, Kim Il Sungs und Pol Pots oft haargenau wiederholt. Wollte man sie alle aufzählen, käme man an kein Ende.«

Oft hat man die Verbrechen des Kommunismus ausschließlich Stalin zur Last gelegt. Angeblich ist alles nur seinetwegen so gekommen. So jedenfalls lautet die These, die alles als Exzesse abtut und von Chruschtschow in seiner berühmten Geheimrede von 1956 vehement verteidigt wurde. Sie wusch den Gründungsvater Lenin von allen Sünden rein.

Das Schwarzbuch des Kommunismus beweist das Gegenteil. Man erfährt von einem Memorandum, das Lenin im Herbst 1922 an Stalin gerichtet hat und »in dem er sich ausführlich und mit einer krankhaften Liebe zum Detail über die definitive Säuberung Rußlands von allen sozialistischen, intellektuellen, liberalen und anderen ›mißlichen Elementen ausläßt.« Stalin schließt sich nahtlos an seinen Vorgänger an.

Das Töten gehört zu den unverzichtbaren Grundlagen des Kommunismus – dies ist das Thema des <Schwarzbuches>. »Zur Stabilisierung ihrer Macht gingen die kommunistischen Regimes bald über die Einzelverbrechen und gelegentlichen Massaker hinaus und machten das Massenverbrechen zum regelrechten Regierungssystem.« Auch wenn der Gulag weiterhin existiert – Solschenizyns Geschichts­studie Der Archipel Gulag legt davon Zeugnis ab –, hat das nach Stalin einsetzende »Tauwetter« zumindest in Europa und in der UdSSR zu veränderten Verhältnissen geführt.


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»Der Terror ließ an Intensität nach, und die Regimes stabilisierten sich mit Hilfe einer zum Alltag gewordenen Repression: Sämtliche Kommunikationsmittel fielen unter die Zensur, die Grenzen wurden kontrolliert und die Dissidenten ausgewiesen.«

Wenn jedoch – wie die Historiker zeigen die Verbrechen von Anfang an, d.h. schon zu Lenins Lebzeiten, bekannt waren, so stellt sich die Frage, warum man sie nicht sehen und zur Kenntnis nehmen wollte. Warum war man so blind gewesen? »In den zwanziger und vierziger Jahren machte der Kommunismus lautstark auf den Terror der faschistischen Regimes aufmerksam.« Das war der wesentliche Grund. Dazu gab es auch eine geschickte von Moskau und später von Fidel Castro gesteuerte Propaganda. »Im Rahmen dieser gegenpropagandistischen Aktionen haben sich manche Intellektuelle buchstäblich an den Kommunismus verkauft.« Lenin nannte sie die Weggefährten oder einfach die nützlichen Idioten: Beispielsweise Henri Barbusse, Stalins Hofprediger, oder die Italienerin Macciocchi mit ihren Lobeshymnen auf Mao, um ein paar wenige Namen zu nennen. Hitlers Niederlage und das allgemeine Entsetzen über die Judenvernichtung spielten ebenfalls eine für den Kommunismus günstige Rolle und wurden weidlich ausgenützt.

Aufgrund der Tatsache, daß »die Sowjets am Sieg über den Nationalsozialismus beteiligt waren, konnten die Kommunisten ihre eigentlichen, auf Machtübernahme ausgerichteten Ziele hinter einem feurigen Patriotismus verbergen«. Aber im allgemeinen hat die kommunistische Bewegung bis zu Hitlers Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 abgewartet – auch in Frankreich war dies der Fall. Ab diesem Zeitpunkt »haben sich sämtliche Kommunisten der besetzten Länder dem aktiven Widerstand angeschlossen... und hatten wie alle anderen Widerstandskämpfer auch unter den Repressionen zu leiden und Tausende von Hingerichteten, Massakrierten und Verschleppten zu beklagen«.

Und genau dies ist der Punkt, auf den man hereinfällt: »Der Antifaschismus ist für den Kommunismus zu einem Markenzeichen geworden, und im Namen dieses Antifaschismus war es leicht, die Widerspenstigen zum Schweigen zu bringen.« Die Autoren des Schwarzbuches verweisen in diesem Zusammenhang auf Francois Furet, der in seinem Buch Das Ende der Illusion dazu eine glänzende Analyse entwickelt hat.


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Das Buch geht einer entscheidenden Frage nach. Über den Nationalsozialismus, die Gaskammern, die Ausrottung der Juden, die drei Auschwitzlager mit ihrer grauenhaften Vernichtungsindustrie wissen wir heute Bescheid. Keiner kann dies mehr anzweifeln. Warum jedoch weigert man sich immer noch, aus einem Jahrhundert Kommunismus die Bilanz zu ziehen? Warum will man ihn retten?

»Was wußte man von den Verbrechen des Kommunismus? Was wollte man davon wissen? Warum mußte sich erst das Jahrhundert seinem Ende nähern, damit sich die Wissenschaft dieses Themas annimmt?«

Ohne das Massaker allzusehr von der arithmetischen Seite zu betrachten, stellen die Schwarzbuch-Autoren fest, daß »im allgemeinen die Forschung über den stalinistischen und kommunistischen Terror gegenüber den Studien zu den Nazi-Verbrechen gewaltig im Rückstand ist«.
     
An die hundert Millionen Tote, zum Teil mit, zum Teil ohne Grabstätte ...

Quelle: Le Figaro, 5. November 1997

 


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DIE DEBATTE IN LE MONDE

Ein Buch läßt den Streit über die Verbrechen des Kommunismus wieder aufleben

 

 

Das Schwarzbuch des Kommunismus ist eine gemeinsame Veröffentlichung von mehreren Historikern und Kommunismus-Spezialisten und präsentiert so ein gesammeltes Wissen über die Ausschreitungen des sowjetischen Systems und der anderen Mächte marxistisch-leninistischer Prägung. Danach bewegt sich die Zahl der Opfer des Kommunismus weltweit zwischen 85 und 100 Millionen Toten. In der Einführung spricht der Historiker Stephane Courtois von der Parallelität« zwischen dem Nationalsozialismus und dem kommunistischen System, das sich seiner Meinung nach ebenfalls des Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat. Andere Mitautoren - vor allem Nicolas Werth - distanzieren sich von dieser »ideologischen« Stellungnahme, die auch von der PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs, verurteilt wird. »Der Kommunismus ist zugleich Henker und Opfer«. So jedenfalls lautet die Antwort des kommunistischen Historikers Roger Martelli.

Neue Kontroverse über den kriminellen Aspekt des Kommunismus

Hat der Kommunismus in den Ländern, in denen er die Regierung stellte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen? Waren die Kommunisten der ganzen Welt Komplizen bei diesen Verbrechen? Zum 80. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution von 1917 hat der Verlag Robert Laffont unter dem Titel Das Schwarzbuch des Kommunismus einen umfangreichen, von sechs Autoren verfaßten Buchband veröffentlicht, der das Ausmaß der Ausschreitungen, die der Kommunismus sich weltweit - in der Sowjetunion, in Osteuropa, Asien und Afrika - zuschulden kommen ließ, zusammenfassend be-


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handelt. Im Vorwort zu diesem Buch fordert der Historiker Stephane Courtois den Leser auf, sich über die »Parallelität« zwischen dem Nazi-Regime und dem kommunistischen System Gedanken zu machen. Seiner Meinung nach kann das Verbrechen gegen die Menschlichkeit - so wie es seinerzeit während der Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Größen definiert worden war - auch den kommunistischen Machthabern zur Last gelegt werden. Diese unter Berufung auf Francois Furet aufgestellte Behauptung - der in diesem Sommer verstorbene Historiker wollte ursprünglich das Vorwort zu diesem Buch schreiben - hat eine durchaus beabsichtigte Debatte ausgelöst. Sie hat auch unter den Autoren des Buches zu einem Zwiespalt geführt, denn einige von ihnen werfen Herrn Courtois vor, daß er mit seinen einführenden und abschließenden Worten ihrer gemeinsamen Veröffentlichung einen nicht vorgesehenen und inakzeptablen ideologischen Anstrich gegeben habe.

Der Hinweis auf das Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Nürnberger Prozesse erinnert an die bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholten Äußerungen von Jean-Marie Le Pen, dem Vorsitzenden der Front National, der denjenigen, die die Verbrechen des Faschismus und des Nationalsozialismus anprangern, zu entgegnen pflegt, daß man immer noch auf ein »Nürnberg des Kommunismus« warte. Übrigens zeitgleich mit dem Erscheinen des Buches muß sich Maurice Papon vor dem Schwurgericht von Bordeaux für die »Beihilfe zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit« verantworten. Dem ehemaligen Beamten wird vorgeworfen, auf Befehl seiner Vorgesetzten in Bordeaux die Verhaftungen und Abtransporte jüdischer Familien organisiert zu haben.

In der Ausgabe der L'Humanite vom Freitag, den 7. November, sind dem Jahrestag der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 fünf Seiten gewidmet. Die Kommunistische Partei Frankreichs feiert diese Revolution nicht. Auf den Vergleich des Schwarzbuches zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus eingehend, schreibt Claude Cabanes, der Chefredakteur der PCF-Tageszeitung: 

»Er ist für die Kommunisten, die gegen die Nazi-Besatzung zu den Waffen gegriffen haben, menschlich unerträglich. (...) Von der tiefen Verletzung einmal abgesehen, hält dieser Vergleich der grundsätzlichen Analyse des bedeutenden italienischen Schriftstellers Primo Levi, der die Welt der Konzentrationslager überlebt hat, nicht stand. Er faßt sie in einem einzigen Satz zusammen: ›Man kann sich einen Nationalsozialismus nicht ohne Gaskammern vorstellen, aber ein Kommunismus ist ohne Lager denkbar.‹«


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Am Freitagabend kam es in der Sendung »Bouillon de culture« des Zweiten Französischen Fernsehens zu einem Meinungs­austausch zwischen den zwei Schwarzbuch-Autoren Stephane Courtois und Ni-colas Werth, die gegensätzliche Standpunkte einnehmen. Auch Vertreter der kommunistischen Seite kamen zu Wort, unter anderem Roland Leroy, der ehemalige Chef der kommunistischen Tageszeitung L'Humanite, und Roger Martelli, ein Mitglied des Nationalkomitees. Die Auseinander­setzung kreiste vor allem um die von Herrn Courtois aufgestellten Parallelen zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus, an denen viele Anstoß nahmen. Die PCF hielt sich in ihrer Verteidigung an Argumente, die sie sich schon vor zwanzig Jahren zu eigen gemacht hatte: Die Tatsache, daß die französischen Kommunisten bis in die Mitte der siebziger Jahre das stalinistische System verteidigt haben, dürfe nicht über das soziale und politische Engagement der französischen Linken und deren massive Beteiligung am Widerstand gegen die faschistische Besatzungsmacht hinwegtäuschen.

Da im Kommunismus die Information und historische Forschung einer der politischen Propaganda verpflichteten Zensur unterlag, kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen, bei denen es schlicht und einfach um die tatsächliche Wahrheit ging. Solange die kommunistischen Parteien an der Macht waren oder zumindest einen politischen oder intellektuellen Einfluß geltend machen konnten und so in der Lage waren, die Wahrheit zu verbergen oder zu beschönigen, hatten diese Auseinandersetzungen durchaus ihren Sinn. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems und der Öffnung der Archive ist die kommunistische Geschichts­schreibung nicht mehr ein Mittel des politischen Kampfes, sondern ein Gegenstand der Forschung geworden.

Die durch das Schwarzbuch bewußt ausgelöste Polemik zeigt jedoch, daß in einem Land, in dem die Kommunisten bis zu 30 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnten (1946) und heute drei Regierungsmitglieder stellen, bei der Frage nach dem Wesen des kommunistischen Systems und nach dem Sinn des kommunistischen Engagements die Wogen immer noch hochschlagen.

Patrick Jarreau

 


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Die im kommunistischen Bewußtsein verdrängten Opfer

 

Die von den Autoren des Schwarzbuchs des Kommunismus freiwillig praktizierte Aufarbeitung geht davon aus, daß die Verbrechen der kommunistischen Regimes vor allem im Westen einem allgemeinen Gedächtnisschwund anheimgefallen sind — entsprechend der Verheimlichung, die der Terror schon zur Zeit seines Wütens erfahren hat. In seinem Werk Das Ende der Illusion versuchte Francois Furet diese fehlende "Klarsicht und das mangelnde Erinnerungsvermögen mit der Tatsache zu erklären, daß in den dreißiger Jahren das revolutionäre Paradigma und das Bekenntnis zum Antifaschismus im Vordergrund standen. Nicolas Werth setzte diese Analyse in seinem Schwarzbuch-Beitrag fort (»Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion«). Unser Bericht beschränkt sich auf diesen Beitrag.

Im ersten Teil des Schwarzbuchs erkennt Nicolas Werth eine paradoxe Übereinstimmung zwischen dem trotzkistischen Standpunkt hinsichtlich der stalinistischen Repression - es ist nicht zu leugnen, daß die Trotzkisten zu den ersten und zu den wenigen zählten, die diese Repression angeprangert haben - und der Genugtuung einer über die Moskauer Prozesse von 1937 entzückten konservativen Rechten. Stalin, der Konkursverwalter der Utopie, der »zweite Zar«, soll sich demnach nur an den wahren Anhängern der Revolution vergriffen haben. Daher rührt also die falsche, aber fest verankerte Vorstellung, daß die meisten Opfer des Kommunismus selbst Kommunisten waren. Die »gewöhnlichen Opfer« hingegen, die demokratischen Oppositionellen, die Sozialrevolutionäre, die Streikenden und die systematisch ausgehungerten Bauern, die den Terror in seinem ganzen Ausmaß zu spüren bekamen und von den unterschiedlichsten Organen der politischen Polizei erschossen wurden, waren kurzerhand aus dem Geschichtsbewußtsein gestrichen worden. Das ist sicherlich das größte Verdienst dieses Buches: der Versuch, die im kommunistischen Bewußtsein Verdrängten wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Die Bilanz ist dementsprechend niederschmetternd. Trotzdem ist der Beitrag von Nicolas Werth ein gelungenes Beispiel für eine seriöse, sich mit einem unangenehmen Thema beschäftigende historische Arbeit. Das Thema war ausgesprochen delikat, denn es hatten sich schon renommierte Historiker damit auseinandergesetzt, in den


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sechziger Jahren besonders der Brite Robert Conquest, der Stalin für den Krieg gegen die schwer an Hunger leidenden Bauern (sechs Millionen - hauptsächlich in der Ukraine - starben 1932/33 den Hungertod) und den »großen Terror« der Jahre 1936-38 verantwortlich machte.

Nicolas Werth stimmt mit Conquest voll und ganz darin überein, daß der »große Terror« von 1936/37 auf eine Initiative des Politbüros zurückgeht, und zwar auf den von Jeschow unterzeichneten schriftlichen Operationsbefehl Nr. 00447. Mit drei Millionen scheint Conquest allerdings die Zahl der Opfer dieser sogenannten Jeschowschina überschätzt zu haben. Nicolas Werth kommt bei seiner - immer noch grauenvollen Bilanz - auf 681692 Hinrichtungen allein für die Jahre 1937 und 1938! Was den Gulag angeht, so werden zwischen 1934 und 1941 sieben Millionen Menschen in die Lager eingeliefert. Durch die regelmäßigen Freilassungen kommt es zu einem regelrechten Rotationsprinzip. Am 1. Januar 1941 sitzen in den »Erziehungslagern und Arbeitskolonien« nicht weniger als zwei Millionen Häftlinge.

Für Nicolas Werth begann der kommunistische Terror sehr wohl bereits unter Lenin und nicht erst unter seinem Nachfolger. In der Zarenzeit belief sich von 1825 bis 1917 die Zahl der »politisch motivierten« Todesurteile auf 6321. Als der Pole Dserschinski am 20. Dezember 1917 mit der Tscheka eine neue politische Polizei aufstellte, hatte sich die Zahl innerhalb weniger Wochen verdoppelt, und dies bereits lange vor dem Bürgerkrieg, den die Bolschewiki als Vorwand für ein härteres Durchgreifen nutzten.

Neben den oft brillanten Analysen des Terrors tun sich die Schwarzbuch-Autoren mit Berichten über die langen Perioden, in denen die Repressionen abnahmen, schwer. Dies trifft etwa auf einige post-totalitäre Phasen zu (die UdSSR zur Zeit des »Tauwetters« oder der Perestroika beispielsweise). Die Versuchung ist groß, solche Zeitspannen als »Pausen« zwischen zwei kritischen Phasen zu betrachten. Diese wäre zum Beispiel bei der NEP (Neuen Ökonomischen Politik) der Fall, einer Periode, die oft von denjenigen angeführt wird, die auf eine vorzeigbare leninistische Vergangenheit als Stütze nicht verzichten wollen. Zweifelsohne macht die Kollektivierung vom März 1921 und 1928 entscheidende Fortschritte. Doch während der NEP werden auch die rebellischen Bauern von Tambow durch General Tuchatschewski erschossen oder verschleppt.


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Und schließlich unterbreitet der General dem protestierenden Politbüro sogar seinen Befehl 171: Die Ausrottung der Rebellen durch eine systematische Vergasung der Wälder, in die sie sich zurückgezogen haben.

Mit dieser »Grauzone« können sich vielleicht in Zukunft andere Historiker bei ihrer Kommunismus-Forschung auseinandersetzen: Dort, wo die Grenzen zwischen Opfer und Henker fließend sind, wo sich nicht alles in den Farben Rot oder Weiß beschreiben läßt.

Nicolas Weill

 

 

Andrej Gratschew, der ehemalige Sprecher von Michail Gorbatschow:

»Wir müssen die ganze Wahrheit wissen«

 

Was hat die Polemik, die sich zwischen den einzelnen Autoren des Schwarzbuches des Kommunismus bemerkbar macht, ihrer Meinung nach zu bedeuten?

Ich beschränke mich bei dieser Polemik strikt auf meine Rolle als Beobachter und möchte lediglich mit Nachdruck betonen, daß man jeglicher Versuchung, die Dinge zu vereinfachen, tunlichst widerstehen sollte. Die Wahrheit mit ihren Widersprüchen steht einer allzu vereinfachten Beurteilung entgegen. Ich rate zu Vorsicht und historischer Bedachtsamkeit und warne davor, die Dinge politisch ausschlachten zu wollen, gerade weil Dokumente dieser Art dazu verleiten könnten.

Kann man den Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auch auf den Kommunismus anwenden?

Niemand kann die Zahl der Opfer in Frage stellen, weder die des Kommunismus noch die des Nationalsozialismus. Die Zahlen sind durchaus vergleichbar, ebenso der Einsatz terroristischer und demagogischer Methoden. In dieser Hinsicht gleichen sich die beiden totalitären Systeme auf frappierende Weise. Um den Unterschied der beiden »Modelle« zu begreifen, muß man ihre Ursprünge in Betracht ziehen. In beiden Fällen gab es Berge von Toten, doch nur zur Bekämpfung des Nationalsozialismus haben sich die westlichen Demokratien zusammengeschlossen, zur Bekämpfung des Kommunismus haben sie sich nicht mit den Nationalsozialismus zusammengetan.

Der Bolschewismus entstand mit der Beendigung des Krieges, für den Nationalsozialismus hingegen ist der Krieg ein erklärtes Mittel, um seine Ziele zu erreichen.


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Der Nationalsozialismus löste einen Rassenkonflikt aus, der Kommunismus einen Bürgerkrieg. Und jeder Bürgerkrieg hat tödliche Konsequenzen. Aus diesem Grund kommen alle diejenigen, die einst vom Kommunismus begeistert waren, angesichts dieser Zahlen in Verlegenheit und sehen sich gezwungen, die kommunistische »Mentalität« aufzugeben.

Es ist offensichtlich, daß nicht wenige Intellektuelle vom kommunistischen Ideal angetan waren. Doch für den national­sozialistischen Entwurf waren nur wenige Vertreter der geistigen Elite, nur wenige Garanten moralischer Integrität zu begeistern. Die kommunistische Utopie schuf einen inneren Konflikt, und den trug man als Opfer oder als Komplize aus.

In welcher Richtung sollte ihrer Meinung nach die historische Forschung über den Kommunismus nach der Veröffentlichung des Schwarzbuchs weitergehen?

Objektivität und historische Wahrheit sind nur über eine uneingeschränkte Öffnung der Archive zu erreichen. Dafür ist unbedingt zu kämpfen. Wenn dies gegeben ist, wird man vielleicht entdecken, daß manche Zahlen überhöht waren und andere - die Opferzahlen des Gulag beispielsweise - wiederum allzu sehr beschönigt. Doch ganz gleich, wie hoch die Zahlen sind, die Barbarei verliert dadurch nichts von ihrem Schrecken. Erst wenn wir die ganze Wahrheit wissen, können wir dieses Kapitel unseres Jahrhunderts richtig beurteilen. Und ich möchte noch einmal ausdrücklich davor warnen, die Sache politisch ausschlachten zu wollen. Was mich schockiert, ist die Tatsache, daß man die Revolution von 1917 als eine Randerscheinung abtut und als Putsch einer Gruppe von Lenin-Anhängern hinstellt. Es ist eine billige Art, diese Revolution in ihrer Bedeutung zu schmälern. Würde man das mit dem Sturm der Bastille genauso machen? Man sollte doch zumindest konsequent sein.

Das Gespräch führte Jean-Luc Douin.

 


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Jean-Louis Margolin, Mitautor des Schwarzbuchs: 

»Historiker oder in der Politik engagierter Interessenvertreter?«

 

Was für eine Bedeutung hat die Polemik, die zwischen den einzelnen Autoren des Schwarzbuchs geführt wird?

Handelt es sich bei diesem Buch um eine seriöse und wohlbedachte Historikerarbeit mit sauber belegten Informationen oder eher um eine Arbeit von in der Politik engagierten Interessenvertretern, die im Dienst irgendeiner Sache Details sammeln, in diesem Falle mit dem Ziel, den Kommunismus weltweit als kriminelles Phänomen zu brandmarken? Die Titelfrage hatte zu einem ersten Streit zwischen den Mitautoren geführt. Nicolas Werth und ich hatten für den Fall, daß Stephane Courtois seinen Titelvorschlag durchsetzte, mit dem Rückzug unserer Beiträge gedroht. »Das Buch der kommunistischen Verbrechen« war Courtois' Vorschlag gewesen.

Die Frage ist nicht, ob es Verbrechen gegeben hat oder nicht. Darüber ist sich nämlich alle Welt einig: Es hat Verbrechen gegeben, schwere und ungeheuerliche sogar. Doch im Gegensatz zu uns hält Stephane Courtois diese gegen die Masse gerichteten Verbrechen für das entscheidende Markenzeichen des Kommunismus. Wir hingegen halten sie für eine einzelne Dimension der verschiedenen Repressionsstrategien. Kann man die zwei Millionen Toten, die es innerhalb von vier Jahren in Kambodscha gegeben hat, mit den drei Millionen vergleichen, die in einem Zeitraum von vierzig Jahren in der Tschechoslowakei ihr Leben lassen mußten? Gibt es keinen Unterschied zwischen der kommunistischen Doktrin und den repressiven Praktiken? Mir fällt auf, daß Courtois sich in seinem Vorwort widersprüchlich zu diesem komplexen Problem äußert.

Inwieweit sind die Verbrechen des Nationalsozialismus mit denen des Kommunismus vergleichbar?

Ich bin mit Courtois' allzu voreiligem Vergleich zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus nicht einverstanden. Man darf die Opferzahlen nicht darauf reduzieren. Im übrigen ist klar, daß die Gründe, deretwegen man sich dem Kommunismus angeschlossen hat, mit denen, die zu einem Anschluß an den Nationalsozialismus führten, nicht vergleichbar sind. Ebenfalls klar ist, daß die kommunistischen Intellektuellen die gegen die Masse gerichtete Kriminalität wiederholt angefochten haben (Chrustschow, Dubcek, Deng Xiaping), hingegen warte ich immer noch darauf, daß man mir Personen nennt, die sich im faschistischen Italien oder NS-Deutschland gegen den Holocaust ausgesprochen haben. Eine formelle Gegenüberstellung der Opferzahlen reicht nicht aus. Erinnern wir uns bitte daran, daß es das viktorianische England war, daß während des Burenkrieges zum ersten Mal Konzentrationslager eingerichtet hat.


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In welcher Richtung sollten die Historiker weiterforschen?

Wir wollen mit dem Buch zu neuen Überlegungen anregen. Der Kommunismus bleibt das große Rätsel dieses Jahrhunderts. Selbst für die Russen ist er nach wie vor ein dunkler Punkt. Nur ein Teil der Archive ist für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Bilanz ist noch zu ziehen. Dazu sollte man sich um eine stärkere Berücksichtigung der Parallelen und Unterschiede zwischen den verschiedenen Regimes bemühen.

Nicolas Werth und ich würden es bedauern, wenn die Debatte sich auf das Vorwort beschränken würde. Nachdem die verschiedenen Standpunkte deutlich geworden sind, fordern wir den Leser auf, über die Seite 41 hinauszulesen und sich mit einer nuancierten, aber erschütternden Bilanz, die den Kommunismus in all seinen Erscheinungsformen beachtet, auseinanderzusetzen

Das Gespräch führte Jean-Luc Douin

 

 

 

Die Geschichte des Kommunismus wird zu einer politischen Streitfrage

 

Das Manuel d'histoire, das auf das Jahr 1964 zurückgehende offizielle Geschichtsmagazin der Kommunistischen Partei Frankreichs, gibt es nicht mehr, auch wenn es nach wie vor in den Köpfen vieler Anhänger - ja sogar mancher Historiker - stark präsent ist. Die Kluft zwischen kommunistischen und nicht kommunistischen Universitätsdozenten wird allmählich kleiner. Man muß bis zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution zurückgehen: Das Streitgespräch zwischen Michel Vovelle und Francois Furet war das letzte klassische Duell.

Seit Anfang 1997 führte jedoch das Erscheinen verschiedener Titel über den Kommunismus oder kommunistische Persönlich­keiten zu einer Reihe von Auseinandersetzungen, in denen sich die Historiker in zwei Lagern gegenüberstehen. Es geht um die globale Bedeutung des Kommunismus und die Bilanz, die daraus für dieses Jahrhundert zu ziehen ist.

Der erste Schwerpunkt liegt bei der 1995 verstorbenen Annie Kriegel. Mit der 1964 erschienen Doktorarbeit »Zu den Ursprüngen des französischen Kommunismus« der einst zum kommunistischen Parteikader gehörenden Kriegel, die sich jedoch nach 1956 von der PCF distanziert hat, erfährt die Geschichte des Kommunismus eine angemessene Würdigung.


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Frei von der Politikverdrossenheit der Schule der Annales oder der Rückwärtsgewandtheit der Traditionalisten beschreibt sie in dieser Studie eine PCF, die zwar ein »Propfreis« des russischen Kommunismus sei, aber mit der französischen Arbeiterbewegung gebrochen hat. In Les Communistes francais liefert sie anschließend die »Ethnographie« dieser Anti-Gesellschaft.

Im Redaktionsausschuß der von ihr 1981 zusammen mit Stephane Courtois gegründeten Zeitung Communisme sitzen ihre Schüler Marc Lazar und Philippe Buton, die beide an der Vorrangstellung der Internationalen, aber auch an der »Ideologischen und gesellschaftlichen« Verbindung zwischen der PCF und Frankreich festhalten. Als Annie Kriegel, die aus ihrem rechten Engagement keinen Hehl macht, den dritten Band von Philippe Robrieux' Inoffizieller Geschichte der Kommunistischen Partei scharf kritisiert, kommt es sofort zu Spannungen. Zehn Jahre später stellen Claude Pennetier, Denis Peschanski und Michel Dreyfus mit dem Hinweis auf die veränderte politische Orientierung ihrer Mitarbeit ein. Für andere wiederum ist der Kommunismus fest in der französischen Erde verwurzelt. Beispielsweise für die Kommunisten Roger Martelli, Serge Wolikow und Roger Bourderon, der die Marxistische Bibliothek in Paris leitet. Weitere Gleichgesinnte findet man im Umkreis von Jean Maitron, der bis zu seinem Tode im Jahre 1987 die Arbeiten an dem riesigen, nämlich 43bändigen Biographischen Wörterbuch der französischen Arbeiterbewegung geleitet hat. Dazu zählen einige von der Sozialgeschichte faszinierte Historiker: Jacques Girault, der Pionier der »Implantation«, Bernard Pudal, Claude Pennetier und Marie-Claire Lavabre.

In den achtziger Jahren zeigte der Kommunismus eine rückläufige Tendenz. Die von Georges Marchais geführte Partei mußte bei den Wahlen Einbußen hinnehmen, und schließlich kam es zum Fall der Berliner Mauer. »Die meisten Universitätsdozenten hielten die Sache für überholt. Daraus ergaben sich schwerwiegende Folgen für die Forschungsarbeit, den Nachwuchs und die Veröffentlichungen«, berichtet Marc Lazar. Michel Verret oder Jean-Paul Molinari beispielsweise fanden keinen großen Verlag, der bereit war, ihre Doktorarbeiten herauszugeben.

Francois Furets Ende der Illusion, die Ende 1995 erschienene Studie über die kommunistische Idee im 20. Jahrhundert, wurde zum Symbol einer Kehrtwendung. Mit der Öffnung der Archive (1992 in Moskau und 1993 in Frankreich) kam Licht in die noch dunklen Teilbereiche.


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Für die Geschichtsschreibung war das eine Revolution. »Die Geschichte des Kommunismus steht an der Schwelle zum wissenschaftlichen Zeitalter«, sagte damals Annie Kriegel und nahm mit Stephane Courtois die Arbeit an der vor Jahren auf die Seite gelegten Biographie über Eugen Fried, der grauen Eminenz von Maurice Thorez, wieder auf. Je schwieriger sich der demokratische Übergang im Osten gestaltete, desto tiefgründiger wurden die Forschungsarbeiten. »Die Studenten interessieren sich wieder für unsere Themen«, erklärt Marc Lazar, der vor zwei Jahren an der politologischen Fakultät einen Kurs über die Historiographie des Kommunismus gehalten hat.

Besonders Francois Furet hat eine neue Grundsatzdiskussion eröffnet. Was verbindet man heute mit dem Kommunismus: die Repression oder sogar den Totalitarismus oder eher den Antifaschismus? Was für eine Rolle spielte der französische Parteikader im einzelnen? Welche Bedeutung besaß die UdSSR in der Vorstellungswelt der aktiven Parteigenossen? Ist der Kommunismus von Natur aus kriminell und - wenn ja - ist er also mit dem Nationalsozialismus vergleichbar? Würden erneut Historiker auftreten, die die PCF und die anderen Kommunisten »retten« wollen? Auch bei den Redakteuren der Communisme ist die Einmütigkeit dahin: Karel Bartosek und Nicolas Werth haben den Redaktionsausschuß verlassen, denn für sie geht der Streit nicht mehr um »wissenschaftliche, sondern um ideologische« Gesichtspunkte.

Ariane Chemin

 

 

Die PCF und der Stalinismus: 
Allgemein gehaltene Verurteilungen

 

Seit 1994 befindet sich die Französische Kommunistische Partei in einem von ihrem neuen Generalsekretär eingeleiteten »Veränderungsprozeß« und tut sich mit ihrer Geschichte schwer. In ihrem Bemühen um ein neues Image und einen festen Platz in der französischen Politik muß sie zwei gegensätzlichen Ansprüchen gerecht werden: Zum einen darf sie das, was ihre kommunistische Identität ausgemacht hat, nicht leugnen, muß aber andererseits zu einer Vergangenheit, die allzusehr an die internationale Dimension erinnern würde, auf Distanz gehen. Robert Hue brachte dies am Freitag, den 7. November, in einer ausgesprochen vieldeutigen Formulierung zum Ausdruck: »Die tiefen Wurzeln des neuen Zeitalters des Kommunismus«.


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Im vergangenen Jahr ist dieser Zwiespalt mehrmals offenkundig geworden. Hin- und hergerissen zwischen Gedenkfeiern und »Gegen-Gedenkfeiern« feierte die Pariser PCF-Zentrale im Juli mit großem Pomp den 100. Geburtstag des stalinistischen, aber doch recht französischen Intellektuellen Louis Aragon. Der 80. Jahrestag der Oktoberrevolution wurde jedoch mit keiner offiziellen Feier gewürdigt. Man wollte damit zeigen, daß die PCF in erster Linie eine französische Partei ist.

Stark beeinflußt von den Arbeiten des Historikers Roger Martelli, erinnert Robert Hue nachdrücklich an die »französische Wirklichkeit« der roten Fahne, der Internationalen und des Kommunismus-Begriffs. »Es gibt eine erfreuliche Tatsache (...), dieses Land und dieses Volk besitzen eine kommunistische Partei und nicht nur einen >nationalen< Dezimalanteil an einem sowjetischen Ganzen.« Mit diesen Worten beschreibt er in der Zeitung Communisme die Veränderung (Stock, 1995). »Der sich für den Arbeiter engagierende französische Kommunismus ist mit Minimalspuren des sowjetischen Realismus belastet«, erläutert Roger Martinelli in Le Rouge et le Bleu (Verlag Atelier, 1995).

Robert Hue gibt zwar zu, daß »in der Praxis der PCF Elemente eines französischen Stalinismus« zu finden waren, läßt sich jedoch nur ungern weiter auf dieses Thema ein. Der ursprünglich nur in der Lokalpolitik aktive junge Mann, der vor dem Fall der Berliner Mauer nicht zur Parteiführung gehörte, bemüht sich um Distanz zu Georges Marchais und betont wiederholt, daß er weder die russische Sprache noch die Sowjetunion kenne. Als Antwort auf die von den Schwarzbuch-Autoren aufgestellte niederschmetternde Bilanz hat er am Freitagabend die Einladung von Bernard Pivot zu einem Fernsehinterview ausgeschlagen und statt dessen den neuerdings zu seinen Vertrauten zählenden Roland Leroy, den ehemaligen Chef der Kommunistenzeitung L'Humanite, ins Rennen geschickt.

Verspricht sich Robert Hue so wenig von einer solchen Selbstkritik? In den Debatten über eine mögliche Mitschuld der PCF vermeidet er persönliche Stellungnahmen so gut er kann. Und selbst Aktionen stark symbolischen Charakters — wie etwa die »bedingungslose Verurteilung« der Tatsache, daß der ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer Maurice Kriegel-Valrimont Ende der fünfziger Jahre wiederholt aus der PCF ausgeschlossen worden war, — haben offensichtlich mit der jüngsten Parteigeschichte nichts zu tun.


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»Auch wenn wir den Stalinismus und seine Verbrechen unmißverständlich verurteilen, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Kommunismus eben zur gleichen Zeit ein Ideal darstellte. Heute empfinden Millionen von Männern und Frauen, die an den Entwurf des Kommunismus geglaubt haben, einen gewissen Schmerz«, erklärte Herr Hu6 letzten Freitag bei einer Podiumsdiskussion im »Espace Regards« und wehrte sich gegen Stephane Courtois, »der den Kommunismus mit dem niederträchtigsten Regime aller Zeiten - dem Nationalsozialismus - in einen Topf wirft«.

Ferner meint Herr Hue, daß es »wünschenswert« gewesen wäre, wenn die PCF »mit dem Denkmodell, das sie seit der Chruschtschow-Rede an einen starren Staatsglauben band, gebrochen hätte«, und beruft sich erneut auf die These des »historischen Rückstandes«, in den man »seit 1956« verfallen sei. Nichts Neues also im Hinblick auf eine Analyse des Terrors und Totalitarismus oder in bezug auf die Komplizenschaft zwischen der PCF und den stalinistischen Parteibonzen in Moskau. Die PCF begnügt sich mit allgemein gehaltenen Verurteilungen und braucht somit die Geschichte des französischen oder internationalen Kommunismus nicht in verschiedene »Perioden« zu unterteilen.

Unter den 150 Personen, die am 7. November in Aubervilliers (Seine-Saint Denis) an dem auf eine Initiative der kommunistischen Linken zurückgehenden Diskussionstreffen zum Thema Oktoberrevolution teilgenommen haben, gab es niemanden, der dem Schwarzbuch des Kommunismus etwas Positives hätte abgewinnen können. Es bestand große Einmütigkeit zwischen den Kommunisten und Trotzkisten: Man verurteilte den Stalinismus und begrüßte die Beteiligung kommunistischer Minister an der »bürgerlichen« Regierung von Lionel Jospin. »Sie haben mit Stalin einen Sündenbock gefunden und vergessen ganz, daß sie ihn jahrelang unterstützt haben. Man glaubt sich in einer feierlichen Messe, mit der die Linke den Revisionismus beschwören will«, erklärt ein stark libertär gesinnter Gast von nebenan. Ein Parteimitglied schätzt sich glücklich über den endlich wiederhergestellten Dialog zwischen den Kommunisten und Trotzkisten und fordert die letzteren auf, »sich wieder der PCF anzuschließen, um gemeinsam weiterzumarschieren«.

Ariane Chemin

 


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»Henker und Opfer zugleich«

 

Unter den Gästen der am Freitag, den 7. November, im Zweiten Französischen Fernsehen ausgestrahlten Kultursendung »Bouillon de culture« befanden sich Stephane Courtois, der Chefautor des Schwarzbuchs des Kommunismus, und Roger Martinelli, Kommunist der »Neugründungs«-Generation, Mitglied des Nationalkomitees der PCF und Autor mehrerer Bücher über den französischen Kommunismus und den Arbeiterkampf. Außerdem Roland Leroy.

Roger Martinelli: Für mich besteht die von Stephane Courtois zusammengestellte Veröffentlichung aus mehreren Büchern. Zum einen hat es der Leser mit einer Reihe wissenschaftlicher Studien zu tun, die sich alle auf jüngere Forschungsarbeiten stützen und kritisch Bilanz ziehen. Dabei handelt es sich durchweg um seriöse Texte. Andererseits wird man mit einer Einführung und einer abschließenden Zusammenfassung konfrontiert, die beide über die historische Interpretation hinausgehen und politisches Engagement verraten. St6-phane Courtois vertritt eine These: Für den Kommunismus ist ein Nürnberger Prozeß notwendig. Für ihn verkörpert der Gulag das Wesen des Kommunismus.

Stephane Courtois: Ich, einen Nürnberger Prozeß für den Kommunismus? Ich bin völlig überrascht. Das ist nicht unsere Rolle. Wir sind weder Richter noch Staatsanwälte. In welchem Namen sollten denn französische Historiker über die Russen zu Gericht sitzen?

R. M.: Ich bestätige noch einmal ausdrücklich, daß Stephane Courtois in seinem Buch die Frage stellt: »Warum hat es für den Kommunismus kein Nürnberg gegeben?«

S. C.: Wie beurteilen Sie denn diese Verbrechen?

R. M.: Ich kann den Ausdruck »Nürnberg« nicht akzeptieren. Der Völkermord ist ein Bestandteil des Nationalsozialismus. Im Hinblick auf den Kommunismus lehne ich ein solches Denkschema ab. Ähnliche Methoden bedeuten noch keine Ähnlichkeit der Systeme.

S. C.: Niemand hat in diesem Buch behauptet, daß ein kommunistisches Regime mit dem nationalsozialistischen Regime gleichzusetzen ist. Ich habe lediglich gesagt, daß die beiden Regimes einander vergleichbar sind (...).

R. M.: Für Stephane Courtois ist der Stalinismus das wahre Gesicht des Kommunismus. Dieser Behauptung widerspreche ich. Der Stalinismus ist ein Teil davon, aber nicht sein wahres Gesicht.


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Der Kommunismus ist Henker und Opfer zugleich. Es hat kommunistische Stalingegner gegeben, aber keine national­sozialistischen Hitlergegner. Die Bolschewisten waren vom Bild der Französischen Revolution gefangen und haben die Risiken der terroristischen Gewaltspirale unterschätzt.

Roland Leroy: Am Anfang des Nationalsozialismus steht der Menschenhaß. Am Anfang des Kommunismus steht die Menschenliebe.

S. C: Ja, Platon, Thomas Morus und Babeuf waren Kommunisten!

Quelle: Le Monde, 9./10. November 1997

 

 


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Thierry Chervel

Lenins Leichen. Über den neuen französischen Historikerstreit

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 12. November 1997

 

Drei Jahre lang leistete eine Mannschaft von zehn Historikern Sisyphos-Arbeit, erschloß zum Teil neue Quellen, zog eine finstere Bilanz des Jahrhunderts — und zerstritt sich am Ende. In den letzten Monaten vor Erscheinen ihres Werks, so kolportiert die französische Presse, wurden die Debatten immer gereizter. Die Autoren drohten einander mit Rechtsanwälten und kommunizierten nurmehr über Einschreiben, der Verlag schickte Gerichtsvollzieher, um Manuskripte einzutreiben.

Aber dann kam das Buch doch noch pünktlich. Am letzten Donnerstag, einen Tag vor dem achtzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution, ist es erschienen. Selbst der Titel war umstritten. Der Herausgeber, Stephane Courtois, hatte für »Das Buch der kommunistischen Verbrechen« plädiert. Heraus kam es unter dem Titel Das Schwarzbuch des Kommunismus. Verbrechen, Terror, Repression (Editions Laffont, die deutsche Übersetzung erschien im Piper Verlag).

Das Schwarzbuch will ein erstes vollständiges Kompendium über die Verbrechen aller kommunistischen Regimes liefern, die je regierten oder noch regieren – 848 Seiten über 85 – oder 100? – Millionen Tote. »Eine Bibel«, sagt Verleger Bernard Fixot. Seit Francois Furets Das Ende der Illusion von 1995 ist über kein Buch in der französischen Presse ausführlicher berichtet worden. Bernard Pivot, der französische Literaturpapst, widmete seine Büchersendung »Bouillon de culture« am Freitag allein dem Schwarzbuch.

Für Empörung sorgt das Vorwort, das ursprünglich der im Juli gestorbene Furet schreiben sollte, das dann aber Courtois selbst übernahm. Courtois baut darin auf der These Furets auf, der in Das Ende der Illusion Kommunismus und Nationalsozialismus als zwei feindlich-verwandte Ausgeburten des Ersten Weltkriegs und des bürgerlichen Selbsthasses darstellte.


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Nazis und Kommunisten hätten einander nicht konträr gegenübergestanden, wie sie selber glauben mochten, sondern komplementär. Diese These von der »konfliktuellen Komplizenschaft« bereitet der weithin traditionalistischen Linken in Frankreich bis heute große Schmerzen. Furet erläuterte sie ein letztes Mal in einem Briefwechsel mit Ernst Nolte, der in der Herbstnummer der Pariser Literaturzeitschrift Commentaire erschien.

Courtois untermauert Furets Parallele im Vorwort des Schwarzbuchs, indem er Begriffe, die aus der juristischen und historischen Bewältigung des Nationalsozialismus stammen, auf die Verbrechen des Kommunismus anwendet. Drei Stufen hat Courtois' Argumentation, die ihn mit einem Teil seines Teams entzweite. Zunächst schilderte er das Verbrechen als einen – wenn nicht den – Hauptwesenszug des Kommunismus: »Die kommunistischen Regimes haben das Massenverbrechen zu einem wahrhaften Regierungssystem erhoben, um ihre Macht zu begründen.«

Viele dieser Massenverbrechen, so Courtois weiter, entsprechen allen Kriterien der »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, wie sie für die Nürnberger Prozesse formuliert wurden. Ganze soziale Gruppen wurden um ihrer bloßen Existenz willen umgebracht - inklusive Frauen, Kindern und Alten, wie es für Courtois vor allem die von Stalin bewußt in Kauf genommene Hungersnot in der Ukraine beweist (sechs Millionen Tote in den Jahren 1932/33). Daraus schließt Courtois in seinem dritten Schritt, »daß hier der >Klassengenozid< dem >Rassengenozid< gleichkommt. Der Tod eines ukrainischen Kulakenkindes, das vom stalinistischen Regime vorsätzlich dem Hunger überlassen wurde, ›gilt soviel‹ wie der Hungertod eines Kindes im Warschauer Getto. Damit wird die ›Einzigartigkeit von Auschwitz‹ nicht in Frage gestellt ...«

In den vielen Anführungszeichen seiner zentralen Sätze importiert Courtois endgültig den deutschen Historikerstreit nach Frankreich. Allerdings handelt es sich um einen umgekehrten Historikerstreit: Courtois stellt die so akademische und doch so quälende Frage der Vergleichbarkeit von Auschwitz als Linker und aus der Perspektive der Erforschung des Kommunismus. Der Vergleich rührt in Frankreich noch an andere Tabus als in der Bundesrepublik zur Zeit des deutschen Historikerstreits: Die Kommunisten und ihre Weggenossen, lange Zeit etwa ein Viertel der französischen Gesellschaft, erscheinen durch ihn als Sympathisanten eines Systems, das genauso teuflisch war wie das der Nazis. Auch ihr heroischer und opferreicher Widerstand gegen die Deutschen verliert an Prestige — sie hätten gegen das eine Böse im Namen des anderen gekämpft.


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Die Kommunisten protestieren: »Der Vergleich ist zutiefst verletzend für den Sohn eines Widerstands­kämpfers aus der Region von Toulouse, wie ich es bin«, ruft Claude Cabanes, Chefredakteur von L'Humanite.

Zu den Autoren des Schwarzbuchs, die sich wegen des Vorworts von Courtois abwandten, gehören Nicolas Werth und Jean-Louis Margolin, die Verfasser der Kapitel über die Sowjetunion und China. Sie scheuen vor Courtois' Konsequenzen zurück und wehren sich brüsk gegen die These der Vergleichbarkeit, vielleicht auch, weil sie sich durch solche Verallgemeinerungen um die Besonderheiten ihrer Forschungsgebiete gebracht sehen. Aber wer ihre Texte liest, wird die Frage der Vergleichbarkeit ohnehin abstrakt finden: Vielleicht waren die Nazis schlimmer, aber die Kommunisten waren ganz bestimmt nicht besser.

Niederschmetternd zumal Werths 250 Seiten über die Sowjetunion. Gewiß, er erzählt nichts Neues, aber die Geschichte des Terrors wirkt bei ihm wie frisch ausgepackt, denn er kann zum ersten Mal lange geheimgehaltene Quellen und jüngste Arbeiten russischer Historiker nutzen. Er kann Opfer und Täter zitieren und die Befehlswege nachzeichnen, die fast immer ganz oben beginnen.

Am heftigsten trifft es Lenin. Bei Werth kann man zusehen, wie Lenin und Trotzki die Tscheka fördern und hätscheln, die bereits im Herbst 1918, zwei Monate nach der offiziellen Lancierung des Terrors, 10 bis 15000 politische Hinrichtungen auf dem Gewissen hat – doppelt soviel wie das Zarenregime in den Jahren von 1825 bis 1906. Unter Lenin wächst die Lagerbevölkerung auf 120.000 Personen. Lenin läßt den Klerus verfolgen: 8000 Tote. Lenin begrüßt die Hinrichtungen der Bourgeois auf der Krim: 50.000 Tote in sechs Wochen. Lenin ist mitverantwortlich für die Hungersnot von 1921/22: fünf Millionen Tote. Werths kühl erzählter Text verbaut den französischen Restkommunisten die letzte Rückzugslinie. Wer ihn liest, kann nicht mehr den Stalinismus beklagen und sich dann auf den ursprünglich guten Lenin zurückziehen.

Es wird interessant sein zu sehen, ob und wie die Debatte um das Schwarzbuch gerade in den bisher sehr regierungsfreundlichen linkeren Medien weitergeführt wird. Gestern brachte Liberation noch einmal vier Seiten zum Thema. Den Kommunisten, die in Jospins Kabinett drei Minister stellen, wird das kaum gefallen.

 

 


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FRANCOIS DUFAY

Kommunismus. Im Angesicht der Wahrheit

 

Wer nicht boshaft sein will, schiebt es auf den übervollen Terminkalender. Lionel Jospin ist durch seine Aufgaben als Premier­minister stark in Anspruch genommen und hat deshalb wahrscheinlich nicht die Zeit, um einen Blick in das soeben von einer Gruppe französischer Historiker veröffentlichte Schwarzbuch des Kommunismus zu werfen. Sonst wäre er bei dem Gedanken an das, was er letzten Mittwoch vor der Nationalversammlung gesagt hat, rot geworden. »Die Französische Kommunistische Partei«, so sprach er, »steht im festen Einklang mit dem Linkskartell, sie war ein unerschütterlicher Bestandteil der Front populaire und des Widerstandes gegen die NS-Besatzung [...], und hat selbst nie irgendwelche Freiheiten beeinträchtigt. Auch wenn sie sich nicht früh genug vom Stalinismus distanzierte, hat sie doch die Lehren aus ihrer Geschichte gezogen. Sie ist in meiner Regierung vertreten und darauf bin ich stolz.«

Eine stark beschönigte (und - was das Linkskartell angeht - auch regelrecht falsche) Darstellung der Geschichte, weshalb Frangois Bayrou und ein Teil der UDF-Abgeordneten laut ihrer Empörung Ausdruck gebend das Parlament verließen. Sie sahen darin einen Affront gegenüber den mindestens 85 Millionen Opfern, die der Kommunismus weltweit auf dem Gewissen hat. So viele nämlich wurden jahrzehntelang in der UdSSR, in China, in Kambodscha und weiteren Ländern im Namen von Marx und Lenin unschuldig massakriert, wenn man den Autoren des Schwarzbuch glauben darf. Mit diesem Buch steht die kriminelle Dimension des Kommunismus für alle Zeiten fest. Die umfangreiche Arbeit zeichnet auf rund 800 Seiten mit grundlegenden, jedes Land einzeln behandelnden Studien, mit Karten des russischen Archipel Gulag und chinesischen Laogai und grauenhaften Fotos von dicht an dicht liegenden, mit Folterspuren übersäten Leichen ein bestürzendes Bild und stützt sich dabei auf die inzwischen offen zugänglichen Archive des Ostens.


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Nie zuvor waren die Verbrechen an der Masse so lückenlos aufgelistet worden, angefangen bei der sowjetischen Entkulakisierung über die chinesische Kulturrevolution bis hin zum Völkermord in Kambodscha. Seit Kronstadt und Katyn weiß man, daß es unzählige Massaker gegeben hat. Hat man bisher von den Gulags nur gehört, so kann man jetzt die Fotos von den Massengräbern sehen.

Hunderte von Konzentrationslagern, absichtlich ausgelöste Hungersnöte, ganze Völker, die verschleppt wurden, Scheinprozesse und politische Gegner, die gefoltert, aufgehängt, erschossen oder einfach nur mit einem Genickschuß hingerichtet wurden ... Eine Märtyrerliste für den Fortschritt und das Wohl der Menschheit, begleitet von den Jubelrufen der Kommunistischen Partei Frankreichs, auf deren Beteiligung an der Regierung Lionel Jospin so stolz ist. Die Geschichte hielt die französischen Kommunisten - gegen deren Willen - immer fern von der Macht und gab ihnen so keine Gelegenheit, sich die Hände schmutzig zu machen. Doch ihre moralische Unterstützung war den Henkern stets willkommen: »Die trotzkistischen Verräter der POUM sind verurteilt worden. In zahlreichen Telegrammen wurde Präsident Negrin von den französischen Arbeitern für seine entschlossene Haltung gelobt.« So lautete ein Zeitungstitel der L'Humanite aus dem Jahre 1937. Es ist einer der Presseausschnitte, die nun im Schwarzbuch neu herausgegeben wurden. Auch Aragon wünschte sich bei seiner Schwärmerei für die GPU sehnlichst die Schaffung einer vergleichbaren politischen Polizei in Frankreich ...

Nach wenigen Tagen war die erste Auflage (25000 Exemplare) des Schwarzbuchs bereits vergriffen. Mit Recht darf man sich über den Schock, den dieses Buch in der Öffentlichkeit auslöste, wundern. War die kriminelle Dimension des Kommunismus denn so wenig bekannt, daß eine Arbeit dieser Art ein solches Aufsehen erregen konnte! Eigentlich erfährt man in diesem Buch nichts, was nicht schon seit langem durch Solschenizyn (für Rußland), Jean Pasqualini (für China) oder Pin Yathay (für Kambodscha) aufgezeigt worden wäre. Die Archive des Ostens und die Zahlenbilanzen liefern nur die Bestätigung und den Kontext für das, was jene wichtigen Zeugen schon längst berichtet haben. Damals allerdings hat die westliche Intelligenzia diese Zeugen verunglimpft.

Auch das im Schwarzbuch gezeichnete kritische Bild der Figur Lenins stellt nichts aufregend Neues dar. Man brauchte nicht gerade einen siebten Sinn, um zu begreifen, daß die Errichtung der »Diktatur des Proletariats« schon lange vor Stalin direkten Weges zum Terror führte.


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Mit einer gründlichen, sich auf bisher nicht offen zugängliche Archive stützenden Studie des Historikers Nicolas Werth wird im Schwarzbuch bestätigt, was bereits offensichtlich war. Man ist sprachlos beim Lesen der von Lenin verkündeten Mordaufrufe, die von Dserschinskis unheilvoller Tscheka (später GPU, NKWD und schließlich KGB) in die Tat umgesetzt wurden. Nach der Oktoberrevolution sind Zehntausende von Geiseln erschossen, Hunderttausende von rebellierenden Bauern massakriert und fünf Millionen dem Hungertod preisgegeben worden. Die Kosaken vom Don wurden umgebracht oder als geschlossene Bevölkerungsgruppe verschleppt. Bereits 1918 wurden die ersten Konzentrationslager errichtet. Vor diesem Hintergrund ist die Fiktion vom reinen, nichts Böses wollenden Bolschewismus, der erst durch den üblen Stalin »pervertiert« wurde, nicht aufrechtzuerhalten.

Glaubt man denn wirklich, daß die so peinlich genau dargelegten Fakten und die so seriös begründete Forschungsarbeit die Polemik ausgelöst hat? Natürlich hat die Kommunistische Partei Frankreichs alles versucht, um den durch das Schwarzbuch verursachten Schaden zu begrenzen. Robert Hué versucht, seine ehemals stalinistischen Hilfsdienste herunterzuspielen und zu retten, was zu retten ist. Er bemüht sich sogar, die Sache zu seinem Vorteil auszuschlachten, und gibt zu, daß die 85 Millionen Tote »ein menschliches Drama« darstellen, »eine grauenvolle Angelegenheit, die er klar verurteilt«. Empfindet der General­sekretär der PCF etwa Reue? Mitnichten, denn er fügt sogleich hinzu, wie »lächerlich und grotesk es wäre, »dies alles auf eine makabre Zahlenbilanz zu reduzieren«. Keine Spur also von einer tiefergehenden Gewissenserforschung. Ein weiteres Mal tut man mit Lionel Jospins Zustimmung so, als ob sich das Problem auf den Stalinismus beschränke. Eine grundsätzlich kriminelle Dimension des Kommunismus kann es nicht geben, und die 85 Millionen Tote bleiben – alles in allem – ein bedauerlicher Unfall.

Es war vorauszusehen, daß die PCF so reagieren würde. Was jedoch erstaunt, ist die Tatsache, daß es auch zwischen den Autoren des Schwarzbuches zu Meinungs­verschiedenheiten kam. Bereits vor dem Erscheinungstermin protestierten drei der sechs maßgeblichen Autoren gegen Stephane Courtois, den Chefautor. Sie warfen ihm vor, die Tatsachen zu verdrehen und sich »nicht mehr von wissenschaftlichen, sondern von ideologischen Gesichtspunkten« leiten zu lassen.


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Gegen den von Courtois in seinem Vorwort verwendeten Begriff »Klassengenozid« wehrte sich vor allem Jean-Louis Margolin: »Der Klassenfeind wurde vernichtet, aber nicht Einzelpersonen oder ganze soziale Schichten.« Nicolas Werth und Karel Bartosek sind aus dem Redaktionsausschuß der von Courtois ins Leben gerufenen Zeitschrift Communisme ausgetreten. Offensichtlich bekamen sie letztlich Angst vor ihrer eigenen Courage und wagten es nicht, aus ihren Arbeiten selbst die entscheidenen Schlüsse zu ziehen. Die Autoren kommen nämlich alle vom Marxismus her und sind deshalb durch ihre persönliche Geschichte eng mit den Tatsachen, die sie aufdecken, verbunden. Mit der kritischen Bilanz des Kommunismus waren die Autoren gezwungen, sich selbst zu hinterfragen, und sahen sich teilweise sogar genötigt, mit ihrer Familientradition zu brechen. Der tschechische Dissident Karel Bartosek beispielsweise saß zwar in der Tschechoslowakei in Haft, war aber trotzdem einst ein überzeugter Kommunist und enger Vertrauter von Artur London. Und Nicolas Werth ist der Sohn des Journalisten Alexander Werth, der in Stalingrad als Kriegsberichterstatter gearbeitet hat und dem sowjetischen Regime sehr nahe stand.

Ein weiterer Grund für die Meinungsverschiedenheit ist auch die Ungeschicklichkeit, mit welcher Stephane Courtois in seiner Einführung den Vergleich zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus darstellt. Dieses heikle Thema ist der entscheidende Punkt der Schwarzbuch-Polemik und lenkt leider sehr von den eigentlichen Werten des Buches ab. Francois Furet, der vor zwei Jahren in seiner Veröffentlichung Das Ende der Illusion das gleiche Thema behandelte, hat die Schwierigkeiten bravourös gemeistert. Denn der inzwischen verstorbene Historiker ging zunächst auf die Unterschiede und dann erst auf die Gemeinsamkeiten der beiden totalitären Systeme ein: Beide entwickelten sich im Hexenkessel des Ersten Weltkrieges, haben die Ablehnung der »bürgerlichen« Demokratie als gemeinsames Merkmal und wollen mit allen Mitteln einen »neuen Menschen« schaffen. Niemand hat damals gegen Furets Ausführungen protestiert.

Wenn man jedoch – wie Courtois – lediglich die Opferzahlen vergleicht, kann dies zu einer irreführenden Asymmetrie führen. Denn bei der makabren Methode der doppelten Buchführung wiegt die Seite des Nationalsozialismus tatsächlich entschieden weniger schwer (den 85 bis 100 Millionen Toten stehen lediglich 25 Millionen gegenüber).


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Dieses Ungleichgewicht erklärt sich ganz einfach aus der Tatsache heraus, daß dem Nationalsozialismus wesentlich früher ein Ende bereitet wurde. Sicherlich hat Courtois recht, wenn er schreibt, daß »der Tod eines absichtlich der Hungersnot ausgesetzten ukrainischen Kulakenkindes dem Tod eines vom NS-Regime der Hungersnot preisgegebenen Judenkindes im Warschauer Ghetto >gleichkommt<«, und kann sich in dieser Hinsicht auf den russischen Schriftsteller Wassilij Grossman berufen, der ein »Schwarzbuch« mit Bezug auf den Holocaust geschrieben hat. Nach Wassilij war der Kulak für den geisteskranken Stalin als Mensch genausowenig wert wie der Jude für Hitler. Beide galten als Außenseiter, die erbarmungslos auszurotten waren. Und genau das haben Stalin und Hitler getan.

Was hat es für einen Sinn, wenn Courtois im Zusammenhang mit den kommunistischen Verbrechen die geringe Opferzahl des italienischen Faschismus unterstreicht? In diesem Punkt ist Zurückhaltung angesagt; nicht zuletzt deshalb, weil die Rechtsradikalen nur darauf warten, die Nazi-Verbrechen verharmlosen zu können. Bei einem Treffen in der Mutualite, dem Pariser Bürgersaal, versäumte es der für die Front National im Europäischen Parlament sitzende Bernard Antony nicht, einen »Nürnberger Prozeß« für den Kommunismus zu fordern. Und was die politische Gegenseite betrifft, so konnten sich die Kommunisten und ihre modernen Weggefährten mit Recht über den Vergleich mit dem Nationalsozialismus aufregen und so die Frage ihrer eigenen historischen Verantwortung geschickt umgehen. Schließlich brauchte nur noch der Sohn eines verschleppten Kommunisten Courtois öffentlich in einer Fernsehsendung anzugreifen, und die Sache war geritzt. »Niederträchtig« ist also derjenige, der es wagt, kommunistische Verbrechen anzuprangern, und nicht derjenige, der sich mit einer kriminellen Ideologie solidarisch erklärt.

Wie dem auch sei, das Schwarzbuch ist trotz seiner Mängel ein wichtiger Meilenstein der Geschichtsschreibung. Mit der Öffnung der Archive und der historischen Wiederaufarbeitung betreibt das ausgehende Jahrhundert seine Gewissenserforschung. Frankreich ist eines der letzten Länder im Westen, in denen die kommunistische Partei nach wie vor stark ist. Dank der Schwarzbuch-Autoren geht von diesem Land jedoch auch ein die wahre Natur des Kommunismus schonungslos beleuchtendes Licht aus, und darauf kann es stolz sein.

Quelle: Le Point, 15. November 1997

 

 


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JEAN-FRANCOIS REVEL

Kommunismus. 85 Millionen Tote! 

 

Der Veröffentlichung des umfangreichen Schwarzbuches des Kommunismus ging ein Streit zwischen dem Chefautor Stephane Courtois und zwei der maßgeblichen Mitautoren dieses großen Gemeinschaftswerkes voraus. Ganz offensichtlich wollte man das Werk bereits im voraus in Mißkredit bringen, denn das schlechte Gerede über die historische Arbeit war übertrieben aufgebauscht worden.

Nicolas Werth und vor allem Jean-Louis Margolin protestierten im letzten Moment gegen bestimmte Formulierungen, die Courtois in seiner Einführung gebraucht. Dies ist eine Tatsache. Tatsache ist jedoch auch, daß diese Einführung den beiden schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegt worden war. Doch der terminologische oder ideologische Streit ändert nichts am entscheidenden Punkt: der dokumentarischen Vielfalt des Schwarzbuches. Im übrigen sind es gerade die von Werth und Margolin stammenden (meisterhaft geschriebenen) Teile des Gemeinschaftswerkes – ersterer über die UdSSR, letzterer über China, Vietnam und Kambodscha –, die Courtois' Gesamtbild und historische Interpretation am nachhaltigsten untermauern.

Worauf sich ihr später Protest stützt, weiß ich nicht; in ihren Forschungsarbeiten ist er jedenfalls nicht zu erkennen. Über die zum Teil noch nicht völlig geklärten Zahlen läßt sich streiten. Es ist ungewiß, ob Mao 60, 70 oder 65 Millionen Menschen umgebracht hat. Man kann auch durchaus der Meinung sein, daß – im Gegensatz zu Kambodscha – es trotz Repression und gefälschter Gerichtsprozesse in der Tschechoslowakei nicht zu einem Völkermord gekommen ist. Solche Erwägungen sind rein wissenschaftlicher Natur. Am moralischen Skandal ändert sich dadurch nichts. Als man um 1950 sagte »Die Nazis haben sechs Millionen Juden umgebracht«, so kam damals von bestimmten Leuten die Antwort: »Nein, sie haben nur vier Millionen umgebracht.« An der an sich kriminellen Logik des Kommunismus oder Nationalsozialismus ändern diese deplazierten Haarspaltereien nichts.


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Ich würde auf diese schäbigen Streitereien überhaupt nicht näher eingehen, wenn sie nicht in gewisser Weise zum Thema des hier zu erörternden Buches gehörten. Sie stehen nämlich für das nach wie vor große Einschüchterungsvermögen der rückständigen und rückwärtsgewandten Anhänger des Kommunismus. Als politisches Phänomen ist das Ungeheuer inzwischen tot, doch als kulturelles Phänomen ist es immer noch lebendig. Auch wenn die Berliner Mauer inzwischen gefallen ist, in den Köpfen ist sie noch vorhanden. Den Kommunismus in seiner Realität zu beschreiben, bleibt ein gesellschaftsfeindlicher Akt.

In Frankreich konnte man das am 7. November in der Fernsehsendung »Bouillon de culture« erleben. Ich hatte soeben Steven Spielbergs letzten Film über die Dinosaurier gesehen und hatte deshalb keine Schwierigkeiten, mich auf die Fernsehdiskussion über das Schwarzbuch einzustellen. Die eingeladenen Kommunisten schafften es regelrecht, die Historiker wie gefährliche Dinosaurier unter Sicherheitskontrolle zu bringen. Einer von ihnen ging sogar soweit, Stephane Courtois als Antisemiten zu bezeichnen! Auf diese Weise haben sie ihr Ziel, die Information zu zensieren, zum Teil erreicht, denn der Fernsehzuschauer konnte so gut wie nichts über den Inhalt des Buches erfahren. Mit ihrer Verschleierungstaktik haben diejenigen, die bei diesen Verbrechen als Komplizen fungierten, es einmal mehr geschafft, eben diese Verbrechen zu leugnen und mit der Hand auf dem Herzen und mit weinerlicher Stimme zu betonen, daß solche Untaten nichts mit dem Wesen des Kommunismus gemein hätten. Warum ist es ein erklärtes Delikt, wenn man die Verbrechen der Nazis in Abrede stellt, nicht aber, wenn man die Verbrechen der Kommunisten abstreitet? Es gibt – mit den Augen der Linken betrachtet – immer noch gute und schlechte Henker. Die sozialistischen Abgeordneten des Europäischen Parlamentes haben Tibet die Anerkennung als »besetztes Land« verweigert.

Die Weigerung der Linken, die kommunistischen Völkermorde nicht wie diejenigen der Nazis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen, ist weder vom geschichtswissenschaftlichen noch vom juristischen Standpunkt aus gerechtfertigt. Francois de Menthon, der französische Generalstaatsanwalt bei den Nürnberger Prozessen, unterstrich die ideologische Motivation der NS-Verbrechen: »Wir haben es hier nicht mit einer Zufalls- oder Gelegenheitskriminalität zu tun, sondern mit einer direkt und zwingend von einer Doktrin abgeleiteten, systematischen Kriminalität.«


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Diese Beschreibung der braunen Kriminalität paßt ebenfalls haargenau auf die rote Kriminalität. Auch das 1992 verabschiedete neue französische Strafgesetzbuch stimmt völlig damit überein. Denn es bezeichnet als Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch »das Verschleppen, das Versklaven, die systematisch und in massiver Form durchgeführten Hinrichtungen ohne ordentliches Gerichtsverfahren, das Entführen von Personen, die daraufhin spurlos verschwinden, die Folter und unmenschlichen Handlungen, die aus politischen, philosophischen, rassischen oder religiösen Motiven heraus und gezielt gegen bestimmte Gruppen der Zivilbevölkerung durchgeführt werden«. Die ganze Geschichte des Kommunismus ist geprägt von sozialen oder ethnischen Gruppen, die nicht für das, was sie tun, sondern für das, was sie sind, massakriert und systematisch verschleppt werden.

Die 20 Millionen Toten (ohne die Kriegstoten) in der UdSSR, die 65 Millionen in China (Mao steht als größter Menschen­schlächter aller Zeiten unangefochten auf Platz eins), die zwei Millionen Toten in Kambodscha (bei 7,8 Millionen Einwohnern) oder Nordkorea gehen alle auf eine planmäßige Ausrottungspolitik zurück. 

Solange die Linke nicht zugibt, daß ihre Kriminalität nicht die Folge einer unwahrscheinlichen Verkettung zufälliger Verfehlungen ist, wird es keine seriöse Analyse des Kommunismus geben. Der im Juli diesen Jahres überraschend verstorbene Francois Furet sollte ursprünglich die Einführung zum Schwarzbuch schreiben. Im Zusammenhang mit dem Terror von 1793/94 bezeichnete Furet es als die erbärmlichste aller Ausreden, wenn ein Historiker etwas durch die Umstände zu erklären versucht. Der wahre Grund – der einzige, der wirklich alle Tatsachen berücksichtigt, es sei denn, man geht davon aus, daß alles auf Zufällen basiert –, liegt in der Logik eines Systems, das aus ideologischen Motiven die physische Vernichtung vorschreibt.

Es hat also durchaus seine Berechtigung, wenn man dem Kommunismus einen zur Kriminalität hin tendierenden Wesenszug zuschreibt. Denn allzuoft hat er unter den unterschiedlichsten Umständen und bis zu seinen entferntesten Metastasen hin, auf allen Breitengraden und in Gesellschaften mit den unterschiedlichsten Kulturen völlig konforme Kopien erzeugt: in Kuba, in Äthiopien, in Angola, in Afghanistan, in Mozambique, in Laos und in Kambodscha.


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Bei Courtois' – vorsichtiger – Schätzung von 85 Millionen Toten handelt es sich sehr wohl um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die »planmäßig« und »im Namen eines eine Politik ideologischer Hegemonie betreibenden Staates« durchgeführt werden und »nationale, ethnische, rassische, religiöse oder durch jedes andere willkürlich gewählte Kriterium gekennzeichnete Gruppen ganz oder teilweise vernichten wollen« (französisches Strafgesetzbuch).

Hitler hat nicht nur rassistische Verbrechen begangen. Er hat auch — ohne nach der Rasse oder Religion zu unterscheiden — Völker, die sich gegen die Besatzung auflehnten, oder sich passiv verhaltende Geiseln getötet, beispielsweise in Oradour. Außerdem hat er wie Stalin – aber bereits vor Stalin – in der Nacht der langen Messer seine eigenen Mitstreiter umbringen lassen. Umgekehrt zählen zu den kommunistischen Verbrechen auch rassistische Straftaten, die gegen ganze Volksgruppen gerichtet waren: gegen die Polen, Balten, Tataren, Moldawier, Ukrainer und Tschetschenen, die entweder auf der Stelle massakriert oder nach Sibirien verschleppt wurden, wo sie verhungerten oder erfroren. Die Politik, die China seit seiner Invasion von 1950 in Tibet betreibt, kann man nur als einen mit Methode durchgeführten Völkermord bezeichnen.

Die sowjetische GPU, die Vorgängerin des KGB, arbeitete hingegen mit Quoten. Jede Region sollte einen bestimmten Prozentsatz der Angehörigen einer sozialen Schicht oder ideologischen beziehungsweise ethnischen Gruppe verhaften, verschleppen oder erschießen. Nicht das Individuum oder seine eventuelle persönliche Schuld (in bezug auf was eigentlich?), sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe war entscheidend.

Die Leichenberge inspirierten Louis Aragon 1931 zu einem Gedicht, in dem er von der Gründung einer französischen GPU träumte:

»Ich singe von der GPU, die sich im Augenblick in Frankreich formiert.
Ich singe von der GPU, die Frankreich braucht. Fordert eine GPU. 
Ihr braucht eine GPU. Es lebe die GPU, das dialektische Symbol des Heldentums.«

Dieser ekelerregende Auswurf macht deutlich, wie selbst Trötentöne der billigsten Machart als Mordaufruf dienen können. 


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Das soeben und somit genau im richtigen Moment erschienene Le manuel du goulag (dt: Das Gulag-Handbuch) von Jacques Rossi, der selbst 19 Jahre lang »Ferienfreuden« dieser Art genießen durfte, erklärt eindeutig die untrennbare Verbindung zwischen Gulag und Kommunismus. Denn »der Gulag diente dem Sowjetregime als Geheimlabor, in dem es eine ideale – nämlich durch gegenseitige Überwachung und Einheitsdenken charakterisierte – Gesellschaft schaffen wollte«.

Im übrigen ist der Gulag für ein Regierungssystem, das mit seinen schwachsinnigen Wirtschaftstheorien von vorneherein zum Bankrott verdammt ist, eine Möglichkeit, sich durch die Versklavung von Millionen von Menschen kostenlose Arbeitskräfte zu verschaffen. Wie bereits erwähnt, ist die Verschleppung mit dem Ziel der Versklavung im juristischen Sinne ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deshalb – so argumentiert Rossi – »nützt es wenig, danach zu fragen, welches von den beiden totalitären Systemen unseres Jahrhunderts das barbarischere gewesen ist. Denn beide haben ein Einheitsdenken verordnet und Berge von Leichen hinterlassen«.

Dagegen argumentiert die Linke immer wieder mit dem gleichen Klischee: Der Nationalsozialismus verkündete von Anfang an ein Vernichtungsprogramm, der Kommunismus hingegen verstand sich grundsätzlich als eine Befreiungsdoktrin. Dies kann man ganz und gar nicht als Entschuldigung hinnehmen. Im Gegenteil! Der Nationalsozialismus kann wenigstens für sich in Anspruch nehmen, mit offenen Karten gespielt zu haben. Der Kommunismus dagegen hat im Namen der Gerechtigkeit und Freiheit Milliarden von Menschen betrogen, denn seine Taten waren stets das pure Gegenteil. Natürlich hat man uns in der »Bouillon de culture«-Sendung auch den längst abgedroschenen Gemeinplatz präsentiert, daß in der Vernichtung von Menschen nicht das Wesen, sondern die »Perversion« des Kommunismus zum Ausdruck käme. Wirklich? Was ist das also für ein wunderbares System, daß nirgendwo etwas anderes als seine Perversion in die Tat umgesetzt hat? Und wo - um alles in der Welt - haben wir die Praxis, meine Damen und Herren Marxisten?

Das Neue und Hochinteressante an der von Stephane Courtois und seinen Mitautoren realisierten historischen Studie ist die Tatsache, daß uns zum erstenmal ein vollständiges internationales Panorama des Kommunismus – und zwar in seinem gesamten geographischen und chronologischen Ausmaß – in einem einzigen Band präsentiert wird.

Bei den Elementen dieser Gesamtstudie handelt es sich nicht um Meinungen, sondern um Tatsachen, und diejenigen, die diese Katastrophe des 20. Jahr­hunderts hartnäckig verteidigen, werden uns wohl auf einleuchtende Weise erklären müssen, warum ihrer Meinung nach die Wahrheit über den Kommunismus nicht durch diese Tatsachen zum Ausdruck kam, sondern durch eine Geschichte, die niemals existiert hat. Weil sie jedoch in ihrem tiefen Inneren genau wissen, daß sie dies nie erklären können, sind sie voller Groll gegen dieses Buch, denn mit seinem Erscheinen ist jeder Erklärungsversuch für immer hinfällig geworden.

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Quelle: Le Point, 15. November 1997

 

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