Martin Miller

Das wahre "Drama
des begabten Kindes"

Die Tragödie Alice Millers

 

 

2013 im Kreuz Verlag, Freiburg

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2013   176 Seiten  *1950

DNB.Autor  

Bing.Buch   Goog.Buch  


detopia

M.htm    Psychobuch 

Alice Miller   2010-Buch


Florian.Havemann    Niklas.Frank  

Wawerzinek   Ines.Geipel    Wilfried Wieck 

Audio   2021  dlf  dokumentarfilm-whos-afraid-of-alice-miller-die-zwei 

Audio  2022  Gespräch 33 min Luftleerer Raum  =  dlf  gespuer-entwickelt-traumen-aufzuarbeiten

detopia-2022

Das Buch ist jetzt fast zehn Jahre alt und wird nun allgemein bekannt; es kommen noch neue Leseberichte auf amazon hinzu.

Ich finde solche "millermäßigen" Auseinandersetzungen von sensiblen Erwachsenen mit ihren Eltern sehr wichtig; und wohl insbesondere auch mit "der Mutter" - und zwar jetzt unabhängig von der konkreten Mutter Alicija. (Es gibt auch ähnliche Beispiele, wo "Die Mutter" eine beliebte Kinderärztin ist und allseits für ihre Einfühlsamkeit bei den kleine Patienten gelobt wird und wo die eigene Tochter schon als Kind schockiert war, dass die Mutter keinerlei Interesse an ihr hatte, und sich wünschte, krank zu werden.)

Wenn wir die Gesellschaft so tief verstehen wollen, um an die Ursachen des Niedergang der Zivilisation heranzukommen, dann brauchen wir noch eine Vielzahl solcher psychologisch-biografischen Aufarbeitungen.

Denn Martin Miller ist zwar ein guter Mensch geworden, doch andere Menschen finden ihren (psychologisch-biografischen) Ausweg nur im Macht- und Geldstreben.

Wir müssen also noch viel tiefer erkennen, wie das Leid und die Entbehrungen (auch) der (normalen) Kindheit unser Welt- und Menschenbild dauerhaft prägen, ja: uns gravieren wie eine Münze.

(kurz gesagt: wir werden alle geldsüchtige Spießer)

Nochmal: Es gibt ja so viele autobiografische Memoiren. Das ist richtig. Ich will keine davon "verbrennen". Aber sie bringen uns noch nicht "auf den Punkt".

Martin Miller hat einen Neuanfang gemacht, bei der Suche, wie die Kindheit unsere Ideale prägt, und zwar für das ganze Leben.

 

Audio von Ulfried Geuter, 2013, 8 min

Schattenseiten

deutschlandfunkkultur.de/schattenseiten-einer-gefeierten-104.html

Die Erziehungskritikerin Alice Miller wurde mit ihren Büchern über die Dramen der Kindheit weltberühmt. Dem eigenen Sohn gegenüber war sie jedoch eine abweisende Mutter. Martin Miller führt dies auf ihr Holocaust-Trauma zurück.

Doch statt mit ihr abzurechnen, erzählt er ihr Leben nun als erhellende und berührende Tragödie.

Anfang der 1980er-Jahre wühlten ihre Bücher eine ganze Generation auf: <Das Drama des begabten Kindes>, <Am Anfang war Erziehung>, <Du sollst nicht merken>. Kinder, so die Botschaft von Alice Miller, werden von ihren Eltern benutzt, drangsaliert, misshandelt. Psychotherapie kann eine Hilfe sein, um in Auseinander­setzung mit den Schmerzen der Kindheit sein "wahres Selbst" zu finden. 

Als Miller 1994 ihr erstes Buch <Das Drama des begabten Kindes> mit einer neuen Einleitung versah, konnte man spüren, dass etwas an der Art ihrer Botschaft nicht stimmte. Sie schrieb missionarisch, ihre Sprache wurde gewaltsam, und sie stellte die Kindheit schlechthin als "grausames Gefängnis" dar. Sie teilte die Welt in schwarz und weiß und verbannte den Zweifel.

Wenn wir jetzt das Buch von Martin Miller lesen, verstehen wir, warum sie es tat. Seine Mutter sperrte ihr eigenes Leid in ihrer Seele ein und verbarg zeitlebens ihre jüdische Herkunft.

Als Alicija Englard wurde sie 1923 im polnischen Piotrków in einer orthodoxen jüdischen Familie geboren. 1939 kam sie mit der Familie in ein Getto. Alicija konnte sich, ihre Mutter und ihre Schwester retten. Der Vater starb im Getto, die Großeltern wurden vergast. Alicija überlebte Krieg und NS-Herrschaft mit falschen Papieren in Warschau, immer in Angst vor einem Erpresser. 

"Die extreme Ausbildung eines falschen Selbst rettete meiner Mutter während des Krieges das Leben", schreibt der Sohn.

An diese Erfahrung wollte sie nie erinnert werden. Zu Hause wurde nie darüber gesprochen. Der Sohn erfuhr ihre Geschichte erst, als er nach dem Tod seiner Mutter bei überlebenden Verwandten recherchierte.

Aber er erfuhr die Nachwirkungen am eigenen Leib: Alice Miller gab ihn in seinen ersten sechs Lebensmonaten weg. Mit sechs Jahren kam er für zwei Jahre in ein Heim. Der Vater, mit der Mutter nach dem Krieg aus Polen in die Schweiz gekommen, war gewalttätig. Die Mutter schützte ihr Kind nicht. 

Als Martin erwachsen war, meldete sie ihn ohne sein Wissen zu einer Therapie an und verfolgte ihn in Briefen mit Vorwürfen, wie gestört er sei. Martin Miller druckt diese Briefe ab. Heute vermutet er, dass seine Mutter deswegen so hasserfüllt auf ihn losging, als er sich von ihr nicht "retten lassen" wollte, weil sie ihren Vater vor dem Tod im Getto nicht hatte retten können. 

Als die Mutter alt war, wurde sie von Schuldgefühlen geplagt. Aber sie und ihr Sohn fanden nicht mehr zueinander.

Das gelingt Martin Miller erst nach ihrem Tod mit diesem Buch. Er erzählt die Geschichte seiner Mutter als Tragödie, ohne mit ihr abzurechnen und ohne sie zu glorifizieren. Und er bewahrt die Wertschätzung für ihr Werk. So hat er ein berührendes und erhellendes Buch geschrieben, voller Verständnis für zwei verwundete Seelen: ihre und seine. # 

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Audio 2   

 

Interview, 2013, 11 min, mp3

Von Liane von Billerbeck (2013)

 

deutschlandfunkkultur.de/es-war-nicht-schoen-der-sohn-von-alice-miller-zu-sein-100.html

 

Die Psychotherapeutin Alice Miller gilt als eine der Vorreiterinnen im Kampf um die Würde des Kindes gegen Misshandlungen und sexualisierte Gewalt.

Ihre Bücher, insbesondere "Das Drama des begabten Kindes" und "Die Suche nach dem wahren Selbst" wurden Weltbestseller und gingen hart ins Gericht mit der traditionellen Pädagogik. Alice Miller hat die heutige Idee von Erziehung beeinflusst und geprägt. Einer breiten Öffentlichkeit viel weniger bekannt jedoch ist ihre eigene Biografie. 1923 in Polen geboren, in eine orthodoxe jüdische Familie, die Familie wurde von den Nazis verfolgt, der Vater ermordet, während Miller versteckt überlebte. 

Dennoch war von der Traumatisierung als Verfolgte und Überlebende Jüdin nach Millers Neuanfang in der Schweiz und nach ihrem Ruhm keine Rede. Dass dieses Trauma dennoch weiter wirkte und ihrem eigenen Kind eine alles andere als glückliche Kindheit beschert hat, das erzählt jetzt der Sohn Martin Miller in seinem gerade erschienenen Buch <Das wahre Drama des begabten Kindes> heißt es, <Die Tragödie Alice Millers>. 

 

"Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein"

 

Martin Miller ist jetzt bei uns im Studio, herzlich willkommen!

Miller: Danke, dass ich kommen konnte!

Billerbeck: "Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein, im Gegenteil, und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin", habe ich da gelesen. Wenn der Sohn dieser großen Kindheitsforscherin ein Buch schreibt, da erwartet oder befürchtet man eine Abrechnung mit dieser vor drei Jahren gestorbenen Mutter. Vom Ton her ist das aber ein fast nüchternes Buch. Wie schwer ist Ihnen das gefallen?

Miller: Als ich das begonnen habe vom Konzept her, habe ich natürlich schon diese Rachegefühle, und die sind ganz spontan hochgekommen, hab ich diese Rachegefühle gehabt. Und ich habe dann zufälligerweise die Sendung der Kohl-Brüder mit Markus Lanz gesehen, und da bin ich erschrocken, als ich gesehen habe, wie die über ihren Vater und wie sie da in dieser Situation mit der Aufarbeitung ihres Erlebens gegenüber ihrem Vater umgegangen sind. Und ich habe mir gedacht, nein, das darf ich so nicht machen.

Und ich habe mir da, weil ich ja auch professionell als Therapeut arbeite und dank meiner Lektorin, die mich gut geführt hat, würde ich heute sagen: Wenn man solche Rachegefühle hat und ein Abrechnungsbuch schreiben will, dann ist man immer noch in dieser kindlichen, wütenden Position steckengeblieben.

Und auf der anderen Seite der Skala geht es ja um die Lobhudelei. Das könnte nämlich auch passieren, nicht nur ein böses Buch. Sondern man könnte eigentlich seine Eltern nur gut sehen, idealisieren. Das sind beides eigentlich sehr kindliche, infantile Verhaltensmuster.

Und mir ist es gelungen, auf eine erwachsene Art, auf Augenhöhe mit meiner Mutter, dieses Buch zu schreiben. Und so konnte ich auch verschiedene Perspektiven einbringen, sei das als Therapeut, sei das als Fachmann, sei das auch als Sohn, der etwas erlebt hat, aber der Erwachsene vertritt das Kind. Das ist eigentlich auch ein Therapieziel.

Billerbeck: Nun müsste man ja schildern, was da eigentlich geschehen ist. 1950 wird ein Kind geboren in Zürich, es nimmt die mütterliche Brust nicht, es wird weggegeben zu einer Bekannten. Als der Junge sechs ist, wird eine Schwester geboren mit Down-Syndrom. Er, der Sohn, der Bettnässer kommt ins Heim, wo die Eltern ihn nie besuchen, nicht mal am ersten Schultag. Mit acht kommt er zurück in die Familie, fühlt sich als Ausländer, die Eltern sprechen miteinander polnisch, und mit 17 bittet er darum, ins Internat zu kommen, das katholisch und hart ist, aber immer noch besser als die Familienhölle. Das könnte eine Fallgeschichte aus der Praxis der berühmten Psychologin Alice Miller sein, das war aber Ihr Leben, Herr Miller. Da müssen Sie sie doch gehasst haben.

Miller: Ich denke, wenn man von Hassgefühlen spricht, muss man sich immer klar bewusst sein, dass solche Gefühle jemanden auffressen. Und ich denke, das Gegenteil von Hass ist ja nicht Verzeihen, aber ich denke, wenn man im Prinzip die Stärke hat, sich mit den Realitäten, so wie sie sind, auseinanderzusetzen und die als Realität zu akzeptieren, kann man auch verstehen. Und ich denke, indem ich diese Biografie auch aus der Perspektive meiner Mutter verstanden habe, konnte ich mich distanzieren und ich konnte mich lösen.

Also, ich würde sagen, das Allerwichtigste ist, wenn man nicht in den Hassgefühlen stecken bleiben will, die unwahrscheinlich selbstdestruktiv sind, muss man in der Lage sein, sich zu lösen. Also das heißt, ich in meiner Erwachsenenfunktion und ich in meinem erwachsenen Selbst­verständnis bin eigentlich der heutige liebevolle Ansprechpartner für das, was in meinem Inneren psychisch passiert. Und ich denke, dann habe ich auch diese Hassgefühle nicht.

Und im Übrigen: Ich habe eigentlich nie Hassgefühle gehabt meinen Eltern gegenüber, auch wenn die noch so schlimm waren. Aber ich bin stinkesauer geworden oder wütend, aber konnte diese Wut auch nicht artikulieren. Diese Verletzungen, die tun immer noch weh, aber man geht heute anders damit um.

Billerbeck: In Ihrem Buch habe ich gelesen, dass Sie wussten, dass Ihre Mutter bis zu ihrem Tode peinlichst darauf geachtet hat, dass nichts Persönliches von ihr an die Öffentlichkeit dringt. Aber wenn man die Biografie Ihrer Mutter liest, und die kommt ja vor in Ihrem Buch, dann hat man doch das Gefühl, diese Alice Miller war ein Opfer, eine Überlebende der Verfolgung. Ihr Vater ist von den Nazis ermordet worden, viele Bekannte, Millionen Juden - was um alles in der Welt hat sie gefürchtet?

Miller: Man muss das von einer ganz anderen Seite her betrachten. Jemand, der in einer ganz bestimmten Art und Weise, ich will mal sagen, eine Strategie entwickelt hatte, zu überleben, der kann, wenn das vorüber ist, nicht einfach so aussteigen. Meine Mutter konnte nicht ihr Trauma verarbeiten. Heute haben wir Möglichkeiten, aber auch die werden noch viel zu wenig genutzt.

Und man muss es so verstehen, dass Menschen so in diesem Muster drinstecken und je mehr sie dann auch wieder im normalen Leben leben, sämtliche Impulse, die von der Außenwelt kommen, werden eigentlich immer mehr in dieses bekannte Muster eingewoben, und es wird eigentlich immer schlimmer. Also das heißt, meine Mutter konnte nie mehr später, bis zu ihrem Tod, aus diesem Muster aussteigen. Und das hat natürlich im Umgang mit mir oder mit anderen Menschen brutalste und schlimmste Konsequenzen.

Und solche Menschen werden dann auch mit der Zeit destruktiv. Und ich hab da schon eine ganze Portion davon mitbekommen. Aber ich denke, sie hat sicher ab und zu ein schlechtes Gewissen gehabt, aber dieses Verhaltensmuster war so stark, das heißt auch, die damit verbundenen Ängste, und das war eigentlich die Leitschnur, nach der sie gelebt hat.

 

Billerbeck: Nun ist ja inzwischen Einiges erforscht, man weiß, welche Rolle verdrängte Traumata aus Verfolgung und Krieg spielen, und zwar auch für die nächste und sogar übernächste Generation, also die Kinder und Enkel. Ihre Mutter wusste ja auch um die Wirkung von Verdrängung solcher Traumata. Wieso hat sie das für sich selbst nicht erkennen können? Sie war ja eine Fachfrau.

Miller: Sie wissen ja, dass Theorie und Praxis oft nicht miteinander kompatibel sind. Verstehen Sie, meine Mutter hatte geistig eine gewisse Freiheit, konnte darüber sprechen, aber durch diese Abspaltung, das war für sie so normal, dass sie in diesem Schema drin lebte.

Es gab viele Möglichkeiten, wo sie auch dieses Verhalten oder dieses Leben, obwohl das mit früher was zu tun hatte, so für sie eigentlich normal war, dass es ihr nie aufgefallen ist, dass sie ein Trauma verdrängen würde. Und gegen Ende des Lebens, als dieses Trauma unter Umständen aktiviert wurde wie immer wieder, aber wo sie es hätte merken können, hat sie natürlich irrsinnig stark oder sehr stark ihre eigene Familie ins Visier genommen oder mich oder meinen Vater, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun hatte. Der war schon '99 gestorben, und immer noch hat er nachgewirkt.

 

Billerbeck: Es war ja so, dass einmal, als Sie selbst in eine Krise gerieten, Sie, der Sohn, und sich psychologische Hilfe holen wollten, da hat ihre Mutter eine Art psychologischen Guru empfohlen, Konrad Stettbacher, bei einer Schülerin waren Sie dann in Therapie, und die Tonband­aufzeichnungen, die dabei angefertigt wurden, die gingen dann an Stettbacher, und der besprach sie mit Ihrer Mutter. Das ist doch der doppelte Verrat. Da hat die Mutter verraten und die Therapeutin - konnten Sie damit leben?

Miller: Nein. Also ich habe im Nachhinein mich dann sehr intensiv mit Sekten und mit Sektenopfern beschäftigt. Und ich muss sagen, ich betrachte mich da eindeutig als Opfer in einer sektenähnlichen Organisation. Und ich verstehe viele Leute, jeder sagt, aber das ist doch eigentlich logisch, da kannst du doch aussteigen, da kannst du doch machen, was du willst - man ist dermaßen hilflos, man ist dermaßen gefangen, man hat keine Chance, da herauszukommen. Ich weiß selber nicht, wie es mir am Schluss gelungen ist, mich da noch durchzusetzen.

Und meine Mutter hat sich eigentlich nie echt entschuldigt, sie hat sich nie erkundigt, wie ist es dir eigentlich dort ergangen. Sie hat im Prinzip sich selber wieder den Kopf aus der Schlinge gezogen und ist wieder zur Tagesordnung übergegangen. 

Ich selber habe Jahre gebraucht, bis ich dieses Verfolgungstrauma verarbeitet habe. Und ich muss sagen, also, ich verstehe heute viele Menschen, die Opfer von Sekten werden. Man wird das manchmal, ohne dass man es merkt. Und man kann auch nichts dagegen machen.

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Doppeltes Trauma

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Von Stefanie Oswalt · 18.10.2013

 

Wir hatten Verwandte in Zürich, Ala, die Lieblingstante meiner Mutter, ihren Mann Bunio und ihre Tochter Irenka. In ihrer Wohnung gab es diese bereits erwähnten Gegenstände, die mich als Kind magisch anzogen. Sie standen auf der Anrichte: Holzfiguren, die orthodoxe jüdische Männer darstellten, und ein Chanukkaleuchter. Doch dass meine Verwandtschaft mütterlicherseits Juden waren und was das für meine Familie bedeutete – das war kein Thema im Hause Miller.

Martin Miller, so erfährt der Leser am Anfang seines Buchs, wusste zwar von den jüdischen Wurzeln seiner Mutter. Aber es blieb ein diffuses Wissen, das Alice Miller vor der Öffentlichkeit völlig zu verbergen versuchte: Weder ihre eigene Homepage noch die ihres Verlages geben Aufschluss über ihre Kindheit und ihr Überleben im Krieg. Warum?

Martin Miller: „Einerseits hat die Mutter mir das, aus welchen Gründen auch immer, verwehrt, sie wollte nicht, dass ich da teilnehme. Sie hat mir zwar offiziell immer gesagt: ‚Ich will nicht, weil ich Angst habe, dass wir wieder abgeholt werden.‘ Aber ich denke auch, wenn sie mich miteinbezogen hätte, hätte sie ja auch vieles von ihrem Trauma aufarbeiten müssen, und das war nicht drin.“

Zwei geradezu typische Schicksale schildert der Sohn in seinem Buch: Das einer schwer traumatisierten Überlebenden der Shoah und das eines Angehörigen der Second Generation, der dieses Trauma unbewusst weiterträgt und daran beinahe zerbricht. Im Buch schreibt er:

Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebevolle Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.

Jahrelang leidet der Sohn an der unausgeglichenen Beziehung zur Mutter, die sich zwischen Abweisung und erdrückender Nähe bewegt. Miller entwickelt eine schwere Essstörung und beschreibt im Buch, wie er im Konflikt mit der Mutter im bereits fortgeschrittenen Erwachsenenalter an den Rand des Suizids gerät. Besonders tragisch: Obwohl er selbst Therapeut ist und die Problematik der Zweiten Generation seit den 80er-Jahren Eingang in den psychotherapeutischen Diskurs gefunden hat, findet er nicht den Schlüssel zu seinem Leiden.

Miller: „Es ist sehr schwer, Außenstehenden klar zu machen, dass solche Schweigemuster eine unwahrscheinliche Kraft haben, eine unwahrscheinlich unterdrückende Energie darstellen....Erst wenn man das wirklich verstanden hat, dann hat man verstanden, was psychisches Leiden bedeutet.“

 

„Im letzten Moment eine Beziehung zum Judentum gefunden“

Erst nach dem Tod Alice Millers im April 2010 beginnt er, – übrigens ganz im Sinne ihres theoretischen Ansatzes – ihrer beider Leben zu erforschen. Mit Hilfe der Erzählungen von Verwandten erschließt er sich die Kindheitswelt der jungen Alicija Englard: Ihre Rebellion gegen die strenge und von ihr als scheinheilig empfundenen Regeln und Gesetze der jüdischen Orthodoxie. Miller recherchiert das Überleben seiner Mutter 1939 bis 1945 im Warschauer Untergrund – unter neuem Namen, stets verfolgt von einem Nazi-Spitzel und in anhaltender Todesgefahr. Durch diese Arbeit, sagt Miller, hat er sich eine eigene Identität erschrieben:

Miller: „Was für mich eigentlich der größte Gewinn ist, dass ich eigentlich endlich sagen kann: ‚Ich gehöre dazu.‘ Also, indem ich diese zerstörte Welt meiner Mutter wiederentdecken konnte, im letzten Moment, habe ich zum Judentum eine emotionale Beziehung bekommen. Ich bin zum ersten Mal stolz auf das, woher ich komme.“

 



Miller, der katholisch erzogen wurde und als Jugendlicher sogar ein katholisches Internat besuchte, genießt das Interesse der jüdischen Gemeinschaft, die ihm bislang den Zugang verwehrte. Etwa als er vor 25 Jahren versuchte, der israelitischen Kultusgemeinde in Zürich beizutreten.

„Das war für mich ein Horror-Erlebnis. Der Typ, das war irgendso ein Wiener Rabbi, ein furchtbar unsympathischer, blöder Kerl, der hat überhaupt nicht verstanden, was los ist. Also ich kann das nur interpretieren als eine furchtbare Abwehr. Der wollte mit der ganzen Problematik gar nichts zu tun haben. Holocaust und das alles hat den überhaupt nicht interessiert. Und ich habe gesagt: ‚Ich möchte daran Anteil haben und meine Tante kommt mit, um zu bezeugen, dass ich eigentlich jüdisch bin.‘ Da sagt er: ‚Das funktioniert so nicht, sind Sie beschnitten, Herr Miller?‘“

Noch heute ist zu spüren, wie sehr ihn diese Ablehnung gekränkt hat. Mit einer solchen Erfahrung sieht er sich nicht als Einzelfall und warnt.

„Es ist gar nicht im Interesse des jüdischen Volkes, wenn wir uns nicht überlegen: Wie kann man diese Leute wieder integrieren?“

Mag sein, sagt Miller, dass er als Sohn einer Überlebenden, die zudem den eigenen Wurzeln ablehnend gegenüberstand, nicht in der jüdischen Tradition aufgewachsen sei. Aber seine Identität sei ja durch das jüdische Schicksal entscheidend geprägt:

„Also, meine Identität ist, dass ich eine Schlauheit und eine geistige Beweglichkeit entwickelt habe, aus der Überlebensgeschichte der Juden. Ich wusste, irgendwie muss ich eine Geschichte in mir haben, auch wenn meine Mutter überlebt hat und mit allen Begleiterscheinungen. Letzten Endes hat sie mir eine Überlebensstrategie vermittelt, indem sie sagte, du musst deinen Verstand, deine Intelligenz, deine Psychologie, deine Chuzpe entwickeln, um zu überleben. Und das hat mir irgendwie Kraft gegeben. Wenn ich jetzt das Buch so sehe, sage ich, das ist ein schriftliches Zeugnis, das ist für mich so ein Feedback: Du hast es geschafft.“

Rein äußerlich, sagt Miller, habe sich für ihn nicht viel verändert. Religiös oder fromm könne er mit seinen 63 Jahren nicht mehr werden. Aber emotional sei er nun endlich nach Hause gekommen.

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Der Sohn diagnostiziert Alice Miller

von Tilmann Moser

 wikipedia  Tilmann_Moser      tilmannmoser.de 

Gleich zu Beginn der durchaus noblen Abrechnung des Psychotherapeuten und Sohnes Martin Miller mit seiner Mutter - einige Jahre nach ihrem Tod - steht, datiert aus den langen Jahren ihres Zerwürfnisses, ein wuchtiger Brief der Mutter an ihn: Er ist getränkt von Bitterkeit und Anklage gegen ihn, viel stärker als von Abbitte, zu der sie erst viel später fähig wird.

Aber sie beklagt ihre eigene Beschädigung durch ihre Mutter und spricht damit eines ihrer zentralen Themen an: "Parentifizierung", das heißt den Missbrauch der Kinder für deren Sorge um eigene elterliche Elend: "Warum brauchte ich 60 Jahre, um zu sehen, wie grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch, durch und durch verlogen und lieblos meine Mutter war? Dass sie die Liebe und das Leben in mir zerstörte ... Ich musste auch sehr früh lernen, zu helfen und verstehen zu wollen, wo nur Abscheu die einige adäquate Reaktion gewesen wäre ..."

Während des ihr noch in ihrem Weltbestseller "Das Drama des begabten Kindes" noch um einfühlendes Verstehen des kindlichen Gefühls- und Identitäsverlustes unter dem Druck elterlicher Maximen ging, verschärft sich später der Ton gegen die Eltern durch eine strikte Mahnung an die Patienten zur Anklage, zum Ausdrücken des Hasses gegen diese und ihr Verbot des Fühlens. Sie selbst fühlt sich um ihre Gefühle betrogen, gezwungen sie zu verheimlichen oder zu verdrängen oder nicht mehr wahrzunehmen. Und diese Anklage und Verachtung schleudert die Analytikerin später der Psychoanalyse entgegen, in deren Fortbildungs- und Lehrinstitution sie sich zunächst lange heimatlich geborgen fühlte: sie indoktriniere und entmündige Menschen und predige ein feiges Versöhnlertum mit den Eltern, statt auf der Wahrheit des Hasses zu bestehen.

Sie gilt ihr unbarmherzig als lebensfeindliche Sekte, die natürlich ebenso unerbittlich zurückschlug mit der auf Vernichtung angelegten Anklage der Häresie. Alice Miller überlebte als Jüdin in Warschau versteckt und mit falscher Identität den Holocaust, aber sie versenkt ihr Erleben in der Gruft totalen Schweigens und dem Versuch, diese entsetzliche Phase zu entwirklichen. Und so lieb sie auch ihrem Sohn als unwirklich und therapeutisch unerlöst, aber unter dem für ihn zerstörerischen Zwang, das Unverarbeitete, die Kälte, die Grausamkeit und die Identitätsverwirrung an ihn weiterzugeben. Er wirft ihr sogar Missbrauch vor, weil sie ihn nicht vor dem Sadismus des Vaters geschützt, mit dem sie in fast lebenslänglicher bittere Kampfehe lebte.

Sie lebte so "gespalten", mit einer kämpferischen und auch rachsüchigen Seite, und dem eisern verborgenen frühen Elend und der notwendigen Verstellung, um die SS-Razzien zu überleben. Für ihre jahrelangen Todesängst gab es Grud: sie fühlte sich einem antisemitischen Polen ausgeliefert, der sie um Geld und Schmuck erpresste durch die Drohung des Verrats. All dies kehrt beschwiegen und unvorbereitet wieder, als sie im Alter paranoid wurde und sich für ihre letzten zwanzig Lebensjahre in Frankreich menschenscheu geworden verbarg und nur noch über das Internet mit der bösen Welt der Kritiker und dem Heer der verständnissuchenden Patienten aus aller Welt verkehrte, denen sie mit Ferndiagnosen zu helfen versuchte.

Sie war erfüllt von ihrer Mission, eine neue und heilsamere Form der Psychotherapie zu kreieren, wurde aufbrausend und böse, wenn sie sich kritisiert fühlte, zürnte dem Sohn, als er ihr, als sie an Krebs erkrankt war, keine Sterbehilfe leisten wollte, und ließ sich in Bitterkeit verbrennen und die Asche in ihren geliebten Badesee verstreuen. "Auch ohne meine Hilfe organisierte sie sich ihren Tod." Der Sohn, selbst Therapeut, versuchte, noch immer bewundernd, nach ihren strengen Maximen zu therapieren, würdigt ihr theoretischen Verdienst durchaus, distanziert sich aber auch mit der These, dass vieles an ihren Maximen nicht für für seine therapeutische Praxis tauge, weil viel zu doktrinär und auch herrschsüchtig gegenüber den Patienten. Bei ihrem erbitterten Kampf gegen die Psychoanalyse liegt die Deutung nahe, sie habe ihr Leid und ihren Hass auf eine bigotte jüdische Regelverfallenheit und Lebensfeindlichkeit in ihrer Herkunftsfamilie direkt übertragen auf die Psychoanalyse als Institution und Lehrgebäude.

Sie gab relativ frühe ihre Praxis auf, zur Rettung wurde Malen und Schreiben, und dies bis zuletzt in teils erklärenden, teils wütenden Botschaften, die auf tausenden von Bildschirmen aufleuchteten, teils direkt, teils aus dem Fundus ihrer stets erneuerten homepage. Sie polarisiert zunehmend alle Menschen, mit denen sie zu tun hatte, in Anhänger, Verfechter und Bewunderer auf der einen Seite, auf der andere in Verächter und wütende Gegner, und sie soll es sogar genossen haben.

Was Martin Miller geschaffen hat, ist eine mutige literarische und therapeutische Großtat. Sein Buch verdient es auch, als Lehrstück gelesen zu werden für eine der unendlichen Varianten von Verstrickung zwischen zwei Menschen, die sich näher nicht sein könnten.

 

 

 

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 Martin Miller (2013)