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5. Unsere gemeinsame deutsche Schuld

Die vermiedene Macht (60)   Die aufgedrängte Macht (67)   Die neue Schuldverteilung (71)

 

 

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In diesem Buch bin ich bemüht, Strukturen und Mechanismen der Schuldverschiebung aufzuzeigen, die im Moment erneut das gesellschaftliche Leben in Deutschland prägen. Dies zu denunzieren halte ich für dringend erforderlich, weil wir bereits infolge unserer schuldhaften Destruktivität zwei höchst abnorme Gesellschafts­systeme hintereinander ausgestalten konnten und nicht zu erkennen ist, wodurch diese Gefahr gestoppt werden könnte.

Die Ernüchterung brauchte einen Weltkrieg und den Holocaust, sie brauchte die entlarvende Implosion eines Unrechtssystems, die den Menschen die Entschuldigung der späten Erkenntnis schenkte. Die braune und die rote Gesellschafts­deformation sind weder durch Einsicht und Vernunft noch durch den Willen der Menschen aufgegeben worden, sondern durch selbstverschuldete Katastrophen. 

Die eigene Schuld hat die Menschen überrollt und sie zum Innehalten herausgefordert, aber das Schulderleben ist ausgeblieben und findet auch jetzt nicht statt. Und was wir Deutschen nun zu erwarten haben, ist der Zusammenbruch des Wohlstandslebens, einer neuen Form schuldig-destruktiver Lebensart. Das anwachsende soziale Desaster könnte uns zur tieferen Erkenntnis verhelfen, voraus­gesetzt wir wären schuldbereit, oder aber es wird uns anreizen, uns in einen erneuten Abwehrkampf zu stürzen, um die Früchte unserer »Tüchtigkeit« zu verteidigen, um unsere entfremdete Lebensart beizubehalten — dann eben brauchen wir neue Sündenböcke, denen wir unsere Schuld aufbürden können.

Im Moment wollen die Ostdeutschen so leben wie die Westdeutschen, und die Westdeutschen sorgen dafür, daß es um Gottes­willen keine Alternative dazu gibt. Denn jede Alternative würde Veränderung, unangenehme Einsicht und Schulderleben mit sich bringen. Und um das zu vermeiden, erfolgt im großen Stil eine kollektive Flucht in den Westen. Opfer unserer eigenen Schuldabwehr, wollen wir nicht bittere Erkenntnis, sondern geschenkte Erlösung — und wir sind nur die Vorboten eines weltweiten Geschehens. Der schuldig angehäufte Reichtum hat nicht nur berechtigten Protest, Neid und Haß bei den Benach­teiligten geschürt, sondern auch eine illusionäre Hoffnung auf ein besseres Leben, das vor allem äußerlich gesucht wird, weil es zuvor innerlich zerstört wurde.

In Deutschland — wo die Waffen noch schweigen — kann man den tragisch-komischen  und verzweifelten Umstieg von einer kollektiven Fehlhaltung in die andere studieren: von der zähne­knirschenden Unterwerfung zur erschöpfenden Anpassung und Anstrengung, vom verlogenen Kollektivgeist zur überzogenen Individualisierung, vom Bonzen zum Manager, von der lähmenden Enge in die zerstreuende Weite, vom entnervenden Mangel in die lästige Fülle, von der klammernden Notgemeinschaft in die distanzierte Konkurrenz­gesellschaft.

Dies kann so nicht funktionieren und erst recht nicht befriedigen. Das »Wirtschaftswunder« gab es nur einmal, es kann nicht beliebig wiederholt werden, und wollte man es auf Ostdeutschland ausdehnen, mit welchem Recht blieben dann die Polen, die Tschechen und Slowaken, die Ungarn, die Rumänen und Bulgaren, die Russen und ... und ... und ... aus dem vereinten Europa und aus dem Vorrecht des materiellen Überflusses ausgespart? Wir werden unseren Wohlstand auch mit Waffengewalt verteidigen müssen (das Problem deutete sich schon im Streit um die deutsche Beteiligung am Golfkrieg an) oder die schwierige Aufgabe zu lösen haben, unsere Schuld, unsere destruktive Lebensweise in der bisher so erfolgreichen Marktwirtschaft und dem »besten aller Systeme«, der parlamentarischen Demokratie, erkennen zu müssen.

Das letztere ist sehr unwahrscheinlich, widerspricht jeder psychologischen wie geschichtlichen Erfahrung, denn aus Einsicht und Vernunft sind noch nie wichtige Veränderungen vollzogen worden — dazu waren immer Not und Elend, Krise und Krieg notwendig, also lebensbedrohliche Ereignisse, angesichts derer der Blick in die eigenen Untiefen als ultima ratio gewagt werden kann, um dann aber schnell wieder von der eigenen Schuld verwirrt, einer neuen Verheißung zu folgen. Ich glaube nicht, daß wir diesem Schicksal entgehen können, und doch will ich aus meiner Feder wenigstens diese kurze Zeit zwischen roter und neuer Gewalt fließen lassen, was mich erregt und beunruhigt, und was ich mit einem Rest von Hoffnung hinausrufe, bevor das neue große Schweigen verordnet wird.

 

Wir haben eine einzigartige Möglichkeit, die Mechanismen der Schuldverschiebung im großen Stile zu beobachten und teilweise auch zu verstehen. Deutschland ist unfreiwillig zu einem psychologischen Labor geworden. Nur gibt es dabei keinen Experimentator, so daß die Wahrscheinlichkeit für unkontrollierte Prozesse wächst.

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Es begann schon alles überraschend, unerwartet und vor allem in seinen Auswirkungen so von niemanden gewollt. Das sozial­istische Weltlager ist auseinandergebrochen, die nationalen kommunistischen Herrschafts­systeme sind kollabiert. Es gab jedenfalls keine Revolution der Art, daß irgendeine politische Gruppierung gezielt das jeweilige rote Herrschaftssystem hätte abschaffen und sich selbst zur Macht bringen wollen. Die revolutionären Bewegungen im Jahre '89 waren nur die Begleitmusik eines Unterganges, der dadurch lediglich etwas beschleunigt und ausgeschmückt wurde.

Wir müssen zwischen der großen und der kleinen Perspektive unterscheiden. Die kleine Sichtweise ergibt sich aus den subjektiven Erfahrungen der beteiligten »Revolutionäre«, für deren Würde und Selbstwertgefühl der »aufrechte Gang« bei den Demonstrationen, die Aktivierung der gehemmten Energien, das Durchbrechen der auferlegten Verbote und Tabus, das anfängliche Mitgestalten und die unvergeßliche Aufbruch­stimmung den Wert kollektiver Gesundung beanspruchen können. Allerdings reichten Raum und Zeit nicht aus, um daraus einen nennenswerten individuellen Gesundungs- und Reifeprozeß wachsen zu lassen. Die revolutionäre Energie verpuffte mit dem Mauerfall, und je mehr wir in den Westen ausschwärmten und staunten und uns blenden ließen und suchten, was dort nicht zu finden ist, desto mehr verloren wir den erforderlichen Druck für Zusammenhalt und die Mühen der Neugestaltung, die an Schulderkenntnis gebunden gewesen wäre.

Der größere Blickwinkel macht verständlich, daß der unerwartete Zusammenbruch eines Weltreiches, dessen Nutznießer wir nun sind — falls wir überhaupt Nutzen daraus zu gewinnen in der Lage sind —, nur das Symptom einer globalen Krise darstellt, die mit der ökologischen Katastrophe und dem Nord-Süd-Konflikt eine neue Etappe der Geschichte dieser Erde manifestiert. Wir haben das Symptom einer weltweiten Krankheit vor uns, die bisher symptomatisch mit den Mitteln kuriert zu werden versucht wird, mit denen sie wesentlich erst verursacht wurde: mit Geld und Macht. Selbst der herausragende Gorbatschow kann in diesem Zusammenhang nur als ein Symptomträger und nicht als ein Gestalter verstanden werden — er wäre nie zur Macht gelangt, wenn nicht bereits die Kräfte des Sozialismus erschöpft und die illusionäre Hoffnung auf eine Rettung durch »Westflucht« die unterschwellige Bewegungs­richtung vorgezeichnet hätte.

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Zwar sind Michail Gorbatschow, Lech Walesa, Vaclav Havel beein­druckende Persönlichkeiten, denen wir Deutschen nichts Gleichwertiges an die Seite stellen können, wir haben nur die zwielichtigen Gestalten eines Egon Krenz, Hans Modrow, und Lothar de Maiziere aufzubieten. 

Doch der rasche Verschleiß des Charismas auch der herausragenden Männer des Ostens läßt die dunklen Kräfte erahnen, von denen die Geschichte im Augenblick vorangetrieben wird. Es ist keine Zeit der Gestaltung, das Weltgefüge ist in Bewegung geraten, ein Dammbruch kündigt sich an, ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch der gestauten Energien — erst nach der umfassenden Erschütterung wird gezielte Gestaltung (vielleicht) wieder möglich werden.  

Auch der Kanzler der deutschen Einheit und die Gestalter der europäischen Gemeinschaft werden sich nicht in das Jahrtausend­buch der Geschichte eintragen können, dies wird dem neuen »Helden« und künftigen Diktator der anstehenden Verteilungs­kämpfe vorbe­halten bleiben.

Doch zurück zur kleineren Perspektive, die uns den Vorgang der Schuldverschiebung besser näherbringen kann. Das, was als »friedliche Revolution« gefeiert und hochstilisiert wird (ein Vorgang der Schuldabwehr), nenne ich den »Aufstand der Neurose«. In der ersten Phase wurde dem Ruf der Fluchtbewegung: »Wir wollen raus!« das trotzige »Wir bleiben hier!« entgegen­geworfen, und in der zweiten Phase wurde der endlich stolze Aufschrei »Wir sind das Volk!« rasch erstickt von der Formel der begehrlichen Bedürftigkeit »Wir sind ein Volk!«, mit der die Masse der ostdeutschen Bevölkerung bereits ihre Erwartungs­haltung zu erkennen gab.

Die Protestbewegung endete bei der Stasi, um dann jäh abzubrechen und sich im geltungsstrebigen Kleinkrieg untereinander zu erschöpfen oder in die Weite und Vielfalt der unbekannten Möglichkeiten nach der Grenzöffnung zu verlaufen. Den Mauerfall möchte ich nahezu als einen Akt von »Psychokinese« verstehen, er hat alle Beteiligten — die Bonzen und Sicherheitskräfte, die Opposition, die westdeutschen Politiker und die Bevölkerung auf beiden Seiten vor sehr unangenehmen Erkenntnissen geschützt.

So konnten die Hauptschuldigen an den DDR-Verhältnissen sicher sein, weitgehend unbehelligt zu bleiben, bei etwas Glück sogar sich in neuen Geschäften bald wieder zu etablieren — Geld, Immobilien, Herrschafts­wissen und die Verbindungen durch »Seilschaften« sind ihnen weitgehend geblieben, oder sie haben sich dies noch während der Wende zugespielt. Im Rechtsstaat sind sie sicher, ihre wesentliche Schuld wird da nicht verfolgt, sondern eher gewürdigt.

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Nur ein paar greise Sündenböcke werden wegen lächerlicher Delikte beschuldigt — Augenwischerei! Man darf einen Schalck-Golodkowski als Barometer der großdeutschen Wetterlage ansehen: Solange für ihn »schönes Wetter« ist, wird in Deutschland keinem größeren Schurken auch nur ein Haar gekrümmt.

Die Oppositionellen mußten nicht an die Macht, sie konnten ihr angelerntes Abwehrverhalten einfach fortführen und zusätzlich durch Protesthaltung zu Ansehen und Geld kommen. Sie ließen sich schnell vermarkten und als Alibifunktion in das neue Macht­system integrieren.

Und für die Westpolitiker war der Mauerfall eine ganz seltene Gelegenheit, sich vom Hauch der großen Geschichte anwehen zu lassen und die euphorische Situation zur persönlichen Aufwertung und zur Stärkung der jeweiligen Partei zu nutzen. Wie die Autohändler, die Versicherungsmakler und die Kaufhaus­ketten haben sie das ostdeutsche Wählervolk unter sich aufgeteilt, und dabei waren sie sich nicht zu schade, die »Blockflöten« ohne Reinigungsbad mit zu übernehmen. Allein dieser Vorgang macht die Parteien unglaubwürdig: Moral, Gesinnung, gewachsenes politisches Programm spielen offenbar keine Bedeutung mehr in der deutschen Politik. Das ist nur noch peinlich.

 

Ohne die Grenzöffnung hätten wir im Osten die Klärung unserer Verhältnisse vorwiegend allein voranbringen und verantworten müssen. In heftigen Auseinandersetzungen hätten wir über unsere Schuld befinden müssen und wären dabei unweigerlich auf die Personen und Strukturen gestoßen, die unsere Unterwerfung ganz konkret vollzogen haben, wenn wir uns nicht wie zum Beispiel in Jugoslawien in einen Bürgerkrieg geflüchtet hätten.

Wir wären dran gewesen, die an uns begangene Schuld zu erfahren, Eltern, Erzieher und die ganze Skala der Machtausübenden wären vor allem in ihrem destruktiven Einfluß enttarnt worden — wir hätten unsere sinnlosen Schuldgefühle aufgespürt und wären schließlich bei der eigenen Schuld von Mitläufertum und Mittäterschaft, von Feigheit, Passivität und Subalternität, von Selbstzensur, Kniefall und Bückling, peinlichen Zustimmungen, Nach-dem-Munde-Reden und Schweigen, dem völlig überflüssigen Gesabber von Zustimmung und Danksagung und der eigenen Phrasendrescherei, dem Stimmeabgeben und Defilieren und der Einschüchterung und Ängstigung unserer eigenen Kinder angekommen. Denn wir haben unsere Schuld an sie schon längst wieder weitergegeben. Das alles ist offensichtlich für die meisten zuviel gewesen.

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So wurde auf den schnellen Beitritt gesetzt. Auch die »erste demokratische Wahl« auf dem Boden der DDR war eine Wahl der Schuldabwehr. Das für alle überraschende und für viele peinliche Ergebnis mit dem hohen Erfolg der Blockpartei CDU spricht für sich. Und sofort waren die Verwalter der Schuldgefühle zur Stelle, die vor einer Beschimpfung der Wähler warnten und das Ergebnis, wie in einer Demokratie üblich, als Volkes Wille hinzunehmen sei. Schon hier deutete sich das Ende dieser Demokratie an, der Machtinteressen mehr bedeuten als bittere Wahrheiten. Nein, ein großer Teil des Volkes hat sich einfach dumm, kurzsichtig und neurotisch verhalten, er hat gegen die eigenen Interessen gewählt, hat sich selbst aufgegeben und ausgeliefert. Dieses auffällige Verhalten kann nur als ein Vorgang kollektiver Schuldabwehr interpretiert werden.

Der »Beitritt« produziert statt dessen aber massenhaft Schuldgefühle. Alle notwendigen Zutaten dafür sind gegeben: Da ist das Schuldgefühl, die eigenen Autoritäten und all das, was man jahrelang verehrt, an was man geglaubt hat, verraten und verkauft zu haben, da sind die fremden Normen und die autoritäre Nötigung, ihnen zu entsprechen und zwar mit existenziellem Nachdruck. Zugleich ist es unmöglich, den neuen Erwartungen rasch und gut zu entsprechen, da fehlen einfach 40 Jahre spezifische Erfahrungen mit entsprechendem Anpassungs­training. Und im Vergleich zu den westlich Sozialisierten müssen die eigenen Fähigkeiten, die für ganz andere Lebensformen entwickelt wurden, als sehr bescheiden erlebt werden. Ein ganzes Volk ist in den Zustand von Schülern und Lehrlingen zurückversetzt worden. Wenn man wenigstens sagen könnte, aus der alten Sackgasse sei jetzt endlich der richtige Weg gefunden, dann wäre es lediglich der traurige Preis für eine verlorene Generation, aber es ist eher eine neue Sackgasse zu befürchten, in die wir uns haben freiwillig locken lassen und in die wir wie die blöden Hammel auch hineingestürzt sind.

Die Minderwertigkeitsgefühle, die wir Ostdeutschen angesichts der neuen Maßstäbe empfinden müssen, ebnen den West­deutschen die Wege zur Macht, wie ehemals Angst den Bonzen Herrschaft erlaubt hatte. Zu den günstigen Voraus­setzungen für Schuldgefühle an Stelle von Schuld gehört auch die Labilisierung der Menschen durch den eingetretenen Werte- und Orientierungsverlust, der rasch nach neuem Halt suchen läßt, um die Angst, die Verunsicherung des Verlustes nicht erleiden zu müssen, auch die mit Haß erstickte Trauer gehört hierher. Der zwangsläufige Dilettantismus bei Neuorientierung läßt Schuldgefühle natürlich wuchern.

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Und alles, was im Moment geschieht und getan wird, befreit nicht unterdrückte Natürlichkeit, sondern zwingt nur eine andere Entfremdung auf, der das Volk der ehemaligen DDR fast widerstandslos und massenweise zum Opfer fällt. Die neue Entfremdung wird vor allem durch die Wirkung des Geldes durchgesetzt. Bei all dem ist der Ostbürger zu einer Anpassung gezwungen, die das furchtbare SED-Regime mit aller Stasi-Furcht niemals in diesem Umfang zustande gebracht hätte. Die Entfremdung durch Geld geht tiefer, ist in ihren Wirkungen verheerender und zerstörender, ganz offenbar weil die Menschen auch weniger Abwehr dagegen aufzubringen in der Lage sind. Offenkundig haben wir noch nicht genug Antikörper gegen die Geldwirtschaft erworben.

Wenn ich über diese Erfahrung spreche und meine Meinung mitteile, werde ich meist gefragt, welche Alternative es denn zur Wirtschafts- und Währungsunion hätte geben können? Und überhaupt, so zu denken, sei wirklich undankbar, denn wir brauchten nur weiter nach Osten und nach Süden zu schauen, wo die Menschen sich alle Finger danach lecken würden, nur ein Bruchteil unseres neu gewonnenen Geldes zu bekommen. Die Vorwürfe sind berechtigt und gehen doch an der eigentlichen Frage vorbei, sie dienen der Schuldabwehr.

Ich weiß nicht, ob es bei der deutschen Vereinigung eine politisch durchsetzbare wirtschaftlich sinnvolle Alternative hätte geben können, man darf darüber spekulieren, aber keiner weiß es wirklich. Und natürlich möchten die meisten Menschen auf dieser Welt so viel gutes Geld wie nur möglich haben. Solche Fragen sind letztlich sinnlos. Es geht doch nicht darum, was wir hätten bessermachen können als wir wirklich konnten. Es ist aber möglich zu verstehen, weshalb wir uns so und nicht anders verhalten und entschieden haben, oder wer was und wie zu verantworten hat und was wir daraus erkennen können. Aber wir können erkennbare Fehler eingestehen und bessere Wege suchen. Nur darum kann es doch wirklich gehen.
Wir können jetzt mehrere Tatsachen benennen:

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Die Vereinigungspolitik scheitert an den psychologischen Grenzen der Menschen und an den globalen Problemen dieser Welt. Jetzt können wir uns gemeinsam hinsetzen und uns befragen, ob es überhaupt noch eine Alternative gibt. Diese Frage ist ernst, belastend und bedrohlich, wir werden sie wohl nicht beantworten wollen. Wir werden lieber in den Krieg ziehen. Die Eröffnung hat schon stattgefunden: Krieg gegen Ausländer, Krieg gegen Rechtsradikale, jetzt braucht bald nur noch einer zu kommen, um mit irgendwelchen »Autobahnen« die Arbeitslosigkeit abzubauen und den neuen »Feind« zu benennen. Wer dies verhindern will, muß mit dem Volk eine neue Lebensform entwickeln, aber das gibt diese Demokratie der entfremdeten Bedürfnisse und der narzißtisch vereinzelten und heillos miteinander wetteifernden Individualisten nicht mehr her.

 

Die vermiedene Macht  

 

Der Wahlsieg der CDU am 18.3.90 in der DDR brachte folgerichtig Lothar de Maiziere an die Macht — einen Mann, der später nicht nur als Stasi-Spitzel »Cerny« belastet wurde, sondern der von Anfang an seinen politischen Auftrag darin sah, die DDR so schnell wie möglich an die Bundesrepublik Deutschland anzugliedern. Ich erinnere noch ein Interview, in dem er sich selbst nur als eine Übergangsfigur einschätzte, die lediglich die Aufgabe des Beitritts zu erfüllen habe. Auch hier stimmt der Satz: Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient!

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Der kleine schmale, eher schüchterne Mann hat nicht nur gegenüber dem großen dicken und machtbewußten Bundeskanzler sinnbildlich die Verhältnisse verkörpert, nein, er war vor allem auch das Abbild der von der Masse erwünschten Schuldabwehr und die Inkarnation des Schuldgefühls, sich an der Macht vergriffen zu haben.

Die Macht, die aus Obrigkeitsfurcht revolutionär gar nicht erobert worden war, wurde in die Hand dieses zerbrechlichen und zwielichtigen Ministerpräsidenten gelegt, der sie auch nicht übernehmen und ausgestalten wollte, sondern wie eine »heiße Kartoffel« so schnell wie möglich weitergeben und damit wieder abgeben sollte.

Die vermiedene Macht ist die Schuld eines ganzen Volkes. Hier schlagen Unsicherheit, Gehemmtheit, Angst und Feigheit, Unter-werfungs- und Anpassungs­bereitschaft vor allem aber auch Bequemlichkeit und illusionäre Erwartungen — die Symptome der Schuldgefühle — noch einmal voll zu. Die archaische Scheu, Autorität wirklich zu schlachten, die Scheu vor notwendiger Aggressivität, die Scheu vor dem Risiko der Verantwortung, den Mühen der Klärung und Neuordnung, dem Verzicht auf Verheißung und Erlösung haben das auf Gehorsam und Anpassung, auf Disziplin und Ordnung gedrillte Volk überfordert und schuldig werden lassen.

Gerade die peinliche Tatsache, daß in die neuen politischen Führungsfunktionen auffällig viele Stasi-Mitarbeiter gewählt wurden, wirft ein bezeichnendes Licht auf diese »Revolution«. Im Grunde genommen bleibt uns nur die beschämende Erkenntnis, daß wir uns keine Zeit ließen und weder Mut noch Energie aufbrachten, um die neuen »Volksvertreter«, denen wir Vertrauen gaben und Macht über uns verliehen, auf ihre moralische Integrität und politische Kompetenz zu prüfen. Für viele war der Schulddruck offenbar so groß, daß in einer neuen Unterordnung die schnellste Entlastung erhofft wurde. Im Schulddruck liegt die Erkenntnis mit dem Wieder-Fühlen des Selbsterlittenen und des schließlich Selbstausgeübten verborgen. Selbstbestimmung müßte dies unweigerlich aufwühlen und aufdecken, so muß Autonomie mehr ängstigen als jede Unterwerfung. Im letzteren kennen sich die meisten von uns aus, aber das erstere würde uns mit dem ganzen verfehlten Leben konfrontieren.

Wenn im scheinbaren Gegensatz dazu die Völker der Sowjetunion, Jugoslawiens und jetzt auch der Tschechoslowakei um nationale Eigenständigkeit Kämpfe, mitunter auch blutige, austragen, kann ich darin nur eine andere Form der Schuldabwehr erkennen:  die Geschwisterrivalität, der Bruderkrieg als die häufigste Form, um schuldige »Eltern« zu schonen, die Wahrheit über sie zu vermeiden und das eigene Schuldig­gewordensein am Bruder oder der Schwester zu bekämpfen.

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In Deutschland haben wir nur eine Sonderform: Die Menschen in Ostdeutschland wollen den Reichtum der Geschwister, aber nicht den Preis dafür zahlen. Sie wollen leben wie die Wessis, aber Ossis bleiben! Und die Hilfe, die aus dem Westen kommt, erwartet nicht etwa nur Dankbarkeit, sondern knallharte Gewinne. Dieser Bruderkrieg wird vorerst nicht mit Geschützen ausgetragen, sondern mit Geld. Dies ist die folgerichtige Konsequenz unserer Schuld, die Macht nicht ergriffen zu haben. Statt dessen haben wir den Schwächsten der Schuldigen, den inoffiziellen Mitarbeitern der Stasi, das Feld überlassen, wir haben sie vorgeschickt, damit sie ihr schmutziges Werk vollenden und die Macht in die Hände das Kapitals legen, damit unsere Demütigung nicht beendet wird. Ein Volk wählt sich die eigenen Verräter zu Führern.

Und was mag in den Menschen vorgehen, die sich in neue Ämter wählen lassen, obwohl sie ja am besten um ihre belastete und entehrte Vergangenheit wissen und eine Enttarnung fürchten müssen? Was läßt sie ein solches Leben auf sich nehmen, ständig auf der Flucht vor der Wahrheit, stets auf der Hut sein zu müssen mit dem ewigen Streß des Doppellebens? Aber gab es dieses Doppelleben wirklich? Wenn wir uns nach der Psychologie der inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit fragen, so fällt auf, daß sie auch nach der Wende fast alle schweigen — ganz selten nur offenbart sich einer von selbst —, daß sie, wenn sie in den Verdacht geraten, hartnäckig leugnen, und ihr Tun dann bagatellisieren, wenn sie doch überführt wurden (»Ich habe aber keinem geschadet«) und meistens auch kein besonderes Schuldbewußtsein erkennen lassen.

Nach meiner Erkenntnis liegt die Erklärung darin, daß sie eben gar kein »Doppelleben« führen mußten, sondern daß ihr Dienst für die Stasi nur eine andere Variante ihres sonstigen Lebens war. Ist erst einmal eine entfremdete Lebensart aufgenötigt, muß sich der Mensch in der Regel für sein weiteres Überleben abpanzern, seine Zweifel und ihn belastende Gefühle abschnüren und sein Verhalten dann einer Ideologie unterwerfen und auch damit erklären. So kann auch moralisch verwerfliches Handeln zur normalen Selbstverständlichkeit, zu einer sinnfälligen Aufgabe und Pflicht und wichtigen Funktion umgedeutet werden. Denn damit muß ja eine vorhandene innere Leere ausgefüllt, erlittene Kränkungen abgemildert und seelische Defizite ausgeglichen werden.

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Menschen, die als Kinder unbefriedigt blieben und nicht wirklich bestätigt wurden, die man aber dann auf die »Leistungsschiene« gesetzt hat und die so endlich etwas Anerkennung für Tüchtigkeit bekamen, können eine Karriere praktisch gar nicht mehr vermeiden. Die tiefe Bedürftigkeit schiebt alle moralischen Bedenken beiseite und bagatellisiert die Furcht vor einer möglichen Aufdeckung. Oder es gibt gar kein Unrechts­bewußt­sein mehr, weil der Spitzeldienst längst nur noch einer »gerechten Sache« diente und der Verrat in eine notwendige Hilfe umgemünzt wurde.

Einmal die Karriere oder die konspirativen Dienste zum Ersatz für eine unsichere Identität und für ungelebtes Leben gemacht, ist der Ausstieg ähnlich schwer, wie von Alkohol oder Nikotin loszukommen. Und gibt es eine Möglichkeit oder gar einen Ruf, eine neue Verantwortung zu übernehmen, würde eine Ablehnung das ganze bisherige Lebensarrangement in Frage stellen und schmerzliche Erschütterung (Entzugssymptome!) wären unvermeidbar. Und dieser Schmerz wird dumpf als wesentlich gefährlicher erlebt als die Gefahr, enttarnt zu werden. Die frühen Erfahrungen erinnern zu müssen, die das verzweifelte Tun als Erwachsener überhaupt erst ermöglicht haben, hat immer eine existenzielle Dimension, weil es letztlich beim Säugling oder Kleinkind um Sein oder Nichtsein geht, und die Lebensberechtigung insgesamt oft genug mit Anpassung »erkauft« werden mußte. Dagegen ist die Peinlichkeit, enttarnt zu werden, ein Klacks, ja nahezu Stoff zum Überleben, ein Schicksalsschlag, von dem sich zehren läßt. Es sei damit auch ausdrücklich ausgesagt, daß wohl die meisten Menschen als IM hätten dienen können, wenn die Stasi so viele gebraucht hätte. Das seelische Feld dafür war jedenfalls massenhaft und umfassend vorbereitet.

Es gibt noch eine andere Erklärung, die mir immer wahrscheinlicher wird, weshalb die IMs schweigen. Sie haben gar kein Unrechts­bewußtsein, weil ihr Dienst einer »gerechten Sache« oder gezielten Aufgabe diente und der Verrat im eigenen Selbst­verständnis als notwendige Rettung umgemünzt wurde. Die These einer »Stasi-Verschwörung« muß ernsthaft diskutiert und die historische Forschung dazu angeregt werden.

Spätestens mit Gorbatschow waren die alten Machtverhältnisse in den sozialistischen Ländern ins Rutschen geraten. Gewissen Personen im Staats­sicherheitsdienst konnte nicht verborgen bleiben, daß der Zusammen­bruch des sozialistischen Systems in der bisherigen Form nur noch eine Frage der Zeit war und dringend neue Strukturen gefunden werden mußten.

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Es muß auch klar gewesen sein, daß dies mit den alten »Betonköpfen« nicht mehr zu machen war. Eine Veränderung, ein Machtwechsel, ein Putsch war also naheliegend. Dieser konnte nur mit einer Öffnung nach dem Westen, durch kontrollierte Liberalisierung des politischen Lebens und marktwirtschaftliche Bemühungen gelingen: Man mußte ja das Volk dafür gewinnen und mit dem beliebten Hoffnungsträger Gorbatschow waren durchaus realistische Chancen dazu eröffnet. Niemand hätte den Zusammenbruch des ganzen sozialistischen Weltreichs für möglich gehalten, also konnten vorsichtige Veränderungs­schritte auch auf wohlwollendes Interesse und aufatmende Unterstützung in der Bevölkerung hoffen.

Vielleicht haben informelle Gruppen in Partei und Stasi (zum Beispiel mit Markus Wolf, Egon Krenz, Günter Schabowski, Hans Modrow, Schalck-Golodkowski oder auch anderen) einen Umsturz vorbereitet, der ihnen später nur (oder nur zum Teil) aus der Kontrolle entglitten ist. Die Mächtigen allein hatten es in der Hand, die Fluchtwelle zu dosieren, den Ablauf der »Revolution« zu steuern, über Blutvergießen zu entscheiden, die Mauer zu öffnen und dann alle einflußreichen neuen Positionen mit ihren Gefolgs­leuten zu besetzen. 

Dies ist vor allem das Auffälligste, daß mit Lothar de Maiziere, Ibrahim Böhme, Wolfgang Schnur, Manfred Stolpe und anderen überall Gewährs- und Vertrauensleute der Stasi in die neuen Machtpositionen gehievt waren. Aber auch mit Krenz, Modrow, Gysi, Diestel und anderen wurden wichtige Führungsfunktionen besetzt, um das schlimmste — die Vollendung der Revolution — zu verhindern und — als die Verhältnisse nicht mehr steuerbar waren — eine geordnete, schonende und möglichst einfluß- und besitzerhaltende Übergabe an die Bundesrepublik zu sichern.

Schalck-Golodkowski hat auch dieses »Geschäft« gemanagt. Eine solche Connection könnte viele Ungereimt­heiten erklären: Warum Schalck als freier Mann am Tegernsee sitzt, wieso Honecker fliehen konnte, weshalb Honecker nun »freiwillig« zurück­kehrt (nachdem klar war, daß es zu keinem Prozeß mehr kommen wird — die russischen Ärzte werden wohl noch den Gesundheits­zustand beurteilen können, dazu sind nicht erst deutsche Gutachter vonnöten), weshalb de Maiziere in Amt und Würden blieb, obwohl die Bundesregierung schon längst von seiner IM-Belastung wissen mußte,

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weshalb so viele peinlichen Ehren­erklärungen für Stolpe abgegeben werden (wozu brauchen wir denn noch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß, wenn schon vorher alles klar ist, oder sind alle Ehrenheuchler bereit, ihren Hut zu nehmen, wenn sie sich in ihrem voreiligen Votum doch geirrt hätten?), weshalb Stasi-Akten wichtiger Akteure verschwunden sind, weshalb ehemalige »hauptamtliche« Täter ungeschoren bleiben und sich in neuen Geschäften bereichern können, weshalb das ehemalige »Volkseigentum« dem Volk entzogen und dem Kapital zugeschanzt wird.

Ist es wirklich so absurd, einen Ost-West-Handel zu vermuten zum Schutze der Machtinteressen auf beiden Seiten? Jedenfalls stimmten die Sicherheitsinteressen der DDR und das politische Kalkül der westlichen Ostpolitik schon immer überein: die Erhaltung des Status quo, die garantierte Stabilität, die Schwächung der Opposition (siehe Menschenhandel!), und auf jeden Fall keine Unruhen. Dies alles bedeutet zumindestens einen Spagat zwischen politischem Pragmatismus und politischer Moral. Fehler und Schuld sind dabei allemal anzutreffen, und nur die Analyse des konkreten Verhaltens und der Motive einzelner Personen könnte eine Annäherung an die Wahrheit erlauben. Eine historische Bewertung greift zu kurz, wenn nicht die persönlichen seelischen Befindlichkeiten für diese oder jene Entscheidung in die Beurteilung mit einbezogen werden.

 

Warum erörtere ich überhaupt solche Hypothesen? Um die Sinne zu schärfen und naives Vertrauen zu erschweren, wenn es darum geht, über unser Leben zu entscheiden. Leider müssen auch die neuen »demokratischen« Verhältnisse argwöhnisch beobachtet und politische Entscheidungen nicht nach ihrem kurzzeitigen propagandistischen und suggestiven Wert, sondern an ihrem Dienst für Menschlichkeit und Lebenserhaltung in einer langfristigen und globalen Perspektive bemessen werden.

Die Machenschaften in den oberen Etagen wären aber auch nicht möglich, wenn nicht im Volk vergleichbare Interessen vorlägen. Von der eigenen Schuld wird eben gerne nach oben oder nach unten abgelenkt. Zweifelhafte Kungelei der Mächtigen und sozial schwache und moralisch angeschlagene Machtlose sind dann willkommene Opfer. So wurden eben auch belastete Personen ohne kritische Prüfung in neue Machtpositionen gewählt und werden sogar um jeden Preis (siehe Stolpe) darin gehalten — zur Pflege der Sündenbock-Möglichkeit.

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Vorerst wird aber mit der Hetzjagd auf die inoffiziellen Mitarbeiter ein Dauerbrenner der Schuld­ver­schieb­ung nach unten installiert. Wie so oft: Der Sündenbock bringt eigene Schuldanteile ein, die aber maßlos aufgebauscht und mit Hilfe der Sensations­lüsternheit, die vor allem von den Medien geschürt wird, die viel problematischere Schuld der vielen verbergen und vergessen machen sollen: die unkritische Bereitschaft, Verheißungen zu folgen und sich allzu leicht verführen zu lassen, die verweigerte Verantwortung für das eigene und das gesellschaftliche Leben, die passive Bequemlichkeit, die Feigheit, die eine offene und kritische Auseinandersetzung, den Streit und Meinungskampf vermeiden will, die dumpfe Autoritätsgläubigkeit, die falsche, auch unechte Ehrfurcht vor der Obrigkeit. Am Stammtisch aber, im politischen Cafe-Tratsch, läßt das larmoyante Geläster keinen Zweifel daran, daß des Volkes Stimme zu Wahrheit fähig ist, aber eben nur hinter vorgehaltener Hand.

Der Allerwelts-Neurotiker lebt eben gerade davon, daß er am anderen und bevorzugt an den Oberen alles Gestörte, Fragwürdige, Anrüchige sucht und erkennt, um die eigene Schmach nicht mehr sehen zu müssen. Du bist schuld ...! ist das Überlebensspiel eines durch autoritär-repressive Prinzipien in seiner moralischen Integrität schwer gestörten Volkes. Also müssen die dazu passenden Sündenböcke — leider nicht in die Wüste — sondern an die Macht gehievt werden, damit man dort über sie klagen und schimpfen, an ihnen leiden und sie bei passender Gelegenheit endlich genußvoll denunzieren und demontieren kann.

Das Unbewußte hat längst — praktisch als Vorrat zur Gewissensentlastung, wenn das eigene Versagen auf einen selbst zurückzuschlagen droht — die Persönlichkeiten an die Spitze gewählt, bei denen man die Schwächen, die potentielle Korruptheit, die wacklige Integrität dumpf erspürt, ohne dies je bewußt machen zu müssen. Das Unbewußte hat eben seine eigene Erkennungssprache, die über Körperform und -haltung, Gestik und Mimik, über Sprachmodulation und Bewegungen ihren beredten Ausdruck findet. Ich bin überzeugt davon, daß das Unbwußte mit dem Unbewußten anderer Menschen direkt kommunizieren kann.

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Die aufgedrängte Macht

 

Für die Apologeten der Demokratie, dem »besten aller Systeme«, sei dies ausdrücklich ausgesagt: So wie das demokratische System nach dem Osten gebracht wurde — anbiederisch, aufdringlich, besserwisserisch, belehrend, machtbesessen und wähler­stimmengierig —, wird der hohe Wert der Demokratie zunehmend entehrt und sinnentleert. Daran haben vor allem die prominenten Politiker, die Verwaltungs­koryphäen und Wirtschaftsleader des Westens Schuld, die mit ihrer unbeherrschten Überheblichkeit so auftreten, als könnten nur sie Politik machen und verstehen — bereits der Stellvertreterwahlkampf, der im Frühjahr '90 im Osten geführt wurde, hat als Versuchungs­situation die süchtigen Ansprüche der politischen Klasse entlarvt. 

So kann Demokratie nicht mehr als eine gesunde Form gesellschaftlicher Strukturierung erlebt werden, dafür aber immer mehr als eine neue Phrasenideologie, und damit wird die Demokratie ein Schicksal teilen, das bereits dem Christentum und dem Sozialismus widerfahren ist, nämlich daß hohe ethische Werte, indem sie institutionalisiert und bürokratisiert wurden, immer mehr erstarren und dann durch ideologisierte Propaganda ersetzt werden.

Welche Kräfte mögen im Spiele gewesen sein bei der verheerenden Idee, Demokratie — wie erlebt — einfach transformieren zu wollen? Das muß zu einem Schmierentheater degenerieren. Oder braucht Demokratie keine hinreichend geprüften und integren Persönlichkeiten, die für ein politisches Wahlamt kandidieren? Ist für die Wahlentscheidung nicht mehr ein gereiftes politisches Bewußtsein erforderlich, das halt nicht nur zum Falten eines Stimmzettels gebraucht wird, sondern zur kritischen Auseinander­setzung mit politischen Programmen und zum Durchschauen billiger, aber oft geschickt gemachter Wahlkampf­propaganda fähig ist? Ist Demokratie nur noch auf Dummenfang aus — welche Partei kann am wirkungsvollsten das Volk verarschen? Soll nach Ehrlichkeit, Redlichkeit und dem überzeugendsten Programm gewählt werden oder nach Propaganda und Reklametricks? Geht es um die schnelle und vordergründige Erfüllung neurotischer Bedürfnisse oder um verantwortungsvolle und langfristige und komplexe Aufgaben? Sind die Politiker für die Interessen des Volkes da, oder ist das Volk für die Befriedigung der neurotischen Bedürfnisse der Politiker da?

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Diese Fragen kommen mir alle erst, seitdem ich das vielgerühmte westliche Demokratie­system kennen­gelernt habe. Und da Demokratie von Mehrheiten lebt, läßt sich mit Hilfe eines demo­kratischen Reglements noch die brutalste Diktatur einer Mehrheit über eine Minderheit verschleiern. Hatte Ostdeutschland denn je eine echte Chance, eigene Bedürfnisse zu entfalten und Interessen auf demokratischem Wege durchzusetzen? Ob für das Zustandekommen des Einigungsvertrages überhaupt noch demokratische Kriterien angenommen werden dürfen, sollte sehr bald von den Historikern untersucht und beurteilt werden. Und haben wir schon begriffen, was wir da die de Maizieres, Diestels und Krauses haben machen lassen? Waren das die Vertreter unserer Interessen oder unserer Neurosen?

Jedesmal, wenn bei streitigen Auseinandersetzungen westdeutsche Diskutanten zum Schlag, zur letzten Waffe ausholen, weil ihnen wegen eigener Betroffenheit die Argumente ausgehen und sie dann losplatzen: Schließlich hätten wir das ja alles im Osten so gewollt, und durch »demokratische« Wahlen sei der Wille des Volkes klar ausgedrückt worden, dann kommen in mir die altbekannten Stimmen der SED-Propagandisten und Agitatoren zum Klingen, die am Ende ihrer kargen Wahrheit stets die »Machtfrage« stellten und den Abweichler von der erlaubten Linie als »Klassenfeind« brandmarkten. 

Zwar haben die de Maizieres und Krauses mit dem Einigungsvertrag die Interessen des Volkes verkauft, und das noch alles rechtens und legal, und die Absahner, denen sie uns vorgeworfen haben, rufen: Demokratie, Marktwirtschaft, Aufschwung Ost — der Wille des Wählervolkes geschehe, so wie im Westen so auf Erden! —, doch sind wir im Osten bezogen auf ganz Deutschland weder mehrheitsfähig noch haben wir Kapital genug, um im marktwirtschaftlichen Wettbewerb nur die geringste Chance zu haben. Allein die Mietpreise regeln, ob ein Ostdeutscher noch irgendwo ein kleines Geschäft in Konkurrenz mit den Konzernen halten kann. Nach der Roten Diktatur folgt — ganz demokratisch und hübsch hergemacht — die strukturelle Gewalt des Kapitals, die noch viel weniger Rücksicht nimmt auf die Menschen, als es sich die Kommunisten bei allem Totalitarismus hätten leisten können.

Daß es in der Konkurrenzgesellschaft nicht so schnell zum Protest kommt, wie ihn schon die geringste Preiserhöhung ehemals in Polen auslösen konnte, liegt wohl vor allem an den gezüchteten Illusionen, die mit der Individualisierung des Lebens verbunden sind, daß jeder einzelne seines eigenen Glückes Schmied sei und bei nötiger Anstrengung und etwas Geschick doch noch vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen könne.

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Wenn im Sozialismus oft zu Unrecht persönliche Schwierigkeiten nur auf das repressive System projiziert wurden, so wird im Kapitalismus nur allzu leicht der Einzelne zu Unrecht belastet, was aber die unwürdigen Strukturen des Systems eigentlich treffen müßte. Damals und dort: statt dem Leiden an sich selbst, verhalten-heimliche Abreaktion am verhaßten System — hier und jetzt: statt dem Leiden an den menschen­feindlichen Verhältnissen wendet sich die Empörung leider zu oft gegen sich selbst.

Nein, die Demokratie, die wir bekamen, war kein gutes Geschenk. Wir müssen uns erst Demokratie erwerben. Und das ist gebunden an politische Reife, autonome Meinungsbildung, an das allmähliche Entstehen pluraler Ausgewogenheit und an das Heranwachsen integrer Persönlichkeiten — das alles ist ohne psychische Entwicklungsschritte in Schulderkenntnis, Schuld­bekenntnis, Reue, Schmerz und Trauer über verfehltes Leben, Zorn über die Macht des Destruktiv-Bornierten nicht denkbar. 

Statt dessen werden wir im Moment mit Demokratie »erschlagen« und zu einer neuen Anpassung an ein Reglement genötigt, in das wir nicht hineingewachsen sind, das nicht in unseren Seelen wurzelt und längst noch nicht verinnerlichte Grundlage sozialen Zusammenlebens ist. So gesehen gibt es zwischen dem sozialistischen und dem marktwirt­schaftlichen Mitläufer- und Karriere­geist nur den einen Unterschied, daß jetzt die »Demokratie« zu einem noch gefährlicheren System heranwuchert, weil unter den hehren Werten des »freiheitlichen« Lebens noch geschickter der aufgesetzt-verlogene Schein, die Lippen­bekenntnisse und sozialen Masken gepflegt werden oder Angst, Schuld und Haß im Verborgenen fortschwelen und sich als unbewältigte destruktive Energie zu individueller und gesellschaftlicher Pathologie ausformen werden, sobald die kritische Schwelle wieder überschritten ist. 

Ich muß aus meiner Perspektive gar nicht das demokratische System Westdeutschlands kritisieren, das können die West­deutschen aus der eigenen Erfahrung viel besser — es genügt, den Prozeß der Vereinigung aus östlicher Sicht zu analysieren, um festzustellen, daß diese geschichtliche Etappe dringend eine wesentliche Entwicklung des demokratischen Systems braucht. Ein Hut paßt eben nicht auf jeden Kopf! Den Westdeutschen ist die Demokratie auch nur geschenkt worden und fand mit dem »Wirtschaftswunder« eine hinreichende Legitimation.

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Wenn der Wohlstand aber nicht mehr wächst, möglicher­weise sogar schrumpft, wie demokratisch wird diese Demokratie dann noch bleiben? Das wird erneut der Prüfstein der deutschen Geschichte! Trägt die Mehrzahl der Westdeutschen nur eine fein herausgeputzte Demokratie-Maske, so wie sie es uns jetzt im Osten anerziehen wollen? Es kann möglicherweise auch ein sehr probates Mittel der Schuldabwehr sein, den Holocaust durch Demokratie, durch eine zur Schau getragene geläuterte Gesinnung und vor allem materielle Wiedergutmachung bewältigen zu wollen, ohne den Nachweis zu führen, daß es auch innerseelisch zu einer »Entnazifizierung« gekommen ist. Und das würde nichts anderes heißen als persönliches Schuldbekenntnis, emotional-schmerzvolle Katharsis und das Auffinden des eigenen destruktiven und abgespaltenen Fremden, der eigenen Ohnmacht und Erniedrigung — nur dies könnte wirklich die Grundlagen einer Demokratie sichern und vor Rassismus und Radikalisierung schützen, wenn die sozialen Krisen wachsen.

So möchte ich den Westdeutschen zurufen: Kommt runter von Eurer Überheblichkeit, uns die Demokratie lehren und liefern zu wollen, und zu uns Ostdeutschen möchte ich sagen: Kommen wir hoch und verhalten wir uns nicht erneut wie die dämlichen und beflissenen Schüler, die glauben, durch gute Leistungen, das Glück beschert zu bekommen — und laßt uns um neue Wege und Möglichkeiten für unser Leben gemeinsam suchen und ringen. Ihr im Westen hattet vielleicht das bessere System, aber jetzt haben wir gemeinsam einen sehr problematischen Zustand, der uns auch das vierte Reich bescheren kann.

Faschismus ist nicht allein das Problem nur einer Nation, einer politischen Gruppe und ist nicht nur an bestimmte historische Epochen gebunden — Faschismus ist überall und immer wieder möglich, solange durch gesellschaftliche Verhältnisse seelische Einengung, Unterwerfung oder Anpassung, Entfremdung und Manipulation geschieht, die in der Mehrzahl der Menschen berechtigte Empörung erzeugt, die aber aus Angst vor Strafe so lange aufgestaut wird, bis soziale Spannungen eine kritische Schwelle überschritten haben und die Schuld der Anpassung an geeigneten Sündenböcken abreagiert wird. Der Fremdenhaß war nach dem deutschen Nationalsozialismus noch nie wieder so heftig wie heute. Die Asylbewerber könnten den Deutschen nur allzu bald die neuen Juden sein.

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Und ich möchte heute schon sagen und darüber diskutieren: Wir werden im Osten niemals das Wohl­stands­niveau des Westens erreichen können (höchstens ein paar ganz wenige Personen) und die Westdeutschen werden mit immer weniger auskommen lernen müssen. Und bitte, wer soll daran Schuld sein? Die Menschen aus dem Osten, die Armen aus dem Süden? Oder geht nur die süchtige Orgie eines schuldigen Volkes zu Ende? Wir brauchen Hilfen für die Ernüchterung, für den Katzenjammer! Werden wir dazu Mut und Kraft finden?

 

Die neue Schuldverteilung  

 

Wir haben unsere Schuld nicht angenommen. Wir — millionenfache Mitläufer und Mittäter — haben zu DDR-Zeiten unsere Schuld bezahlt mit vielfachen seelischen Einengungen und Verbiegungen, mit Verlust an Lebens­möglichkeiten und mit häufig nicht befriedigenden Beziehungen, aber der Schaden war halbwegs gleich verteilt. Es gab eben auch im Leid eine einigermaßen soziale Gerechtigkeit.

Wenn ich das so sage, bin ich mir durchaus bewußt, daß es Opfer des Stalinismus gibt, die unvergleichlich mehr an Terror, Folter und Beschädigung auszuhalten hatten als die durchschnittliche Bevölkerung. Manche von ihnen mußten sogar mit ihrem Leben bezahlen. Und diese Verbrechen sind meist gerade dann und deshalb verübt worden, weil Menschen sich ihrer Schuld bewußt wurden und Verweigerung, Protest und Widerstand oder Flucht versuchten. Die Bewegungsfreiheit des Staats­bürgers zwischen Schuld und Strafe war wahrlich sehr eng bemessen — fast hieß die Alternative schuldig sein oder bestraft werden. Und doch blieb immer auch ein Feld der menschlichen Bewährung und Würde. Kein Mensch ist eben nur schuldig oder ausschließlich anständig, wir sind immer beides, allerdings in durchaus sehr unterschiedlicher Verteilung.

Ich will und kann keinen Maßstab dafür nennen, weil sich sowohl im heldenhaften Widerstand vor allem neurotischer Protest (dann müssen z.B. Staat oder Partei als Ersatzobjekte für die nicht ausgetragenen Konflikte mit Vater und Mutter herhalten) wie auch umgekehrt in der Anpassung und mitunter auch im Mittun sich das ganz redliche Bemühen um humane Werte manifestieren konnte, so daß sich der größere Teil unseres Handelns und Unterlassens der Fremdbewertung entziehen muß und nur einem inneren Klärungsprozeß in einem angstfreien und gefühlsoffenen Dialog oder Gruppengespräch sich eröffnen könnte. Die vertrauens­volle mitmenschliche Beziehung dabei ist allerdings unerläßlich, denn unsere Gefühle brauchen einen Adressaten, sonst können sie nicht befreiend abfließen. Hier endet in der Regel die Möglichkeit von Gerichten, Tribunalen und Kommissionen.

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Dagegen mißraten die üblichen Abwicklungs- und Evaluierungs­kommissionen, die Pädagogen, Hochschul­lehrer, Richter, Staats­anwälte, die Angestellten im ehemaligen Partei- und Staatsapparat, Polizisten und Offiziere auf ihre reale Schuld zu überprüfen haben, häufig genug zu peinlichen und beschämenden Veran­stalt­ungen, die aus den ehemaligen möglichen Tätern sofort neue Opfer der Kränkung, Demütigung und der neuen Gesinnungs­schnüffelei machen. Schulderkenntnis und Schulderleben dürften dabei jedenfalls in der Regel ausgeschlossen bleiben, statt dessen werden die zu Überprüfenden nahezu zum Leugnen, Lügen, Vergessen, Beschönigen, Entschuldigen und Erklären verführt. Die Überprüfung öffnet jedenfalls die dunklen Räume der Seele nicht.

Nun ist es nur recht und billig, daß die alten Täter nicht in neuen einflußreichen Positionen verbleiben können, aber es findet bei solcher Praxis keine tiefere Erkenntnis, kein Wandel, keine Läuterung statt, sondern die neuen »Richter« rutschen unversehens in dieselben Strukturen, die sie eben noch verdammt und bekämpft hatten. So mag es den Antifaschisten und Sozialisten der ersten Stunde auch gegangen sein. Der bloße Machtwechsel führt eben noch längst nicht zu einer neuen Qualität, sondern die »schwarzen« Richter sind in Gefahr, jetzt spiegelbildlich das gleiche Unrecht zu beginnen, das ihnen früher von den »roten« Lumpen zugefügt worden war.

Ich hätte jedenfalls zu einem reuigen Roten mehr Vertrauen als zu einem eifernden Schwarzen. Nur allzu leicht werden bei diesen Überprüfungen auch persönliche Süppchen mitgekocht, die noch aus ganz anderen Quellen gespeist werden — aus Rivalität, fachlicher Inkompetenz mit Geltungsneid, neuen westlichen Macht­strukturen und immer wieder auch unbewußten Kindheits­kränkungen und Autoritäts­konflikten. So wird allmählich die alte Schuld, die Schuld der feigen Anpassung und des karrieregeilen Opportunismus, umgewandelt in die Schuld der neuen Verfolgung.

Wie soll dabei Wahrheit entstehen, wenn die einen verdächtigen und überführen sollen und die anderen sich verteidigen müssen — da bleibt kein Raum für Erkenntnis, Schuld, Reue, Vergebung und Eröffnung neuer Lebenschancen. So werden nur andere Existenzen vernichtet — jetzt sind halt die anderen dran und hinter den Paragraphen und dem neuen Recht verbirgt sich, was in einer offenen und persönlichen Auseinander­setzung feige verweigert wurde.

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Was als revolutionäre Tat vermieden wurde, kann nicht in demo­kratisch-rechts­staatlichem Gewande nachgeholt werden, das wird zur peinlichen Farce, zur bloßen Schuldumkehr, ohne Raum für wirkliche Klärung, Buße und Reifung. Dies wäre allerdings auch nicht im revolutionären Affekt möglich gewesen. Und dennoch muß verfolgt und verurteilt werden, was dem Leben Schaden zugefügt hat. Dabei ist mir durchaus klar, daß die Justiz mit den verteilten Rollen von Anklage, Beweisführung und Verteidigung eine geeignete Form der Rechtsprechung entwickelt hat, die zwar weder fehlerfrei funktioniert noch schweres Unrecht ausschließt, aber dennoch die meisten Ansprüche von ausgleich­ender Gerechtigkeit erfüllen kann, soweit dies Menschen überhaupt möglich ist.

Dies funktioniert freilich nicht mehr bei politischen Untaten und schwerem moralischem Versagen, das Menschen auch seelisch tief verletzen, ihre Ehre und Würde beschädigen und verhängnisvolle soziale Folgen haben kann. Wie können menschliche Fehl­haltungen geahndet werden, zum Beispiel eine politische Überzeugung oder ein ökonomisches Interesse, die oder das zu einem bestimmten Zeitpunkt allgemein gültigem Verständnis entspricht, sich später aber nicht nur als falsch, sondern auch als ausgesprochen schädigend für Menschen, die Natur und den sozialen Frieden herausstellt? Hier versagen juristische Kategorien und das bewährte Rollenspiel von Rechtsverfahren.

Ich kann mir an dieser Stelle nur beziehungsdynamische Prozesse in einer Diade oder Gruppe als hilfreiche Möglichkeit vorstellen. Wenn wir also zusammensäßen, unsere Lebensgeschichten zu erzählen bereit wären, die Motive unseres Handelns daraus verstünden und unsere Entfremdung und das eigene Versagen fühlen könnten und nicht mehr erklären und verteidigen müßten, könnte eine wirklich neue Qualität der Bewältigung entstehen. Wie soll denn ein Lehrer, der früher seine sozialistischen Phrasen abließ und heute sich »demokratisch« gebärdet, als Mensch glaubhaft werden? Er kann reden was er will, er wird nicht überzeugen, er wird keine Autorität genießen, aber er wird entscheidend dazu beitragen, daß Mißtrauen und Zweifel, Orient­ierungs­losigkeit und Identifikationsschwäche, Sinnentleerung und Moralverfall sich verstärken.

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Säßen aber Lehrer und Schüler und Eltern zusammen, viele Stunden über Wochen und Monate, so daß allmäh­lich ein Klärungsprozeß möglich würde, der Vorbehalte, Verdächtigungen, Meinungs­verschieden­heiten, Fehler, Irrtümer und Schuld auf allen Seiten zur Sprache bringen könnte und sogar verständlich werden ließe, weshalb dieses oder jenes Versagen zustande kam, dann würde Vertrauen wachsen und Beziehungen entstehen, die nicht mehr vom Parteibuch, der politischen und religiösen Gesinnung und einem Amt, also von geborgter und falscher Autorität behindert oder verfälscht würden. Dies wäre natürlich das Ende autoritärer Verhältnisse und Erziehung. Wir müssen schon entscheiden, ob wir statt der roten jetzt die schwarze Indoktrinierung zulassen, ob wir als Eltern menschliche Partner für die Lebensschule unserer Kinder haben wollen oder Lehrer, die die Kinder jetzt nur schnell und zielgerichtet für die Marktwirtschaft zurichten sollen.

Autoritäre Lehre mit zensierter Leistung von angelerntem Wissen erzeugt Anpassung oder Verweigerung und Protest, ebenso wie zugesprochene und von außen benannte Schuld zur Verteidigung und bloße Strafe nur zur Verhärtung führen. Aber gefördertes Interesse, ermöglichte Erfahrungen, erlaubte Irrtümer und erlebte Schuld und Reue schaffen die Voraussetzung für eine Befreiung von angstvoller Verbohrtheit, gefährlicher Einengung und widerwärtiger Unterwerfung und Anpassung.

Wenn ich es mir hier aber erlaube, die relativ kleine Zahl der kriminell (rechtsstaatlich verfolgbaren) Schuldigen für die allgemeineren Überlegungen zu vernachlässigen, soll diese herausragende Schuld damit nicht vernachlässigt werden. Aber diese Schuld hat noch am ehesten eine Chance zur Strafe und Sühne. Worauf ich aber hinaus will, ist die millionenfache durch­schnittliche, eher unscheinbare, aber deshalb keineswegs unbedenkliche Schuld, die sich nur allzu leicht hinter den Taten der hervorgehobenen Bösewichter verbergen kann.

Ich sprach auch von einer Solidargemeinschaft der Schuldigen — wofür gern der Begriff »Kollektivschuld« verwendet wird, um einerseits das Massen­phänomen zu beschreiben, aber andererseits auch bereits sprachlich die immer nur individuell mögliche Schuld zu verschleiern. Eine Kollektivschuld kann es in Wirklichkeit nicht geben. Es ist dann die Schuld des Einzelnen, die im Heer der Schuldigen scheinbar zur Normalität geworden ist. Das sind immer sehr gefährliche Verhältnisse, weil der moralische Maßstab verlorengeht und die Verblendung zu nationalen Exzessen auswuchern kann. Die Begeisterung für einen Krieg, die fanatische Verfolgung von Anders­denkenden, die »Erbfeindschaft« von nationalen Nachbarn ist anders nicht zu verstehen.

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Die Individualisierung der Schuld ist deshalb immer wieder einzuklagen! Menschliches Leben hat immer eine moralische Dimension, die personal bleibt, unabhängig davon, was alle tun oder was befohlen ist.

Die neue Gesellschaft, die Konkurrenzgesellschaft, die Macht durch Leistung und Geld, verteilt auch Schuld und Leiden nach den Werten des Kapitals — wer es nicht mehr wahrhaben will, kann es im Osten Deutschlands gut studieren: Ältere Menschen (wobei Alter schon bei Mitte 40 beginnt!), Frauen, Jugendliche, Behinderte und sozial Schwache sind die besonderen Opfer der neuen Verhältnisse. Und die neue Schuld verbirgt sich in den Regeln des »freien Wettbewerbs«, des Marktes, der Demokratie (Herrschaft über Minderheiten!) und in den Begriffen von Wachstum, Fortschritt, Konjunktur, Leistung und Effizienz — das Leben wird halt bemessen danach, was sich wie rechnet. Dies hat natürlich seine Logik, wenn man das Leistungsprinzip und Wirtschafts­wachstum als höchste Werte einer Gesellschaft akzeptiert und — was dabei noch verhängnisvoller ist — jeder Einzelne sich immer wieder damit auseinander­setzen muß, daß nur er oder sie vielleicht nicht tüchtig genug sei, weil es dem Nachbarn ja doch zu gelingen scheint.

Das innerste Wirkprinzip dieser Gesellschaft lebt von der Fortführung der frühen Neurotisierung: Den Menschen wird glauben gemacht, sie könnten die verweigerte Liebe durch Anstrengung und Tüchtigkeit, durch äußeren Erfolg doch noch erringen. Ohne diese umfassende, von allen wesentlichen Institutionen der Gesellschaft, von den Parteien, den Kirchen und den Lehrstätten sorgsam gepflegten Täuschung, könnte keine Leistungsgesellschaft existieren. Unsere Kultur bleibt an einen grundlegenden Irrtum gebunden, kein Wunder also, daß das natürliche Leben immer mehr einem künstlichen und simulierten weichen muß.

Die abnorme Lebensart des Westens ist in ihrer Expansion dabei, vor allem im Osten schuldig neue Opfer zu erzeugen, das Leiden ungleichmäßig und ungerecht zu verteilen und diesen Verteilungs­prozeß zu benutzen, um die berechtigte Entrüstung zu verhindern. Divide et impera! Und die Gewerkschaften assistieren kräftig bei diesem Prozeß, wenn sie den Lohnkampf zum Inhalt ihrer Tätigkeit machen. Es ist einfach absurd, für den Osten immer mehr Lohn zu fordern, den Angleich der Löhne zum polit­ischen Ziel zu machen, genau dadurch ist die Vernichtung vieler Arbeitsplätze und der Bankrott östlicher Firmen, die die Löhne einfach nicht mehr bezahlen können, befördert worden.

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Und den Menschen wird damit eine neue Illusion vorgegaukelt, die nicht mehr einzulösen ist. Das westliche Wohlstandsniveau ist nicht mehr zu erreichen, es ist auch nicht mehr zu überleben, deshalb wäre es auch für die Gewerkschaften eine große Aufgabe, die Menschen auf neue Arbeits- und Lebens­bedingungen vorzubereiten. Was machen die Menschen, wenn sie weniger produzieren und konsumieren, wenn sie weniger spezialisiert, aber vielseitiger, weniger technologisiert, aber mehr beziehungs-orientiert arbeiten? Statt um Arbeits­plätze im herkömmlichen Sinne geht es um neue Lebensräume, da wachsen riesige Probleme und Aufgaben heran, an denen auch die Gewerkschaften nicht vorbeikönnen.

Der »Freie Deutsche Gewerkschaftsbund« der DDR war unverhüllt Machtinstrument für die SED. Daß die westlichen Gewerk­schaften im vermeintlichen Kampf für die Interessen der Arbeitnehmer längst instrument­alisiert im Demokratiespiel die Sackgasse der Entwicklung nur verschleiern, gehört für mich zu den neuen bitteren Enttäuschungen. Wenn sie schon für die Angleichung der Löhne und Gehälter einstehen, dann wäre ein Stop des Lohnanstieges im Westen vernünftiger als die Spirale weiter­zutreiben und die Folgen vor allem schuldig nach dem Osten zu verlagern.

Was aber an den Pranger gehört und zuallererst Inhalt unserer Entrüstung sein muß, sind die Strukturen der Macht, die über unser Leben bestimmen und unsere Entfremdung erzwingen. Ich habe diese Entfremdung für den Osten vor allem als die Folge der Unterdrückung und für den Westen als Anpassung an ein zerstörerisches Wirtschaftssystem beschrieben. Die Charakter­eigen­schaften, die bei Unterwerfung und Anpassung entwickelt und gefördert werden, sind dann die psychologischen Zwänge schuldigen Verhaltens. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, daß mit solchen Erklärungs­bemühungen keine Entschuldigung individueller Schuld geschehen soll, ein Entscheidungs- und Handlungsfreiraum bleibt noch unter der schlimmsten Bedrohung oder Verführung, doch bevor alle Energie der Entrüstung, Verfolgung und Bestrafung auf geeignete oder ungeeignete Sündenböcke kanalisiert wird, gilt es, die ursächlichen Strukturen zu denunzieren und zu bekämpfen.

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Natürlich sind es auch nicht nur anonyme Strukturen, die Schuld erzeugen, sondern von Menschen gemachte, verwaltete und zu verantwortende Verhältnisse. Gerade das verhängnisvolle Zusammenspiel von inner­seelischen und zwischenmenschlichen Bedingungen und gesellschaftlichen Verhältnissen verdient unsere besondere kritische Aufmerksamkeit. Das Recht, die sozialen Bedingungen und das Wirtschaftssystem sind der entscheidende Hintergrund für die psychosoziale Entwicklung des Individuums. 

Und — wie wir wissen, was aber in seiner umfassenden Bedeutung nicht wirklich zur Kenntnis oder ernstgenommen werden will — die grundlegenden Erfahrungen der frühen Eltern-Kind-Beziehung sind für das ganze Leben wichtig. Die Erfahrungen aus dieser Zeit prägen den Menschen so nachhaltig, daß später wesentliche Veränderungen nur noch bedingt und unter größter Anstrengung möglich sind. Aus diesem Grund sind Einsicht und Vernunft allein nie ausreichend, um erkannte Fehlentwicklungen zu stoppen, Konflikte wirklich zu lösen (nicht nur zu verschieben) und ernste Gefahren abzuwenden. Dazu gehört immer auch ein Gefühlsprozeß, der stets zunächst ängstigend und sehr bedrohlich empfunden wird, bis er dann endlich seine befreiende und heilsame Wirkung erzielen kann.

Wenn ich von ursächlichen Strukturen der Macht spreche, weiß ich natürlich, daß ich »Strukturen« keine Schuld im moralischen Sinne zusprechen kann. Es geht aber um den Punkt des Mitmachens, des Auf- und Ausbauens dieser Struktur. Wenn das oberste Prinzip unseres Moral- und Rechtssystems, unserer Gesellschaft, unseres staatlichen Zusammenlebens und auch unserer Religion das Prinzip der Freiheit ist, dann ist der Mensch schuldfähig, und er ist zur Durchsetzung dieses Prinzips verpflichtet. Das betrifft jeden einzelnen. Macht kann nur ausgeübt werden, wenn sie diesem Prinzip nicht widerspricht. Es gibt moralische Imperative für die Politiker, und es gibt moralische Grenzen eines Wirtschaftssystems. Wer z.B. sehenden Auges die ökologische Katastrophe in Kauf nimmt und von Sachzwängen redet, wo es nur um die nächste Wahl oder die kurzfristige Erfolgsbilanz geht, beteiligt sich an einem Verbrechen. Macht als Selbstzweck auszuüben ist der Freiheit direkt entgegengesetzt und tiefste Unmoral.

Insofern behaupte ich auch, daß die Vertreter der Macht die Hauptschuldigen sind. Das meine ich natürlich für die ehemalige DDR — aber auch für das gegenwärtige Deutschland. Ich mag mich mit dem Aufschrei, den eine solche Gleichsetzung bei einigen Selbstgerechten noch auslösen mag, nicht mehr lange aufhalten, auf der Ebene der psychologischen Bedingungen — Unterwerfung oder Anpassung — sind die destruktiven Fehl­entwicklungen durchaus vergleichbar. 

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Was mir aber darüber hinaus im Moment besonders wichtig ist: den Prozeß des Schuldig-Werdens differenzierter zu würdigen. So mag man für das Handeln und die Motive der antifaschistischen Kommunisten wie für die Demokraten der ersten Stunde des Nachkriegs-Deutschland das beste und redlichste Bemühen unterstellen. Eine belastende Schulderkenntnis war in dieser Pionier­zeit viel weniger zu erwarten als heute, wo das Handeln an den Wirkungen gemessen werden kann. Aus der uns jetzt also zugänglichen Einsicht sind deshalb heute verweigerte Entscheidungen und verhinderte, aber notwendige Veränderungen durchaus als schwer schuldhaftes Verhalten zu qualifizieren. 

Aber nicht einmal im Osten Deutschlands, wo es überhaupt keine Hinderungs­gründe mehr gibt, wirkliche Schuld zu erkennen und zu benennen, geschieht dies, statt dessen aber massive Schuld­abwehr und -verschiebung. Wie erst kann im »siegreichen« Westen Deutschlands Schuld erfahren bzw. bewußt gemacht werden, was aber für die anstehenden Entwicklungen des Gesellschaftssystems dringend geboten wäre? Da wir im Moment im Osten diejenigen sind, die die brutalen und sozial zerstörerischen Folgen westlicher Macht- und Wirtschaftspolitik im besonderen und umfassend zu spüren bekommen, haben wir auch eine besondere Verantwortung, auf das schuldige Verhalten mit Entrüstung aufmerksam zu machen und uns für bessere Verhältnisse zu engagieren.

Angesichts der umfassenden Schuld der Mächtigen ist die Schuld der kleinen Leute eher harmlos, wenn auch für das persönliche Leben des Einzelnen tragisch genug. Die individuelle Schuld des Anpassens, Mitlaufens, Stillehaltens, Erduldens und Nach­ahmens, des Wegschauens und Schweigens, des Nicht-Nachdenkens und Nicht-Wahrnehmenwollens und die Tatsache, daß häufig egoistische Bedürfnisse des täglichen Lebens höher bewertet werden als die Sorge um die Zukunft und die wachsende soziale Ungerechtigkeit auf dieser Welt, sind das Erziehungsergebnis autoritärer Macht. Schuld wird also vor allem produziert.

Als abhängiges Kind hat man kaum eine Wahl. Die Wahl- und Entscheidungsfreiheit wächst einem erst allmählich mit der psycho­sozialen Reife zu und ist schwer genug zu tragen, aber eben auch nicht abzulegen. Auch wenn die Eltern schuldig sind — jeder Erwachsene trägt Verantwortung dafür, diese Schuld fortzuführen oder abzustreifen. 

Trotz eigener Schuld sind wir zur notwendigen Entrüstung über die ursächliche Schuld der Mächtigen berechtigt. Diese Entrüstung ist notwendig, um überlieferte und eingefahrene Verhaltensweisen nicht einfach zu übernehmen. Aber die Entrüstung verpflichtet uns auch, um bessere Verhältnisse zu ringen. Die beste Voraussetzung dafür ist, bei sich selbst zu beginnen. Auch dies ist in Deutschland nicht gerade häufig, statt dessen aber ist die beschuldigende Entrüstung in typisch deutscher Form obrigkeitsschonend und auf Schwächere zielend. Und die eigene Schuld kommt so gut wie gar nicht vor.

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