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4   Du bist schuld

 

 

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Wir sind erneut ein zweigeteiltes Land von Opfern oder von Menschen mit der Gnade der westelb­ischen Geburt. Bereits 1945 war millionenfache persönliche Schuld in einem grandiosen Akt kollektiver Projektion abgewehrt worden. 

Der »Kalte Krieg« hat den Deutschen sofort neue Feindbilder — von den gefährlichen Kommunisten oder den unbelehrbaren, ewig gestrigen Kapitalisten und Imperialisten — geschenkt, und mit dem Aufbau des »Wirtschaftswunders« bzw. des »Sozialismus« war hinreichend Anstrengung geboten, um unverzüglich zur Not der Tagesordnung übergehen zu können. Dieser verständliche, aber ebenso bedenkliche Prozeß wiederholt sich jetzt wieder: Die Schuldabwehr ist nahezu komplett! Bis hinauf zu Mielke und Honecker lassen sich Begründungen erfinden, die je nach Perspektive durchaus auch ihre Schlüssigkeit haben können, um persönliche reale Schuld abzuweisen.

Die Oberen handelten natürlich in den Zwängen der Weltgeschichte, und die Unteren befolgten lediglich Befehle, alle befanden sich natürlich voll auf dem Boden des eigens dafür geschaffenen Rechtes, und jeder Täter war natürlich nur bemüht, noch Schlimmeres zu verhindern, und höchsten Idealen folgend, mußten selbstverständlich auch kleinere Übel, natürlich widerwillig, hingenommen werden, aber um der großen Sache wegen ... Selbst die Mitläufer haben selbstverständlich nur versucht, noch das Beste aus allem zu machen, von kriminellen Delikten wußte man eh nichts, und was hätte ein Einzelner auch schon tun können...

Was mit grellsten Farben ausgeschmückt, in den höchsten Tönen besungen, mit glühender Begeisterung gefeiert und mit der Bereitschaft zum Tode verteidigt worden war und zwar von einem ganzen Volk von Arbeitern und Bauern, von Künstlern, Wissen­schaftlern, Kirchenleuten und Soldaten, von FDJlern und jungen Pionieren, von Gewerkschaftlern und Genossen — nun war es plötzlich keiner mehr wirklich gewesen, obwohl alle ganz real dabei waren.

Ein Spiel geht um: Ich und du — Müllers Kuh, Müllers Esel, der bist du! oder: Wer hat den schwarzen Peter? Ich greife bewußt auf Kinderreime zurück, denn die sogenannte »Vergangenheits­bewältig­ung« bewegt sich bisher etwa auf diesem infantilen Niveau. Im Fadenkreuz der Schuld war zuerst auf Honecker und das Politbüro, dann auf die Stasi und Schalck-Golodkowski gezielt worden — jetzt­­ sind es bevorzugt nur noch die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi.

Sie bekommen im Moment den vollen Schwapp der gesell­schaft­lichen Ächtung ab. Vor den wirklichen Tätern hat die »friedliche Revolution« gekniffen, für ihre Bestrafung reichen die Mittel und Möglichkeiten des »Rechtsstaates« nicht aus, und auf ihre fachliche Kompetenz in Politik, Wirtschaft, im Sicher­heits­dienst und beim Militär könne man eh nicht verzichten.

So avancieren die wirklich Schuldigen zu Memoirenschreibern, Zeugen, Sachverständigen, Managern und Pensionären. Dagegen sind die IMs für dieses böse Spiel gut geeignet — meist »arme Schweine«, eher scheu und unsicher, abhängig und leicht beeinflußbar oder auch geltungs- und machthungrig, das Konspirative staffierte ihre verletzten Seelen häufig mit einem Rest von Bedeutung, Abenteuer und Anerkennung aus. Sie sind das ganze Gegenteil von James Bond, praktisch das Spiegelbild von Herrn und Frau Jedermann und deshalb als Sündenbock, um den eigenen Schatten zu bannen, so begehrt. Zudem erfüllt das Interesse an den Stasi-Akten auch öfter eine Hoffnung, doch möglichst ein »operativer Vorgang« zu sein, das ist eine gute Voraussetzung für eine neue Karriere, und wenn man IMs in der eigenen Lebensgeschichte findet, kann man für längere Zeit die Beschäftigung mit Schuld am anderen festmachen und den Blick in die eigene Seele vermeiden.

Es ist im Moment eine ebensolche massenhafte Verschiebung von Schuld zugange, wie es zuvor eine Epidemie an verant­wortungs­losem Mitläufertum und überzeugter Mittäterschaft gegeben hat. Die von Schuldgefühlen geplagten und gehetzten Menschen haben in ihrer Verzweiflung, es ja gut und anderen recht zu machen, mehr Schuld angehäuft, als sie jetzt in der Lage sind, sich bewußt zu machen. Die Menge an verlorenem Leben, verpaßten Gelegenheiten, versäumten Worten, an unkritisch weitergegebenen Irrtümern, an nicht korrigierten Fehlern und der Umfang an Dulden, Stillehalten, Wegschauen, Jasagen und Mittraben, am Akzeptieren von Phrasen und dem Glauben an Verheißungen sind so riesig, daß es schon einer ganzen Herde von Sündenböcken bedürfen würde, um eine befreiende Katharsis einzuleiten.

Etwas anderes kommt hinzu: Auf paradoxe Weise bildet sich noch ein besonderes Schuldgefühl heraus, das sich in der DDR-Nostalgie verbirgt. Mit dem vollzogenen Systemwechsel und dem »Beitritt« ist alles entwertet und entehrt, was wir zuvor verehrt, geliebt und hochgehalten hatten, was wesentlicher Inhalt des bisherigen Lebens war.

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Unsere Bücher sind verramscht, die Kunst demontiert und ausgelagert, Straßennamen verschwinden und sprachliche Begriffe werden aufgegeben, die Witze sind verhallt, Freundschaften verloren, der heimliche Code der Verständigung ist entleert, die beruflichen Erfolge und Leistungen sind nur noch lächerlich, die bisherige Lebensweisheit abgewertet und der Glanz eines besonderen Besitzes längst verblaßt. 

Alles aus der DDR wurde zum Objekt der Aggression, des Hasses und auch sinnlos verwüstet und leichtfertig aufgegeben. Das Paradies sollte sich ja nun auch über unsere verwundeten Landschaften und gede­mütigten Seelen ausbreiten, aber daraus wurde nicht viel. Haben wir uns schon wieder selbst verraten und entehrt? Schuldgefühle oder Schuld? Es ist wohl beides! Aus den Schuldgefühlen: Bloß keine Gewalt, an der Macht darf man sich nicht vergreifen, wir schaffen es nicht allein, wir sind minderwertig, wir sind bedürftig, wir wollen uns wieder anpassen und anständig sein! — ist längst schon wieder Schuld geworden: der Verrat unseres bisherigen Lebens, die Flucht vor der Wahrheit, die verweigerte Auseinandersetzung, die verschenkte Macht, die gierige Bedürftigkeit, das Aufgeben solidarischer Verbundenheit, das Jagen nach neuen persönlichen Vorteilen und die Jagd auf Sündenböcke. Das Leben in der DDR so schamlos zu veräußern, erscheint nur wie ein kollektives Sakrileg töricht-trunkener Gottloser. Da sind archetypisch tiefe Schichten von Schuld berührt.

 

Bei allen Völkern findet man seit frühester Zeit die Vorstellung, daß Schuld und alles Leid auf andere übertragen werden kann. Die ritualisierte Form solcher Schuldabschiebung ist Jahrtausende alt. Ein berühmtes Beispiel solcher Zeremonien wird im 3. Buch Mose beschrieben. Die Hebräer haben zum Versöhnungsfest einen lebenden Bock durch Los bestimmt und der Hohe Priester legte seine Hände auf den Kopf des Tieres und beichtete über dem Bock alle Missetaten des Volkes. Nachdem die Sünden der Menschen symbolisch auf das Tier übertragen worden waren, wurde es in die Wüste geschickt und dort seinem Schicksal überlassen.

Solange magisch-mystisches Denken lebendige Kraft besaß, kann ich mir die Wirkungen solcher Zeremonien reinigend und befreiend vorstellen. Spätestens aber seit der Zeit der Aufklärung dürften solche Rituale ihre hilfreiche Funktion verloren haben, und mit der folgenden Kulturentwicklung gibt es einen deutlichen Abfall in primitiv-destruktive Formen der Schuldverschiebung. 

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In die Rolle des Sündenbocks werden unliebsame Menschen gedrängt, ihre Fehler und Schwächen ausnutzend, um von dem eigenen schuldigen oder sündigen Verhalten abzulenken. Der Sündenbock hat häufig keine reine Weste und gerade seine benennbare Schuld läßt den Projektionsmechanismus so wirkungsvoll selbstgerecht wuchern. Da schon Schuld erkenn- und benennbar ist, wird ihm zusätzliche Last aufgepackt, für die der Sündenbock aber überhaupt nichts kann. 

Diese schoflige Unsitte ist weit verbreitet: Es braucht ein Mensch nur irgendwo seinen Müll einfach fallen­zu­lassen oder abzukippen, sogleich geben andere ihren Abfall dazu mit der faden­scheinigen Entschuldigung, dort hätte ja eh schon Unrat gelegen. Der Volksmund kennt auch den Spruch vom Ärger, den die Fliege an der Wand auslösen würde; die kleine Fliege wird zum Bock, die nun für alle gereizte Erregung die Ursache sein soll. 

In den Familien ist es das »schwarze Schaf«, der »Pechvogel«, das »kranke Kind«, der »böse Vater«, die »arme Mutter« — manche Ehen leben gerade davon, daß auf das schuldige Verhalten eines Partners der enttäuschte Affekt eines ganzen Lebens aufgeladen wird (ich übersetze dies in Beratungen mitunter in das einfache Bild, daß auf vorhandene 5 Gramm Schuld dann weitere 95 Gramm »aufgebockt« werden, und beide Beziehungspartner sind dann verzweifelte Nutznießer solcher Verschiebung: Der eine kann in Schuldgefühlen schwelgen, um nicht Schuld wahrzunehmen, und der andere kann Über­druck­ventile öffnen und Stellvertreter belasten, um die als sehr bedrohlich erlebten wirklichen Täter zu schonen.)

Aber nicht allein die wirkliche Schuld der Sündenböcke wird zum Anlaß genommen, auf sie abzuladen. Es gibt noch einen anderen Beweggrund: Wir hatten festgestellt, daß sich Angst in Schuldgefühle transformieren läßt. Die Angst, von den Eltern nicht wirklich angenommen zu werden, ihren Erwartungen und Vorstellungen nicht zu entsprechen, diese Angst ist so bedrohlich und der erforderliche Protest gegen derart elterliche Perversion ist dem Säugling und Kleinkind so unmöglich, daß in der Einbildung, selbst schuld zu sein und sich fortan um das erwünschte Verhalten zu bemühen, ein entlastender Trost aufscheint. Später aber muß man bei anderen Menschen erkennen, daß diese ganz unbeschwert Verhalten zeigen und sogar erfolgreich Eigenschaften ausgebildet haben, die von den eigenen Eltern als absolut verwerflich angesehen worden waren. Sind nun die Eltern abnorm, dumm, spießig, borniert gewesen oder stimmt etwas mit dem Fremden nicht? Wie wird wohl dieser Zweifel gelöst? 

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Wir wissen es schon längst: Natürlich sind die Eltern heilig und die anderen sind schuld! Der andere aber, meist in einer auch schwächeren Position, wird jetzt gnadenlos bekämpft. Es sind dabei vor allem bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die sozial Stärkeren bei sich nicht wahrhaben und zulassen wollen. Sie haben diese Eigenschaften selbst mühsam unter Kontrolle bringen müssen, den strengen Forderungen und Erwartungen ihrer Unterdrücker folgend, und vieles davon schließlich nach hartem Ringen in die Tiefen des Unbewußten verdrängt. Wenn ihnen das Tabuisierte nun leibhaftig wieder begegnet, fühlen sie sich dumpf erinnert und in ihrer Abwehrleistung bedroht, letztlich im ganzen Lebensarrangement in Frage gestellt. Und bei der Alternative, die Gelegenheit zu nutzen und tatsächlich die eigenen Positionen anzufragen, um vielleicht neue Entwicklungsschritte in Gang zu bringen, oder die Bedrohung sich vom Hals zu schaffen, abzuwerten, zu verfolgen, ein- oder auszusperren oder gar völlig zu vernichten, wird bevorzugt die letztere Variante gewählt.

Ist so der Mensch? Oder ist auch dies die traurige Folge bitterer, aber letztlich vermeidbarer Erfahrungen? Je rigider, einengender, verbietender, strenger die Erziehung war, je mehr also unterdrückt, beherrscht, kontrolliert und einseitig entwickelt werden mußte, desto mehr wird das Leben in seiner Vielfalt und Fülle als bedrohlich erlebt (im Osten Deutschlands ist gerade dies im Moment ein riesiges Problem), desto mehr bedeuten Andersartigkeiten Versuchungen und Verrührungen, die die eigenen Überzeugungen und Lebensformen in Frage stellen. Nun wurden solche Überzeugungen und Lebensformen meist nicht freiwillig und mit Begeisterung entwickelt, sondern sie sind durchgesetzt und aufgenötigt worden, immer mit der latenten Drohung, den »Segen« der Eltern zu verlieren, nicht das »richtige Bewußtsein« zu haben, nicht im »rechten Glauben« zu handeln und damit Gefahr zu laufen, ausgegrenzt zu werden (wie das Aufnötigen fremder Überzeugungen funktioniert, läßt sich im Moment im Osten auch umfassend studieren). Die Begeisterung, mit der später manchmal abnorme Überzeugungen weitergetragen werden, ist bereits die groteske aber nützliche Folge (die »Identifikation mit dem Angreifer«) der Nötigung.

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Anhand der Psychologie radikaler und gewaltbereiter Jugendlicher läßt sich im Fremdenhaß der projizierte Kampf gegen die eigene innere Not recht gut verdeutlichen: Gesucht werden von den Jugendlichen meistens Gemeinschaft, Führung, Gelegenheit zur Abreaktion von Gefühlsstau und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Schon darin werden die Defizite ihres Lebens erkennbar: die verweigerte Gemeinschaft, die innere Führungsschwäche und Labilität mit der aufgestauten mörderischen Aggressivität als Folge liebloser, abwertender und gewalttätiger Erziehung bzw. umfassender emotionaler und sozialer Defizite. Gewaltbereite Jugendliche sind immer zuerst Opfer gewalttätiger Eltern und destruktiver sozialer Verhältnisse. Sie sind demzufolge die Symptomträger einer zerstörerischen Gesellschaft.

Im Fremdenhaß wird stellvertretend das eigene innere Fremde bekämpft, das natürlich enorme Ausmaße infolge des Mangel­syndroms angenommen haben muß: fremd sind Liebe und Vertrauen, Sicherheit und Zuversicht, Güte und Mitmensch­lichkeit, Geborgenheit und Lebensfreude. Und Fremde, zum Beispiel Asylbewerber, sind in der Regel auf der Suche nach genau diesen Werten, die ihnen in ihrer Heimat auch verlorengegangen sind oder verweigert werden. Indem sie herandrängen und ihre Befindlichkeit uns vor die Nase setzen, sind wir mit der Frage konfrontiert, wie es denn bei uns selbst damit bestellt ist. So stammelt es aus manchem radikalen Mund: Die nehmen uns die Arbeitsplätze oder die Frauen weg! — um hilflos auszudrücken, was an innerer Bedürftigkeit brachliegt: Sicherheit und Liebe! Oder ein anderes Beispiel: Die Abwehr der Liebessehn­sucht, der Beziehungsstörung und der Lustunfähigkeit drückt sich in jüngerer Zeit auch im Haß gegen die Prostitution aus, was im Osten Deutschlands schon mehrfach Schlagzeilen machte. In der Prostitution wird gerade die unglückliche Liebes­sehnsucht, die Lustunfähigkeit und Beziehungsstörung vermarktet und in den schillerndsten Facetten feilgeboten, was bei den Jugendlichen einen inneren Sturm von Wünschen und Unfähigkeiten auslösen mag.

Im Hang nach fast militärischer Disziplin und Ordnung, der Neigung zu straffer Führung werden das innere Chaos und die Halt­losigkeit abgewehrt, die durch die frühe Beziehungsverweigerung angerichtet wurden. Und die ausagierte Größe und Stärke, das martialische Aussehen und Auftreten und schließlich die tatsächlich ausgeübte Gewalt sollen die innere Minderwertigkeit und Ohnmacht vergessen machen, die eigene Angst und Unsicherheit übertönen und die Nähe vermeiden helfen, die so sehr ersehnt war, nun aber nur alte Wunden wieder aufreißen würde, sofern sie geschähe. 

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So weist die verübte Gewalt (die Täterschaft) auf die selbst erfahrene Gewalt (das Opfertum) hin und dient als Näheabwehr dem Schutz vor tiefster Erschütterung. Daher ist es eben gerade nicht damit getan, gedemütigten Menschen aus einer Broken-home-Situation nur Zuneigung, Verständnis und Hilfe anzubieten — nein, es müssen Möglichkeiten der aggressiven Abfuhr eröffnet werden, um den Druck des Gefühlsstaus zu mildern, sonst prallt jede Liebe an den Mauern des berechtigten Hasses ab.

Nicht viel anders geht es uns Ostdeutschen im allgemeinen: Das innere Mangelsyndrom läßt sich eben nicht nur mit Grenzöffnung und Geld kurieren, auch dort nicht, wo das Geld noch ankommt. Wenn dies nur verstanden würde, daß die vielgerühmte »Freiheit«, die wir doch jetzt genießen könnten, mehr als Bedrohung oder gar als Hohn empfunden werden muß angesichts des tief verschütteten Zuganges zur wirklich inneren Freiheit oder der längst sinnentleerten äußeren Freiheitsangebote.

Der Umfang der Sündenbock-Mechanismen, in der Variante des Schuldabladens auf andere, die selber etwas »Dreck am Stecken« haben oder in der Form des dumpfen Abwehrbemühens gegen diffuse Ängste, gegen die Bedrohung durch Anders­denkende oder einfach nur Andersseiende, die die eigene Beschädigung und das eigene Schuldig-geworden-Sein durch die provozierte Auseinander­setzung mit anderen Lebensstilen bewußt machen könnten, kann als ein Maßstab für die Toleranz oder Intoleranz, für die Gesundheit oder Krankheit einer Gesellschaft angesehen werden. Je größer und umfassender die psycho­sozialen Konflikte in einer Gesellschaft sind, desto größer ist auch in der Regel die Sündenbockjagd.

Das nationalsozialistische Deutschland zeigte dabei mit der Judenverfolgung und -vernichtung die bisher höchste Ausformung gesellschaftlicher Pathologie. Messen wir aber tatsächlich am Sündenbockgeschehen die Qualität unseres sozialen Zusammen­lebens, dann sieht es zur Zeit auch bei uns nicht besonders gut aus. Daß immer nur der andere schuld sein soll, gehört fast zur Kultur, in der wir leben. So geht in der Regel die Schuldverschiebung von oben nach unten, von innen nach außen, von West nach Ost, von Nord nach Süd, von weiß auf schwarz, von schwarz auf rot, von reich auf arm, von Mann auf Frau, von Eltern auf Kinder, von Deutschen auf Ausländer — aber auch für den »Gegenverkehr« lassen sich genügend Beispiele finden.

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Die »Hackordnung« verläuft in der Regel nach den »Werten«, die die Gesellschaft strukturieren, also zum Beispiel nach Macht, Einfluß, Geld, Stärke, und die machtlosen Armen und Schwachen sind als Sündenböcke gefährdet. In den Flüchtlingslagern Westdeutschlands, so wurde berichtet, war die Rangfolge: Westdeutsche — DDR-Bürger — deutsche Aussiedler aus dem Osten — weiße Ausländer — schwarze Ausländer.

Oder ein ganz anderes typisches Beispiel: Ich saß in einem Gartenlokal am Rhein und konnte das Gespräch am Nachbartisch mitverfolgen: Zwei westdeutsche gebildete Frauen, die über den Rhein assoziierten und nach einer Menge erbaulicher Worte über den »Kulturträger« Rhein plötzlich über den Verschmutzungs­grad des Flusses ins Bedauern und Klagen gerieten. Bis der einen Gesprächspartnerin die erlösende Verschiebung gelang: »Aber der schmutzigste Fluß Deutschlands ist die Elbe, und das wird vor allem durch die DDR verursacht.« Und beide konnten sich wieder den schönen Gedanken hingeben. So leicht geht das eben — und im Eifer der Abwehr der eigenen Betroffenheit lebte sogar die DDR wieder auf. 

Die DDR als ein äußerst brauchbares Objekt für Abwehr und Schuldverschiebung nimmt immer noch einen beträchtlichen Raum ein: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Radikalität, Ausländerhaß, ökologische Katastrophen, Korruption, Verrat, moralischer Sumpf und Probleme, Schwierigkeiten und Konflikte jeder Art — das alles wird jetzt bevorzugt in den Osten Deutschlands verlagert. Vor dem Hintergrund der ehemaligen DDR erscheint Westdeutschland dann so albern rein, wie es die Waschmittel­reklamen verheißen, was ja eben auch zum Geist dieses Landes gehört.

Ein Gesellschaftssystem ist kollabiert, ein Menschheitstraum, eine großartige Utopie ist zerronnen — aber der verlorene Traum wird nicht gedeutet, nicht analysiert, sondern nur verhöhnt und die — allerdings — beschämende Unzulänglichkeit der Träumer wird benutzt, um die ganze Sache zu denunzieren. Der Traum aber könnte der »königliche Weg« zu unseren unbewußten Wünschen und Sehnsüchten sein, um weiter und erneut darum zu ringen, ein gerechteres und sozial sicheres und friedliches Leben ohne Krieg und Ausbeutung aufbauen zu können. Doch dabei müßten wir alle erlittene Schmach wieder erinnern und unser Ersatz-Ich-Ideal zerstören, wir müßten uns zum Großteil von der Autorität der Vorfahren lösen und nachweisen, daß sie Unrecht taten, wir müssen ihnen also Schuld zuweisen, anstatt Schuldgefühle zu gern zunächst gegen uns und später als Verdächtigung gegen den Nächsten zu richten.

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Die selbstverschuldete globale Vernichtung der Gattung Mensch durch destruktive Lebensformen ist erstmalig in unserer Geschichte möglich und vermutlich sogar sehr wahrscheinlich geworden. Denn auch die westliche Gesellschafts­konzeption, die schöne Utopie vom Leben in ständig wachsendem Wohlstand und Fortschritt ist falsch und hat schon längst ihren eigenen Untergang eingeläutet.

Die mißlingende deutsche Einheit ist ein Symptom dafür. Gerade noch erinnern wir uns an die Schauer der glückseligen Erregung, die durch den Vereinigungsrausch in beiden Teilen Deutschlands ausgelöst wurden. Als mit der Mauer aus Beton — dem Symbol des eingemauerten und verpanzerten Lebens — auch die seelischen Barrieren schmolzen, praktisch die »Eisenringe« um unsere Herzen für kurze Stunden barsten und wir uns weinend in den Armen lagen, da war uns Deutschen etwas ganz Seltenes passiert: Wir hatten unsere emotionale Kontrolle verloren!

Uns Ostdeutschen hätte man ja die Tränen nach dem langen Darben im »Gefängnis« als Entschuldigung für soviel schmerzliche Freude ja noch gelten lassen, wieso kam es aber bei so vielen West­deutschen zu einer vergleichbaren Inkontinenz der Gefühle? Ich meine, weil sie eben auch voller Sehnsucht nach einem anderen Leben und unverstelltem Dasein sind — wie es in der Vereinigungsnacht wider alle Vernunft eben auch aus ihnen herausbrach. Die so Erfolgreichen, Souveränen und Cleveren, die »Sieger« der Geschichte, zeigten plötzlich auch »Nerven« und »Schwäche« — das unfaßbare Ereignis des Mauerfalls machte dies möglich. Und weil die Öffnung der Mauer vermutlich nichts anderes als eine grandiose kollektive Fehlleistung war, eine der Sternstunden geschichtlicher Ereignisse, weil von unbewußten Energien getragen, also praktisch ohne gezielte Tat, ja nicht einmal ohne klar erkennbaren Willen einfach geschehen war, wurde als angemessene Reaktion dieser kathartische Prozeß ausgelöst, der das kritisch gewordene unbewußte Potential der Menschen in Ost und West signalisierte.

So unerwartet-unvorbereitet wurden die Menschen davon überrascht, daß eben auch Gesten passieren und Gefühle durchbrechen konnten, die sonst sorgfältig unter Kontrolle gehalten werden, vor allem mit der Maske von Tüchtigkeit und Erfolg oder von Gehorsam, Disziplin und Ordnung. Die deutsch-deutschen Umarmungen waren die erlebte Vereinigung, die Rückkehr der individuellen Abspaltungen, die innig-spontane Verbundenheit, die keine Masken mehr braucht, die Mißtrauen und Angst einerseits und Arroganz und Coolheit andererseits in einem Rausch sich (scheinbar) erfüllender Sehnsucht für den Moment hinwegfegen.

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Dies war der Augenblick, wo wir gemeinsam die Revolution hätten vollenden können — aus den schmerzlich-schönen Schauern heraus zur Wahrheit unserer Verletzungen, Einengungen und Kränkungen vorzudringen, um schließlich auch das sinnlos-verzweifelte Bemühen aufgeben zu können, vor unseren Schuldgefühlen zu bestehen. Allerdings wären wir dann unserer Schuld begegnet. So haben wir uns lieber der Umarmungen geschämt, die unvollendete Revolution schnell für siegreich erklärt und sind zur Tagesordnung übergegangen: zur Schuldabwehr unter dem Deckmantel der praktischen Handlungszwänge.

Der Untergang des »real existierenden Sozialismus« entlarvte abnorme und pervertierte Strukturen. Was vormals gefeiert worden war und als geheiligt galt, was propagiert und mit Waffengewalt verteidigt, woran jedes individuelle Leben gemessen und bei Bedarf abgestraft worden war, erwies sich jetzt als kriminell, krankhaft, unmoralisch, als gefälscht, erstunken und erlogen. Dies ist stets eine Chance für die Kräfte der Verleugnung, die offensichtliche Schuld ausbeutend, den äußeren Anlaß, die beweisbaren Tatsachen als Indizien geschickt nutzend, um von der viel tiefer reichenden persönlichen Schuld abzulenken.

Die vorzeigbare Schuld des DDR-Systems ermöglicht es den meisten Menschen im Osten, ihre persönliche Schuld zu delegieren, und — was noch bedenklicher ist — dadurch wird die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben nahezu paralysiert.

Die Überlegenheit der westlichen Lebensart ist historisch zunächst gegenüber dem »real existierenden Sozialismus« bewiesen. Doch eine Überlegenheit wohin? Was die Zerstörung unserer Welt und den möglichen Untergang der Menschheit anbetrifft, muß der Lebensstil der westlichen Industrienationen samt dem dazugehörigen Wirtschafts­system als das wesentlich Gefährlichere angesehen werden. Es existiert noch und kann seine schädigenden Wirkungen noch ungezügelter entfalten, es erzeugt Süchte mit allen Schwierigkeiten des Ausstieges, und es bietet umfassende Ablenkungen und Illusionen, ein fast perfektes Ersatzleben — ein Disneyland, das sich mit der Simulation des wirklichen Lebens immer weiter in unsere Seelen frißt. Der trügerische Schein transportiert und verbirgt die Gefahr, die im »Sozialismus« immer bewußt und gegenwärtig war.

Wie so vieles war aber auch das Ersatzleben im Osten nicht so perfekt wie im Westen — auch in unseren Neurosen scheinen wir im Osten eben nur zweitklassig zu sein. Wenn im Westen eh alles »besser« ist, warum sollen es nicht auch die Neurosen der Menschen sein? Wir werden jedenfalls jetzt umfassend »beglückt« damit.

Die Abwehr durch Überlegenheit und scheinbaren Erfolg ist auch viel schwerer aufzugeben, sie zerstört mit der unerschütt­erlichen Siegesgewißheit die mögliche Erkenntnis eigener Fehlhaltungen und verhindert damit eine wirkliche Ausein­andersetzung. Aber ich will keine neue Schuld­zuweisung unterstützen, denn an der »Befreiung«, die wir jetzt erleben dürfen, tragen wir eben auch erhebliche Schuld.

So tragen wir auf beiden Seiten dazu bei, daß wir statt einer Vereinigung längst einen verdeckten Bürgerkrieg provoziert haben, der vor allem um die alten wie neuen Pfründe ausgetragen wird.

Die individuelle Schuldverschiebung, die noch als ein psychologischer Schutzvorgang qualifiziert werden kann, wird im Falle eines Massenphänomens zu einem äußerst gefährlichen Ereignis, zu einer Todsünde, die unser Überleben in Frage stellt.

Zur Abwehr dieser bedrohlichen Folgen unseres Verhaltens brauchen wir einen moralischen Imperativ, der Schuldverschiebung als menschen­feindliche Haltung ächtet. 

Mit wechselseitigen Vorwürfen und Schuld­zuweisungen dürfen wir uns nicht mehr von den wirklichen Problemen ablenken. Während wir noch an unserer Vereinigung kranken, toben um uns herum schon längst die neuen blutigen Schlachten, die im nationalistischen Gewand dem Bruder oder Nachbarn die Schuld zuweisen, die offenbar selbst zu erleiden und anzunehmen so schwierig ist.

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