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3. Schuld und Schuldgefühle

 

 

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Angst und Schuldgefühle sind die unvermeidbaren seelischen Folgen repressiver Erziehung. Sie sind der Hinter­grund, vor dem vielen Menschen das Leben zur Last wird, der ihnen die Lebensfreude vergällt und ihre Vitalität austrocknet. Angst und Schuldgefühle sind vor allem die seelischen Bremsen, die den Ausstieg aus einer destruktiven Lebens­form verhindern.

Repressive Erziehung hat die Anpassung an jene Normen zum Ziel, mit denen autoritäre Macht aufgebaut, gesichert und legitimiert werden soll. Es ist dabei unerheblich, in welches über­geordnete Moralsystem diese Normen eingebettet sind. Nahezu 2000 Jahre Kirchengeschichte und 70 Jahre Sozialismus haben uns gelehrt, daß die größten Ideen, die die Menschheit hervorgebracht hat, ins glatte Gegenteil verkehrt werden, wenn das Herz durch die Macht ersetzt wird. 

Und die Macht erscheint immer konkret, sie beginnt bei den Eltern und setzt sich über die ganze Stufen­leiter der gesellschaftlichen Zuricht­ungs­mechanismen von Kinder­gärtnerinnen über die Lehrer, Arzte, Pastoren bis zu den Politikern und wirtschaftlichen, bzw. militärischen Interessen- und Entscheidungs­trägern fort.

Es ist für die folgenden Betrachtungen auch unwesentlich, ob die Anpassung an den fremden Willen durch Unter­werfung oder Manipulation, durch unverhüllte polizeistaatliche Gewalt oder durch erfolgs- und gewinn­orientierte Marktgesetze geschieht. So macht es auch keinen großen Unterschied, ob die Eltern ihren Willen durch Schläge oder durch Liebesentzug oder gar nur durch fehlendes Interesse, mangelnde Einfühlung oder bloße Abwesenheit durchsetzen. Der Anpassungsdruck ist durchaus vergleichbar.

Schuldgefühle werden auf vielfältige Weise erzeugt, immer aber gibt es ein komplexes Zusammenspiel von Vernachlässigung und Liebesentzug, moralischer Funktionalisierung der Liebe im Loben und Tadeln und der Nötigung zu Regeln und Normen, die nie gut und umfassend genug erfüllt werden können. Ist dieser Prozeß erst einmal in Gang gekommen, entstehen ein permanentes Gefühl des Ungenügens, des Versagens und des schlechten Gewissens, die eine zunehmende Entleerung der Persönlichkeit, die Abspaltung von ihrem natürlichen Triebgrund und auch die Entfremdung von allen Normen zurücklassen, die aus dem Urbild der Liebe entspringen.

Damit ist ein wichtiger Ansporn zu einem Kreislauf immer weiterer Anstrengungen geschaffen worden, um Liebe und Aner­kennung in der Erfüllung äußerer Normen zu gewinnen. Aber selbst, wenn eine Erwartung hervorragend erfüllt wurde, erfolgt lediglich die äußere Anerkennung für die lobenswerte Leistung (z.B. durch gute Zensuren, Auszeichnung, Siegesprämie, Orden, einen Preis), wodurch aber keine wirkliche innere leib-seelische Entspannung ermöglicht wird.

Und da fremde Erwartungen erfüllt werden sollen, müssen individuelle Möglichkeiten vernachlässigt, natürliche Wünsche und Regungen unterdrückt und persönliche Grenzen mißachtet werden, wodurch eine tiefe Unzufriedenheit und Spannung selbst bei allem äußeren Erfolg übrigbleiben. Und das setzt schon wieder die nächste Anstrengung in Gang, um vielleicht doch noch die erhoffte Erlösung zu erreichen. So bekommt das durchschnittliche Leben einen Suchtcharakter. Die wirkliche Befriedigung findet nicht mehr statt, die zurückbleibende Spannung treibt den Menschen immer tiefer in die Abhängigkeit von den vorgegebenen »richtigen« Verhaltens­weisen.

Auf diese sich vollziehende Entfremdung des Seelenlebens wollen Gefühle aufmerksam machen, sie deuten den seelischen Spannungs­zustand an. Für die weitere Entwicklung des heranwachsenden Menschen ist es jetzt entscheidend, ob er seine Befindlichkeit wahrnehmen und ausdrücken lernt und darin auch Erlaubnis und Förderung erfährt und sich akzeptiert und bestätigt erlebt oder ob seine Befindlichkeiten gering geschätzt, die Wahrnehmungen nicht ernst genommen und der Gefühlsausdruck verboten werden.

In unserer Kultur werden die Menschen dazu erzogen, ihre Befindlichkeiten zu verstecken oder zu leugnen, sich über belastende Zustände schnell hinwegzutrösten und unangenehme Gefühle zu unterdrücken. Aber nur, wenn Befindlichkeit, Wahrnehmung und Gefühlsausdruck mit der Antwort und Reaktion der Umwelt adäquat korrespondieren, wird dadurch eine bestätigende Welt­erfahrung vermittelt: Ich bin richtig, was ich fühle ist in Ordnung, Innen- und Außenwelt stimmen überein. Das ist etwas völlig anderes als ein aufgesetztes »positives Denken«.

Darf also die subjektive Befindlichkeit gelten und wird sogar noch einfühlend akzeptiert, dann wächst ein Grundgefühl von Selbstbewußtsein, Selbstsicherheit und Vertrauen. Andernfalls aber, wenn es ständig Besserwissende gibt, die so auftreten, als wüßten sie, was für einen Menschen »richtig« zu denken und zu fühlen sei und dies vor allem mittels Erziehung, also durch Lob und Tadel, durch tendenziöse Zuwendung und Ablehnung durchzusetzen verstehen, wachsen Unsicherheit, Verwirrung, Minder­wertigkeits­gefühle und der ständig nagende Zweifel, inwieweit die eigenen Wahrnehmungen auch in Ordnung sind.

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Diesen konfliktreichen Spannungszustand mildert sich der Mensch in der Regel dadurch, daß er die Wahrnehmung seiner eigenen Befindlichkeit unterdrückt und bemüht ist, herauszufinden, was von ihm erwartet wird, um sich die Gnade der Annahme und Bestätigung zu verdienen.

Das Auseinanderklaffen der inneren Wahrnehmung und der äußeren Bestätigung ist also nicht nur Ausdruck der sich vollziehenden Selbstentfremdung, sondern auch die psychologische Wurzel für jeden Untertanen­geist und seine conditio sine qua non: die Außenlenkung des einzelnen. So konstituiert sie einen ewigen und zermürbenden Kampf, sich selbst nach den Erwartungen der Mächtigen umzuformen.

Als geschickte Überlebenstaktiken, die die »Macht« gnädig stimmen sollen, fördern Schuldgefühle also Anpassung und Unter­werfungs­bereitschaft. Und dies ist keine Einbahnstraße: Das Selbsterhaltungs­interesse der Macht und ihr Bestreben nach Steigerung, entspricht aufs genaueste den Schuldgefühlen bei der Masse der Abhängigen. Jede historische Betrachtung lehrt, daß auf jeder Stufe der Machtausübung, Schuldgefühle nicht nur ein willkommenes Mittel zur Durchsetzung von Herrschafts­interessen sind, sondern auch umgekehrt die Macht stärken, ermutigen und verändern. Je unterwerfungsbereiter die Menschen sind, umso verheerender zeigt sich das Gesicht der Macht. Diese Erfahrung haben wir Deutschen in diesem Jahrhundert schon zwei-, ja sogar dreimal gemacht, und da dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen.

Dies ist auch der Punkt, wo Schuldgefühle zur Ursache von Schuld werden. Unterwerfung muß moralisch verächtlich gemacht werden, wenn wir politisch überleben wollen. Und Unterwerfung fängt im Kleinsten an, Schuldgefühle werden über die autoritäre Pädagogik auf die ganze Gesellschaft verteilt und an die nächste Generation weitergegeben. So werden Schuldgefühle zu unbewußten Verursachern von Schuld, so werden Kinder zu schuldlos Schuldigen, so werden aus Opfern Täter.

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Beim Stand dieser Überlegungen wird es notwendig, den entscheidenden Unterschied zwischen (neurotischen) Schuldgefühlen und (realer) Schuld hervorzuheben. Eine Hauptquelle für soziale Verwirrung in den menschlichen Beziehungen und für gesell­schaftliche Fehlentwicklung stammt aus der Verwechslung dieser sehr verschiedenen seelischen Zustande. Von neurotischen Schuldgefühlen sind heute die meisten Menschen geplagt. Schuldgefühle sind zum wichtigsten Antrieb für entfremdete Arbeit, übermäßige Leistungen, für ungesunde Pflichten und Strapazen geworden, und es besteht kaum eine Scheu oder Hemmung, sich die Inhalte dieser Schuldgefühle selber vorzuwerfen, z.B.: Ich bin nicht gut genug, nicht so schon und tüchtig, nicht so flexibel und dynamisch, nicht so erfolgreich und durchsetzungsfähig, wie ich eigentlich sein müßte — ich müßte auch perfekter, gründlicher, zuverlässiger, stärker, mutiger sein. Solche »Antreiber« sitzen als tiefe Stacheln in unserem »Fleisch« und lassen uns rotieren, ohne daß wir je zufrieden innehalten könnten mit dem befreienden Gefühl: Ich bin wirklich gut und liebenswert.

Selbst ein Erfolg führt eben nicht zur befreienden Entspannung, sondern löst in der Regel bereits die nächste Anstrengung aus, um die Lebens­berechtigung ja nicht zu verspielen. Es ist ein Teufelskreis von Hoffnung, Anstrengung, Ernüchterung, Resignation, Angst und Schuldgefühlen, die schließlich zum neuen verzweifelten Bemühen antreiben. Aber darüber reden, klagen und schimpfen die Menschen relativ gern, ganz im Gegensatz zu ihrer wirklichen Schuld, die sie nur selten empfinden, wahrnehmen und mitteilen, obwohl dazu ungleich mehr Anlaß wäre, als sich mit Schuldgefühlen unnütz zu plagen. Doch massenhaft produzierte Schuldgefühle sind eben der Motor für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, die willfährige Untertanen, gehorsame Soldaten, tüchtige Produzenten und süchtige Konsumenten für ihre Entfaltung brauchen. Dagegen wäre eingestandene und durchlittene Schuld der Ausstieg aus solchen destruktiven Lebensformen.

Es ist gar nicht so einfach, Schuld und Schuldgefühle phänomenologisch zu trennen, ja selbst vom »Schuld­igen« wird sein Zustand gerne verwechselt. Es gibt subjektive Schuldgefühle und einen Schuld­schmerz, dem keine wirkliche Schuld zugrunde hegt, und es gibt reale Schuld, ohne daß ein Schuld­gefühl oder Schuld­bewußt­sein besteht. Viele Menschen fühlen sich häufig unschuldig schuldig und die wirklich Schuldigen verleugnen ihre Schuld, ja ahnen mitunter gar nichts von ihrem schuldigen Tun. 

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Schuld­gefühle erkennt man mehr an der Art und Weise, wie sie vorgetragen werden als an ihrem Inhalt. Sie lösen beim (gesunden) Gegenüber meist ein Gefühl der Belästigung aus. Das jammervoll Leidende, die Penetranz der Klage, die nichtabschwellende Leidenslast, die Aufmerksamkeit erheischende und sinnlosen Trost provozierende Befindlichkeit geben Hinweis auf den neurotischen Charakter. Schuldgefühle werden meist nicht versteckt, sondern eher betont. Sie gestalten Larmoyanz, Wehleidigkeit und Klagsamkeit aus, und in sozialen Beziehungen sind sie lästig, an ihnen erstickt jeder Spaß, sie verhindern Freude und Lust, sie verursachen eine bedrückende Atmosphäre, einen Mief von Vorwurf, Anstrengung, Last, Entschuldigungen, Ängsten und verdeckter Aggressivität. Schuldgefühle vergiften die Beziehungen.

Wirkliche Schuld dagegen wird gerne verborgen, verdrängt, rationalisiert und ideologisiert. Meist wird sie abgespalten und unbewußt auf andere projiziert. Wird diese Schuld aber wirklich zugelassen und erlebt, wirkt sie wie jeder echte Gefühlszustand ansteckend: Unweigerlich werden schmerzliche Zustande von Ohnmacht, Verzweiflung und Entsetzen im Gegenüber ausgelöst, was allerdings nach tiefer Erschütterung schließlich auf beiden Seiten deutliche Entspannung und befreiende Erleichterung trotz allen unveränderbaren Schuldig-Geworden-Seins erlaubt. Natürlich muß der Gesprächspartner über eigene tiefe Schulderfahrung verfügen und dies nicht mehr abwehren müssen, sonst wurde er unweigerlich das Gespräch stoppen oder in eine andere Richtung lenken, wenn der Schuldige sich wirklich offenbaren möchte.

Dies möchte ich besonders betonen, daß Schulderfahrung und -bekenntnis vor allem ein emotionaler Vorgang ist, getragen von Schmerz, Bitterkeit, Verzweiflung und tiefer Erschütterung. Dadurch, daß der Schmerz der Schulderfahrung wirklich anrührt und betroffen macht, wird der Beziehungspartner in die Lage versetzt, wirklich vergeben zu können. Schuldige erkennen sich auf diese Weise miteinander. Nur das Wissen um eigene Schuld und die selbsterfahrene tiefe Erschütterung durch Schulderkenntnis schaffen den Boden für Verzeihen und Versöhnen.

Zwischen einem solchen Geschehen und dem christlich-ritualisierten Schuldbekenntnis mit der zugesprochenen Vergebung oder der von den kommunistischen Parteien geforderten Selbstkritik oder der aufgenötigen Reue und Entschuldigung bei autoritärer Erziehung liegen Welten.

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Nur die emotionale Entlastung nach wirklich durchlittener Schuld schafft die Voraussetzung für echte Buße und erlebte Vergebung. Dagegen verstärken abgerungene Reue und geheuchelte Vergebung nur Schuldgefühle. Das gilt auch für unser Rechtssystem und den Strafvollzug. Wenn dies nicht bloß zur »technischen« Bekämpfung der Kriminalität oder gar zur institutionalisierten Rache degenerieren soll, muß sie Methoden der psychosozialen Resozialisierung entwickeln.

 

Jeder mag für sich den Vergleich anstellen, wie sehr er sein Leben nach Forderungen ausrichtet wie: Du sollst ...; Du mußt ...; Du darfst nicht ... — Forderungen also, die sich am Erfolg, an Effizienz und Stärke, an Sieg und Überlegenheit, an Beherrschung, Kontrolle, Gehorsam, Ordnung und Disziplin, an Tüchtigkeit und Perfektionismus, an Macht und Ruhm, an Geltung und Geld, an Besitz und Haben orientieren. Solche Forderungen und Werte ziehen in der Regel Schuldgefühle nach sich. Dagegen wird zwangsläufig schuldig derjenige, der seine eigenen Bedürfnisse verleugnet, seine Gefühle unterdrückt, seine Gedanken verbirgt, die eigenen Fehler vertuscht, seine Absichten verschleiert, seine Vergangenheit verklärt, die Gegenwart verzerrt und die Zukunft mit der rosaroten Brille des hohlen Optimismus als nur hoffnungsvoll phantasiert.

Wir brauchen nur bei uns anzufangen und die wesentlichen Grundbedürfnisse des Menschen durchzu­buch­stabieren, um uns das Ausmaß unserer Schuld zu verdeutlichen: Wir atmen zu oberflächlich und häufig nur noch schadstoffreiche Luft. Wir ernähren uns falsch: zu viel, zu süß, zu fett und meist nur noch denaturierte und übermäßig schadstoffbelastete Lebensmittel. Wir bewegen uns zu wenig und zu einseitig, wir lassen uns bewegen äußerlich durch Verkehrsmittel und innerlich durch Streß ohne hinreichende Abfuhr. Wir beachten nicht mehr unsere natürlichen Rhythmen, wir putschen uns auf, wenn wir müde sind und sedieren uns, wenn uns Unruhe und Schlaflosigkeit plagen. Unsere Sexualität koppeln wir immer mehr von der Liebe ab.

Technik, Leistungshaltung und Pornographie sollen ersetzen, was an lustvoller Hingabefähigkeit verloren gegangen ist, und gar nicht so selten bleibt Sexualität auch heute noch gemäß der christlich-asketischen Tradition und der repressiven Erziehung schuldbehaftet. Und dabei lenken wir uns permanent von den inneren Vorgängen ab, gar nicht zu reden wie sehr die Allerweltströster (Alkohol, Nikotin, Kaffee) unseren verlorenen Rhythmus ausgleichen sollen.

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Wem das lächerlich erscheint, der hat keine Ahnung von den seelischen Spannungen, denen wir durch Überformung und Verleugnung der natürlichen Bedürfnisse sowie ihrer bloß kompensatorischen Befriedigung ausgesetzt sind — allein eine Nacht Stromausfall oder einige Stunden ohne Fernsehen könnten das Land bereits in ein Tollhaus verwandeln.

Der seelische Untergrund unserer sogenannten Zivilisation ist zu blindem Egoismus, gierigem Habenwollen und schwer zu kontrollierendem Haß degeneriert. Je entfremdeter die Menschen in ihren Seelen sind, desto stärker werden ihre destruktiven Reaktionen sein und umso furchterregender werden die Mittel sich gestalten, mit denen die Gesellschaft diese destruktiven Kräfte in Schach zu halten, zu bannen oder auszuagieren versucht. Und für diese psychologischen Mechanismen, für diesen Teufelskreis aus Entfremdung und Macht sind wir durchaus verantwortlich.

Aber noch etwas anderes ist in diesem Zusammenhang wichtig. Jede Therapiestunde beweist mir aufs Neue, daß ein psychisch »freier« Mensch, weder fähig noch willens ist, repressive Normen zu erfüllen oder sie anderen aufzuzwingen. Es gibt da eben so etwas wie eine natürliche Moral, die jenseits der seelischen Entfremdung wieder auftaucht und aus dem ungebrochenen Verhältnis zu sich selbst entspringt. Wer sich nicht lieben kann, kann keinen anderen lieben, wer sich nicht in die Augen schauen kann, kann dem Du im anderen nicht begegnen, und dadurch wird die Erfüllung aller sozialen, auf die Würde des anderen Menschen gerichteten Normen tief gestört. Da muß dann Ersatz her: statt Liebe Geld und statt Anerkennung um seiner selbst willen Prestige, das man durch Erfüllung rein äußerlicher Ersatznormen erlangt — Fleiß, Tüchtigkeit, Stärke, Reichtum, Anständigkeit usw. So wird der Grund für soziale Schuld gelegt, vom einfachen Verrat bis hin zum organisierten Massenmord und dem das erst ermöglichende Mitläufertum.

Aber wer sich selbst liebt, sich in seiner Begrenztheit und Fehlbarkeit annehmen kann und sich unverstellt-authentisch zu zeigen wagt, der liebt auch fremde Menschen und versteht deren Fehler und achtet ihre Grenzen. Ein solcher spricht: Ich mag dich, aber dies gefällt mir nicht und macht mir Angst und laß uns Möglichkeiten finden, miteinander auszukommen, obwohl wir so verschieden sind. 

Es gibt ein tiefes natürliches Bedürfnis nach Verbundenheit, nach Verständigung, nach Klärung — stets den Streit und das wechselseitige sich Abgrenzen eingeschlossen. Wer Glück gehabt hat, dem sind solche Chancen, dies zu erleben, mit in die Wiege gelegt worden, den meisten aber wurde diese Erfahrung verwehrt, er kann sie sich aber selbst wieder freischaufeln.

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Ich sehe kein anderes Ziel, das zu erreichen sich mehr lohnen würde oder moralisch akzeptabler wäre angesichts der Vorboten der herauf­ziehenden großen Konvulsion.

Liberalität und Demokratie können niemals als aufgegebene oder gar nur aufgezwungene Norm funktionieren. Solange Menschen in sich Fremdes, Unannehmbares, peinliches. Beschämendes, Ängstigendes, Verbotenes fühlen und unter Verschluß halten oder so tief versenkt haben, daß sie gar nicht mehr ihre eigenen, von der akzeptierten Norm ausgegrenzten »Minderheiten« wahrnehmen, solange sind sie zur Demokratie nicht fähig. 

Sie können bestenfalls »Demokratie« als ein gefährliches Theater spielen — ihre Moral ist dann angelernt und aufgesetzt, sie geht mit der Mode, mit der Zweckmäßigkeit, dem Profit und der Macht. Dies war der vorherrschende Zustand in der Deutschen Demokratischen Republik, und haarscharf dasselbe zwingt uns, die vielgerühmte westliche Demokratie auf: das raffinierte, trickreiche, erpresserische »Spiel« mit den Mehrheitsverhältnissen. Es wird gelogen, vertuscht, geheuchelt, verschwiegen, verfälscht, verführt, genötigt, gekauft und erpreßt, um zu Mehrheiten zu gelangen und um die Minderheiten auszugrenzen. Aber gerade sie verkörpern die abgewehrten Interessen und zeugen von vergessenen, vernachlässigten und verfehlten Bedürfnissen und Notwendigkeiten, die zwingend erkannt und integriert werden müßten. 

Ehret also die Außenseiter, die Ver-rückten, die Lästigen und Bedrohlichen — sie zeigen uns die Bereiche, die wir vernachlässigt haben, und die Richtung, in die wir uns bewegen müssen, um in der Gesellschafts­entwicklung nicht zu degenerieren. Wer Demokratie wirklich will, muß mit sich selbst demokratisch im besten Sinne umgehen lernen und das heißt: das Erkennen, Akzeptieren und Integrieren der verpönten Anteile des eigenen Seelenlebens ermöglichen und die Grenzen, die Fehler und das schuldhafte Versagen im eigenen Verhalten nicht mehr verbergen müssen.

Wir aber sollen ein »Demokratie-Spiel« akzeptieren, das das individuell Unannehmbare stets nur nach außen projiziert und in verteilten Rollen sich nur die jeweiligen Stichworte gibt. Ich bin über diese politische Kultur enttäuscht, ich schäme mich der peinlichen und billigen Rollenspiele und ängstige mich angesichts der selbstgerechten Arroganz und undurchdringlichen Abwehr, die an den Fingern abzählen läßt, wie lange es noch dauern wird, bis das persönlich Unterdrückte und auf andere Delegierte sich wieder mal zum großen Ausbruch zusammenrotten wird.

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Es brennen ja schon längst wieder die Häuser in Deutschland, und fremde Menschen werden erschlagen, und alle schauen mit großen dummen oder entsetzten Augen zu, ohne wirklich begreifen zu wollen, was los ist.

Weil es aber diese natürliche Moral gibt und selbst durch seelische Entfremdung hindurch das Gewissen konstituiert, kann sich keiner auf den bloßen Opferstatus herausreden. Die Schuld der autoritären oder liebesunfähigen Eltern ist in der Regel umfassend, und dennoch ist jeder Mensch, sobald er soziale Reife erreicht hat, zur Ablösung von den Eltern und zur kritischen Auseinandersetzung mit allen überlieferten Normen und Werten verpflichtet. Er muß sich aneignen, er muß modifizieren oder verwerfen, was er vermittelt bekam. Er muß die eigenen Werte definieren und sein Verhalten schließlich selbst verantworten. 

In diesem Spannungsfeld zwischen Bewahren und Verwerfen dürfen die Einflüsse und Wirkungen des Familienklimas, der vorherrschenden Atmosphäre, der kaum ausgesprochenen Überzeugungen und Haltungen nicht vergessen werden, weil diese mitunter schwerwiegendere und gefährlichere Wirkungen haben als klare autoritäre Zwänge und repressives Unrecht. Auch die als wertvoll verkündeten, ja selbst die als positiv erlebten Haltungen bedürfen der kritischen Kontrolle, weil die Bedingungen der sich ändernden Zeit wie auch die individuellen Möglichkeiten völlig anders sein können als dies für die Eltern der Fall war.

Was für die Eltern unzweifelbar gut und richtig war, muß dies für die Kinder längst nicht mehr sein. Gravierende Fehlhaltungen bei den Eltern führen auch häufiger dazu, daß die Nachkommen nun betont das Gegenteil von dem tun wollen, was die Eltern taten. um ihnen ja nicht zu ähneln. Aber auch dieses Bemühen erzeugt eine Unfreiheit, die als Gegenabhängigkeit angemessen bezeichnet ist. Zur Erinnerung an diese Gefahr hilft ein scheinbar paradoxer Satz: daß man erst dann wirklich frei ist, wenn man etwas tut, obwohl es einem die Eltern angeraten oder abverlangt haben.

Ein solcher Prozeß der permanenten Auseinandersetzung, Klärung und In-Frage-Stellung bedeutet immer auch Unsicherheit und Angst. Die Entthronung von Autoritäten macht das Leben freier, aber zunächst nicht leichter. Die Wahrheit über erlittene Unbill tut weh, die Erinnerung an Betrug, Kränkung und Demütigung löst Wut und Zorn aus. Das Bewußtwerden von Mangel und Defizit verursacht Schmerz, und versäumte und verfehlte Lebensmöglichkeiten sind mit Trauer verbunden und weitergegebene Schuld ist belastende Bitterkeit und schmerzliche Verzweiflung.

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Schließlich müssen auch Gewohnheiten und Bequemlichkeiten aufgegeben und eigene risikobelastete Entscheidungen getroffen werden, die durch kein Herausreden und Verweisen auf eine Obrigkeit im Falle des Verfehlens mehr abgemildert werden können.

Es ist ein Prozeß, der von auferlegten Schuldgefühlen zu möglicher, auch unvermeidbarer Schuld, aber auch zu erkennbarem und damit vermeidbarem Fehlverhalten führt. Entscheidungsfreiheit, Verantwortlich­keit und Schuld sind untrennbar. Und Schuldbekenntnis. Vergebung und Versöhnung sind der Humus für liebende Partnerschaft. Freundschaft und soziale Beziehungen, die die Würde des anderen achten.

So ist also jeder erwachsene Mensch verantwortlich dafür, wie und womit er seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt. Der Mensch trägt z.B. Verantwortung für seine Gesundheit und darf von der Medizin nicht kritiklos entschuldigt werden. Und verantwortlich sein heißt nicht moralisch verurteilt sein im Falle von Erkrankung, sondern mündig sein, zur Selbsthilfe fähig sein und die Selbstregulierungskräfte freilassen können wie auch gesundheitsförderndes Verhalten entwickeln, das der Arzt nur unterstützen, ermutigen und als Weg zeigen, aber nicht abnehmen kann (»der Arzt hilft, die Natur heilt«). 

Der Mensch ist verantwortlich dafür, was er denkt und an Gefühlen zuläßt oder zurückhält, welche Normen und Werte er akzeptiert, wie er seine Beziehungen gestaltet, was er der Umwelt zumutet und wie er die Natur schützt und erhält. Und er ist natürlich für die Ordnung verantwortlich, die unser soziales und politisches Zusammen­leben organisiert und regelt. Er kann sich nicht mehr entschuldigend auf seine unglückliche Kindheit berufen, nicht mehr nur die Umstände und Verhältnisse verantwortlich machen, sich auf einen Befehls­not­stand herausreden oder sich selbst und anderen einreden, er würde nur zum Wohle des Nächsten, zum Besten des Volkes oder für menschliche Erleichterungen handeln.

Natürlich gibt es Verhältnisse, die es einem Menschen sehr schwer machen, seine Verantwortung zu über­nehmen (siehe Beispiel DDR), aber auch Bedingungen, die es leicht machen, auf persönliche Verantwortung zugunsten der allgemein gebilligten und erfolgreichen Verhaltensweisen zu verzichten (siehe Beispiel BRD), und es gibt tatsächlich so belastende Kindheitserfahrungen, von denen man sich kaum wieder richtig erholt oder Befehlssituationen, denen man sich kaum entziehen kann, ohne das eigene Leben zu bedrohen — das alles stelle ich überhaupt nicht in Abrede. 

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Ich halte aber solche Erklärungen — und wenn sie noch so stichhaltig sind — nur für behelfsweise erlaubt oder für sekundär, nachdem überzeugend und das heißt einfühlbar die innerseelische Situation offenbart worden ist und verständlich wurde, welchen individuellen Sinn das jeweilige Verhalten macht. Befehl und Nötigung, aber auch Zufall und Schicksal sind zur alleinigen Begründung nicht akzeptabel. Letztlich ist auch eine Psychologie des Opfers erlaubt, um zu tieferen Wahrheiten vorzudringen, ohne damit z. B. die strafrechtliche Schuld eines Täters vermindern zu wollen. Wie sehr allerdings auch die »passiven« Anteile der Opfer, also Schweigen, Erdulden, Geschehenlassen und Leiden und die »halbaktiven« von Hinhalten, Aufmuntern, Anreizen, Verführen, Provozieren, zur Tat beitragen, weiß jedes Gericht, jede Therapie- und Konfliktberatung und jede historische Studie zu belegen.

Der Mensch ist verantwortlich für seine Beziehungen. Er ist nicht für den anderen — Erwachsenen, körperlich und geistig Gesunden — verantwortlich, aber dafür, wie er die Beziehung zu ihm gestaltet. Nicht der andere macht uns froh oder traurig, nicht die Kinder sind der Grund für empfundene Belastung oder die Ursache für Karriereverzicht, nicht die Droge macht uns süchtig, und kein Partner kann mir den Orgasmus machen, und es bestimmt auch keine Partei letztlich über mein Leben, und die Stasi ist nicht der Grund für meine Angst, und nicht der Markt macht mich arm oder reich, und die Demokratie macht mich noch nicht frei.

Natürlich gibt es Einflüsse, die erheblich Empfindungen und Gefühle befördern oder behindern können, doch letztlich bleibt es bei mir, ob ich mich ärgern oder freuen will, ob ich meine Lust zulasse oder verweigere, ob ich mich den vorhandenen Bedingungen überlasse oder mich ihnen entziehe. 

Ich kann meine Angst zwar einem Ängstiger zuschieben, aber wenn der wegfällt ist meine Angst noch längst nicht weg. Ich kann mich auch überall in der Welt frei bewegen dürfen und verlasse doch nicht das innere Normengefängnis. Und eine Droge kann erst dann den Menschen versklaven, wenn dieser bereits eine süchtige Betäubung seiner angehäuften Not braucht. 

Meistens aber wird »verkehrte Welt« gespielt und Anlässe, förderliche oder hinderliche Bedingungen zur Ursache, zum letzten Grund erklärt und damit die Verschiebung von mir zu dir. von der Verantwortlichkeit m die Abhängigkeit, von der Schuld zur Entschuldigung vollzogen.

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Der Zusammenhang zwischen repressiver Erziehung und Schuldgefühlen ist verhängnisvoll, sowohl für das Leben des einzelnen wie auch für eine ganze Gesellschaft, wenn die Erziehung bei der Mehrzahl der Menschen einen Mangelzustand und Gefühlsstau hinterläßt. Schuldgefuhle sollen dann der unbestimmten Spannung einen Namen geben und die unannehmbare Wahrheit verbergen helfen. Aber gerade dadurch wird immer mehr Schuld verursacht, weil das hilflose Bemühen um Kompensation des Mangels und Verminderung der Spannung immer mehr selbstschädigendes Verhalten provoziert, den suchtartigen Gebrauch von Mitteln zur Dämpfung und Ablenkung fördert und zum sozialen Ausagieren gegen andere verführt. Dabei wird die reale Schuld gar nicht mehr empfunden, sondern sie wird in persönliche Rationalisierungen, realpolitische Zwänge, wirtschaftliche Notwendigkeiten, wissenschaftliche Beweisführungen, politische Machtkämpfe und religiöse und therapeutische Ideologien eingehüllt und in einer Ethik des Notwendigen und Machbaren eingesponnen.

Schuldgefühle derart Wenn ich nicht geliebt werde, dann kann es nur an mir liegen! dienen der Abwehr bitterer Erkenntnis und schmerzlicher, ja lebensbedrohlicher Wahrheiten. Statt den Mangel zu erleiden, die Bedürftigkeit zu empfinden und die wirklich Schuldigen zu erkennen, wird das aufgenötigte Fehlverhalten selbst immer mehr vertieft und vorangetrieben, indem immer weiter, schneller, höher, immer mehr und fleißiger, immer bemühter die Idealnorm und die besondere Leistung erreicht und dargebracht werden möchte. Die ehemals sinnvolle Überlebenstaktik, die nicht erwünschten Bedürfnisse und Gefühle zurückzustellen und sich an die Erwartungen der Mächtigen anzupassen, und die schließlich dabei erreichte Meisterschaft, wie man bei aller Not herausspürt, auf welche Weise man doch noch ein Gran besonderen Interesses erwecken kann, ist schließlich für ein eigenständiges Leben als Erwachsener längst zur Behinderung geworden.

Die ehemals aufgenötigten Schuldgefühle, die als antreibende Kräfte wirkten, hinterlassen eine Spur von Fehlverhalten, für das man verantwortlich ist. Sie sind nun zur Schuld geronnen.

Längst hat man die eigenen Lebensmöglichkeiten vertan, die ursprünglich nur verhindert wurden, ist in Beziehungen Worte, Gefühle und Taten schuldig geblieben, die ursprünglich nur verpönt waren, und hat an die eigenen Kinder weitergegeben, was man unbedingt anders machen wollte, bis man sich schließlich doch in den alten Mustern wiederfindet und feststellen muß, daß man überhaupt noch stärker als befürchtet den eigenen Eltern ähnelt, und auch erkennen muß, daß man im Partner, den man gerade im Protest zu Vater oder Mutter wählte, immer mehr die verachtetsten Eigenschaften des andersgeschlechtlichen Elternteils wiederfindet.

Man wollte Schuld vermeiden und ist durch die eingeimpften Schuldgefühle erst recht schuldig geworden.

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Ich will im folgenden einen Vergleich aufmachen, der vielleicht helfen kann, diese schwierigen und kompliz­ierten Zusammenhänge etwas zu erhellen. Ich stelle die passenden Inhalte neurotischer Schuldgefühle und realer Schuld gegenüber.

 

Schuldgefühle    —   reale Schuld

Ich muß den Nächsten lieben wie mich selbst.   —  Ich liebe mich nicht.
Ich bin nicht artig genug. — Ich unterdrücke meine Wut. 
Mir mangelt es an Tapferkeit. —  Ich verberge meine Angst.
Ich kann nicht. —  Ich will nicht.

Ich muß mich noch mehr anstrengen. —  Ich arbeite zu viel.
 Ich bin nichts wert. — Ich verweigere die Führung und Verantwortung.
Ich muß mich fügen. — Ich sage nicht nein.
Ich habe schmutzige Gedanken. — Ich lasse meine Lust nicht zu.
Ich bin zu egoistisch, zu eitel. — Ich stehe nicht zu meinen Fähigkeiten, ich stelle mein Licht unter den Scheffel.

Ich kann eh nichts ändern. — Ich will mich nicht ändern.
Ich kann meinen Partner nicht glücklich machen. — Ich will mich nicht behaupten und auseinandersetzen.
Ich bin der Aufgabe nicht gewachsen. — Ich drücke mich.

Ich muß dienen. — Ich hindere mich am Leben.
Ich leide. — Ich verschließe mich.
Ich sollte, ich müßte ... — Es darf nicht sein, daß ich in Ordnung bin.
Ich kann hier nicht leben. — Ich will nicht wahrhaben, was in mir vorgeht.

Wir müssen für die deutsche Einheit noch mehr Opfer bringen.      Wir wollen uns nicht verändern.  
Ich bin Schuld an meiner Arbeitslosigkeit.  —   Ich habe falsch gewählt und Verantwortung delegiert.
Ich nehme mir das Leben. 
   Ich flüchte vor dem Konflikt, ich will meine Aggressivität nicht zulassen.

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Um sich das Ausmaß der Anstrengung, der notwendigen emotionalen Arbeit für einen Umstieg von neurotischen Schuldgefühlen zur realen Schuldfähigkeit zu vergegenwärtigen, mag sich jeder geneigte Leser in die folgenden vergleichenden Sätze hineinfühlen. Er wird dabei vielleicht feststellen, wie leicht ihm die Sätze auf der linken Seite über die Lippen gehen und wie schwierig es ihm erscheint, die Inhalte der Sätze auf der rechten Seite zu verwirklichen.

 

Schuldgefühle     —    Das notwendige Verhalten, um Schuld zu vermeiden

Ich bin so schlecht.   —    Ich kenne meine Schlechtigkeit und halte sie unter Kontrolle.
Ich bin ganz wertlos. — Ich zeige meine Werte.
Ich genüge nicht. — Ich bin gut.
Ich bin ein Versager. — Ich tue mein Bestes.
Ich bin nicht perfekt. — Ich tue, was ich kann.
Ich nehme mich zu wichtig. — Ich bin wichtig.
Ich bin zu egoistisch. — Ich hab' mich gern.
Ich habe schon wieder sexuelle Gelüste. — Ich erfreue mich meiner sexuellen Bedürfnisse.
Ich darf nicht so wütend sein
. Meine Wut steht mir zu.
Ich bin zu faul. — Ich sorge für meine Entspannung.
Ich habe schlechte Gedanken. — Meine Gefühle und Gedanken
helfen mir, mich besser zu verstehen.

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Und was es heißt, die meist als Entschuldigung vorgetragene Schuldabwehr aufzugeben und die eigene Schuld anzunehmen, kann man mit folgenden Sätzen nachspüren.

 

Schuldabwehr  —   Empfundene Schuld

Du bist schuld.  —  Ich bin schuld.
Das hat doch jeder so gemacht. —  Ich war zu feige.
Es ging doch um die Macht.  —  Ich bin bedürftig.
Entschuldige bitte, verzeih mir.  —  Ich entschuldige mich, es tut mir leid.
Ich habe keinem geschadet.  —  Ich habe falsch gehandelt.
Ich habe nichts davon gewußt.  —  Ich habe mögliches Wissen verweigert.
Das habe ich nicht gewollt.  —  Das ist das tragische Ergebnis von meinem Irrtum.
Ich habe auf Befehl gehandelt. — Mir mangelt es an Zivilcourage und Verantwortlichkeit.
Es war nicht so gemeint. — Es fällt mir schwer, zu meiner Meinung oder Handlung zu stehen.
Ich habe im guten Glauben gehandelt. — Ich habe mich verführen lassen.

Aus heutiger Sicht..... — Ich habe mich damals blind gestellt.
Man konnte nicht anders...  — Ich wollte nicht anders... 

Ich mußte doch an meine Kinder und Familie denken. — Ich habe meine Familie mit hineingezogen.
Ich mußte doch an meine Karriere denken. — Ich bin ein Arschloch.
Der Mensch ist nicht besser. — Ich will mich nicht bessern.
Das ist halt die Realität. — Ich stelle mich doof.

Ich war stets bemüht, das Beste draus zu machen. — Ich will die wahren Gründe meines Handelns nicht wissen oder zugeben; ich lüge.

Ich handle nur zum Wohle des Volkes/im Interesse der Menschen. —  Ich verberge meine wahren Interessen, ich will meine Beweggründe nicht zugeben oder meine unbewußten Bedürfnisse selbst nicht wahrhaben.

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Neurotische Schuldgefühle sind also das unvermeidbare Ergebnis autoritärer Erziehung und von Kultur­normen, die die Natürlich­keit des Menschen einschränken. Aber der Mensch kann nicht aus seiner Haut, er kann sich zwar zwingen und hemmen, verbiegen und verstellen, bleibt aber seinen natürlichen und ganz individuellen, je einmaligen Bedingungen und Möglichkeiten verhaftet. 

Aber wenn genau das Konstitutive und ganz Subjektive seines menschlichen Lebens permanent mißachtet, gering geschätzt und verleugnet wird und ständig einer fremden, von außen vorgegebenen oder von oben übergestülpten Norm Genüge getan werden muß, wird das Leben immer mehr durch Schuldgefühle belastet und vergiftet. Die auf diese Weise malträtierte Natur wird wider alle Repression oder Manipulation ihr Recht fordern und um Verwirklichung ringen, so daß der Mensch von einem ständigen Widerspruch innerer Wünsche und äußerer Gebote geplagt sein und sich quälen wird an der Differenzerfahrung zwischen Sollen und Wollen. Und die fremden und vorgegebenen Normen können niemals optimal erfüllt werden, so bleiben permanente Insuffizienzgefühle als Nährboden für die Schuldgefühle.

Die Freude am Leben, die Freiheit der Gestaltung und der aktive Unternehmungsgeist werden dadurch erheblich beeinträchtigt. In letzter Konsequenz führen Schuldgefühle zu Depression und Suizid oder zu Aggression und Gewalt. Aber neurotische Schuldgefühle sind prinzipiell vermeidbar, reale Schuld dagegen nicht. Schuld gehört unweigerlich zu jedem menschlichen Leben dazu. Es sind die individuellen Grenzen, die Schwächen und Behinderungen, ohne die kein Mensch ist. Es sind die kulturell aufgenötigten Einseitig­keiten, Blockierungen und Entfremdungen, und es ist die menschliche Unfähigkeit, jederzeit die komplex vernetzten Folgen seines Handelns zu überschauen.

Jeder Mensch bleibt sich und anderen im Leben etwas schuldig, muß auf unbelebtes Leben zurückblicken und wird, wenn er das eine tut, etwas anderes unterlassen müssen. Selbst bei redlichsten Motiven, genauester Planung und Berechnung und ernsthaftester Prüfung aller nur denkbaren Bedingungen ist schuldfreies Handeln dem Menschen nicht vergönnt. Daß letzten Endes alles menschliche Tun in seiner Bewertung stets zu relativieren ist und es keine Unfehlbarkeit gibt, halte ich angesichts der immer wieder aufkommenden absoluten Ansprüche von Machthabern, Parteien, Päpsten, Wissenschaftlern und Gurus für eine der entscheidenden Überzeugungen zum Schutz vor dem Einfluß demagogischer oder suggestiver Manipulationen, denen wir bedürftige Menschen nur all zu leicht zu verfallen drohen.

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Da der Mensch in seinen verschiedenen Lebensdimensionen — körperlich, seelisch, sozial und spirituell — schuldig werden kann, braucht er auch verschiedene Möglichkeiten zur Schulderkenntnis. Er braucht Information und Wissen, es sind Raum und Zeit nötig und auch Beziehung und Auseinandersetzung. Und für alles ist er allein verantwortlich. Und sehr viele Informations- wie auch Beziehungsangebote sind einfach falsch, verlogen, tendenziös und manipulativ. 

Dem Menschen ist die absolute Wahrheit und eine Garantie für das ständig Richtige nicht vergönnt. Aus den Nöten von Versuch und Irrtum wird keiner entlassen, und aus dem nie endenden Prozeß von Ausprobieren, Wahrnehmen, Erleben, Verändern und Verwerfen, gibt es kein akzeptables Entrinnen. Und dabei kann immer wieder Schulderkenntnis geschehen, die dann auch zur Schulderfahrung wird, wenn ich außer mir keinen anderen mehr schuldig nennen muß und auf niemanden mehr meine Schuld verschiebe und aufhöre, mich zu entschuldigen und zu erklären. Wenn ich allein den Schmerz zulasse, der mich dann erschüttern wird, geschieht Schulderfahrung. Dabei ist eine annehmende, akzeptierende Beziehung von großem Wert, also die Anwesenheit einer Bezugsperson, die bereit ist, zum Pol eines Spannungs­bogens zu werden, um die gestauten Energien nicht gelebten oder verfehlten Lebens abfließen zu lassen. Eine solche Partnerschaft kennt keinen Rat, keinen Trost und erst recht kein Urteil, sie ist mitfühlende Anwesenheit, die nur aus der Erfahrung der eigenen Schuld und des eigenen Schmerzes möglich wird und auszuhalten ist.

 

Eine solche Schulderfahrung, die nicht mehr Erklärung, sondern Bekenntnis ist, die sich als Schmerz über mißlungenes Leben artikuliert und die Hoffnung ausdrückt, trotz allem angenommen zu sein, und den Willen aktiviert, erkannte Schuld nicht fortzuführen und das eigene Leben so zu gestalten, bis individueller Sinn befreiend erlebbar wird, auch wenn dies nur für Augenblicke aufscheinen kann — eine solche Schulderfahrung beinhaltet alle konstitutiven Elemente einer Beichte: confessio, contritio, absolutio, satisfactio.  

Allerdings sehe ich vor allem Priester wie auch Therapeuten zumeist in der Gefahr, diesen Prozeß der Schulderfahrung eher zu verhindern, nämlich durch das Angebot einer ritualisierten Form des Schuld­bekennt­nisses und durch das zugesprochene Wort, das leider meist kein authentisches Zeugnis mehr ist, sondern nur noch Worthülse, Phrase, routinehafte Floskel und gar nicht so selten auch Lüge — ein Zeugnis allerdings der neurotischen Bedürftigkeit der »Stellvertreter« Gottes.

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 Und Ärzte machen dies meist mit Rat und Medikamenten aus ähnlicher Bedürftigkeit. So sehr wie die institutionalisierte Medizin viel mehr Krankheiten gewinnbringend organisiert und chronifiziert, so erzeugen und pflegen die verwalteten Kirchen viel häufiger gewinnbringend und machterhaltend die Schuld der Menschen. Das ritualisierte Versöhnungs­spiel verhindert die persönliche Betroffenheit, beutet die seelische Not der Menschen aus und bestätigt sie immer wieder nur als angstvolle und brave Duckmäuser, statt über Schulderkenntnis zur Wahrheit vorzudringen, um damit eine tiefe Abneigung gegen alle Formen autoritärer Macht stärken zu helfen. Genauso ist es beim Rechtssystem und im Strafvollzug, wo weniger Einsicht in das Fehlverhalten als die Disposition für neue Kriminalität produziert werden.

 

Im ersten Buch Mose, 23-33, lesen wir von dem Kampf Jakobs mit Gott, einem Ringen, das er nur mit einer Hüftverrenkung übersteht. Aus diesem Gleichnis können wir etwas von der abverlangten Kraft erkennen, die mit Schulderkenntnis verbunden ist und unvermeidbar Spuren hinterläßt. Zu diesem verzweifelten Kampf mit Gott sind wir aufgerufen und sollten darin bestärkt und begleitet sein, statt zum angstvollen Kuschen und zur frommen Lebensverweigerung verführt zu werden. Wir bleiben auf Gottes Liebe angewiesen, um für all das Unvermeidbare und Unüberschaubare, das einfach größer ist, als daß wir es verstehen oder gar kontrollieren können, und für das Umfassende, das wir nicht mehr zu vollbringen in der Lage sind, Vergebung zu erfahren. 

Die Erfahrung seiner liebenden Vergebung bleibt aber an eine tiefe Schmerzerfahrung gebunden. Jeder von uns muß auch seinen eigenen Leidensweg gehen, jeder von uns hat sein eigenes Kreuz zu tragen und ist von Jesus Christus angesprochen, sich mit seiner Lebensart auseinanderzusetzen. Ich glaube nicht mehr, daß dieser Weg lebensverändernder Erkenntnis durch die verwalteten Kirchen führt. 

Und die tiefe existenzielle Schuld sollte nicht verwechselt werden mit der Schuld, die ich mir selber oder dem Nächsten zufüge. Diese ist auch nicht so sehr Gottes Angelegenheit, sondern die Vergebung, die ich mir selbst schuldig bin oder die ich von dem Nächsten erhoffen darf, an dem ich schuldig geworden bin, bleibt meine eigene Sache. Aber dafür brauchen wir Menschen Kontakt und Auseinandersetzung mit den eigenen und den fremden Lebensgewohnheiten, und wir brauchen Raum für unsere eigenen Gefühle und für lebensverändernde Möglichkeiten, was wir uns alles aber nur selbst geben oder nehmen können.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß autoritär-repressive (DDR) und autoritär-manipulative (BRD) Staatsformen, wie auch autoritäre Kirchen sehr viel Schuldgefühle in den Menschen erzeugen, denen keine wirkliche Schuld zugrunde liegt. Aber die Nötigung zu bestimmten Lebensformen läßt schließlich auch die meisten Menschen schuldig werden, dafür aber wiederum soll kein Schuldbewußtsein entstehen können.

Wir müssen also vielfache Mechanismen und Rituale erkennen, die durch Politik, Religion, Wissenschaft, Kultur und Kunst gepflegt und verwaltet werden, um wirkliche Schuld zu verdrängen und sie verschieben zu helfen.

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