Start   Weiter 

2  Der ungelöste Gefühlsstau 

 

 

15-19

Hätten wir uns eine Chance gegeben, unseren Gefühlsstau wahrzunehmen und aufzulösen oder wenigstens zu vermindern, dann hätte sich latente irrationale Angst in angemessenen Zorn, in berechtigten Schmerz und in Trauer auflösen lassen. Da wir es aber vorgezogen haben, den bequemeren, aber illusionären Weg der Erwartung auf Erlösung von oben und außen zu gehen, so findet jetzt ein umfassender Prozeß der Transformation von Angst in Schuldzuweisung statt.

Angst ist eine wichtige, das Überleben der Kreatur sichernde Reaktion, ein instinktiver Schutz zur Abwendung drohender Gefahr. Flucht oder Angriff hält die Natur dafür als sinnvolle Handlungsalternativen bereit. Doch der Mensch hat noch eine dritte Möglichkeit gefunden, die neurotische Variante, die inzwischen wohl häufigste Reaktion, die das Tier nur unter extremen Laborbedingungen zu entwickeln bereit ist. Bereits Pawlow hat uns gezeigt, daß auch Tiere in der Lage sind, neurotisch zu reagieren, wenn sie zu gleicher Zeit entgegengesetzten Reizen ausgesetzt werden, so zum Beispiel Nahrung und Elektroschocks.

Wenn also in Aussicht gestellte biologische Bedürfnisbefriedigung gleichzeitig mit schmerzvoller Ängstigung ohne Ausweich­möglichkeit angeboten wird, dann geschieht auch bei Tieren das, was heute als Massenerscheinung den Alltag der Menschen bestimmt: Nervosität, Gereiztheit, Angriffslust und eine Vielzahl von funktionellen Fehlreaktionen und psycho­somatischen Störungen. 

Solche extremen Bedingungen gehören beim Menschen heute schon in seiner frühen Kindheit eher zur Regel als zur Ausnahme: das nicht gewollte oder nicht wirklich angenommene, das nicht geliebte und nicht umfassend befriedigte oder das für die Bedürfnisse der Eltern mißbrauchte Kind ist ein Massenphänomen! Und damit verbindet sich eine verhängnisvolle Doppelbotschaft: Wir haben dich gezeugt und geboren, wir haben dich gewollt, und wir wollen dich nicht so, wie du bist! Du lebst ein eigenes Leben, aber wir erwarten von dir, daß du unseren Vorstellungen entsprichst. Wie soll man damit zurechtkommen?

Wie ein Kind akzeptiert ist, wie auf seine Bedürfnisse eingegangen, wie sicher, zuverlässig, umfassend und angemessen Befriedigung erfahren wird, dies konstituiert im wesentlichen das weitere­­ Schicksal des Menschen.

Und wir Menschen sind »Nesthocker«, wir sind auf Gedeih und Verderb Ausgesetzte und Angewiesene, die zwar lebensbedrohliche Gefahr von Anfang an wahrnehmen, aber cht ohne Hilfe von Beziehungspersonen bewältigen können. Flucht ist, anfangs zumindestens, ausgeschlossen, und Angriff ist nur vermittels emotionalen Protestes durch Schreien, Weinen, Strampeln, in die Hosen machen und drauf Kotzen möglich. Und wenn diese berechtigten Gefühlsreaktionen auf das Unvermögen der Umwelt auch noch unterdrückt werden, dann bleibt nur noch der Rückzug nach innen, in die Krankheit,  in die ohnmächtige Verzweiflung und Verweigerung.

Der Mensch hat dazu einen gnadenvollen seelischen Trick zur Verfügung, der zwar letztlich verheerende Folgen hat, aber zunächst jedenfalls das Überleben sichert: Er befindet sich selbst für unzulänglich und in der Folge für schuldig. Er phantasiert eigenes Versagen, bauscht seine Fehler auf oder erfindet ein persönliches Ungenügen, um nur ja die wahren Ursachen nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Es kann nicht sein, daß die, von deren Liebe man völlig abhängig ist, böse sind. Wie wäre dann noch die für das Leben so wichtige, überlebenswichtige Liebe zu sichern? Der Säugling kann noch nicht die Spannung der Gleichzeitigkeit von Gut und Böse in einer geliebten Person aushalten. Es gibt für ihn entweder die nur »gute Mutter« oder die nur »böse Mutter«, und um sich das ausschließlich Gute wider alle anderen Wahrnehmungen zu erhalten, muß das Böse ausgeblendet, abgespalten und verdrängt werden.

Das Entweder-Oder ist eine infantile Alternativhaltung, die unsere Kultur prägt und die als Fixierung im Leben der Erwachsenen noch häufig anzutreffen und für unzählig viele feindselige Konflikte verantwortlich ist: Entweder du bist für uns oder du bist gegen uns, entweder du bist für den Frieden oder du bist für den Krieg, entweder du akzeptierst unsere Haltung oder du mußt gehen, entweder du beugst dich diesen Dogmen oder du bist nicht im rechten Glauben und du bist in Sünde — entweder du oder ich, das ist das Gesetz der Macht und des Marktes.

Für die kindliche Seele ist die Liebe das Leben und das Böse der Tod und so würde die Wahrnehmung von etwas Bösem an den Eltern einen lebensbedrohlichen Schock auslösen. Und wenn das Ignorieren zum Schutz nicht mehr ausreicht, dann folgt die verzweifelte Einrede: »Das kann nur an mir liegen, daß ich nicht richtig geliebt werde!« — mit der eine unfaßbare Ahnung beseitigt und mit­­ dieser tragischen Verschiebung gegen sich selbst das Überleben gesichert werden will.

16/17


So wird die Mangelerfahrung (das unerträglich Böse als fremde unberechenbare Macht) in Schuldgefühle (in erträgliches, selbst zu verantwortendes und damit berechenbares Leiden) abgemildert, um dann später in Krankheiten wiederzukehren oder ganz und gar im irrationalen Kampf gegen das Fremde und Andersartige wieder veräußert zu werden.

Damit ist der Basisweg aller späteren Formen der Verschiebung und Verdrängung von Schuld gebahnt — immer von den wirklichen Verhältnissen und Tätern weg. Wirkliche Schuld wird nicht mehr wahrge­nommen, sondern entweder als Schuldgefühl gegen sich selbst (in der depressiven Form: ich bin schuld, daß ... — ich habe versagt!) oder in der aggressiven Form: du bist schuld, daß ... gegen andere, die schwach und wehrlos sind, gerichtet. So werden Sündenböcke zum Abfluß der berechtigten Aggressivität in einer vollkommen ungerechten Weise mißbraucht. Damit erfährt die Entwicklung eines moralischen Empfindens eine schwere Beschädigung: Die Schuld der wahren Verursacher wird vertuscht (aus Überlebensgründen!), bis sie schließlich nicht mehr wahrgenommen wird — an ihre Stelle treten schädigende Selbstbezichtigung und falsche Fremdbeschuldigung. Eine moralische Integrität kann nur aus der Übereinstimmung der ungetrübten Wahrnehmung mit dem wirklichen Geschehen wachsen, wenn Gutes als gut und Böses als bös empfunden, ausgedrückt und bestätigt werden.

Man darf ruhig die meisten heutigen Eltern als die Durchschnittsvariante der Pawlowschen Extrem­beding­ungen verstehen: Sie üben eine Doppelfunktion aus als angsterzeugende Monster einerseits, wenn sie zur Einfühlung, Befriedigung und Bestätigung nicht in der Lage, nicht bereit sind oder sich dazu keine Zeit lassen, und zugleich werden sie andererseits stets als sehnsuchts- und hoffnungsbesetzte Erlöser und Befreier angesehen, als mögliche Quelle der Befriedigung, die im ungestillten Zustand wegen der hilflosen Abhängigkeit nicht einfach aufgegeben oder gegen eine bessere ausgetauscht werden kann.

Und hin und wieder sprudelt diese Quelle ja auch, doch eben nach anderen, für das Kind meist unberechenbaren Regeln und Voraussetzungen, nach denen der Eltern nämlich, die sich der Macht des Kindes entziehen und von Anfang an fremde Rhythmen und Bedingungen aufoktroyieren. Ich habe schon in meinem Buch Der Gefühlsstau zu beschreiben versucht, wie die­­ menschliche Bedürftigkeit und ihre nie sichere Erfüllung durch meist selbst bedürftige Eltern in einer hochgradig entfremdeten Welt die ständige Reproduktion der seelischen Not erzwingt.

17/18

In meiner therapeutischen Arbeit bin ich immer wieder zutiefst erschüttert, wenn nach langer Vorbereitung, nach einem mühevollen Annäherungsprozeß schließlich die ganze Wahrheit über die frühen Erfahrungen zugelassen wird: Da bricht ein panikartiges Entsetzen aus dem Menschen heraus, das immer noch die frühe Todesgefahr erlebnismäßig übermittelt.

Da leben Menschen scheinbar zufrieden und erfolgreich, wenn nicht irgendwann ein Symptom oder Konflikt als Signal anzeigt, daß ganz im Verborgenen ein »Brand« schwelt, der um alles in der Welt nie wieder auflodern soll, weil es einfach zu unerträglich ist. Wie eine verschworene Gemeinschaft haben wir uns Strukturen gegeben, die einem gemeinsamen Dienst verpflichtet sind: die Wahrheit zu verleugnen und von der Bewußtwerdung auszuschließen. Da ist die Leistungs­gesellschaft mit ihren zwanghaften Pflichten und süchtigen Zerstreuungen, die Medizin mit ihren symptomatischen Dämpfungsmaßnahmen, die Psychotherapie mit ihren Entspannungs- und Tröstungs­angeboten, mit der Ideologie vom »positiven Denken« und der »Förderung des Guten«, das Christentum mit dem verlogenen Erlösungsversprechen (es ist schlimm, aber sei getrost...) und die betroffenen Menschen mit ihrer dumpfen Ahnung existentieller Bedrohung und tiefster schmerzlicher Erschütterung, die nach Trost, Versprechungen, Illusionen, Verheißungen und Erlösungen nahezu gieren.

Aber der Schwelbrand bleibt nicht ohne Folgen. Er zerfrißt die Gesundheit, er schürt Konflikte, er liefert die für Kämpfe und Kriege notwendige Aggressivität und zwingt uns eine Vielfalt von süchtigen Ablenkungs- und Kompen­sationsmechanismen auf, mit denen wir schließlich unsere Umwelt zerstören. Die meisten Menschen in unserem Kulturkreis tragen Erfahrungen in sich, die so ängstigend sind, daß sie um alles in der Welt verborgen bleiben sollen. Die Strukturierung unseres gesellschaftlichen Lebens ließe sich auch aus dieser Perspektive beschreiben: im Dienste der Abwehr unserer latenten Angst.

Und jeder einzelne Mensch findet seine speziellen Methoden der Ablenkung (zum Beispiel Zerstreuung), der Dämpfung (zum Beispiel Alkohol, Nikotin, Medikamente, Drogen) und Kompensation (zum Beispiel Leistung) und schließlich auch des Ausagierens (zum Beispiel Gewalt, Konsum, Macht). Von Zeit zu Zeit scheinen sich diese individuellen Entlastungsmöglichkeiten­­ einzuschwingen in eine kollektive Katharsis (zum Beispiel Kriege, Pogrome, Lynchexzesse) entlang der durch die jeweiligen politischen und sozialen Bedingungen vorgegebenen Leitschienen.

Mir scheint, daß wir uns einer solchen Zeit wieder nähern. Der Gefühlsstau, der sich zuletzt im Zweiten Weltkrieg verheerend destruktiv entladen hat, erreicht allmählich wieder eine kritische Schwelle. Wir können diesen Prozeß im Moment in Deutschland noch wie in einem Labor beobachten, vor unseren Türen ist er bereits wieder offen ausgebrochen (siehe Jugoslawien). Der Ost-West-Konflikt hatte destruktive Energien gebunden, diese Kompensationsfunktion ist erschöpft. 

Jetzt suchen die anwachsenden, überschüssigen destruktiven Energien neue Anlässe und vor allem neue Träger, also Opfer, die Anlaß zur energetischen Entladung geben sollen. Anhand der momentanen rasch wachsenden Sündenbocksuche läßt sich dieses Geschehen relativ gut aufzeigen. Schuldverschiebungen sollen sowohl rationale Begründungen wie auch emotionale Affekte transportieren, sie sind sozusagen die Vorübungen, bis man sich auf den neuen »Juden« als Hauptsündenbock eingeschossen hat. Im Moment sind es gerade noch die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi und auch die jeweils anderen Deutschen, schon kündigt sich aber der mörderische Haß auf Ausländer an, und am Ende werden es die Armen sein, bevor wir dann in die neue selbst­organi­sierte Katastrophe stürzen.

Ich habe mir vorgenommen, diesen Prozeß solange ich kann, analysierend und beschreibend zu begleiten. Ich sehe das als einen relativ hilflosen Versuch, meine eigene Ohnmacht und Angst etwas abzumildern, immer verbunden mit einem Rest fast magischer Hoffnung, durch das Aussprechen das Unvermeidbare doch noch zu bannen.

Die Entrüstungswelle, die jetzt durch unser Land geht, ist nur ein mickriges Ventil und steht vor allem im Dienste einer gefährlichen Ablenkung und Verschiebung, sie ist ein erbärmlicher und verlogener Ersatz für die notwendige echte Entrüstung über unsere Lebensverhältnisse, die uns in eine Entfremdung zwingen, mit der wir uns und andere zugrunde richten.

19

 

 

www.detopia.de      ^^^^