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Von mir

 

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»Was Peter über Paul sagt, sagt mehr über Peter als über Paul!« - Dieses Buch ist meine Sicht über die Menschen in der DDR. Und ich schreibe nicht nur über DDR-Bürger, sondern vor allem als DDR-Bürger. Ich bin ein Betroffener, als Opfer und Täter in einem totalitären System, dessen schädigendem Einfluß sich keiner entziehen konnte. Ich habe als Psycho­therapeut in diesem System eine Nische gefunden und einen Weg gewählt, um in einer schweren Gesell­schafts­deformierung meine Identität zu bestimmen, die trotz eigener Einengung und Verbogenheit Würde zu wahren versprach.

Auch viele andere haben in ähnlicher Weise darum gerungen, ihre gesunden Anteile zu schützen und zu entwickeln und der Unterdrückungs- und Entfremdungs­walze zu entziehen. Die vielen kleinen menschlichen Gesten und freundschaftlichen Gespräche, die unerwarteten Hilfen und Freuden im Privaten und Verborgenen, wenn die »Kralle« nicht gegenwärtig schien und ganz selten auch mal im öffentlichen Rahmen, wenn das Wunder der Zivilcourage geschah, das waren die Hoffnungs­schimmer und Mosaiksteinchen der pulsierenden Lebendigkeit, die mir halfen, trotz allem auch gut zu leben. Vor allem das gemeinsame Arbeiten, manchmal auch Schimpfen und Fluchen und das subversive »Verschwörungs­spiel« im kleinen Kreis hat Beziehung gestiftet und emotionalen Halt gegeben. 

Die freundschaftlichen und liebenden Beziehungen waren in der Kälte und dem Schweigen, in der Verlogenheit und Angst die Basis für das Überleben. Und in der psychotherapeutischen Arbeit bin ich auch reichlich belohnt worden durch die erreichbare Offenheit und Ehrlichkeit, durch die emotionale Nähe und die gesunde Kreativität, die ich befreien helfen und begleiten konnte und in die ich ja auch mit einbezogen war. Die Patienten haben auch mir geholfen zu reifen und Grenzen zu erweitern. Sie gehören zu meiner Identität, und sie sind auch meine »Therapeuten«. Ich verdanke ihrem Mut zur »psychischen Revolution« Sinnerfahrung und Freiheit trotz der vielfach vorhandenen Mauern.

Der Berufsweg ist mein Selbstheilungsversuch. Zunächst war es der arrogante Umweg für eine notwendige Therapie, für die ich anfangs weder Einsicht noch Mut noch Gelegenheit hatte. Das Tabu, das mich in diesem Land und in der Familie umgab, war umfassend: Ich hatte etwa bis zu meinem 25. Lebensjahr keine Möglichkeit gefunden, mich wirklich zu öffnen, anzuvertrauen und mich damit auch besser verstehen zu können.

Erst in den therapeutischen Erfahrungen, die ich in der Ausbildung zum Psychotherapeuten machen mußte und dann zunehmend auch als befreiendes Geschenk empfand, fand ich allmählich aus meinem Käfig heraus. Mir blieb also auch die bittere Erfahrung nicht erspart, daß ich einen Beruf gewählt hatte, um vor allem bei anderen das zu sehen und zu behandeln, was ich bei mir selbst zu erkennen vermeiden wollte. Mein Zustand jetzt ist so, daß ich manchmal freiwillig und manchmal unfreiwillig in meine Neurose, in den Zustand innerer Gefangenschaft zurückkehre, aber Wege kenne und Freunden für Hilfe dankbar bin, auch wieder herauszufinden.

Vor allem danke ich meinen Mitarbeitern die Verbundenheit und die Auseinandersetzung, die ich stets brauchte, um im Meer des psychischen Elends ein sicheres »Zuhause« zuhaben und Fehler und Versagen rückgemeldet zu bekommen, dann aber auch der Hilfe und des Schutzes sicher sein zu können. Meine Partnerin in der Arbeit und im Leben, Marlitt Neumann, war mir mit ihrer Widerborstigkeit und Fähigkeit zur frechen Kritik ein ganz besonderer Prüfstein und eine große Herausforderung zur weiteren Erkenntnis und Klärung meiner Mutter- und Frauenproblematik. Sie ist mir mit ihrer Frische, der unverstellten Direktheit und liebenden Herzlichkeit die wichtigste »Therapeutin«. Unsere Verbundenheit gründet sich vor allem auf der Möglichkeit zur gemeinsamen emotionalen Begegnung in Angst und Lust, Haß und Liebe.

Als Psychotherapeut konnte ich in diesem Land ganz gut leben. Der Preis für dieses Nischendasein war, tagtäglich bitterstes seelisches Elend »ausgekotzt« zu bekommen und irgendwie verarbeiten zu müssen. Dabei habe ich immer auch meine Grenzen, meine Ungeduld und Intoleranz zur Kenntnis nehmen müssen. Mit meiner eigenen Therapie ist mir das allmählich leichter geworden, weil ich selbst nicht mehr so viel abwehren mußte. Geängstigt bin ich nur noch von Zuständen und Erfahrungen, die ich bei mir nicht kenne oder noch nicht zugelassen habe. 

Doch habe ich über die Jahre auch Wissen über das Leben in der DDR angehäuft, das mir zunehmend zur Last wurde, da eine öffentliche Diskussion über die ganze Wahrheit psychotherapeutischer Erfahrungen nicht möglich war und ich keine Hoffnung hatte, daß uns Therapeuten Gehör geschenkt und wesentlicher Einfluß auf das gesellschaftliche Leben möglich gewesen wäre. Am kurativen Ende eines oft unerträglichen, aber doch vermeidbaren Weges stehen zu müssen und für die Prophylaxe und die psychosozialen Veränderungen in der Gesellschaft und Medizin keinen Raum zu finden, war für mich schwer auszuhalten. Ich habe an den Gitterstäben dieses Gefängnisses immer wieder gerüttelt und keine Gelegenheit ausgelassen, um meine Kritik und meinen Unmut zu formulieren. Doch war meine eigene Zensur dabei mächtiger als mein Mut.

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So verstehe ich mein jetziges öffentliches Engagement, auch dieses Buch, als eine Reaktion auf diese nur mit zunehmender Mühe erduldete Lebenslage. Mit der »Wende« sah ich die Chance, endlich abzureagieren, was aufgestaut war, und ich sah mich auch in der Pflicht, meine speziellen Erfahrungen zur öffentlichen Diskussion zu bringen. Ich habe mit Erleichterung jetzt all das »absetzen« können, was ich jahrzehntelang erfahren, gespeichert, ertragen und auch mitgemacht habe. Auch ich hatte das abverlangte Schweigen weitestgehend akzeptiert und mich damit getröstet, auf meiner »psychotherapeutischen Insel« die Normen dieses Systems unterlaufen zu können. Sicher, ich habe diese Möglichkeit genutzt, das war für mich und viele Menschen sehr wichtig, dennoch war es auch ein Feigenblatt. Als Therapeut hatte ich es auch immer leichter als die Patienten. Ich blieb in meinem diakonischen und fachlichen Schutzraum, und sie mußten wieder hinaus ins ungeschützte gesellschaftliche Leben.

Die Perspektive und auch die Kompetenz für meine Analyse basiert auf den Erfahrungen, die einem Psychotherapeuten vieltausendfach eröffnet werden, wenn seelische Not und körperliches Gebrechen die Menschen zur Wahrheit aufrufen, zu Erkenntnissen, die sie lieber weiter vor sich und anderen verborgen hätten. Immerhin sind dies in den letzten zehn Jahren, seit Bestehen unserer psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle, etwa 5000 Menschen. Trotz dieser erdrückenden Erfahrungslast wird es vielen leicht erscheinen, da ich von Psycho­therapie­patienten ausgehe, sich als nicht Betroffene zu wähnen und wenn überhaupt, die aufgezeigten Probleme nur bei den »psychisch Kranken« zu akzeptieren. Dagegen kann und will ich nicht viel tun. 

Ich habe längst gelernt, wenn auch mit einiger Bitterkeit, daß kein Mensch von etwas zu überzeugen ist und ich auch nicht die Wahrheit für mich in Anspruch nehmen kann – und doch gehört zu meinem Leben auch die gute Erfahrung, daß übermittelte Erkenntnisse bei anderen Menschen wichtige Entwicklungen in Gang setzen, weil sie dazu gerade reif waren und praktisch nur noch eines Anstoßes bedurften. Auf diesen mitmenschlichen »Dienst« kann, glaube ich, keiner verzichten, auch wenn auf der anderen Seite der Mißbrauch veröffentlichter Meinung unvermeidbar ist. Ich hätte jedenfalls in dieser abgeschlossenen DDR-Gesellschaft im Beruf schlecht überleben können – psychosomatische und soziale Krisen haben dabei meinen Weg stets begleitet –, wenn ich nicht auch Zugang zu Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Arthur Janov, Alexander Lowen, Fritz Perls, Alice Miller, Horst-Eberhard Richter, Wolfgang Schmidbauer, Jürg Willi und noch anderen als geistige Väter und Mütter gefunden hätte. Die persönlichen freundschaftlichen Kontakte mit Walther Lechler, David Boadella und Eva Reich haben mich auf meinem Weg sehr ermutigt.

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Ganz besonderen Dank schulde ich meinen Lehrern, zwei wichtigen Persönlichkeiten in der Psycho­therapieszene der DDR, Jürgen Ott und Kurt Höck. In der ersten »wilden« Selbsterfahrungsgruppe auf dem Boden der DDR unter Leitung von Jürgen Ott bin ich entscheidend geprägt worden und fand wichtige Orientierungen für meinen Weg als Psychotherapeut. Von Kurt Höck habe ich lernen können, gruppendynamische Prozesse zu verstehen und therapeutisch zu nutzen. Seine eigensinnige Stärke und Sensibilität, die von Angst und Sehnsucht nach menschlicher Nähe gespeist wurden, haben in mir viel in Bewegung gebracht und waren die beste Schule meines Lebens.

Ich habe in diesem Buch soziale Rollen als Kompensationsversuche gegen die Repression beschrieben, und ich finde in mir Anteile all dieser Rollen. In meiner politischen Haltung und meinem beruflichen und sozialen Engagement zähle ich mich zu den Oppositionellen, in meinen Ideen bin ich Utopist und in meiner täglichen Arbeit durch und durch Realist.

Meine oppositionelle Einstellung war anfangs mehr eine familiäre Pflicht als eine bewußte eigene Leistung. Aus den einfachen Verhältnissen der Vorfahren waren die Großeltern und Eltern durch Unternehmergeist in das deutschnationale Bürgertum mit einem mittelständischen Betrieb »aufgestiegen« und verstanden sich, auch zur Abwehr der bäuerlich-proletarischen Herkunft, antikommunistisch. Materielles Besitzstreben war zum dominierenden Halt und Sinn geworden, um innerseelische Not abzuwehren. Die Vertreibung aus der sudetendeutschen Heimat (1945) blieb das tiefsitzende Trauma, das die innere Problematik hätte aufreißen können, aber im SED-Staat leider den geeigneten Sündenbock fand (interessanterweise nicht in Hitler und dem NS-Regime!). So wurden mir von klein auf die Lügen, Fälschungen und Mißstände des »sozialistischen« Systems ständig vor Augen geführt.

Es galt als Ehre, sich ausschließlich aus dem Westen zu informieren, DDR-Nachrichten waren verpönt, Informationen aus dem eigenen Lande wurden nur zugelassen, wenn es um existentielle Mitteilungen oder den Wetterbericht ging. Ich wuchs praktisch in einem antisozialistischen Ghetto auf, und erst viel später erfuhr ich, daß es ganz ähnliche »Käfige« – rote und schwarze – in Familien der Partei und der Kirche gab. Erst in der Studentenzeit nahm ich wirkliche Kontakte zu Kommilitonen aus den anderen psychosozialen Ghettos auf, und erst als junger Arzt setzte ich mich auch mit Genossen der SED persönlich auseinander und konnte viele Verhaltensweisen besser verstehen, wobei auch gute Freundschaften entstanden. Besonders die sehr innige Beziehung zu Rolf Henrich hat mich nachhaltig beeinflußt.

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So war einerseits das Doppelleben zwischen Familie und Schule und Gesellschaft eine komplizierte Qual, die ich vor allem durch Abspaltungen und Gefühlsunterdrückung zu bewältigen versuchte. Eine aggressive Entlastung brachte andererseits das »Spiel«, die Dummheit und Charakterschwäche der meisten roten Lehrer und Funktionäre im kleinen Kreis der verschworenen Freunde zu entlarven und zu denunzieren.

Opposition war also für mich ein Kompromiß zwischen dem Gehorsam gegenüber den Eltern und der emotionalen Abreaktion an geeigneten Sündenböcken der spießig-bornierten staatlichen Repression. Dies war leichter, als das eigene familiäre Spießertum zu entlarven. So hatte ich niemals Zweifel, daß diese Gesellschaft keinerlei Legitimation, weder im demokratischen noch im ideellen Sinne besaß. Das aufgenötigte Studium von Marx und Engels war mir erst recht der Beweis, daß dieses System kein Recht für die Bezeichnung »sozialistisch« für sich in Anspruch nehmen konnte. Mit Marx war mir der Teufel nur mit Beelzebub auszutreiben. Den »real existierenden Sozialismus« mit Marx begründen zu wollen, bedeutete für mich das gleiche wie die mittelalterliche Praxis von Inquisition und Hexenverbrennung im Namen Jesu Christi.

Erst in der Auseinandersetzung mit den introjezierten Autoritäten drang ich zu einer reiferen oppositionellen Haltung durch. Es war der Einfluß der Eltern abzubauen und dann vor allem der medizinische und theologische Machteinfluß. Im Ergebnis fand ich meine Identität vor allem in meiner Arbeit, die zwar gegenüber den großen Autoritäten: Staat, Kirche, Medizin und Eltern oppositionell blieb und aller Voraussicht nach auch bleiben wird, aber nun nicht mehr mit den traditionell familiären Inhalten und auch nicht mehr als infantiler Protest, sondern mit dem Gewicht empirischer Erfahrungen gegen die Verlogenheit der »heiligen« Institutionen.

So ist meine oppositionelle Haltung Kompensation und Reife zugleich, und nur die Art und Weise meines Auftretens verrät, ob ich mich mehr auf dieser oder jener Seite bewege.

 

Warum teile ich dies mit? Ich will erkennbar machen, daß meine Position lebensgeschichtlich zu verstehen ist und ich mir durchaus vorstellen kann, bei anderen Vorbedingungen mich auch in einer anderen sozialen Rolle wiederzufinden, mit der ich jetzt vielleicht nicht so viel »hermachen« könnte. Ich war zum Schweigen »verurteilt«, jetzt schweigen andere und demnächst ...? 

Ich möchte die Grenze zwischen Opfer und Täter aufweichen, ohne zu entschuldigen oder zu nivellieren. Schuld und moralische Verantwortung bleiben allemal, und keiner kann sich wirklich mit Berufung auf seine Kindheit, seine Eltern oder staatliche Gewalt herausreden. Letztlich bringt nur die Analyse der ganz subjektiven Sicht und der individuellen Haltung eine Chance für die Vergangenheits­bewältigung, für die Erkenntnis personaler Schuld und Verantwortung, die dann nicht auf Sündenböcke und die Obrigkeit abdelegiert werden kann.

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Wer die Schlußfolgerungen meiner Erfahrungen als eine Utopie bezeichnet, hat recht. Mit dieser Utopie setze ich Hoffnungen fort, die ich als Kind nährte und bewahrte, wenn ich wegen meiner Überzeugungen und Gefühle weder bei den Eltern noch bei den Lehrern Annahme und Verständnis fand. Es ging dabei im wesentlichen um das Grundgefühl: Ich bin liebenswert, meine Gefühle sind in Ordnung. Es ist zwar bitter, daß mir das keiner bestätigt, aber ich halte an der Hoffnung auf liebende Annahme und Gerechtigkeit fest.

Auch meine heutigen utopischen Vorstellungen, daß wir Menschen eine natürlichere Lebensweise mit besserer Befriedigung der Grundbedürfnisse gestalten können, empfinde ich als berechtigte Hoffnung, von der ich nicht lassen mag. In meiner Arbeit wird vieles von diesen Wünschen Realität. Die Basis meiner Utopie besteht also aus erlebbaren Fakten. Die »psychische Revolution« ist eine Realität, die »therapeutische Kultur« eine Utopie. Dies provoziert unauflösbare Spannungen, denn das eine ist ohne das andere nicht wirklich und dauerhaft zu erreichen. Die kreative Spannung zwischen Natur und Kultur war im »real existierenden Sozialismus« zugunsten einer kranken »Kultur« entartet. Die verbrecherische Politik vor der »Wende« und ihre unglückliche Fortführung danach stehen im Zentrum meiner Kritik, und ich bin sicher, daß ich es nicht besser machen könnte. So sehe ich unsere Politiker, auch die kriminellen, in einer tragischen Verstrickung, aus der nicht zu entkommen ist, wenn wir nicht gemeinsam andere Strukturen unseres Zusammenlebens und der Verwaltung der Gemeinschaft finden wollen. Aber die »da oben« sind natürlich immer hervorragend als »Retter« oder »Sündenböcke« zu verwenden.

Ich finde in mir auch Tendenzen, wie ein Machthaber zu agieren und zu kompensieren. Durch Leistung meine frühen Verletzungen »behandeln« zu wollen, führte sehr bald zu der Überzeugung, ich müsse in der gesellschaftlichen Hierarchie eine soziale »Höhe« erreichen, in der ich nicht mehr so viel getreten werden, sondern selbst über andere bestimmen könne. Ein akademischer Beruf war mir dafür stets begehrenswert. Mit dieser Einstellung entsprach ich vollkommen dem allgemeinen Leistungs- und Erfolgsprinzip: Wenn ich schon zum Mitspielen verdammt war, dann wollte ich lieber Hammer als Amboß sein. Ich kenne sehr gut die Verlockung, eigene Ohnmacht durch Machtverhalten verbergen zu wollen. Ich unterscheide mich darin offensichtlich nur quantitativ von den wirklich Mächtigen im Gewaltapparat eines repressiven Systems. Die ersten bitteren Erfahrungen mit der Machtrolle mußte ich als Vater und Ehepartner hinnehmen, wenn ich meine Schwierigkeiten mit Nähe und Offenheit, meine emotionale Blockierung mit autoritärem Verhalten auszugleichen versuchte.

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Kinder und Ehefrau brauchten mich zwar als menschliche Autorität, doch ich war selbst noch zu bedürftig und stand im Konflikt zwischen den berechtigten Erwartungen an mich und meinen eigenen Wünschen. So habe ich manchmal »Macht« ausweichend eingesetzt und bin ein anderes Mal vor notwendiger Auseinandersetzung geflohen. Die Flucht trat ich meistens an, wenn die Inhalte von Spannungen und Streitigkeiten meine eigenen unbewältigten Traumatisierungen durch meine Eltern berührten. So blieb ich meinen Kindern als Vater einiges schuldig und konnte die Abhängigkeiten in der Ehe nicht mehr anders als durch Scheidung lösen. 

Auf jeden Fall war mir Machtgebaren als unglücklicher Lösungsweg erfahrbar, und mit diesem Hintergrund wurde es mir sehr schwer, als Klinikleiter die »klassische« Rollenzuteilung auszufüllen. So treffe ich Entscheidungen nach gemeinsamer Beratung, möglichst ohne Anweisungen, und wir tragen alle Konflikte in der Öffentlichkeit des Teams aus. Praktisch gibt es keine Vier-Augen-Gespräche in dienstlichen Belangen. Nicht nur, daß ich dabei eine Menge »Lehrgeld« zu zahlen hatte, sondern noch belastender war, daß mich mancher Mitarbeiter nicht aus der Chefrolle entlassen und mich unbedingt streng und strafend oder stark und hilfreich oder ungerecht haben wollte, um eigene infantile Erfahrungen oder Wünsche fortzuführen. So wurde mir die Täter-Opfer-Dialektik auch in den polaren Rollen der Macht als ein grundsätzliches Problem erfahrbar. Ich sehe mich auch dann in der zweifelhaften Rolle eines »Mächtigen«, wenn ich meinen Einfluß bedenke, den ich auf Menschen ausübe, ohne jeweils den ganzen Hintergrund meines zur Schau gestellten Verhaltens zu offenbaren, und wenn ich Ideen und Überzeugungen verheiße, die ich selbst nicht wirklich verkörpere.

Ich verstehe mich auch als Karrierist, der beruflichen Ehrgeiz und Erfolg stets gebraucht hat, um sehr frühe Kränkungen und Verletzungen auszugleichen. Schon die Schule war dafür die beste Gelegenheit, diese Fehlhaltung zur Meisterschaft zuführen. Anfangs angefüttert mit Lob und kleinen Geldprämien wurde mir Leistungshaltung später zur Selbst­verständ­lich­keit. Wenn ich wegen meines Arbeitseifers gelobt oder wegen meiner äußeren Sicherheit, Streitbarkeit und Durchsetzungs­fähigkeit bewundert werde, bin ich mitunter irritiert und fühle mich als Betrüger, da ich doch den wirklichen Antrieb meiner Anstrengung und auch die Symptome meiner Unsicherheit und Sehnsucht nur allzugut kenne. 

Wenn ich es als Parteiloser und auch ohne Frömmelei geschafft habe, im Beruf erfolgreich zu sein, so habe ich dies letztlich doch mit ungesunder Leistungs­bereitschaft und zu großer Anpassung »bezahlt«. Ich habe häufiger höflich gelächelt und einfach nur geschwiegen und gehofft, daß es bald vorübergeht, wenn mir in Wirklichkeit zum Schreien, Fluchen und Weinen zumute war. Und manchmal habe ich dies alles erst aus meinen Symptomen entschlüsseln können.

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Der Mitläufer war ich vor allem im Alltag. Als »junger Pionier« und »FDJler« hatte ich sogar »Leitungsfunktionen« übernommen. Schon damals hantierte ich mit der Entschuldigungsformel: »Um Schlimmeres zu verhindern, man muß halt das Beste daraus machen!« - worum ich mich auch redlich bemühte. Ich war Mitglied des Deutschen Turn- und Sportbundes, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Kulturbundes. Die Jugendweihe blieb mir erspart, weil 1957 dies noch eher die Ausnahme als die Regel war. Aus dem FDGB schlich ich mich heraus, als die Diakonie mein Arbeitgeber wurde. Den Kulturbund verließ ich, als ich mit dem Kreisschulrat, der Tage zuvor meiner Tochter die erweiterte Oberschule verwehrt hatte, anläßlich irgendeiner Feier mit einem Schnaps »anstoßen« sollte. Da war meine Anpassungs­grenze erreicht. Ich bin weiterhin Mitglied der Evangelischen Kirche in der DDR, obwohl ich voller Zorn und Enttäuschung bin über die verlogene Haltung vieler »Christen« und die neurotisierende Praxis so mancher Erziehung, Verkündigung und Seelsorge im »Namen des Herrn«.

Ich bin Arzt und weise der Medizin einen großen Teil Schuld an der Organisation von Krankheiten und ihrer Chroni­fizierung zu. Ich arbeite bei der Diakonie und erkenne in der kirchlichen Praxis zum großen Teil eine Behinderung und Entfremdung der religiösen Bedürfnisse des Menschen. Vor allem aber bin ich Mitläufer in der Maske eines höflichen, freundlichen, ordentlichen und gewissenhaften Menschen und verberge darunter Haß, Neid, Rachegelüste, Traurigkeit und so manche erotisch-sexuelle Phantasie.

Selbst als Flüchtenden und Ausreisenden muß ich mich auf meiner »Psycho-Insel« in der Diakonie erkennen. Der Gedanke, das Land zu verlassen, war immer auch vorhanden, mit der Flucht in den »Freiraum« der Kirche nur unter Kontrolle gebracht. Obwohl ich viele Argumente gegen die Ausreise sammeln konnte, habe ich doch manchmal mit dem »Feuer« gespielt in der dumpfen Hoffnung, vielleicht eine Situation provozieren zu können, die mir dann die Entscheidung für den Westen abnehmen konnte und vielleicht noch als »heldenhaft« empfunden oder im Falle einer Ausbürgerung noch mit der nötigen Presse begleitet werden konnte. »Geflohen« war ich doch in Wirklichkeit vor der Auseinandersetzung mit den Eltern, und mein Durchhalten in der DDR entsprach auch meiner neurotischen Gehemmtheit, die mir die Eltern auferlegt hatten und die ich als faulen Kompromiß mit einer Emigration innerhalb der DDR zu lösen versuchte.

Aber ich verdanke der Diakonie und ganz besonders dem Rektor, Reinhard Turre, den Schutz und die Freiheit für eine Arbeit inmitten staatlicher Kontrolle und Repression und auch kirchlicher Enge, die schließlich meinem Bleiben einen tieferen Sinn gab.

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Ich habe dieses Buch in etwa zwölf Wochen »wie im Fieber« nach Feierabend geschrieben. Ich verstehe es nicht als eine »wissenschaftliche Arbeit«, sondern als einen persönlichen Erfahrungsbericht. Alle Aussagen hatten sich längst in den letzten zehn Jahren als emotionales Erleben in meinem Bauch und Herzen und als Erkenntnisse in meinem Kopf angesammelt. Daß ich es jetzt in einem »Ritt« niedergeschrieben habe, ist ein Teil meiner »Trauerarbeit«, meines persönlichen Versuches der Vergangenheitsbewältigung. Ich habe Grund für Zorn und Empörung für ein aufgenötigtes, einengendes Leben. Dies wollte ich nicht verbergen. Vieles in diesem Buch ist bitter und pessimistisch, dies ist jedoch nicht mein Gemütszustand. Ich mache mir klar, daß ich in meinem Leben in diesem Land viel geschluckt habe, nicht nur als Opfer gesellschaftlicher Repression, sondern auch im Beruf dazu einlade, daß viele Menschen ihren emotionalen Unrat auskippen können. Dabei sammelt sich soviel Bitteres, Schmerzliches und Trauriges an. Die Erfahrung, daß jeder Mensch, dem ich begegnet bin, randvoll mit seelischem Elend ist, wenn er erst anfängt, seine Masken fallenzulassen, hat mein Leben entscheidend beeinflußt.

Weshalb habe ich diesen Weg gewählt? Meine wesentliche innere Verletzung besteht darin, daß ich mich als Grund­erfahrung meines Lebens nicht so angenommen und verstanden weiß, wie ich es gebraucht hätte. Ich bekam vom Vater die Botschaft: »Sei tüchtig und suche dir einen Beruf, in dem du gut verdienen kannst, denn Geld regiert schließlich die Welt.« Für Mutter sollte ich ihr »Sonnenschein« sein, um sie in ihrer häufigen, gereizten Deprimiertheit aufzuheitern. Meine Bedürfnisse kamen dabei zu kurz, doch konnte ich als Arzt Vaters Erwartungen von sicherer Existenz und als Psycho­therapeut Mutters Auftrag, für andere Menschen freundlich da zu sein, bestens erfüllen.

Ich habe zwar Vaters Rat befolgt und bin Arzt geworden, doch begann damit zugleich mein Ablösungs­kampf. Ich wählte die Psychiatrie als Spezialdisziplin, weil ich darin das einzige medizinische Fach erkannte, das Seele und Geist nicht völlig aus der Erkenntnis verbannt hatte. Ich war darin weiterhin auf der Suche nach mir selbst, und dies war auch das einzige Fach, das Vater nicht verstehen und akzeptieren konnte. Ich kämpfte stellvertretend mit Autoritäten des Faches, entlarvte ihr autoritäres Gehabe und gewann durch die psychotherapeutische Ausbildung allmählich mehr Reife und Klarheit.

Aber erst durch den körper­therapeutischen Zugang fand ich wirklich Kontakt zu meinen Gefühlen und habe den mütterlichen Auftrag neurotischen Helfens vermindern können. Das hat auch meine Arbeit verändert. Damit bin ich nicht fertig, der Weg nach innen ist unerschöpflich. Ich gehe au feinem schmalen Grat zwischen Agieren und Fühlen durch mein Leben. Öfter zwingen mich Symptome, die Bitterkeit schmerzlicher Gefühle wieder und wieder zu akzeptieren. Und obwohl meist eine befreiende Freude der Lohn ist, bleibt immer wieder die Angst vor diesem Weg.

Bis heute setze ich mein unablässiges Bemühen fort, um endlich verstanden zu werden und angenommen zu sein, und ich erkenne, daß ich mich dabei meist so verhalte, daß es anderen mitunter schwer wird, meine tiefste Sehnsucht zu erfüllen. Ich habe aber auch Angst davor und meine bittersten Tränen sind geflossen bei ganz tief erfahrener Nähe und Annahme. Da war die uralte Wunde wieder aufgerissen. Meine radikalen und pauschalisierenden Aussagen stoßen manche Menschen ab, und damit verschaffe ich mir die Distanz, die ich brauche, um nicht mit zu großer Annahme geängstigt zu werden. 

Der ambivalente Stachel, doch gegen eine Übermacht (die Eltern!) meine persönlichen Empfindungen und Erfahrungen zu bewahren, den repressiven Einfluß abzuwehren und die Gefährlichkeit der manipulativen Mechanismen zu entlarven und dabei nicht ganz »verstoßen« zu werden, hat mein So-Sein entscheidend geprägt. Mit diesem Buch bringe ich es zu einem vorläufigen Abschluß. Mein Gefühlsstau war der Antreiber für dieses Buch und der Inhalt ist mein Beitrag für eine »therapeutische Kultur«. Ansonsten sehe ich meine Lebensaufgabe vor allem darin, für die »psychische Revolution« für mich und andere einzustehen.

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