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 Die repressive Medizin (40)     Entbindung (46)   Die kirchliche Repression (49)   Zusammenfassung (53) 

Die familiäre Repression

 

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Der familiäre Erziehungsstil in der DDR war in aller Regel autoritär. Die meisten Eltern waren selbst Opfer repressiver Erziehung, und sie waren in einer Gesellschaft zu leben genötigt, die nur Anpassung und Unterwerfung belohnte. Gab es, selten genug, den guten Willen mancher Eltern, ihren Kindern freiheitlichere Erfahrungen zu ermöglichen, scheiterte dies spätestens dann, wenn die unbedarften bis aufmüpfigen Haltungen und Äußerungen dieser Kinder reale Konflikte mit Kindergärtnerinnen, Lehrern und Erziehern provozierten.

Dann waren diese Kinder in großer Gefahr, denn die Spannungen wurden nicht unter den Erwachsenen ausgetragen: Das hätte das hierarchische System bereits untergraben. Wo es um »prinzipielle« Fragen ging, und Erziehung berührte natürlich den Kern des Systems, die »Machtfrage«, gab es nur Unterordnung und niemals gleichberechtigte unterschied­liche Meinungen. Also fiel jeder elterliche Protest oder abweichende Erziehungsstil wieder auf die Kinder zurück. Sie wurden von den Lehrern malträtiert oder von den Klassenkameraden gehänselt und geächtet. Wer nicht so war wie alle, hatte einen schweren Stand. So bettelten manche Kinder ihre Eltern geradezu an, sie doch zu den »Jungen Pionieren« gehen zu lassen, damit sie nicht in der Klasse alleine blieben.

Viele Eltern haben ihren Nachwuchs auch gegen ihre eigenen Überzeugungen zu Verhaltensweisen genötigt, die Einordnung und Anpassung sicherten, um die Kinder – so die illusionäre Hoffnung – vor unnötigen Spannungen und Konflikten zu bewahren und ihre reibungslose Entwicklung zu fördern. Mitunter nahm dies auch groteske Ausmaße an, so z.B. wenn die Eltern sich erst dann Westfunk und -fernsehen gestatteten, wenn ihre Kinder schliefen oder wenn sie bei politischen Gesprächen unter Erwachsenen die Kinder aus dem Zimmer schickten.

Eine solche fragwürdige Praxis sprach natürlich nicht nur für die Naivität der Eltern, sondern mehr noch für ihre Einschüchterung und illusionäre Verkennung, wenn sie ernsthaft davon überzeugt waren, ihre Kinder so vor Schaden bewahren zu können. Wenn ein solches Erziehungsverhalten in politischen Dingen auch eher als bittere Anekdote erwähnenswert ist, so waren aber unbewußt kinderfeindliche und das Recht und die Bedürfnisse der Kinder verachtende Erziehungspraktiken die Regel in der »demokratischen« deutschen Republik.

 

Der entscheidende Mechanismus des Gewaltsystems in der DDR lag darin, daß in der charakterlichen Einengung und Verformung der meisten Eltern uns ein Massenphänomen begegnete, das bereits in der familiären Situation die Pathologie reproduzierte, die später zur Einordnung und Aufrechterhaltung eines abnormen Gesellschaftssystems erforderlich bis ausgesprochen nützlich war. Die entscheidenden Fragen: Wie sind die Beziehungen zwischen Mutter und Kind? Wie sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau? Wie ist die Geschlechterfrage in der Gesellschaft wirklich geklärt? wurden peinlich gemieden. Die Diskussion um die Bedeutung der frühen Kindheit, der Mutter-Vater-Kind-Beziehung war in der Öffentlichkeit ja tabuisiert oder regelrecht falsch dargestellt und psychoanalytische Erkenntnisse waren systematisch ferngehalten oder als »bürgerlich-dekadente Irrlehre« verteufelt worden.

Nicht selten waren die Kinder für die frustrierten Eltern die Objekte zur Abreaktion der eigenen Spannung und Not, wobei mehr unbewußt ablaufende Mechanismen häufiger waren als das bewußt harte Strafen, wie z.B. durch Prügel. Ganz offensichtliche physische Mißhandlungen von Kindern gab es bei uns natürlich auch, aber im Verhältnis zum Massenphänomen des psychischen Terrors in den Kinderstuben war es eher ein seltenes Ereignis. In der Regel war die Tragik der psychischen Vergewaltigung in den »geordneten Familien« als noch schlimmer einzuschätzen, weil die Kinder schlechtere Chancen hatten, das ganze Elend ihrer Kindheit und die Wahrheit über ihre Eltern zu erfahren als brutal geschlagene Kinder.

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Ich will mit dieser Bemerkung direkte Gewalt nicht bagatellisieren, doch zeigte sich in der Therapie die Erkenntnis dann besonders erschwert, wenn die Eltern ständig ihre »Liebe« herausstellten oder wenn die Kinder mit materieller Zuwendung so zugedeckt und korrumpiert wurden, daß ihre wirklichen Wünsche nach emotionaler Nähe unerkannt blieben. Viele Eltern verstanden es auch, durch Hinweis auf ihre Mühen die Kinder zur Dankbarkeit zu verpflichten und damit eine moralische Unter­werfung zu erzwingen.

Den Eltern mangelte es häufig an Wissen, aber mehr noch an Intuition für den Umgang mit ihren Kindern. Die psychische Deformierung vieler Eltern, ob als Folge der Erziehung im faschistischen oder im »sozialistischen« Deutschland hatte ihre Einfühlungs­gabe in die Bedürfnis- und Erlebniswelt ihrer Kinder erheblich beeinträchtigt. Da sie auf diese Weise die innere Führung für ihre Beziehung zu den Kindern weitestgehend verloren hatten, brauchten sie jetzt äußere Orientierungshilfen, die sie sich als autoritative Ratschläge bei Ärzten, Psychologen, Lehrern und aus Büchern holten oder eben als allgemeingültige Regeln und Normen unkritisch übernahmen.

In der Therapie – und das ist durchaus von allgemeinerer Bedeutung – »gestanden« Eltern häufiger, wie sie sich durch die Spontaneität und Emotionalität ihrer Kinder geängstigt fühlten, weil sie selbst nur noch ein Leben in zwanghafter Enge führen konnten. So war ihr Erziehungsstil unbewußt meist darauf gerichtet, die Kinder so schnell wie möglich zu disziplinieren, d.h. letztlich »unlebendig« zu machen. Das beste Kind war dann der »kleine Erwachsene«, der die Eltern nicht mehr durch unverfälschten Lebensausdruck an ihre eigene Entfremdung erinnern konnte.

Das Bemühen der Eltern bestand dann darin, daß ihre Kinder schon sehr früh »sauber« waren, zeitig laufen und sprechen konnten, lieb, brav und »pflegeleicht« waren (den Eltern keine Sorgen und Probleme mehr machten!), zu Hause tüchtig halfen und in der Schule gute Zensuren erreichten und mit tadellosem Betragen glänzen konnten. So wurde die innere Enge der Eltern auf tragische Weise »fortgepflanzt«.

Viele Frauen haben aus Unkenntnis der wahren Zusammenhange und aus psychischer Unreife das Stillen vernachlässigt (wer selbst bedürftig ist, mag schlecht hergeben), viele stillten mit innerer Abwehr und Angst oder haben zu früh aus »kosmetischen« Gründen oder sozialen Pflichten (Berufstätigkeit) abgestillt.

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Junge Frauen berichteten davon, daß sie von Freundinnen und selbst in der Mütterberatung des staatlichen Gesund­heits­wesens verwundert bis argwöhnisch behandelt wurden, manchmal sogar regel­rechtes Unver­ständnis ernteten, wenn sie ein Jahr oder länger stillten. Es war überwiegend üblich, sich an einen vorgeschriebenen Stillplan zu halten oder ärztliche Autorität anzufragen, wann und wie oft gestillt werden sollte, statt sich nach den Bedürfnissen des Kindes oder der eigenen Intuition zu richten.

Zu dem unheilvollen Ineinander von gesellschaftlicher und familiärer Repression gehörte auch, daß den Kindern in der Regel der Rhythmus der Eltern und der sozialen Zwänge rigoros aufgenötigt wurde: von vorgeschriebenen Stillzeiten, Schlafenszeiten, »Topf«-zeiten bis zu den Rhythmen, die eine berufstätige Frau einzuhalten genötigt war. So konnte man gar nicht so selten schon in aller Frühe blasse und müde Kinder sehen, wie sie von ihren gestreßten Müttern in die Kinderaufbewahrungsanstalten geschleppt und gezerrt wurden. Wenn Kinder in diesem Zusammenhang weinten, wurden sie beschimpft und bedroht. In den Lebens­geschichten unserer Patienten waren tragische Berichte von herzzerreißenden Szenen beim Abliefern in die Krippen und Kindergärten, die ohnmächtige Wut und schmerzliche Ängste bei den Kindern verursachten, sehr häufig. In der Erziehung wurde immer größter Wert darauf gelegt, alles möglichst regelmäßig zu tun, stets pünktlich zu sein und die Pflichterfüllung vor Spiel und Spaß zu stellen. Vorhandene Bedürfnisse zurückzustellen und ihre Beherrschung zu lernen, war ein Grundprinzip der Erziehung.

Dabei war die Gefühlsunterdrückung die absolute Norm: Selbstbeherrschung, Kontrolle, Tapferkeit, Härte und Fügsamkeit gegenüber der Autorität und Niemals-Aufbegehren waren die geforderten Tugenden.

Der aus diesen Erziehungsidealen resultierende angstvoll-kontrahierte Zustand vieler Kinder war schon an ihrer Blässe erkennbar. Lärmen, Schreien und Toben wurden zumeist als störend und unanständig empfunden und entsprechend gerügt. Weinen wurde lächerlich gemacht, zur Unterdrückung gemahnt oder durch zudeckenden Trost verhindert. Generelle Ablenkung von den Gefühlen war der übliche Weg. Ein probates Mittel: ein Bonbon bei Tränen und Schmerz!

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Eltern fühlten sich häufig genervt und verunsichert, wenn ihre Kinder Gefühle zeigten. Ganz besonders wurden Freude und Lust gezügelt und dies mehr indirekt: Kinder sollten Rücksicht auf ihre gestreßten Eltern nehmen, sie sollten nicht so ausgelassen sein, Eltern hatten häufig keine Zeit für ihre Kinder, vor allem nicht spontan, »Vergnügen« mußte geplant werden und mißriet dann nicht selten zur Qual.

Das kindliche Bedürfnis nach Lieben und Geliebtwerden wurde im allgemeinen schwer frustriert: vor allem schon dadurch, daß die Eltern weder genügend zur Verfügung standen noch Verständnis dafür hatten, daß Kinder ein eigenes aktives Liebebedürfnis haben könnten. Unsere therapeutische Praxis hat uns immer wieder gezeigt, daß viele Eltern vor den Liebesgefühlen ihrer Kinder Angst hatten und zärtliche oder erotische Berührungen abwehrten. Darin drückte sich ihr unbewußt gewordenes eigenes Liebes­defizit aus. Andererseits war es weit verbreitet, daß Kinder zur »Liebe« ihrer Eltern verpflichtet wurden. War eine Mutter den ganzen Tag auf Arbeit und kam nach Hause, konnte sie durchaus ihrem Kind zurufen:

»Hast du mich auch noch lieb?« Darin drückte sich ihre eigene Angst, Unsicherheit, Schuld und Bedürftigkeit aus, aber für das Kind war es in der Regel eine Katastrophe. Nicht nur, daß es den ganzen Tag von der Mutter getrennt sein mußte, nach so langer Entbehrung wurde es dann nicht nur nicht durch die Liebe der Mutter entschädigt, nein, das Kind sollte nun auch noch die Mutter erfrischen und aufheitern. Dies war der sicherste Weg, das spontane Liebesbedürfnis der Kinder über eine abverlangte Pflicht zum Verdorren zu bringen. Liebe im Sinne bedingungsloser Annahme (Du bist da und ich hab' dich gern!) mußte als absolute Seltenheit angesehen werden. Dafür waren die Mütter in der Regel selbst nicht genug liebesgesättigt, und sie waren durch ihre Doppelbelastung mit dem Beruf meist zu gestreßt oder auch genötigt, ihre Kinder auf unnatürliche Normen hin zu drillen. 

Die Erziehungs­normen in unseren Kinderstuben waren also ungebrochen autoritär-repressiv: »Sei still! Schrei nicht so! Was sollen die Leute denken! Heul nicht so rum! Beherrsch dich! Beiß die Zähne zusammen! Sei tapfer! Sei nicht so neugierig! Frag nicht so dumm, das verstehst du noch nicht! Nimm Rücksicht! Stör nicht so! Streng dich an! Sei tüchtig, fleißig, höflich, pünktlich! Sei lieb und brav! Sei möglichst perfekt! Achte die Eltern und Erwachsenen! Sei aufmerksam! Halt dich zurück, gib nach, ordne dich unter! Tob nicht so rum, sei nicht so ausgelassen! Freu dich nicht zu früh! Spiel da (Genitalien) nicht rum!...«

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Kinder wurden auf Unterordnung, Anpassung und Anstrengung gedrillt. Das Geschehen-, Gewähren- und Freilassen wurde systematisch unterbunden. So wurden spontaner Gefühlsausdruck, eigenständige Aktivität und Kreativität meistens erstickt und verhindert, um dann durch kontrolliertes und angeordnetes Spielen und zielgerichtetes, erfolgsorientiertes Tätigsein ersetzt zu werden. Das lebendige Kind wurde »gebrochen« und dann zur Marionette aufgebaut.

Mit dieser repressiven Praxis erfüllte auch die Familienerziehung die Ideale der »sozialistischen Moral«, die auf Strebsamkeit, Sparsamkeit und Disziplin orientierte. »Charakterfestigkeit« und »körperliche Gestählt­heit« entsprachen familiären und gesellschaft­lichen Vorstellungen. Was einerseits als »internationale Solidarität der Arbeiterklasse«, »unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder«, »Vaterlandsliebe« und »Treue zum Sozialismus« gefordert wurde, war andererseits als »Achtung und Respektierung der Eltern«, »Zusammenhalt der Familie«, als »Verpflichtung, der Familientradition zu entsprechen«, eingeklagte Norm. Es fehlte an der Bereitschaft, sich mit abweichenden und individuellen Meinungen ehrlich auseinander­zusetzen, Veränderungen und Entwicklungen zuzulassen. Wer Achtung einklagt, hat sie schon längst verspielt, wer Zusammenhalt fordert, hat ihn bereits verloren, wer Treue braucht, verbirgt darin Unsicherheit und Selbstwertstörung.

Gegen den Drill und Anpassungsdruck der Schule haben Eltern daher so gut wie nie protestiert. Sie haben sich eher mit den Lehrern gegen die Kinder verschworen, vor allem wenn es um die Disziplinierung ging. Eine schlechte Beurteilung des Betragens der Kinder war den meisten Eltern so unangenehm und peinlich, daß sie eher die Kinder dafür beschimpften und straften, als sich gegen ein kinder­feindliches Erziehungs­system aufzulehnen. Wenn man Eltern beim Elternabend, zu dem die Schule regelmäßig einlud, beobachtete, hatte man sehr bald den Eindruck, daß in ihnen die eigene frustrierende Schulzeit wieder lebendig wurde, denn sie saßen meist geduckt, ängstlich und angepaßt in den Bänken, in denen jetzt ihre Kinder terrorisiert wurden. Man hatte es eben nicht nur mit Lehrern zu tun oder einer Diskussion über Erziehungsstil, sondern die Schule war schlechthin die Zuchtanstalt der Nation mit ständiger Präsenz und Dominanz der Sozialistischen Einheitspartei, es ging stets um Ideologie und die sogenannte Machtfrage.

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So waren Eltern weniger Anwälte ihrer Kinder, sondern häufiger Erziehungsgehilfen der Staatsgewalt »Schule«. Das war für viele Kinder eine herbe Enttäuschung und hat das Vertrauen zu ihren Eltern unter­graben. Gerade dieses Versagen der Eltern hat bei den Kindern Ohnmachtsgefühle verfestigt.

Besondere Beachtung verdient die »Sexual-Erziehung« in der DDR. Es hatte im Laufe der Jahrzehnte bei uns lediglich eine Liberalisierung gegenüber dem Nacktheitstabu gegeben. Die FKK-Kultur überzog das ganze Land. Bei genauerem Hinsehen durfte dabei aber eher eine Abwehr des Erotischen und Sexuellen vermutet werden. Die biedere und häufig genug auch abstoßende Nacktheit schien sexuelle Phantasien und Gelüste eher zu behindern als zu fördern. Die vielfachen psycho­somatischen Störungen der DDR-Bürger gaben sich in den Körperdeformierungen unverhüllt preis. Ansonsten dominierte ungehindert eine prüde, verlogene und tabuisierende Sexualeinstellung. Eine Förderung der sexuellen Lust, der erotischen Raffinesse und des spielerisch-sinnlichen Umgangs mit dem Körper kam kaum vor, dagegen waren Schuld, Scham und Angst im Umgang mit der sexuellen Entwicklung der Kinder die vorherrschende Regel. 

Unsere Patienten berichteten durchweg von großen Unsicherheiten, von Verlogenheit und Prüderie mit einer unvorstellbaren Fülle von Falschdarstellungen der menschlichen Sexualität, die sie in ihren Ursprungs­familien erleben mußten. Onanieren wurde meistens verleugnet und unter Strafe gestellt. Die Menstruation wurde als beschwerlich, belastend und bedrohlich dargestellt und erlebt. Vor der Aufnahme sexueller Beziehungen wurde regelmäßig gewarnt, alle möglichen Gefahren wurden heraufbeschworen. Das allgemeine Familienklima war in der Regel so, daß Kinder kaum ermutigt wurden, Fragen zu stellen oder sich mit ihren Empfindungen vertrauensvoll an die Eltern zu wenden.

»Aufklärung« war, wenn es sie überhaupt gab, vorrangig sachlich-kühl, biologisch, technisch-funktional und entsprach damit völlig dem vorherrschenden naturwissenschaftlich-materialistischen Weltbild. Sie erfolgte meist nur zu einer bestimmten Zeit und war kein ständiger Prozeß der Begleitung. Dementsprechend wurde sie von den Kindern (wenn sie als Erwachsene später darüber sprechen konnten) häufig als peinlich und grotesk erlebt, weil sie meist von »der Straße« schon ganz andere und realistischere Erfahrungen hatten.

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Für die meisten Kinder war es unvorstellbar, daß ihre Eltern sexuelle Beziehungen haben könnten, der Gedanke daran löste oft Ekel aus — was kann das prüde und verlogene Klima einer Familie besser illustrieren als solche traurigen Erfahrungen. Auf der anderen Seite. fanden wir aber immer wieder auch Mißbrauch der Kinder durch ihre Eltern: Gehemmte Väter, die Angst vor ihren Frauen hatten und sexuell frustriert waren, kuschelten mit ihren Töchtern, berührten sie streichelnd an erogenen Zonen oder haben sie direkt sexuell mißbraucht. Alleinstehende oder sexuell gehemmte Frauen klammerten sich an ihren Jungen, er »durfte« bei ihnen schlafen, er sollte sich ständig schmusen und küssen lassen.

Wegen der sexualfeindlichen Erziehung wurde die Pubertät für viele Jugendliche zur Qual. Vor allem forderte der sexuelle Triebschub jetzt partnerschaftliche Nähe, die aber war wegen der enttäuschenden Erfahrungen mit den Eltern durch schmerzliche Gefühle und Mißtrauen verwehrt. So blieb als Ausweg nur sexuelle Aktivität ohne wirklich intime Beziehung, also Abbumsen, häufig wechselnde Partner, Sexualität unter Alkoholeinfluß, unter ungünstigen äußeren Bedingungen (z.B. im Park, in Hinterhöfen usw.)

Vor der »Pillenzeit« kam es daher auch häufig zu ungewollten Schwangerschaften, die tragische Szenen zur Folge hatten: wütend-empörte Eltern mit der Tendenz, die Kinder »zu verstoßen«, moralisierende Belehrungen von Eltern, Ärzten und der Jugendfürsorge und psychisch und sozial hilflos überforderte Jugendliche. Welche ungünstigen Vorbedingungen für das neue keimende Leben darin lagen, läßt sich leicht ausmalen. Auch unter »Pillenschutz« kam es bei uns relativ häufig zu frühen Schwanger­schaften (zwischen dem 18. bis 22. Lebensjahr), noch bevor die Ausbildung abgeschlossen und die soziale Reife erreicht war, so daß Großeltern und die Kinderkrippen einen großen Teil der Pflege übernehmen mußten, was für die Mutter-Kind-Beziehung eine erhebliche Störung und Belastung bedeutete.

Unsere Analysen zeigten aber, daß gerade die psychische Unreife und Not junge Frauen zur Mutterschaft trieb, in der Hoffnung, dann endlich im Kind ein »Liebesobjekt« zu haben, das für eigene Entbehrungen entschädigen sollte. So äußerten viele junge Mütter im Laufe ihrer therapeutischen Analyse, daß sie schwanger wurden, um gerade nicht ihre Unreife als Frau erleben zu müssen. Vom Kind erhofften sie endlich die Zufuhr an Zärtlichkeit und Bestätigung, die ihnen schon immer fehlte. In der Mutterschaft erhofften sie eine Ablenkung von der eigenen Not und Unzufriedenheit, die sie dumpf in sich spürten, aber nicht austragen konnten.

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Das Kind sollte sie trösten, und es rutschte damit in den Dienst einer Puppe oder eines Kuscheltieres. Der Konflikt entstand vor allem dadurch, daß das neugeborene Kind seine Bedürftigkeit zunächst ungehindert äußerte und die selbst noch zuwendungsbedürftige Mutter damit zur Verzweiflung treiben konnte.

Auch sexuelle Probleme wurden von manchen Frauen über eine Schwangerschaft abgewehrt, indem mit Rücksicht auf ihren »Zustand« und später auf die Kinderpflege sexuelle Aktivität abgelehnt oder zumindest verringert werden konnte. Daß es seit der 1972 eingeführten gesetzlich geregelten Fristenlösung für Schwangerschaftsabbruch etwa 2 Millionen legale Abtreibungen in der DDR gab, betrachte ich als ein Alarmzeichen für eine vielschichtige psychosoziale Krise. Im Falle einer ungewollten Schwanger­schaft dürften dabei sexuelle und emotionale Probleme eine herausragende Rolle spielen. In diesem Zusammen­hang erfuhren wir von fragwürdigen sexuellen Kontakten ohne geeignete Vorbereitung, ohne befriedigende partnerschaftliche Beziehungen, ohne gereifte Verantwortlichkeit, letztlich also von einem Mißbrauch der Sexualität zur Kompensation von psychischen Spannungen und unerfüllten Sehnsüchten.

Gleichzeitig lieferte der Staat mit der verlogenen Emanzipationsideologie, die niemals eine wirkliche Gleichstellung der Frau ermöglichte, sondern stets ihre Unterwerfung unter ökonomische Zwänge und ihre »Vermännlichung« erwartete, den geeigneten Rahmen, die wirkliche seelische Not vieler Frauen auf die äußere Karriere abzulenken, wo innere Erkenntnis und Reife am Platze gewesen wäre. Das Sozialsystem und das patriarchale Herrschafts­system haben der Frau mit der beruflichen Karriere lediglich dreifache Belastungen durch Arbeit, Haushalt und Kinder beschert, was indirekt. aber um so wirkungsvoller die Schädigung der Kinder gefördert hat.

Und die »Wende« hat die Verwirrung darüber eher noch verstärkt. Frauen kämpfen jetzt darum, die Kinderkrippen und -gärten als »soziale Errungenschaften« zu erhalten und konservative Politiker wollen den Frauen wieder ihren Platz in Küche und Kinderstube zuweisen. Bei beiden Positionen wird die entscheidende Frage der Mutter-Vater-Kind-Beziehung ausgeblendet. Statt dessen wird mit politischen Argumenten agiert: Einerseits versteckt sich im berechtigten Ringen um Emanzipation häufig die Beziehungs­problematik vieler Eltern, andererseits drückt sich in der neu geforderten Hausfrauenrolle auch eine unbewältigte Sehnsucht nach der Mutter aus, was in der Therapie vieler Menschen bei uns ein zentrales Thema war.

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Die Probleme der Kinderbetreuung lassen sich nicht allein durch politische Entscheidungen für oder gegen Kinderkrippen bewältigen, sondern sind vor allem aus der Perspektive der emotionalen Beziehungen und der angemessenen Befriedigung der Grundbedürfnisse unserer Kinder zu beantworten.

 

Die repressive Medizin

In der DDR hat die Medizin lange Zeit ein hohes soziales Ansehen genießen können, und die »Erfolge« des Gesundheitswesens galten als Zeichen für den humanitären Charakter des Systems. Dies wurde von vielen Menschen unkritisch hingenommen, nur allzugern geglaubt und selbst von den meisten Ärzten aus »Überzeugung« mitgetragen. Es hat kaum eine offene oder gar öffentliche kritische Auseinandersetzung über die politische Funktion der Medizin und ihrer Vertreter gegeben.

So ist niemals richtig ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen, daß die Medizin eine immens repressive Rolle in der DDR spielte. Sie tat dies vor allem immer dann, wenn Beschwerden und Kranksein zu »Krankheiten« organisiert wurden und die illusionäre Hoffnung einer medizinischen Behandlung angeboten wurde, wo in Wirklichkeit seelische und soziale Faktoren eines entfremdeten und verfehlten Lebens die Störung hauptsächlich verursachten. So trug die Medizin dazu bei, gesellschaftliche und psychosoziale Konflikte als Krankheitsursache zu verschleiern und die Chance der Erkenntnis und Lebensveränderung zu behindern statt zu fördern.

Mögliche Erkenntnisse krankheitsverursachender Umweltgifte wären als »staatsfeindliche Hetze« geahndet worden, wissenschaftliche Untersuchungen zu solchen Fragen und Themen wurden nicht zugelassen oder an der Veröffentlichung gehindert. Die Medizin der DDR hat im wesentlichen ihren humanitären Auftrag verraten, indem sie zu solchen Erfahrungen und möglichem Wissen das verordnete Schweigen tolerierte. Auf diese Weise blieb die gesellschaftliche Pathologie unangetastet, und das von ihr verursachte Leiden wurde von Ärzten verwaltet und chronifiziert.

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Noch schwerer dabei wog, daß Menschen mit der Kraft »wissenschaftlicher« Argumente und höchsten Sozialprestiges abgehalten wurden zu erkennen, was sie wirklich »unter Druck« brachte, wenn sie an hohem Blutdruck litten, was ihnen »auf den Magen schlug« und was sie ständig »runterschluckten«, wenn sie über chronische Magenschleimhautentzündung und Magengeschwüre klagten, wovon sie »die Nase voll« hatten, wenn sie an einem Schnupfen erkrankten und was sie »lähmte, einengte und schmerzte« bei den vielfachen Beschwerden im Bewegungsapparat.

Die Reihe ließe sich beliebig erweitern. Es soll nur demonstriert werden, daß diese – psychosomatische – Art zu denken, zu fragen und zu analysieren der Schulmedizin bei uns weitestgehend fremd war. Das war deshalb so verhängnisvoll, weil nach epidemiologischen Untersuchungen mindestens jeder dritte Patient in allen Fachbereichen der Medizin vorrangig aus psycho­sozialen Gründen erkrankt war, jedoch sein Leiden körperlich austrug. Und das hieß nichts anderes, als daß für alle diese Patienten das bestehende Medizin­system ein Risiko für die Gesundheit darstellte. 

Da letztlich bei jeder Erkrankung psychosoziale Faktoren beteiligt sind, waren die schädigenden und verschleiernden Folgen dieser Medizin vermutlich noch viel umfangreicher. Und selbst dort, wo die psychosozialen Zusammenhänge bei den körperlichen Erkrankungen nicht mehr zu übersehen waren, mangelte es den meisten Ärzten an psychotherapeutischer Kompetenz und vor allem auch an Zivilcourage, die sie hätten beweisen müssen, wenn sie die gesellschafts-politischen Hintergründe des Leidens ihrer Patienten erkannt hätten und zu einem anderen Berufsverständnis gekommen wären. Dann hätten sie sich zwangsläufig auch politisch engagieren müssen. Aber natürlich war auch in der Medizin kein wirklich kritisches Potential geduldet. Die Kaderauslese wurde auch hier immer stärker nach politischer Ergebenheit vollzogen, wogegen persönliche Eignung, die Reife der Persönlichkeit und ethische Werte immer mehr vernachlässigt wurden, so daß auch für die medizinische Karriere die Charakterdeformierung die entscheidende Grundlage bildete.

Ich habe in der Ausbildung die Motivation einiger hundert Ärzte und Psychologen für die Ausübung ihres Berufes analysieren können. In fast allen Fällen waren Ehrgeiz und Leistungshaltung der Weg, um eigene innere Bedürftigkeit kompensieren zu wollen. So wurde entweder der Karriereweg gewählt oder in der Helferhaltung agiert. Beide Varianten waren für ein kritisches psychosoziales Verständnis der Medizin ungeeignet, dies hätte entweder die Karriere gefährdet oder die Beliebtheit beim Patienten geschmälert, wozu aber gerade der Beruf dienen sollte.

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In jedem Fall bestand damit aber eine Tendenz, Patienten zu Objekten autoritativer Beratung oder hilfreicher »Fürsorge« zu degradieren. So setzten sich Ärzte gar nicht selten auch im sozialen Bereich für ihre Patienten ein, machten sich zu ihrem »Anwalt«, indem sie z.B. Bescheinigungen für den bevorzugten Erwerb von Wohnungen oder Personen­kraftwagen erstellten, auch berufliche Überlastung und Empfehlungen für Arbeits­platzwechsel und Schonarbeit bescheinigten oder angeblich notwendige Rücksicht­nahmen bei sozialen Konflikten im Betrieb, in der Familie, bei Scheidungs- und Gerichtsverfahren forderten, all dies weit über begründete Gutachterpraxis hinaus.

Was als kritische Analyse unterblieb, sollte in einem falsch verstandenen »Dienst« ausgeglichen werden. So wurde aus der vermeintlichen Unterstützung eine das gesellschaftliche Konfliktpotential dämpfende Maßnahme. Selbst die Bescheinigung der Arbeits­unfähigkeit wurde mitunter zu einer Gefälligkeit, um sich bei Patienten beliebt zu machen und sich mit ihnen insgeheim zu verschwören, der staatlichen Repression ein kleines Schnippchen zu schlagen. Die Bescheinigung, daß Mütter zur Pflege erkrankter Kinder von der Arbeit freigestellt wurden und zu Hause bleiben konnten, wurde oft sehr großzügig angewendet und führte unweigerlich dazu, daß über »Krankheit« die Kinder ihr vernachlässigtes Recht auf mütterliche Anwesenheit und Zuwendung einklagen konnten. So mancher »chronische Infekt« des Kindes entpuppte sich bei genauerer Analyse als die unbewußte Sehnsucht nach seiner Mutter und war der psychosomatische Ausdruck des ungeweinten Schmerzes.

Es war auch hier wieder typisch für die DDR-Gesellschaft, daß progressive und emanzipatorische Tendenzen in der Medizin, wie sie von der Psychotherapie ausgingen, deutlich behindert wurden. Dies geschah aber nicht allein durch staatliche Maßnahmen, sondern fand wesentliche Unterstützung bei einem größeren Teil der einseitig somatisch orientierten Ärzte. Ähnlich wie bei der verhängnis­vollen Allianz familiärer und staatlicher Repression waren auch die autoritären Strukturen in Medizin und Gesellschaft spiegelbildlich.

In diesem Sinne unterschied sich die »Neurose der Medizin« nicht von anderen Disziplinen und Umständen im autoritären Staats­system. Daß Mediziner aber auch noch viel stärker verstrickt waren in die kriminellen Machenschaften des Systems ist zu meinem Entsetzen durch den Stern-Bericht (Nr. 18, 1990) über die psychiatrische Klinik Waldheim offenbar geworden.

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Daß sich auch die Psychiatrie auf diese Weise zum Knecht der Stasi mit Freiheitsberaubung und Folter hat mißbrauchen lassen, macht mich als Nervenarzt sehr betroffen und mag — so hoffe ich inständig — die absolute Ausnahme sein. Doch daß es auch Ärzte und Psychologen bei der Stasi und in den Haftanstalten selbst gab, ist kein Geheimnis, und die Fragen, was sie dort zu tun hatten und wie sie ihre Aufgaben versahen, bleiben für mich im Moment noch unbeantwortet. Eine tiefe Beklommenheit kann ich bei diesen Über­legungen nicht verleugnen.

In der DDR-Medizin dominierte insgesamt ein naturwissenschaftlich-reduktionistisches Denk- und Handlungsmodell. Es ist mir wichtig zu betonen, daß auch bei uns die somatisch und technisch-apparativ orientierte Medizin großartige Erfolge in Einzel­leistungen mit vollem Recht für sich in Anspruch nehmen konnte und vielen Menschen Leben erhalten, verlängert und viel Leid im ehrlichsten Sinne vermieden und gemildert hat.

 

Das naturwissenschaftliche Weltbild in der Medizin zeigte sich in....

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In anderen Fällen wurden zwar multifaktorielle Zusammenhänge zugestanden, aber durch einfache Begriffe reduziert, wie z.B. »Streß« und »Risikofaktoren«, die jetzt zur Erklärung des Krankheits­geschehens herangezogen wurden, und dann fragte keiner mehr nach den Gründen und Ursachen solcher komplexer Faktoren. Dabei wäre es doch von entscheidender Wichtigkeit gewesen, zu wissen, welche individuellen, familiären und gesellschaftlichen Bedingungen Streß verursachten und ob dies überhaupt akzeptabel sei oder nicht gesellschaftliche Faktoren grundlegend verändert werden müßten, damit Menschen gesund bleiben oder wieder werden konnten.

Weshalb wurde soviel getrunken und geraucht, was war der Grund für Fehl- und Überernährung, weshalb bewegten sich viele Menschen nicht mehr genügend, saßen und hielten sich falsch, arbeiteten zuviel und entwickelten einen abnormen Ehrgeiz? Solche Fragen wurden nicht mehr hinreichend gestellt, vor allem aber nicht beantwortet. Statt dessen wurden die Patienten von Ärzten belehrt, sie sollten weniger essen, trinken, rauchen, öfter mal ausspannen und sich nicht mehr überfordern.

Geschah dies auch durchaus mit engagiertem Wohlwollen für die Gesundheit, so waren solche autoritativen Ermahnungen und Ratschläge eher ängstigend und verstärkten noch das Problem. Denn die Patienten wußten schon längst, daß ihr Verhalten gesundheitsschädigend war, aber wie davon loskommen? Es blieben sowohl die Ursachen solchen Fehlverhaltens ungeklärt wie auch der Weg, aus den Zwängen herauszufinden. Jeder, der mal mit dem Rauchen aufhören wollte, weiß genau, was gemeint ist! Um nicht im naiven und sinnlosen Rat steckenzubleiben, hätten die Arzte über eine gründliche Ausbildung in psychosozialer Medizin und über hinreichende psychotherapeutische Basiskenntnisse und Fähigkeiten verfügen müssen – und sie hätten sich auch politisch verstehen und einmischen müssen.

So blieben bei vielen Krankheiten die wesentlichen Ursachen unaufgedeckt und eine kausale Therapie oder gar Prophylaxe wurde damit durch die Medizin selbst verhindert.

der wissenschaftlich-technischen Revolution: Sie favorisierte auch bei uns, wenn auch wesentlich bescheidener als in der Bundesrepublik, die Apparatemedizin und die Überschätzung der technischen Parameter und Möglichkeiten mit Vernachlässigung der Arzt-Patient-Beziehung, der Intuition und der ärztlichen »Kunst«.

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Diese sogenannte »wissenschaftliche« Haltung führte auch zur Überbewertung der Heilungschancen über Medikamente mit allen unweigerlichen Komplikationen durch Nebenwirkungen und steigende Kosten, vor allem aber zu einer verhängnisvollen Fehlorientierung der Patienten, die auf diese Weise in autoritären Verhältnissen (Experte – Laie) »festgenagelt« wurden. Sie sollten nur noch befolgen, was der Arzt anordnete. Eine Analyse der Lebens­geschichte, aktueller Lebensumstände, schuldhafter Fehlverhaltensweisen und gesellschaftlicher Einflüsse wurde möglichst vermieden. Sehr viele medizinische Behandlungen beschränkten sich dann nur noch auf die Verordnung von Medikamenten.

   — der Versachlichung der Medizin: Die Medizin in der DDR hatte durchgängig ein autoritäres System der Experten-Herrschaft mit Dominanz einer Subjekt-Objekt-Beziehung etabliert. Der Patient blieb in der Regel in der subalternen Rolle, ihm wurde vorgegaukelt, daß die Medizin »allmächtig« sei, und es wurde ihm unberechtigt Verantwortung und Schuld genommen, er wurde also im großen Stil entmündigt. So verstanden auch viele Patienten die Medizin nur noch wie eine Dienstleistung für Reparaturen und erwarteten Maßnahmen, die an ihnen vollzogen würden oder denen sie folgen müßten, um wieder gesund zu werden. Daß sie häufig erheblichen Anteil am Kranksein hatten, daß sie sich selbst und ihr Leben verändern müßten und sich auch politisch für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse engagieren müßten, nahm ihnen die Medizin mit der großen verlogenen Geste »humanitärer Hilfe« ab.

   — der Fortschritts- und Wachstumsideologie: Diese Einstellung hat auch die Medizin verführt. Leidensverdrängung und -bekämpfung in den Mittelpunkt zu stellen, ohne den Menschen genügend Chancen einzuräumen und sie zu ermutigen und hilfreich zu begleiten, um schmerzende Erlebnisse und Erfahrungen, auch mit ihrem Körper, als Alarmzeichen für verfehltes Leben zu begreifen und die Signale der Natur zu nutzen, statt sie zu mißachten und zu Feinden zu erklären. Natürlich haben viele Ärzte aber auch die segensreiche Pflicht zur Schmerzbekämpfung, wo eine dringende Indikation dafür vorlag, hervorragend erfüllt, dies möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, doch will ich nicht von der Kritik abweichen, daß es eine prinzipielle Einstellung gegen Leid und Schmerz und damit gegen die Natur des menschlichen Lebens gab. Die Medizin war damit das Abbild der gesellschaftlichen Verleugnung und Schönfärberei.

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Ich muß mir also zu der bitteren Aussage Mut nehmen, daß die pathogenen gesellschaftlichen Strukturen des »real existierenden Sozialismus« auch von der Medizin übernommen, abgebildet und unterstützt wurden. Wir Ärzte sollten uns wirklich bewußt werden, daß wir erheblichen Anteil hatten an der Ausge­stalt­ung vormundschaftlicher, konflikt- und leidensverdrängender, Fortschritts- und wachstums­verhafteter abnormer Strukturen. Wir haben mit dem dominierenden biologischen Medizinmodell zwangsläufig eine Anpassung des Menschen an bestehende Verhältnisse vollzogen und damit den emanzipatorischen Auftrag, den Menschen bei seiner Heilung zu begleiten, häufig verfehlt und statt dessen Leiden chronifiziert.

 

Die autoritäre Entbindung

 

Daß wir im thematischen Zusammenhang dieses Buches auch die Geburt berücksichtigen müssen, darauf haben uns die Erkennt­nisse und Erfahrungen unserer klinischen Arbeit mit Nachdruck hingewiesen. Belastende Geburtsvorgänge können die Grundlage für gravierende Folgeschäden in der psychosozialen Entwicklung sein. So haben wir in unserer therapeutischen Praxis Kaiserschnitt, Zangenentbindung, Narkosen und dämpfende Medikamente unter der Geburt, Nabelschnur­umschlingungen, Verschlucken von Fruchtwasser in die Atemwege und Frühgeburt mit notwendigem »Brutkasten« als wesentliche Ursachen für spätere schwere seelische Belastungen und Fehlentwicklungen analysieren müssen.

In der DDR war die klinische Entbindung mit der Priorität medizinisch-technischer Belange die absolute Regel. Es gehörte ganz zum Muster des autoritär-totalitären Systems, daß frau sich eben entbinden ließ, statt zu gebären, daß die Verantwortung für den Geburtsvorgang von dem entbindenden Paar an Experten und das Medizinsystem delegiert wurde. Etwas anderes hätte der Staat auch nicht zugelassen, und die Medizin spielte wie so oft getreu mit. Sie lieferte dem Machtapparat mit den möglichen Kompli­kationen die Argumente für die Pflicht zur Klinikentbindung. Das Verhältnis von Nutzen und Schaden solcher Administration war nie Gegenstand öffentlicher Diskussionen, ja wurde praktisch überhaupt nicht problematisiert.

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Ich will deshalb all die Faktoren zusammenstellen, die in der Regel zwangsläufig mit einer Klinik­entbindung verbunden waren und in den Kranken­geschichten unserer Patienten eine wesentliche Rolle spielten:

Die Schwangere kam in ein unbekanntes und fremdes Milieu, in dem sie meist vom Partner oder nahen Beziehungs­personen getrennt blieb. Zu den Ärzten und Hebammen konnte sich kein enges und vertrauensvolles persönliches Verhältnis entwickeln. Da eine Geburt im Durchschnitt 10 bis 12 Stunden dauert, wechselte häufig auch das Personal während der Entbindung. Die Überwachung von Mutter und Kind wurde zunehmend von Apparaten übernommen und geschah immer weniger im persönlichen Kontakt mit den Hebammen. Es dominierte medizinische Atmosphäre und Betriebsamkeit, mitunter Hektik, grelles Licht, die Frauen wurden notgedrungen Zeuge anderer Geburten oder auch von Komplikationen bei der Nachbarin. Die Entbindenden mußten oft in unbequemer Lage lange warten, alleingelassen und verunsichert waren sie mehr zu Objekten degradiert, als daß sie Raum und Möglichkeit gehabt hätten, über ihr Gebären selbst zu bestimmen.

Die Frauen waren einer Fülle medizinischer Maßnahmen ausgeliefert: Fast routinemäßig wurden beruhigende Medikamente, ein Wehentropf, Dammschnitt und apparative Überwachung angeordnet. Die abrupte und gefühllose sofortige Trennung des Kindes von der Mutter, wobei das Neugeborene kopfüber an den Füßen gehalten und am Rücken beklatscht wurde, war immer noch weitverbreitete Praxis. Die überwiegende Trennung von Mutter und Kind in den ersten Tagen nach der Entbindung war immer noch die Regel, und der Kontakt zwischen Mutter und Kind wurde meistens von der Klinik bestimmt. »Rooming in« und »Vaterentbindung« entwickelten sich erst in den letzten Jahren ganz zögerlich, ambulante oder Hausentbindungen waren praktisch nicht gestattet.

Die Geburt ist der sensibelste Bereich für die prägenden ersten Erfahrungen von Trennung und Alleinsein und damit für das Vertrauen auf ein autonomes selbstbestimmtes Leben. Diese Urerfahrungen verliefen in der DDR im großen Stil traumatisierend. Die »Vertreibung aus dem Paradies«, der Übergang von der vollständigen Symbiose und Abhängigkeit zum Auf-sich-selbst-geworfen-werden bewirkte durch Angst, Gewalt und vor allem durch das Trennungsgeschehen einen ganz frühen Geborgenheits­verlust und wurde eine entscheidende Grundlage für spätere Abhängigkeitswünsche und Schwierigkeiten im Selbstvertrauen. Die Geburt ist für Mutter und Kind ein aktiver Vorgang nach ganz individuellen natürlichen Rhythmen und Bewegungen. Alle aktivierenden oder dämpfenden Medikamente, die diese Prozesse künstlich beeinträchtigen, zwingen von Anfang an störende Erfahrungen auf.

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Als die Geburtshilfe ehemals in die Klinik verlagert worden war, standen hygienische und medizinische Überlegungen berechtigterweise Pate, daß aber in unseren Kliniken autoritäre Verhältnisse zunehmend dominierten und das Behandlungsregime vorwiegend medizinisch-technischen Belangen untergeordnet wurde, das hat bereits für den Lebensbeginn unserer Menschen die Entfremdung von der Natürlichkeit als erste große traumatische Erfahrung zur tragischen Routine werden lassen. Entbindende Frauen wurden in den Patientenstatus »versetzt« und wie Kranke behandelt, und das hieß in der DDR: Unterordnung unter die Anweisungen der Experten-Autorität. Ein wirkliches Mitspracherecht hatten Entbindende genauso wenig wie der durchschnittliche Patient im Gesundheitswesen der DDR.

Wir haben viele Berichte darüber entgegennehmen müssen, wie Entbindende durch aufgenötigte medizinische Maßnahmen geängstigt wurden, wie sie ihre Intuition und ihren Entscheidungs­freiraum an die Autorität des Kreißsaales abtreten mußten und bei eigenen Wünschen und kritischen Anfragen sich Drohungen der Experten ausgeliefert sahen, ob sie etwa das Leben ihres Kindes gefährden wollten. Ganz sicher sind medizinische Überwachung, medikamentöse und technische Hilfen bei Komplikationen und Risikogeburten dringend gebotene und dankenswerte Möglichkeiten und sollten dann auch uneingeschränkt angewendet werden. Doch es ist etwas ganz anderes, wenn daraus eine kritiklose Routine wird. Gerade der erste Kontakt des Menschen mit der Welt sollte nicht naturwissenschaftlich-technischen Prioritäten untergeordnet werden, wo eine unmittelbare menschliche Annahme gefordert ist, um das »ausgestoßene« Kind in einer sicheren emotionalen Verbindung für das künftige eigenständige Leben grundlegend vorzubereiten. Aber viele Mütter wurden immer wieder mit der Kraft der »Wissenschaft­lichkeit« entmündigt, und der neugeborene DDR-Bürger begann sein Leben in der Regel mit der Grunderfahrung der kühlen Sachlichkeit, wenn nicht mitunter sogar als eine Geburt der Gewalt.

Auch die Unterdrückung der Gefühle war eher die Regel als die Ausnahme im Gebärsaal, der seinen Namen »Kreißsaal« von »kreischen« ableitet. Der stimmliche Ausdruck gehört zu allen natürlichen Vorgängen dazu, dies galt aber nicht mehr in einer Welt, die »Beherrschung« verlangte. So mußten die Frauen sich häufig »tapfer« zeigen, und die Kinder schrien vor Schmerz infolge des forcierten Trennungstraumas.

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In diesem Zusammenhang sei auf ein propagandistisches Wesensmerkmal des politischen Systems aufmerksam gemacht: Äußere Erfolgs­meldungen wurden stets gebraucht, um von inneren Problemen abzulenken. Auch die Statistik für die Säuglings­sterblichkeit stand in diesem Dienst. »Säuglings­sterblichkeit« galt im internationalen Vergleich als ein Wert für die Entwicklung eines Staatssystems schlechthin. Also gewannen die medizinisch-technischen Überlegungen rigoros die Oberhand über das Geburtsregime, wobei die psychosozialen Bedürfnisse des Kindes, der Mutter und des Vaters eindeutig vernachlässigt wurden. Der Schutz des Lebens ist ein höchster Wert, aber dieses System hat vor allem den äußeren Erfolg gesucht, hat um internationale Anerkennung gebuhlt und dabei die möglichen Schattenseiten der autoritär »durchgestellten« Maßnahmen aus der Diskussion ausgeschlossen.

 

 

Die kirchliche Repression 

 

Die Rolle der Kirchen als repressive Macht im »real existierenden Sozialismus« hatte natürlich einen ganz anderen Stellenwert als die staatliche Repression. Der entscheidende Unterschied war das Fehlen der direkten Gewalt und der relativ geringe Einfluß auf die Bevölkerung der DDR. Eine repressive Wirkung der Kirchen war auch deshalb schwieriger zu erkennen, weil sie zunehmend zur alleinigen, ernstzunehmenden moralischen Autorität in der Gesellschaft wurden.

Sie waren über Jahrzehnte die einzig organisierte oppositionelle Kraft in der DDR, vor allem dadurch, daß sie Raum geöffnet haben für eine andere Art zu denken und zu sprechen. Hier konnten nicht nur die großen Ideale (Liebe, Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung) als Idee weitergepflegt und die Tabus der Gesellschaft (Behinderung, Homosexualität, Wehrdienst, Flucht, Ökologie, das Individuelle und Subjektive, seelische Probleme, Tod) aufgeweicht werden, sondern es gab immer wieder auch mutige Bekenntnisse und Zeugnisse gegen die deformierenden Kräfte des Systems und den persönlichen Einsatz und Beistand von beherzten Kirchenleuten gegen die Willkür des Staates.

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Keinen Zweifel darf es aber auch an der neurotisierenden und deformierenden Macht pseudo-christlicher Erziehung und einengender, lebensverneinender Moral geben, wie sie uns aus einigen Pfarrhäusern und »christlichen« Praktiken in Heimen, Kindergärten, in der Christenlehre, der Seelsorge und durch Glaubensrituale bekannt geworden sind. Die Wirkungen autoritärer Repression sind hierbei besonders hartnäckig und tiefsitzend, weil nicht nur mit menschlicher Macht gearbeitet, sondern die übermenschliche, alles wissende und sehende Autorität »Gott« eingesetzt wurde, um noch den geringsten Protest unter Kontrolle zu nehmen. Menschen aus solcher Erfahrung konnten nicht mal ohne Straf- und Schuldangst phantasieren und sich den heimlichen, inneren Widerstand in Gedanken und Flüchen gestatten. Die häufig als Ideologie aufgesetzte Forderung nach Liebe, Gewaltfreiheit, Keuschheit, Vergebung und die dazugehörigen, oft sinnentstellten Rituale belasteten vor allem alle aggressiven und sexuellen Impulse mit einer moralischen Diffamierung, die krank machen konnte.

Es ist unbestritten, daß die evangelische Kirche der DDR für den Schutz und die Formierung der opposition­ellen Kräfte sehr viel getan hat, und doch war auch häufig eine andere Art von Ordnung und Disziplinierung dabei im Spiel. So war der kirchliche Freiraum eine neue Art Ghetto, in dem zwar eine andere Denkart und Gesinnung toleriert wurde, aber strikt an den Außenmauern zu beenden war. Die depotenzierende Ventilfunktion dieser Praxis hat lange Zeit das anwachsende Unruhe- und Protestpotential gedämpft und der Auseinandersetzung in der Gesellschaft entzogen. Während der Oktoberereignisse 1989 gab es deshalb auch widersprüchliche Positionen, inwieweit die Kirche Tendenzen hatte, die »Revolution« von der Straße fernzuhalten. Ich äußere aus einigen Beobachtungen den Verdacht, daß der tatsächliche und vermeintliche Schutz vor der staatlichen Gewalt zum Vorwand genommen wurde, um die »Kirche im Sozialismus« durch ein ehrenwertes Protestpotential zu stärken und an Inhalten aufzufüllen, was an religiöser Kraft verloren gegangen war, und auch um eine mögliche Kollaboration mit dem sozialistischen System zu verschleiern.

Die kirchliche Repression ist also zu untergliedern in die Auswirkungen und Folgen autoritärer Religion auf einzelne Gemeinde­mitglieder und in ihre politische Bedeutung als »Kirche im Sozialismus«. Mit dieser Formel hatte 1971 die Bundessynode der Evangelischen Christen ihre Standortbestimmung nicht gegen und nicht neben, sondern ausdrücklich als Kirche im Sozialismus definiert.

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Damit war ein Kurs angedeutet, der nunmehr unter sozialistischem Vorzeichen die protestantische Untugend der Staats­frömmigkeit aufscheinen ließ. Es war ganz offensichtlich, daß die Kirche ein gutes Einvernehmen mit dem sozialistischen Staat suchte und um eine Politik des Ausgleichs nach beiden Seiten bemüht war. Das war auch der Grund, weshalb immer wieder, besonders von kirchlichen Basisgruppen, den Kirchenvertretern opport­unistisches Taktieren und Liebedienerei vorgeworfen wurde. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellte das Gespräch vom 6. März 1978 zwischen dem leitenden Bischof des Kirchenbundes, Albrecht Schönherr, und dem Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, dar, das fortan als eine Annäherung und Verständigung der beiden Institutionen in einem Prozeß der Vertrauensbildung gefeiert wurde. Die Kirchen fühlten sich gesellschaftlich anerkannt: Sie erhielten Sendezeiten im Fernsehen, ihr Einsatz im Sozialbereich wurde gelobt, und kirchliche Bauprogramme wurden nicht mehr behindert. Man sprach sogar mit äußerstem Wohl­wollen von Honeckers »Sachkompetenz und menschlicher Wärme«.

Die Euphorie für diesen Prozeß war verdächtig. Immerhin freute man sich über die Aufwertung durch ein Unrechtssystem und bestätigte damit von kirchlicher Seite den »real existierenden Sozialismus«. Welche psychologischen Faktoren konnten dabei eine Rolle gespielt haben? Immerhin war die Mitgliederzahl der evangelischen Kirchen von 1950 bis 1989 von 80 auf 30 Prozent der Bevölkerung geschrumpft, die Gottesdienste immer weniger besucht, und die Zahl der Taufen, Konfirmationen und kirchlichen Trauungen sank ständig. Dies war für die Kirchenfunktionäre mit Sicherheit eine seelisch belastende und kränkende Erfahrung. Zudem lebte die Kirche materiell am Rande ihrer Existenz. Ohne die Zuschüsse und Spenden aus der Bundesrepublik hätte sie nicht überlebt. Immerhin sollen 250 bis 400 Millionen D-Mark in die Kirchen der DDR geflossen sein, die, 1:1 umgetauscht, vor allem dem Staat die Devisen brachten.

So war das Agreement zwischen Staat und Kirche kirchenerhaltend und stärkte dabei auch das politische System. Vor allem die finanzielle Abhängigkeit vom Westen, die noch verschärft wurde durch die sogenannte »Bruderhilfe«, eine direkte materielle Zuwendung an kirchliche Mitarbeiter in der DDR, hat die wirkliche ökonomische Lage der evangelischen Kirche verschleiert, und ein kritisches Nachdenken oder Bemühen um geistliche Erneuerung konnte damit vermieden werden.

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Die spirituelle Kraft der evangelischen Kirchen war sichtbar erlahmt. Zwar waren die Empfehlungen der Kirchenoberen an die Gemeinden, sich als standhafte Christen zu artikulieren, stets ermutigend, doch zugleich forderten sie auch Ruhe als erste Bürgerpflicht und vorbildliche Arbeitsleistungen. Vom theologischen Verständnis wurde zwar zum »mündigen Christen« aufgerufen, doch in Wirklichkeit mit dem zugesprochenen Wort und der autoritativen Beratung und Hilfe die weitverbreiteten abhängigen und depressiven Haltungen und Strukturen vieler Gemeindeglieder verstärkt.

In diesem Zusammenhang kam auch das inzwischen ausgestaltete Reiseprivileg der kirchlichen Mitarbeiter ins Gerede. Immerhin hatten leitende Kirchenleute Dauervisa für Westreisen und etwa ab 1986 konnte die Kirche praktisch in eigener Verantwortung entscheiden, wer ins westliche Ausland reisen durfte. Daß sich Christen diese privilegierte Sonderbehandlung gefallen ließen, mag auch ein Licht auf ihre angeschlagene Moral werfen.

Die autoritären Strukturen der Institution Kirche verhinderten sowohl strukturell wie finanziell eine Eigenständigkeit der Gemeinden. Damit wurde der mögliche religiöse Reichtum an der Basis nicht gefördert, und durch ein weitverbreitetes autoritäres Religions­verständnis, das häufig belehrend, mahnend und moralisierend auftrat, wurde Spiritualität eher verhindert als bestärkt. Das »real existierende Christentum« in der DDR ließe sich in seiner typischen Struktur etwa so beschreiben: Die globalen, gesellschaftlichen, politischen und sozialen Probleme wurden zumeist sehr offen und ehrlich benannt und auch kritisch analysiert, dann – auf dem Höhepunkt der Offenlegung – folgte zumeist der tröstende Hinweis auf die Kraft des Glaubens. Diese Art Verkündigung hatte mit Hilfe der moralischen Autorität suggestive Beruhigung zur Folge, letztlich also eine Ordnungsfunktion. 

Da allein in der Kirche auch politische Themen offen angesprochen und sich politisch-motivierte Gruppen versammeln durften, ist das Interesse der Kirche an einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit dem Staat und für einen innenpolitischen Frieden als eine abwiegelnde Ventilfunktion nicht zu unterschätzen. Dies war wohl auch der Grund, weshalb die ehemalige Positionsbestimmung der »Kirche im Sozialismus« zuletzt zur »Kirche in der DDR« abgemildert wurde. 

Mit dem wachsenden Protest in der Gesellschaft, verursacht durch die Politik der Perestrojka, hat sich auch die Kirche zunehmend der neuen Linie »kritischer Mündigkeit« geöffnet. Der Greifswalder Bischof Gienke hatte diesen Kurswechsel nicht mehr so schnell realisieren wollen, und ihm wurde schließlich – ein einmaliges Ereignis in der Kirchengeschichte der DDR – der Abschied vom Dienst anempfohlen.

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Im Spannungsfeld staatsloyaler und staatskritischer Haltungen der Kirche gab es nach meinen Erkenntnissen erhebliche Unter­schiede und Auseinander­setzungen in den einzelnen Standpunkten. Die psychologischen Voraussetzungen der einzelnen Kirchen­vertreter haben mehr zu dieser oder jener Seite befähigt. Doch müssen die hierarchischen Strukturen der Institution Kirche, die auch durch das synodale System nicht wirklich aufgelöst wurden, und die moralisierende und vertröstende Ordnungs­funktion einer autoritären Religionspraxis repressiven Einfluß zugesprochen bekommen, der noch durch die materielle Abhängigkeit und die kleine Korruption der Privilegien verstärkt wurde.

 

Zusammenfassung

 

Wollen wir das soeben beschriebene repressive System des »real existierenden Sozialismus« zusammen­fassen, so ergibt sich das Bild eines umfassenden und kontinuierlichen Systems von Nötigung, Manipulation, Einengung, Kontrolle, Ängstigung, Strafe und Beschämung. Was in der Kindheit erzwungen wurde, haben die gesellschaftlichen Kräfte ausgenutzt und fortgeführt. Was von den Institutionen des Systems gefordert wurde, haben die Eltern den Kindern abverlangt. Kinder, die von ihren Müttern zum »Sonnen­schein« oder zum »braven Liebling« gezähmt worden waren, konnten später als beflissene Helfer im Dienst des »Sozialismus« gut verwendet werden. Wenn Eltern vorgaben: »Das tun wir nur für dich!«, konnte der Staat seine allgegenwärtige »Fürsorge« unbehindert ausbauen. 

Die frühe Einengung der Daseinsfreude, des spontanen Gefühlsausdrucks und der natürlichen Neugierde fand ihre Fortführung in der Anpassung an militärische Disziplin in vielen Lebensbereichen. Die elterliche Einschüchterung »Überleg dir gut, was du sagst!« und »Sei vorsichtig!« gab dem Überwachungs- und Spitzelsystem die Grundlage für seine fast grenzenlose Ausdehnung. Ängstigende Drohungen von Eltern haben die Politbürokratie und die Kirche praktisch ohne Bruch übernommen und darauf Macht begründen können.

Hierarchische Beziehungen und Machtverhältnisse haben das Leben in der DDR in allen Bereichen strukturiert und bestimmt. Ein Leben ohne die Unterordnung unter eine Macht war praktisch kaum denkbar. Auf diese Weise war das Leben bei uns meist öde, gelähmt und eintönig und provinziell-spießig. 

Das Freche, Schillernde, Ausgefallene, Bunte und Überraschende hatte kaum eine Chance. Die Alternativ­szene beschränkte sich auf kleine intellektuelle und künstlerische Kreise in den Großstädten, ohne erkennbaren Einfluß auf die Lebensart im Lande. Nonkon­formismus galt dem System als staatsgefährdend und war für den Durchschnittsbürger beunruhigend oder ängstigend. Der gleichförmige Alltag sollte möglichst nicht gestört werden, schließlich hatte jeder auch hinreichend negative Erfahrungen mit Abweichungen von der Norm machen müssen. Das kritische Meinungs- und Stimmungspotential wurde von der Kirche »betreut«.

Der »real existierende Sozialismus« ist zu Ende. Wir haben eine »Wende« vollzogen — aber wohin? Das wird die entscheidende Frage bleiben. Aus meiner Sicht wird der wahre gesellschaftliche Fortschritt an der inneren Emanzipation der Menschen zu bemessen sein, wobei die Bewältigung des Mangelsyndroms, das ich im nächsten Kapitel beschreibe, ein wichtiger Maßstab sein wird. Und dafür ist die Überwindung oder zumindest Verminderung der hierarchisch-autoritären Strukturen, die sowohl Staat, Familie und Kirche in der DDR wesentlich charakterisieren, die wichtigste Voraussetzung.

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